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Ein Sommerabend im deutschen Bergwald! Die schrägen Sonnenlichter streichen in breiten rothgoldnen Streifen zwischen den Blätterschichten der noch frischbegrünten Zweige hindurch und legen sich als leuchtende Bänder um die silbergrauen Buchenstämme, die Amseln und Drosseln jauchzen wie berauscht von dem glühenden Duft und Glanz, der sie umfluthet, und das kleinere Volk der Sänger pfeift und schlägt und sinkt und neckt und zwitschert in unentwirrbar verschlungenem Chor, den nur der kräftige Hammerschlag eines Spechts scharf durchdringt, während das dumpfe Gurren der Wildtaube oder verloren eintöniger Kukuksruf halb wie Klage in die lustigen Klänge sich mischt. Am Boden um die Wurzeln der Stämme und Büsche, wo das kleine Gethier noch geschäftig kriecht, beginnt schon leise Dämmerung zu spinnen, und der Kopf eines Rehes, der aus dem Dickicht nach dem Waldweg schaut, mahnt, daß das laute Getön oben das letzte Aufjubeln des scheidenden Tages ist und bald in geheimnißvolle Stille übergehen wird, in der das Reh sich herauswagt auf die Lichtung.
Auf der Steige, die steil und wenig befahren durch den Bergwald sich aufwärts windet, knallt eine Peitsche und ein Fuhrmann in blauem Hemde ruft seinem derben Bauernpferde ermunternde Worte zu. Auf dem Wägelein, das sich langsam aufwärts bewegt, ruht ein umfangreicher Kasten, der ein Klavier bergen mag, dabei einige Koffer und kleinere Kisten. Von dem Steinhaufen am Weg, auf dem er gerastet, erhebt sich ein junger Mann in städtischer Kleidung, und indem er neben dem Fuhrmann hergehend seinen Weg fortsetzt, fragt er mit etwas verdrießlicher Stimme:
»Wie weit haben wir denn noch nach diesem Mönchswald?«
»Die Steige hinauf«, erwidert der Fuhrmann, »noch eine gute halbe Stunde, dann aber, wenn wir einmal oben sind, kommen wir auf der andern Seite schneller hinunter. Der Mensch kommt immer schneller herunter als hinauf, und mein Brauner auch – hüh – oh!«
»Sehr weise bemerkt«, brummt der Andere. »Wie heißt Ihr denn eigentlich? Seid Ihr selber von Mönchswald?«
»Johann Bührer schreib ich mich und in Mönchswald bin ich zu Haus, ja wohl, Herr Schulamtsverweser. Gaul und Fuhrwerk aber gehören nicht mir, sondern dem Herrn Schultheißen. Der hat mich ja geschickt, daß ich Sie und Ihre Sachen auf der Eisenbahn abhole. Ich fahre manchmal für ihn, gewöhnlich aber helfe ich in der Fabrik beim Fuhrwerk – oha, Brauner, verschnauf wieder ein bischen!«
Er schob einen Stein unter das Hinterrad, dann fuhr er fort:
»Wenn ich gewußt hätte, daß das Ding da in dem Kasten so schwer ist, wär ich doch am End lieber im Thal über die Fabrik gefahren als über den Berg, 's wär freilich gern anderthalb Stunden um gewesen, aber wir hätten gute Fahrstraße gehabt.«
Der als Herr Schulamtsverweser Angeredete erwiderte nichts, er klopfte mit dem Taschentuch etlichen Staub von seinem Sommeranzug, der eleganten Schnitt zeigte. Dann strich er den dunkeln Schnurrbart und ließ ungeduldig den Sonnenschirm auf einem Steine tanzen, bis das Fuhrwerk sich langsam wieder in Bewegung setzte. Nach einer längeren Pause begann der Fuhrmann wieder:
»Wenn der Herr Schulamtsverweser bei uns bleiben wollten, hier könnten Sie gleich Schulmeister werden. Wir haben schon lange keinen Schulmeister mehr gehabt – es meldet sich keiner – immer nur Amtsverweser, und auch von denen hat keiner lang gut gethan. Aber wenn Sie mit dem gnädigen Herrn auskommen können – wissen Sie, der hat das Patrominat, oder wie man's heißt – so können Sie die Stelle bald kriegen!«
Der Herr Schulamtsverweser machte ein Gesicht, wie wenn er sagen wollte: »Schulmeister von Mönchswald! Das fehlte mir gerade noch!« Aber er schwieg.
»Der Herr Schulamtsverweser nehmen mir's nicht übel,« sagte der Fuhrmann wieder, »aber sehen Sie, wir Mönchswalder möchten doch auch einmal wieder einen rechten Schulmeister haben. Alle paar Monate ein anderer junger Herr – das thut nicht gut. Es kommt keine Zucht in die Jugend und lernen thun sie auch nicht viel. Freilich mit dem gnädigen Herrn ist bös auskommen! So lang einer mit ihm trinkt und sich von ihm hudeln und zum Besten haben läßt, ist's recht – aber das ist dann dem Consistorium nicht recht und es schickt die jungen Herren immer bald wieder weiter, 's müßt einer schon fest hinstehen können und doch dabei dem Baron ein bischen um den Bart gehen, wenn's stimmen sollt'!«
»Ja, es scheinen schöne Zustände zu sein bei Euch in Mönchswald,« sagte der Andere verdrossen.
»Freilich, 's ist auch in der Gemeinde nicht alles, wie's sein sollt'. Nächstens kommen wir vollends unter Staatsaufsicht. Wissen Sie, unser Schultheiß ist ein braver Mann, aber er wird halt auch alt, und mit der Schreiberei ist er nie recht fortgekommen, und das soll ja die Hauptsach' sein heutzutag'. Und unsre Markung ist freilich nicht gar klein, aber weit verzettelt, und die besten Aecker gehören dem Baron. Da gibt's mehr arme Leut' als reiche, und seit ein paar Jahren, seit die Fabrik drüben besteht, gehen Viele dorthin und lassen ihre Aeckerlein vollends liegen – und da ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Und einen eigenen Pfarrer haben wir auch nicht, wir müssen nach Rauhenstein hinüber in die Kirche, über den andern Berg drüben, obwohl unsere Gemeinde so groß ist, wie die Rauhensteiner – und das ist wieder nichts. Bei uns würd' ein Pfarrer ins Ort gehören – –«
Der Herr Schulamtsverweser lächelte sauer:
»Nun, Ihr macht mir ja recht viel Lust, mich um Eure Schulstelle zu bewerben. Da kann ich Gott danken, wenn ich wieder mit guter Art davon bin. – Wo führt denn der Fußweg hier links hin? Könnte man da nicht eine Strecke abschneiden?«
»Ja freilich, das hätt' ich über meinem Gerede schier vergessen, Herr Schulamtsverweser! Nehmen Sie mir's nicht übel! Auf dem Fußweg sind Sie in zehn Minuten auf der Höhe, dann ein Stückchen eben fort, und dann müssen Sie sich wieder rechts halten – immer auf dem Fußweg weiter – nicht links in den breiten Waldweg, der führt nach der Fabrik zu – auf dem Fußweg kommen Sie dann aus dem Wald heraus, wo die Steige schon wieder auf der andern Seite hinunter führt, und da können Sie noch bei Licht die ganze Gegend übersehen.«
»Gut! So will ich da hinauf!« sagte der Andere, empfahl dem Fuhrmann noch kurz Achtsamkeit auf den Klavierkasten und wandte sich dann zur Seite.
»Also nichts für ungut, Herr Schulamtsverweser!« rief ihm der Fuhrmann noch nach und murmelte dann im Weitergehen für sich: »Glaub's wohl, daß der feine Herr keine Lust hat, Schulmeister von Mönchswald zu werden! Aber der wär' vielleicht doch der Rechte! Er hat so was im Blick, ist ein bischen stolz und kurzangebunden, aber grad so müßt' einer bei uns sein. Und der Erste ist's, der ein Klavier mitbringt – 's ist freilich fast sein einziger Hausrath – da könnt' vielleicht aus unserm Gesangverein wieder etwas werden – hüh, Brauner!« Und er pfiff leise vor sich die Melodie eines Volksliedes.
Es waren keineswegs auferbauliche Gedanken, mit denen der Herr Schulamtsverweser Paul Ritter den steilen Fußpfad aufwärts stieg, der sich in einem engen Rinnsal hinaufzog. Er achtete nicht auf das Glühen und Leuchten der Abendsonne, deren Lichter immer höher an den Stämmen über seinem Weg hinaufglitten, nicht auf den Gesang der Vögel, der gedämpfter und weicher klang und schon zuweilen für einen Augenblick ganz verstummte, und wenn eine der vielen blauen Glockenblumen, die über die Steinblöcke auf beiden Seiten des Weges zu ihm herunterschwankten, sein Gesicht streifte, so fuhr er unmuthig mit der Hand über die berührte Stelle. Er sah mürrisch und verdrossen auf seinen Weg und haderte innerlich mit seinem Schicksal.
Paul Ritter war der einzige Sohn einer achtbaren aber wenig bemittelten Handwerkerfamilie. Sein Vater war frühe gestorben, die Mutter hatte es noch erlebt, daß Paul sein Abgangsexamen vom Lehrerseminar mit glänzendem Erfolg bestand. Vom Examen weg mußte er ans Sterbebett seiner Mutter eilen. Bald darauf bekam er durch Empfehlung die Stelle eines Hauslehrers bei einer adeligen Familie, welche im Sommer auf dem Lande in der Nähe einer größeren Universitätsstadt am Rhein, im Winter in dieser Stadt selbst lebte. So war dem strebsamen jungen Manne Gelegenheit geboten, noch manches für seine Bildung zu thun; er hatte es sogar soweit gebracht, einige Vorlesungen an der Universität gastweise mitmachen zu können. Seine kleinen Zöglinge hiengen mit Liebe an ihm, von Seiten der Eltern genoß er alle Achtung und die freundlichste Behandlung und sein musikalisches Talent verschaffte ihm nicht selten Zutritt in Kreisen, die ihm sonst verschlossen geblieben wären. Daß freilich mehr sein Talent als seine Person geschätzt wurde, konnte ihm nicht ganz entgehen, obwohl er sich's nie so klar machte. Ebenso hatte er wohl ein dunkles Gefühl davon, daß er sich hier auf einem Boden bewege, auf dem er nicht heimisch und sicher sei, und oft genug hatte er auch die nicht undeutliche Empfindung, daß trotz all seiner Strebsamkeit, trotz des höheren Maßes von Bildung, das er sich allmälig aneignete, doch eine Kluft bestehe zwischen seiner oft lückenhaften, auf gewisse Gebiete beschränkten, andere Gebiete nur leicht streifenden Bildung und zwischen der tiefgründigen, umfassenden, zusammenhängenden Bildung, welche ihm in den Universitätskreisen gegenübertrat. Aber eine Mischung von ernstem Vorwärtsstreben und jugendlicher Selbstüberschätzung ließ ihn immer wieder darüber hinwegsehen und die Leichtigkeit, mit der er sich die äußeren Formen des feineren gesellschaftlichen Verkehrs theilweise aneignete, täuschte ihn darüber, daß er dieselben doch nicht so beherrschte, wie jene, denen sie durch Erziehung und Gewohnheit zur andern Natur geworden sind.
Alles in allem waren es glückliche Jahre, die er in jener Familie am Rhein verlebte, nur daß ihm sein Herz einen schlimmen Streich spielte. Im Hause verkehrte häufig die Tochter eines benachbarten Gutsbesitzers, Adelheid Weinhold. Es war die Stieftochter dieses Herrn, eines rauhen, wenig gebildeten Emporkömmlings, der sich viel mit seinem Gelde wußte und weder seine kränkliche Frau noch deren Tochter und die feinere Art beider recht verstand. Um so wohlthuender fand Adelheid den Anschluß an die vortreffliche Familie, deren Kinder Paul Ritter unterrichtete, und da sie gleichfalls die Musik außerordentlich liebte und nicht ohne Talent ausübte, so gab sich's, daß die Beiden viel zusammen musicirten. Das ging nun, wie's zuweilen geht: in dem jungen Hauslehrer entwickelte sich bald eine leidenschaftliche Neigung zu der jungen Dame, welche ihm freundlich und unbefangen entgegenkam, ohne ihn ahnen zu lassen, ob eine ähnliche Empfindung in ihrem Herzen lebe. Bald glaubte er's annehmen zu dürfen, bald verzweifelte er wieder völlig dran, und nur um so leidenschaftlicher gab er sich seiner Liebe hin, ohne daß er's jedoch gewagt hätte, ihr deutlichen Ausdruck zu geben. Und eines Tages wurde ihm Adelheid als Braut vorgestellt – der Bräutigam war ein schon alternder Herr, reich natürlich und Besitzer verschiedener Fabriken. Ob Adelheid einem Zwang von Seiten ihres Stiefvaters gehorcht, ob sie nach dem kurz vorher erfolgten Tode ihrer Mutter in einer Art von stumpfem Verzichten diesen Schritt gethan hatte, konnte Paul Ritter nicht ergründen. Glück schien ihm jedenfalls aus Adelheids Augen nicht zu sprechen – um so mehr wühlte er eine Zeit lang in seinem eigenen Herzensunglück, auch noch nachdem Adelheid als Frau Burkhardt längst die Gegend verlassen hatte. Doch seine gesunde Natur und ernste Arbeit halfen ihm wieder zurecht und am Ende blieb ihm nur eine wehmüthige Erinnerung an vergangene schöne Tage und jene milde Trauer auf dem Grunde des Herzens, welche als letzter Rest verlorener Jugendliebe dem Gemüth eine gedämpfte Wärme und starke Innerlichkeit gibt.
Darüber waren nun schon etliche Jahre hingegangen, Paul hatte inzwischen den Feldzug gegen Frankreich als Unteroffizier mitgemacht, war dann noch einmal in seine vorige Stellung eingetreten – wieder nach einiger Zeit waren seine Zöglinge seinem Unterricht entwachsen, sein Urlaub abgelaufen, er war in die Heimat zurückgekehrt, um noch eine Prüfung zu bestehen und dann in den vaterländischen Schuldienst zu treten. Vor der Prüfung hatte ihm nicht gebangt, eher vor dem engen Leben, das er für die Zukunft vor sich sah; doch hatte er geglaubt, gegründete Ansprüche auf Anstellung in einer Stadt zu haben, und wie hätte es dann bei seinen Gaben und Kenntnissen fehlen sollen, daß doch nach und nach eine glänzende Laufbahn im Unterrichtswesen sich ihm geöffnet hätte! Um so unangenehmer war seine Ueberraschung gewesen, als ihm zugleich mit vorzüglichen Prüfungszeugnissen die vorläufige Bestellung zum Schulamtsverweser in dem abgelegenen Mönchswald zugieng. Außer sich vor Entrüstung war er zu dem Schulrathe gelaufen, der in diesen Dingen die entscheidende Stimme hatte, und hatte um Aufklärung gebeten, nicht eben im bescheidensten Tone, nichts anderes als schwarze Mißgunst und feindselige Zurücksetzung hinter der Sache witternd. Der Herr Schulrath hatte ihn lächelnd angehört und ebenso lächelnd ihm auseinandergesetzt, daß er in seiner Bestellung zum Schulamtsverweser in Mönchswald keine Zurücksetzung zu suchen habe, vielmehr einen Beweis von Vertrauen; daß in Mönchswald ganz eigenthümliche und besonders verfahrene Verhältnisse seien, welche einen Mann von einiger Weltkenntniß, von Takt und Sicherheit auch im äußeren Auftreten erfordern; daß man von ihm und seinem höheren Bildungsgrade die nöthige Ueberlegenheit erwarte, welche dort unumgänglich sei, wenn die Dinge wieder ins Geleis kommen sollen; daß man aber hoffe, in nicht allzulanger Zeit wieder einen ständigen Lehrer dort anstellen zu können und daß man durchaus nicht gewillt sei, ihn, den Herr Ritter, längere Zeit auf dem Lande zu belassen, daß man vielmehr sich viel von ihm verspreche und Bedeutendes mit ihm im Sinne habe, daß es indessen, da Herr Ritter sich bisher noch nicht in der Praxis des vaterländischen Schuldienstes versucht habe, demselben nur von Nutzen für später sein könne, wenn er trotz seiner vorzüglichen Befähigung – – und so weiter und so weiter! Der Herr Schulrath sprach sehr viel Schmeichelhaftes und Anerkennendes, aus dem aber doch immer wieder als Kehrreim die unwiderrufliche Thatsache hervorsprang: Schulamtsverweser von Mönchswald!
Und nun war Paul Ritter auf dem Wege nach Mönchswald, aber all das Schmeichelhafte, was ihm der Herr Schulrath noch vor drei Tagen gesagt hatte, war nicht im Stande, ihm die verdrießliche Stimmung zu bannen, in welcher er dort durch den Wald aufwärts stieg. Seine Gedanken zogen rückwärts in die Vergangenheit und malten dieselbe noch goldener und glänzender, als sie in der That gewesen, und sie wanderten widerwillig in die Zukunft und malten dieselbe so grau und öd, langweilig und widerwärtig als nur möglich. Paul versuchte wohl wieder und wieder, seine Verdrießlichkeit abzuschütteln, er pflückte einige Blumen, er versuchte sich vorzusagen, wie schön der Abend sei – umsonst, rasch war er immer wieder in seinem mißvergnügten Gedankengespinnste gefangen.
So hatte er allmälig die Höhe erstiegen und in seinen Gedanken des Weges nicht achtend war er glücklich in den breiten Waldweg links gerathen, vor dem ihn der Fuhrmann als vor dem falschen Weg gewarnt hatte, der nicht nach Mönchswald, sondern nach der Fabrik führe. Er merkte es erst, als er schon einige hundert Schritte auf diesem Weg gegangen war, und es trug nicht zur Verbesserung seiner Laune bei, daß er sich nun wieder rückwärts wenden mußte. Schon war er wieder wenige Schritte von der Stelle, wo er fehlgegangen war und wo er den Fußweg rechts hätte verfolgen sollen, als aus eben diesem Fußweg ein großer Leonbergerhund mit Gebell auf ihn losstürzte, dem aus dem Gebüsch zur Seite rasch ein zweiter in mächtigen Sprüngen folgte. Die Hunde umkreisten ihn, ohne ihm etwas zu Leid zu thun, aber doch mit verdächtigem Knurren, so daß er seinen Schritt anhielt und mit etwas unbehaglichem Gefühl nach dem Herrn derselben ausschaute, der wohl nicht weit sein konnte. Und da rief auch schon eine Stimme die Namen der Hunde, aber es war eine weibliche Stimme, und gleich darauf trat aus demselben Fußweg eine Dame in heller Kleidung, die Stirn von einem breiten Strohhut bedeckt, ein Buch in der Hand. Die ärgerlichen Worte, mit denen Paul sich die Abberufung der Hunde ausbitten wollte, blieben ungesprochen, als sein Blick auf die feine schlanke Gestalt fiel, die ihm so bekannt und doch wieder fremd erschien. War's ein Mädchen oder eine Frau? Es war nicht zu entscheiden. Einer der spärlichen Sonnenstrahlen, die noch durch den Wald drangen, umfloß die Gestalt, ließ aber auf das halb von dem Strohhut beschattete Gesicht eine ungewisse Beleuchtung fallen. Auf einen zweiten Ruf kehrten die Hunde an die Seite der Dame zurück, die lächelnd beruhigende Worte zu ihnen sprach. Nun schritt Paul, den Hut ziehend, an ihr vorüber, und wie sie mit leichter stummer Verbeugung, immer noch lächelnd, ihn grüßte und er nun aus größerer Nähe in ihr Gesicht sah, da war's ihm, als stocke plötzlich sein Herzschlag – war das nicht dasselbe klare Angesicht, das ihm noch eben in seinen rückwärts schweifenden Gedanken wieder und wieder aufgetaucht war? Auch die Dame heftete im Vorübergehen einen Augenblick einen aufmerksameren Blick auf ihn, doch es war nur ein Augenblick – schon waren sie aneinander vorübergeschritten. Drei Schritte noch ging Paul, dann blieb er unwillkürlich stehen und sah ihr nach, wie sie den Waldweg dahin ging mit dem leichten schwebenden Gange, der ihm auf den ersten Blick so bekannt erschienen war. Die beiden Hunde folgten ihr, nun wandte einer derselben den Kopf zurück, blieb gleichfalls stehen und begann wieder zu knurren. Da wandte auch die Dame noch einmal den Blick zurück, er traf forschend auf Paul, der sich nun rasch zum Gehen kehrte. Er hörte noch einmal ihre Stimme, wie sie den Hunden befahl, er kannte die Stimme und beschleunigte seinen Schritt – war es die Abendsonne noch einmal, die seine Wangen röthete, oder war es der Sturm der Empfindungen, die in seinem Innern sich verworren drängten?
Eine einzige Amsel sang noch tief im Walde, nicht jubelnd mehr, sondern in langgezogenen wehmüthigen Lauten, als Paul den Ort erreicht hatte, wo der Fußweg plötzlich aus dem Walde trat und der Ausblick über die Gegend sich aufthat. Rechts drüben über waldigen Bergen war die Sonne eben verschwunden, aber wie geschmolzenes Gold schwebten schmale Wolkenstreifen am stahlblauen Himmel über den dunkelnden Wäldern. Auf dem Thalkessel drunten ruhte schon Dämmerung und blaugraue Rauchwölkchen schwebten über den Dächern von Mönchswald, das in einem Wäldchen von Obstbäumen drunten lag, zu dem die Steige unmittelbar vor Pauls Füßen hinabführte. Gegenüber streckten sich wieder waldige Berge, an deren Fuß sich Wiesen und Felder hinzogen und zwischen die Waldhänge einbuchteten, von feinen Dunstschleiern überzogen. Auch nach links hin, im Bogen um den Thalkessel her, zogen sich die Waldhöhen, bis sie plötzlich mit einem schroffen Vorberge abbrachen, auf welchem ansehnliche Burgtrümmer aus dem Walde ragten, an dessen Fuß, auf welliger Erhebung des Feldes ein schloßartiges Herrenhaus und umliegende Wirthschaftsgebäude erkennbar waren. Noch weiter links, zwischen dem jähen Absturz, der die Ruine trug, und dem Waldrücken, über den Paul gekommen war, öffnete sich der Blick in die Ebene, Wasser von Fluß oder See schimmerte darin mit unsicherem Blinken und einige Fabrikschlöte, ragten hervor, deren Rauch langsam und schwer zum Himmel aufstieg und mit schwarzen Streifen in den purpurblauen Schein hineinschnitt, welcher dort den Horizont färbte.
Dort blieb Pauls Blick eine Weile hängen und ein beunruhigendes Gefühl zog durch sein Inneres, dann schweifte sein Auge wieder zurück und hinunter auf die Häuser von Mönchswald, hinüber auf Schloß Andeck und endlich blieb es im Westen an der Stelle haften, wo die Goldwolken bleicher und bleicher wurden, die Bergwälder dunkler und dunkler, wo der Tag gegangen war, völlig, unwiederbringlich.
Es war ihm trüb und unklar zu Muthe, dem jungen Schulamtsverweser, und er fuhr langsam mit der Hand über die Augen. Da weckte ihn Peitschenknall aus seinem Träumen – die Steige herab kam sein Fuhrmann gefahren und winkte ihm vergnüglich zu. Langsam stieg Paul von dem Rain, auf dem er gestanden, vollends auf die staubige Steige hinunter.
In der Wirthsstube »zum grünen Baum« in Mönchswald hatte der Wirth eben die Lampe entzündet, die über dem großen Tisch in dem größeren Raum der Wirthsstube hing, in welchem die meisten Gäste sich aufzuhalten pflegten; ein kleinerer Theil der Stube war um einige Stufen erhöht, dort standen Rohrsessel um den sauberer gehaltenen Tisch und die zwei Fenster dahinter hatten Vorhänge – ein Raum, den man vielleicht das Herrenstübchen genannt hätte, wenns eben ein besonderes Stübchen gewesen wäre. Die Lampe dort oben war noch nicht entzündet und die Stühle standen leer; unten dagegen saßen einige Männer am Tisch, ihrem Aeußern nach Fabrikarbeiter, deren laute Reden und lebhafte Geberden erkennen ließen, daß sie nicht erst seit einer Viertelstunde hier saßen.
»Schreib's an die Wand, Baumwirth,« sagte der Hagere mit dem dünnen fuchsigen Barte zu dem Wirth, der ihm einen frischen Schoppen vorsetzte. »Am Samstag ist Zahltag in der Fabrik, so lange wirst du warten können.«
»Heut ists Montag,« erwiderte der Baumwirth, »wenn du kein Lump wärest, Benzberger –«
»Was? Ich ein Lump?« schrie der Mann und schlug auf den Tisch. Der Baumwirth nahm ruhig den eben aufgestellten Schoppen wieder weg. Benzberger lachte:
»Meinthalb! Lumpen sind wir ja alle, wir und der – «
»Still! Der Baron kann jeden Augenblick kommen!« sagte der Wirth und stellte den Schoppen wieder auf den Platz.
»Dem Baron sag' ichs einmal in's Gesicht, was ich von ihm denke!« brummte Benzberger, sah aber doch nach der Thure. Dieselbe öffnete sich, ein junger Taglöhner trat ein.
»So, Frieder, machst auch einmal einen Blauen?« rief ihm der Andere der Fabrikarbeiter zu und der Dritte hielt ihm sein Glas entgegen. Der Eingetretene trank, setzte sich dann an eine Ecke des Tisches und ließ sich selbst ein Glas geben.
»Ich habe dem Johann Bührer geholfen des neuen Schulmeisters Sachen abladen,« sagte er.
»Und da zahlt dir der Schulmeister einen Schoppen, sonst würde man den braven Frieder nicht hier sehen,« lachte der Andere.
»Du könntest auch etwas Gescheiteres thun, Frieder,« wandte sich nun Benzberger herüber, »als auf dem Schloßgut im Taglohn arbeiten! Die Schinderei lohnt sich doch nicht, und ich hab' ein Vögelein pfeifen hören, daß es bei dem Baron schon lang recht wackelig stehe. Wenn ihm nicht sein Vetter von Rauhenstein noch untern Arm greifen würde um des hochadeligen Namens willen, so hätten ihm seine Gläubiger –«
»Was geht mich das an?« sagte Frieder.
»Was dichs angeht? Hm! Nun ja, geht dich eigentlich freilich nichts an. Aber lieber wär' dirs doch, gelt, wenn der Verwalter nicht so knauserig mit den Löhnen sein müßte, um dem gnädigen Herrn sein Bischen noch ordentlich zusammenzuhalten, bis die Gläubiger oder der Rauhensteiner die Erbschaft antreten.«
»Der Rauhensteiner ist recht,« fiel der Wirth ein, »und der Verwalter auch! Wenn unser Baron immer solche Verwalter gehabt hätte wie den Herrn Erdmann, wär' vielleicht manches nicht so weit gekommen. Und wenn all die gnädigen Herren wären, wie der Herr Rittmeister in Rauhenstein drüben, so – nun, so stünd' halt auch manches anders!«
»Der Herr Rittmeister von Rauhenstein – hm, ja,« nörgelte Benzberger, »den Bauernbaron nennen sie ihn in der Stadt –«
»Weil er ein Herz für die Bauern hat,« fiel der Wirth wieder ein, »und sich nicht zu gut vorkommt, sich des Bauernstandes nach allen Theilen anzunehmen; weil er Vorstand des landwirthschaftlichen Vereins ist und sich nicht schämt, mitten unter die Lederhosen hineinzusitzen und in jeden Kuhstall hineinzusehen, wenn das geringste Bäuerlein Rath von ihm will. Deswegen ist er doch ein feiner Herr und ich hab' allemal meine Freude, wenn er auf seinem Fuchs durch den Flecken reitet. Das kann er sich schon gefallen lassen, daß sie ihn den Bauernbaron heißen – das ist ein Ehrenprädikat!«
»Ehrenprädikat!« höhnte Benzberger, »wo hast denn das Wort aufgeschnappt, Baumwirth? Meinthalb! Mir können die Herren alle gestohlen werden mit ihren Ehrenprädikaten und Kuhställen – und der Verwalter« – das Gesicht des Mannes nahm einen grimmigen Ausdruck an und er ballte die Faust auf dem Tisch – »der Verwalter, der Mosje Erdmann, dem tränk' ichs noch ein! Meint der, er dürfe die Leute nur so mir nichts dir nichts ums Brot bringen –«
»Daß er dich fortgejagt hat,« sagte der Wirth, »ist kein Wunder. Ich hätt's grad so gemacht.«
Benzberger fuhr mit einem Fluch in die Höhe. Der Wirth wies ruhig nach der Thüre:
»Wenn dirs nicht recht ist, was ich sage, so weißt du, wo der Zimmermann das Loch gemacht hat. Dein Kerbholz kannst dann gleich mitnehmen!«
Benzberger lachte wieder und setzte sich.
»Mit dir ist nicht gut Kirschen essen, Baumwirth,« sagte er.
»Mit Euereinem werd' ich noch umgehen können! Das lernt sich!« sagte der Wirth.
»'s ist aber wahr, Frieder,« wandte sich der andere Fabrikarbeiter nun auch an den Taglöhner, »du hältst's auch besser, wenn du zu uns kämest auf die Fabrik!«
»Hab keine Lust,« sagte der Frieder. »Mir ists lang recht auf dem Schloß.«
»Ja, bleib nur bei der Hungerleiderei da droben,« räsonnirte Benzberger wieder, »'s ist vollends Ein Handel. Bei uns in der Fabrik ist man doch auch nur ein Hund. Die Frau –«
»Hör, Benzberger,« unterbrach ihn sein Kamerad, »laß mir die Frau im Frieden! Alles was wahr ist, aber über die Frau soll mir keiner schimpfen. Und wenn der Bührer kommt und hörts, der schlägt dir alle Knochen im Leibe entzwei!«
»Der Bührer, der Karrenraßler!« sagte Benzberger, »der soll kommen! Der thut freilich, als ob die Frau ein Engel vom Himmel wär'. Ich hab aber der Frau auch gar nichts Böses nachsagen wollen! Ich sag nur so viel: die Frau wär nicht übel, und so lange der alte Burkhardt gelebt hat, ist alles recht gewesen. Den hat sie um den kleinen Finger gewickelt und die Arbeiter mußten gut gehalten werden. Aber seit der Alte todt ist und der Polling da das Geschäft führt – 's ist, glaub' ich, ein Stiefonkel der Frau oder so was – seitdem hat sie nichts mehr zu sagen. Der Polling thut, was er will, obwohl das ganze Anwesen der Frau gehört – der Alte hat's ihr verschrieben, er ist ja ganz närrisch gewesen mit seiner jungen Frau – der Polling behandelt die Arbeiter wie Hunde, sag' ich! Kommt nur darauf an, wie lang wirs uns noch gefallen lassen!«
»Ja, ja,« nickten die beiden Andern, »das ist wahr, 's ist nimmer, wie's gewesen ist.«
»Und,« fügt der Eine hinzu, »der Polling zieht immer mehr fremde Arbeiter her, ein paar Mönchswalder hat er schon entlassen, und wenns so fort geht, so kommen wir bald alle ums Brot wegen der hergelaufenen Auswärtigen.«
»Geschieht euch recht,« bemerkte der Wirth wieder dazwischen, »dann könnt ihr wieder auf eure Aeckerlein gehen und solid werden!«
»Oho,« sagte Benzberger, »würd' uns grad noch fehlen! Nein, Freund, das machen wir anders. Die fremden Arbeiter, die sind gar nicht ohne. Die haben's los, wie mans macht, und werden dem Herrn Polling noch ein Licht aufstecken. Nein, zu denen müssen wir halten, das sind Kerle wie der Teufel – dann wird die Sache bald ein anderes Gesicht kriegen. Mit dem Entlassen und Lohnverkürzen und der ganzen Hundebehandlung wirds bald ein End haben, wenn das Ding einmal in Gang kommt!«
»Welches Ding?« fragte der Wirth. »Bist du auch schon so ein verfluchter Sozialdemokrat, Benzberger? Wenn Deinesgleichen auch noch auf den Weg fällt, dann kanns recht werden! Dann kannst aber den Tag erleben, wo du deinen letzten Schoppen bei mir getrunken hast.«
»So meinst, Baumwirth« – begann Benzberger wieder, verstummte aber mit einem Blinzeln nach der Thüre.
Der Wirth wandte sich um.
»Guten Abend, gnädiger Herr! Grüß Gott, Schultheiß!« begrüßte er die Eintretenden und eilte nach dem erhöhten Theil der Stube, um dort gleichfalls die Lampe zu entzünden.
Der Herr Baron Alfred von Andeck-Rauhenstein auf Andeck, ein untersetzter Herr mit etwas gebückter Haltung, und kurzgeschorenem ergrauendem Barte, blieb an dem Tische, wo die Arbeiter saßen, stehen, und während er den Hut abnahm und mit der Hand über die gleichfalls kurzgeschorenen Haare fuhr, fragte er lachend:
»Blau?«
»Sehr wohl, gnädiger Herr!« erwiderte Benzberger frech.
»Frau Adelheid hält euch gut im Futter?« fragte der Baron wieder.
»Nicht so ganz,« gab Benzberger zurück, »am letzten Zahltag, am Samstag, hats Abzug gegeben.«
»Warum?« fragte der Baron.
»Weil der gnädige Herr geruht hatten, mir vor acht Tagen schon am Vormittag einen Rausch zu bezahlen.«
»Wie, was?« fuhr der Baron auf, »was geht das Frau Adelheid an?«
»Den Abzug hat der Herr Polling gemacht, aber die Frau war einverstanden!«
»Nun, zum Donnerwetter, das ist mir wieder eine neue Manier der Geldsäcke da drüben! Abzüge machen wegen eines Rausches – zu moralischer Besserung wahrscheinlich!«
»Na, wissen Sie, gnädiger Herr,« sagte Benzberger mit boshaftem Lächeln, sichtlich erfreut, den Baron aufgebracht zu sehen, »es war noch etwas Anderes dabei! Aber anzügliche Reden gegen den Herrn hat der Herr Polling fallen lassen –«
»Schweig, kenne das schon lang! Was war noch dabei?«
»Eine Kleinigkeit, gnädiger Herr! Wie ich am Nachmittag an die Arbeit wollte, hab ich den Weg verfehlt und bin in den Ziergarten gerathen – es ging etwas wackelig auf den Beinen – da stieß ich an einen irdenen Kübel, 's war eine seltene Pflanze drin – die ganze Anstalt fiel vom Postament herunter – na, es muß wohl alles hin gewesen sein, so genau weiß ichs nimmer –«
Der Baron lachte laut auf:
»Bist ein raffinirter Hallunke, Benzberger! Geschieht dir aber recht, der Abzug! Kannst nichts führen! Denen drüben geschiehts auch recht! Seltene Pflanzen? Sollen Kartoffeln bauen! Willst noch etwas trinken, Benzberger? Da!«
Er warf ein Geldstück auf den Tisch. Dann, den Taglöhner bemerkend, brummte er vernehmlich:
»So? Muß auch gesoffen haben? Hat's nöthig!«
Dann stieg er langsam die Stufen hinauf nach seinem gewohnten Sitz. Der Schultheiß, der mit dem Baron eingetreten war, war indessen still und theilnahmslos hinter demselben gestanden. Es war ein hochgewachsener Bauer mit weißem Haar und niedriger Stirn; die ganze Haltung, das unsichere Lächeln und die eigenthümliche Art, wie er den Kopf nach dem Sprechenden hinwandte, ließen auf Altersschwäche und Schwerhörigkeit schließen. Nun folgte er dem Baron und setzte sich zu ihm an den Tisch, während der Wirth Wein brachte.
»Das Schulmeisterlein noch nicht da?« fragte der Baron.
»Der Herr Schulamtsverweser sind etwa vor einer Stunde angekommen,« erwiderte der Wirth, »er wird wohl noch mit Auspacken im Schulhaus drüben beschäftigt sein.«
»Soll antreten! Sagen lassen! Muß doch sehen, welche Sorte wir diesmal bekommen haben!«
Es entstand eine Pause. Die Arbeiter unten starrten mit gerötheten Augen vor sich hin, der Taglöhner war indessen still gegangen, oben am Tisch entzündete der Baron seine Cigarre und begann schweigend zu trinken. Zuweilen fuhr er in eigenthümlicher Art mit Daumen und Zeigefinger von der Wurzel seiner Nase zur Spitze derselben, welche in ihrer Form und Farbe deutlich den Gewohnheitstrinker ankündigte. Der sehr kurzgeschorene Bart um sein derbes Kinn machte mehr den Eindruck des Unrasirten und erhöhte im Verein mit den aufrechtstehenden spärlichen Haaren den unangenehmen Eindruck des Kopfes. Man hätte diesen Eindruck ohne weiteres gemein nennen können, wenn nicht in den großen, wasserblauen Augen doch zuweilen, wie sie so dem Cigarrenrauch nachschauten, etwas aufgeblitzt wäre wie ein Schein von Herzensgute, von noch glimmendem Stolz einer verschütteten besseren Natur.
Der Schultheiß saß stumm, mit niedergeschlagenen Augen vor seinem Glase.
Nun trat der Fuhrmann Johann Bührer ein mit dem Schreiner von Mönchswald und zwei andern jüngeren Männern. Mit einem ruhigen »guten Abend«, das allen Anwesenden galt setzte sich Bührer an den großen Tisch, ohne von dem Herrn Baron viel Notiz zu nehmen. Ebenso die Andern.
»Was ists, Bührer,« rief der Baron herunter, »ist der Schulmeister glücklich über den Berg?«
»Ja, gnädiger Herr!« erwiderte Bührer trocken mit halber Wendung des Kopfes.
»Querkopf!« brummte der Baron.
Nun kam Paul Ritter.
Er wechselte mit gedämpfter Stimme einige Worte mit dem sich erhebenden Bührer und dann mit dem Wirth, wobei sein Blick einigemal zu dem Platz des Barons hinaufflog. Nun führte ihn der Wirth dort hinauf, rückte ihm einen Stuhl und sagte dabei, daß dies der Herr Schulamtsverweser Ritter und dies der Herr Baron von Andeck und dies der Herr Schultheiß Bickel sei.
Der Baron nickte und murmelte: »sehr angenehm!« – während Paul sich stumm verbeugte. Ein eigenthümlicher Blick aus des Barons Augen schien dabei zu sagen: wo hast du solche Verbeugungen gelernt, Schulmeister? Der Schultheiß erhob sich und reichte dem jungen Mann über den Tisch die Hand, wobei er gemüthlich lächelte und einige undeutliche Worte aus zahnlosem Munde sprach. Dann saßen alle drei schweigend. Der Baron beobachtete offenbar seinen Mann und suchte sich vorläufig einen Vers auf ihn zu machen, ehe er irgend einen Ton gegen ihn anschlug; Paul schien in Gedanken zu sein und jedenfalls weitere Anrede der Andern abzuwarten.
Er hatte, während er neben dem Wagen hergehend vollends die Steige herunter gestiegen war, nicht ohne leichte Befangenheit seinem Fuhrmann von der Begegnung im Walde gesagt und mit möglichst gleichgiltigem Ton gefragt, wer das wohl gewesen sei?
»O, das war die Frau!« hatte Bührer mit leuchtenden Augen geantwortet, »sie geht manchmal allein mit ihren Hunden und einem Buch im Walde spazieren. Wissen Sie, wir nennen sie nur ›die Frau‹, es ist die Frau Burkhardt, der die Fabrik seit dem Tod des Herrn gehört! O, die müssen Sie kennen lernen, Herr Schulamtsverweser, das ist eine Prachtsfrau, ein wahrer Engel, und singen kann sie, ich sag' Ihnen –«
Ein mit Kühen bespannter Bauernwagen, den sie eingeholt hatten, hatte das Gespräch unterbrochen, und nachher hatte Paul rasch auf etwas Anderes gelenkt. Er wußte genug, schon zu viel, um in seiner heutigen Stimmung das innere und äußere Gleichgewicht festhalten zu können, wenn er noch Weiteres und Genaueres hörte. Und jetzt saß er da am Tische und mühte sich, seine schweifenden Gedanken zu ordnen, um bei der ersten Begegnung mit dem Baron, die offenbar für später von Wichtigkeit sein konnte, das rechte Verhalten zu treffen.
Der Baron mußte nun zu einem Schluß gekommen sein; er hatte auch inzwischen wieder rasch und stark getrunken.
»Wie kommen denn Sie eigentlich nach Mönchswald, junger Herr?« fragte er mit einem Ton, in welchem eine Mischung von herablassender Freundlichkeit und hochmüthiger Geringschätzung lag.
»Durch Verfügung der Oberschulbehörde, Herr Baron!« erwiderte Paul ruhig.
»Schöne Schulbehörde! Schickt alle Augenblick einen andern Amtsverweser. Soll mir einmal wieder einen Schulmeister schicken, der bleibt, den ich brauchen kann!«
Paul schwieg; die Worte seines Fuhrmanns fielen ihm wieder ein. Auch der Baron schwieg und trank.
»Trinken ja gar nichts!« begann er wieder mit Lachen. »Haben wohl das Theetrinken gelernt, he? Sehen aus, als ob Sie die Welt gesehen hätten.«
Pauls Stirne röthete sich; so hatte er sich den Mann doch nicht gedacht. Diese würdelose Vertraulichkeit und beleidigende Herablassung empörte ihn. Doch bezwang er sich.
»Ich war allerdings eine Zeitlang außer Lands, Herr Baron«, erwiderte er.
»Hauslehrer?«
»Ja!«
»In einem feinen Hause wahrscheinlich! Da werden Sie wohl sehr erbaut von der hohen Verfügung der Oberschulbehörde sein, die Sie zu meinen Mönchswaldern geschickt hat? Da drunten sitzen einige Exemplare – hören Sie, wie fein sie sich aufführen?«
Drunten wars inzwischen ziemlich lebhaft geworden. Benzberger war nun völlig betrunken, seine beiden Kameraden annähernd so, sie hatten mit Bührer und den Andern Krakehl angefangen, der Wirth vermittelte und drohte ernstlicher als vorher mit des Zimmermanns Loch. Es gab einen Augenblick wieder Ruhe.
Paul erwiderte die Bemerkung des Barons abermals mit Schweigen.
»Nun, das muß ich sagen«, sagte der Baron, halb zu dem Schultheißen gewendet, »das ist mir ein rarer Vogel! Ich habe noch keinen Schulmeister getroffen, der nicht mit Vergnügen angebissen hätte, wenn's an's Schimpfen über die Behörde gieng.«
Nun begann es in Paul Ritter zu kochen.
»Ich bin überhaupt kein Vogel, Herr Baron«, antwortete er, »und ich kann nicht verstehen, was Sie berechtigt, eine solche Sprache mir gegenüber zu führen?«
»Oho, blästs so?« sagte der Baron und zog die Augenbrauen in die Höhe, »der junge Herr stellt sich auf die Hinterbeine?«
Paul erhob sich schweigend, verbeugte sich und wandte sich zum Gehen. Als er die Stufen in die untere Wirthsstube hinuntergestiegen war, hörte er noch, wie der Baron lachend zum Schultheißen sagte:
»Grobian das! Aber Rasse! Hat Galle. Nicht übel. Wird schon noch zahmer werden!«
Der Schultheiß lächelte verloren; er hatte offenbar nicht verstanden, um was es sich handelte. Er schlief halb.
Als Paul bei dem Wirth seinen Schoppen bezahlte, grinste der betrunkene Benzberger frech herüber und lachte:
»Einen Schoppen, Herr Schulamtsverweser? Und das ist alles?«
»Aber jetzt hats ein End, du Tropf!« rief Johann Bührer aufspringend. »Marsch hinaus, oder –«
»All's her!« lallte Benzberger.
Der Baumwirth hatte bereits die Thüre geöffnet.
»Laß ihn, Johann«, sagte er, »er geht von selbst, wenn er bei mir Ernst sieht! Macht, daß ihr ihn hinausbringt, Bender und Maurer!«
Die beiden Kameraden Benzbergers erhoben sich, selbst ziemlich schwankend, und faßten Benzberger an den Armen, der sich denn auch nach einigen: Fluchen und Schimpfen endlich ergeben hinausführen oder vielmehr schleppen ließ.
»Die gehören zum ärgsten Gesindel, Herr Ritter«, sagte Bührer, »es gibt aber noch mehr Derartiges! Lassen Sie sichs nicht anfechten, es gibt auch noch ordentliche Leute, und Sie können einen Gotteslohn verdienen, wenn Sie wieder einige Zucht ins Ort bringen würden. Auf mich können Sie sich verlassen, wenn's gilt, und auf meine Kameraden da auch! Wir sind noch vom alten Gesangverein!«
»Ja, der Bührer hat Recht!« sagte der Schreiner und die beiden Andern nickten.
Paul war des Ekels voll.
»Ich dank' Euch! Gute Nacht!« sagte er und gieng. Der Wirth begleitete ihn bis unter die Hausthüre.
»Ja 's ist wahr«, sagte er, »es steht nicht gut bei uns. Ich thu' auch, was eben ein Wirth kann, aber ich muß halt manche Rücksicht nehmen, zum Beispiel was den Herrn Baron anlangt –«
»Gute Nacht!« sagte Paul und trat auf den Platz vor dem Hause. Er war unendlich angewidert und hätte weinen mögen vor Zorn. Der Mond war aufgegangen und schien grell auf die weiße Wand des Schulhauses, das gegenüber auf der andern Seite des kleinen Dorfplatzes lag. Rasch schritt Paul hinüber und stand bald in seiner Wohnung im oberen Stock des Schulhauses. Es war noch leer und öd in dem monderleuchteten Zimmer, nur das Klavier stand schon da; Paul strich mit der Hand darüber hin; im Nebenzimmer war ein Bett aufgeschlagen – der Verwalter habe es bis auf Weiteres hergeliehen, hatte Bührer gesagt.
Ohne Licht zu machen trat Paul ans Fenster, lehnte sich weit hinaus und athmete tief. Die Bauernhäuser rings um den Platz lagen schon in Schlaf und Schweigen, die Linde dort links rauschte leis im Nachtwind, der Brunnen daneben plätscherte eintönig und dahinter hoben sich die Umrisse des kleinen Kirchleins mit dem stumpfen niedrigen Thurme, das nur an einigen Festtagen im Jahre benützt wurde. Ueber die Häuser herein schauten die waldigen Höhen, von leichtem Mondenduft überschleiert, gerade über den Burgtrümmern von Andeck stand der Mond. Nach der Richtung hin, wo die Fabrik liegen mußte, war keine Aussicht, gegenüber aber, wo der Giebel des Wirthshauses seinen schrägen Schatten auf den Platz warf, leuchtete röthliches Licht aus den Fenstern.
Paul lag eine Weile regungslos unterm Fenster, nur zuweilen wieder tief aufathmend. Dann sah er zwei Gestalten aus dem Wirthshaus treten und an der Kirche verschwinden – es mußte der Baron und der Schultheiß sein. Wieder nach einer Weile kam Bührer mit den drei Andern heraus und dann erloschen drüben die Lichter. Die Männer standen noch kurze Zeit dort im Schatten, Paul hörte flüsternde Stimmen, dann kamen die Vier über den Platz gegangen, auf das Schulhaus zu. Paul zog sich vom Fenster zurück, er hörte, daß die Männer vor dem Schulhause Halt machten – nun ertönte auf einmal vierstimmig ein bei Gesangvereinsständchen beliebtes Lied.
Es war mangelhaft gesungen, aber der Tenor klang frisch – das war wohl Bührers Stimme – und der Baß war kräftig. Paul schwankte, ob er den Sängern danken sollte oder nicht, der Gesang hatte ihm wohlgethan, aber es war ihm, als wäre ihm heute die Kehle zugeschnürt. Endlich überwand er sich, als das Lied zu Ende war, er trat wieder ans Fenster und rief mit gedämpfter Stimme einige Worte des Dankes hinunter.
»Gute Nacht!« tönte es herauf und bald waren die Tritte der Männer verhallt – Stille ringsum, nur der Brunnen plätscherte weiter. Da öffnete Paul noch das Klavier – ein kurzer Satz aus einer Beethovenschen Sonate – dann stand er auf, schloß das Klavier und suchte die Ruhe.
Ein Schulzimmer voll Kinder, vor die zum erstenmal der neue Lehrer tritt – für einen unsichtbaren Beobachter, der mit feinem Sinn und gutem Humor ausgestattet wäre, müßte dies ein köstlicher Anblick sein; die Betheiligten selbst, Lehrer und Kinder, sind – von allem andern abgesehen – eben zu sehr betheiligt, um den Vorgang unbefangen genießen zu können. Vor Eintritt des Lehrers natürlich Lärm! Sobald er eintritt, athemloses Verstummen wie nie mehr später! Alle Augen hängen an dem Lehrer in der ungetheiltesten kindlichen Neugier. Aber es ist eine ganz entschiedene Heiterkeit in dieser Neugier, aus den meisten Augen guckt neben aller harmlos-fröhlichen und vertrauenden Erwartung doch der Schelm, und auf einigen Bubengesichtern wetterleuchtet unverkennbar die halbbewußte Frage: »wie viel sich der wohl gefallen läßt?« Des Lehrers Blick aber fliegt suchend über die holde Koboldschaar, sucht offenbar in dem Durcheinander völlig neuer Gesichter nach irgend einem vertrauenerweckenden Augenpaar, um sich an diesem anzuklammern und von hier aus weitere Entdeckungsfahrten durch die Gesichterreihen zu machen. Nun wendet er einen Augenblick den Rücken, um nach einem Buch zu greifen: husch, fahren da und dort Köpfe zusammen und rasch werden einige erste Eindrücke ausgetauscht – wehe dem Manne, der irgend eine das Kinderaug komisch berührende Aeußerlichkeit mit sich herumträgt! Der Lehrer wendet sich wieder zu den Kindern: schnell rücken sich die Randglossenmacher zurecht, die ganze Klasse sitzt so stramm oder so lotterig, als sie es eben gewohnt ist, und nun beginnt aufs neue das Spiel der Augen von beiden Seiten – wohl dem Lehrer, der ein scharfes, klares, rasches Aug' hat, das ohne Worte zu bannen, zu bändigen vermag und dem der heimlichste Missethäter im hintersten Winkel nicht entgeht! Er hat die, Schlacht schon halb gewonnen, ehe sie recht begonnen hat. Nun beginnt der Lehrer zu reden – ja, die Stimme! Welch feines Gefühl die Kinder für diese haben! Es gibt einen gewissen, ruhigen, sichern, halbgedämpften und doch klaren und bestimmten Ton der Stimme, vor dem den ärgsten Schlingel die dunkle Ahnung durchzieht: »wenn in dieser Stimme einmal ein Donner zu rollen beginnt, dann schlägt das Wetter unfehlbar ein!« Und der Schlingel besinnt sich doch noch eine Weile, ehe er zur tatsächlichen Probe übergeht, wie viel sich der wohl gefallen lasse. Aber gemacht wird die Probe dennoch von mehr als Einem – hier wird sie schon am ersten Vormittag entschieden, dort kann sie Tage, Wochen dauern, je nachdem!
Als Paul Ritter zum erstenmal am Morgen in das Schulzimmer trat, in welchem die Mönchswalder Kinder jeglichen Schulalters und beiderlei Geschlechts vereinigt waren, hätte er lügen müssen, wenn er hätte sagen wollen, daß ers mit Lust und Freudigkeit thue. »Wird ein schönes Gezüchte sein!« dachte er, und die schlotterige Haltung, mit der die Kinder in den engen Bänken saßen, stimmte zu seiner Voraussetzung. Aber Paul trug keine Brille und seine aufrechte soldatische Haltung, sein kräftiger Schnurrbart gaben den Kindern nichts zu lachen. Wie er sich am Katheder aufstellte und den Blick über die Kinder schweifen ließ, bemerkte er, daß sich unwillkürlich einige Buben aufrechter setzten; ein Wink mit den Augen genügte, um auch einen langen Bengel, der mit ausgestreckten Beinen, die Hände in den Taschen halb unter die vorderste Bank rutschen zu wollen schien, eiligst zu einer Bewegung nach aufwärts zu veranlassen. Und nun fand Pauls Blick auch den bewußten Anhaltspunkt: Es war das frische klare Gesicht eines etwa zehnjährigen Mädchens mit blonden Haaren und großen blauen Augen. Die saubere städtische Kleidung des Mädchens war es zuerst gewesen, was des Lehrers Aufmerksamkeit auf das Kind gelenkt hatte, dann aber fesselte ihn der Ausdruck des Gesichtes, in welchem wohl die heitere Neugier nicht fehlte, welches aber so gut und treuherzig, so aufgeweckt und zutraulich dreinschaute, daß Paul sofort die erfrischende und erwärmende Wirkung verspürte, welche derartige Kindergesichter immer auf den Lehrer üben, und wenn er noch so verdrießlich das Schulzimmer betritt. Und nun regte sich in Paul auch der Schulmann, der er ja doch im Grund mit Lust und Liebe war – er gieng in Gottes Namen ins Zeug. Mit einer wichtigthuenden oder rührsamen Ansprache an die Kinder verunköstigte er sich nicht, er begann sofort mit dem Schulgebet und dem Unterricht.
So glatt giengs nun freilich nicht weiter. Schon in der ersten Stunde konnte sich Paul davon überzeugen, daß sein Fuhrmann Bührer keine zu niedere Meinung von dem Stand der Schule in Mönchswald geäußert hatte. »Aber ihr seid ja alle mit einander entsetzliche Nichtskönner!« wollte ihm schon einmal herausfahren, er verschluckte es aber in der Erwägung, daß das wohl gerade kein Sporn für die Kinder sein müßte, die sicherlich selbst am wenigsten Schuld an ihrer Unwissenheit trugen. Zeigte ja doch selbst das hübsche Mädchen, das auf seine Frage sich Lina Erdmann genannt hatte, ganz bedenkliche Lücken in ihren Kenntnissen. Und auch das wurde ihm bald klar, daß es eine weitaus leichtere und angenehmere Beschäftigung sei, drei Kinder aus einer feingebildeten Familie zu unterrichten, als diese ungeschlachte Rotte von etlichen fünfzig Bauernbuben und Bauernmädchen aller Altersstufen.
Auch mit der Handhabung der Ordnung giengs nicht so mühelos weiter. Schon in der ersten Viertelstunde begann der Lange in der vordersten Bank – Benzberger stellte sich als sein Name heraus – zu bohrzen, zu rutschen, seine Nebenmänner zu stupfen, dann zu flüstern, zu lachen. Paul behielt ihn im Auge, ohne etwas zu sagen; nach fünf Minuten war nicht nur die vorderste Bank, sondern die halbe Klasse in einem Zustand prickelnder Unruhe. Nun griff Paul zu: ohne ein Wort zu verlieren, faßte er den jungen Benzberger beim Kragen, hob ihn mit kräftigen Armen über die Bank heraus, stellte ihn auf die Füße, führte ihn am Wams zur Thüre, öffnete dieselbe und sagte, während er den Missethäter hinausschob, ganz freundlich: »so, nun sieh dir einmal die Thüre von außen recht genau an!« Das alles kam so überraschend, gieng so schnell, daß der Betroffene nicht den geringsten Widerstand leistete und die andern Unholde mit offenen Mäulern und in Grabesschweigen nur gafften. Aber kaum hatte sich die Thüre hinter Benzberger geschlossen, so entstand ein schallendes Gelächter. Einen Augenblick ließ es Paul gewähren, dann rief er in kurzem militärischem Kommandoton: »ruhig!« Und es ward ruhig, der Unterricht gieng weiter. Wieder nach fünf Minuten öffnete Paul die Thüre wieder – siehe da stand Benzberger noch auf demselben Fleck und sah den Herrn Lehrer groß an. Dieser winkte nur mit Auge und Hand, Benzberger schlich wieder herein an seinen Platz, und für diesen Morgen war der Lümmel völlig zahm.
Später freilich hat er seinem Lehrer noch mancherlei Kreuz bereitet, und er war nicht der einzige unter der Mönchswalder Schuljugend, der dies that. Eine saure und oft genug niederschlagende Arbeit blieb das Schulgeschäft vorläufig für Paul, doch gieng es auch wieder besser als er gedacht hätte; denn Respekt hatten die Schüler in der ersten Stunde bekommen, und daß Paul im Grunde die Kinder liebte und mit ihnen umzugehen wußte, das spürten die Besseren doch auch bald heraus und lohnten es ihm, soweit es eben unter den vorwaltenden Umständen zu erwarten war.
Als die Schule an jenem ersten Morgen geschlossen wurde, kam Lina Erdmann auf Paul zu und sagte freundlich, ihre Eltern ließen ihn bitten, wenn sie ihm in irgend etwas zu Diensten sein könnten, sich an sie zu wenden. Paul trug dem Mädchen seinen Dank auf, und wie er in der Erinnerung suchte, fiel ihm sein alter Lehrer Erdmann ein, der ihn in den Knabenjahren unterrichtet hatte, und er meinte sich dunkel zu erinnern, daß ein Sohn desselben damals Land- und Forstwirthschaft studirt habe. Vielleicht war das der jetzige Verwalter Erdmann auf Andeck.
Der Nachmittag war schulfrei und Paul machte sich auf den Weg nach Rauhenstein, um sich dort dem Pfarrer und Schulinspektor vorzustellen. Der Weg nach Rauhenstein, wohin Mönchswald eingepfarrt war, führte eine starke Stunde über den Berg, zum großen Theil wieder durch den Wald. Die erste Hälfte des Sträßleins, holperig, schlecht gehalten, vielfach vergrast, ließ sicher vermuthen, daß die Gemeinde Mönchswald die Unterhaltung habe; die andere Hälfte, Rauhenstein zu, war in vortrefflichem Stande, breiter, sauber beschlagen. Das Dorf Rauhenstein lag ähnlich wie Mönchswald in einem Thalkessel, der sich aber weiter gegen die Ebene öffnete. Auf den Wiesen um Rauhenstein hatte die Heuernte schon begonnen, während Paul auf der Mönchswalder Seite noch nichts davon wahrgenommen hatte. Auch das Dorf Rauhenstein selbst machte einen ganz andern Eindruck als Mönchswald. In Mönchswald hatte Paul auch an den wenigen größeren Bauernhöfen, an denen er vorübergekommen war, überall die deutlichen Spuren der Verwahrlosung bemerkt: halbabgefallene Verputzung an den Giebeln, da und dort eine zerbrochene Scheibe, ein schiefhängender Fensterladen, in den Hofraithen ein unordentlicher Sumpf als Dunglege, die Ackergeräthe verlottert und lotterig umhergestellt. Auch das Vieh, das da oder dort zu sehen war, machte einen dürftigen Eindruck, schien schlecht gefüttert. Ganz anders alles in Rauhenstein! Ein Malerauge freilich hätte sicherlich Mönchswald vorgezogen und Rauhenstein langweilig und unmalerisch gefunden. Aber Paul Ritter war nicht Maler genug, um nicht von den sauber getünchten Häusern mit den vielfach frisch angestrichenen Fensterladen, von den reinlich und geordnet gehaltenen Bauernhöfen angenehm berührt zu werden. Was von Vieh zu sehen war, sah glatt und wohlgenährt aus, in allem hatte Paul, so wenig er von der Sache verstand, den Eindruck, daß hier Ordnung und Wohlstand herrsche und die Landwirthschaft munter und nach Grundsätzen betrieben werde. Das Schloß Rauhenstein stand in der Nähe von Kirche und Pfarrhaus mitten im Dorf, ein einfaches freundliches Herrenhaus in neuerem Stile, von wohlgepflegtem Garten und kleiner Parkanlage umgeben, seitwärts umfangreiche Oekonomiegebäude.
Paul traf seinen Vorgesetzten im Pfarrgarten, der zwischen Kirche und Schloßgarten lag. Der Pfarrer, ein angehender Sechziger von mildem freundlich einnehmendem Wesen, empfieng den jungen Mann wohlwollend, kam dann bald auf die Mönchswalder Verhältnisse zu sprechen und konnte nicht viel Tröstlicheres mittheilen, als Paul schon gehört und wahrgenommen hatte. Die Schulbehörde, meinte er, scheine besonderes Vertrauen in Herrn Ritter zu setzen, und es werde gut sein, wenn er von vornherein über die Dinge und Personen einige Klarheit erhalte. Das Verderben von Mönchswald, könne mein wohl sagen, sei der Baron von Andeck. Sein Gemüth und Charakter müssen in früher Jugend schon durch ungünstige Einflüsse theils verbittert, theils verwildert worden sein. Später sei er verheiratet gewesen, auch nicht eben glücklich, von seiner Frau habe er sich getrennt, sie lebe jetzt nicht mehr, und sein einziger Sohn, ein Thunichtgut, sei in Amerika gestorben und verdorben. Der Baron selbst sei zum Trinker herabgesunken, seine Standesgenossen meiden ihn, seine ökonomischen Verhältnisse seien zerrüttet, so sehr sich der nunmehrige Verwalter Erdmann bemühe, sie wieder emporzubringen, worin er von dem Vetter des Herrn von Andeck, dem Baron Richard von Rauhenstein, nach Möglichkeit unterstützt werde. Der Letztere, ein Rittmeister außer Dienst und vorzüglicher Landwirth, sei auch persönlich ein trefflicher Mann, ihm werde einmal die Erbschaft in Andeck zufallen, da die Andeck-Rauhenstein'sche Linie des Geschlechts mit dem alten Baron drüben aussterbe. Man möchte wünschen, daß der Rittmeister schon lange auf Andeck drüben wäre, denn die Zerrüttung aller Verhältnisse auf dem dortigen Schloß und Gut habe sich auch dem Dorf in der schlimmsten Weise mitgetheilt, und der persönliche Einfluß des Barons, welcher fast jahraus jahrein auf Andeck sitze, mache die Sache noch schlimmer; was von dem Schultheißen drüben zu erwarten sei, werde Paul schon gemerkt haben.
Paul bejahte, berichtete von jener ersten Begegnung im Wirthshaus und bemerkte, daß er es wohl begreife, wenn sich niemand um die Schulstelle in Mönchswald bewerbe.
Einen besseren Zug, fügte der Pfarrer bei, könne man an dem Baron von Andeck beobachten: er sei außerordentlich freigebig gegen die Armen, obwohl er immer in einer brutalen Weise gebe und ohne jede Klugheit, so daß er auch dadurch vielfach mehr verderbe als gut mache. Und ein ganz merkwürdiger Zug an ihm sei folgender: in früheren Jahren, wo er auch nach dieser Richtung in Mönchswald viel Unheil gestiftet habe, habe er einmal ein Bauernmädchen unglücklich gemacht; dieselbe habe den Tod im Wasser gesucht und gefunden, in einem der früheren Klosterteiche bei der Fabrik, und ein junger Bursche, der Liebhaber des Mädchens, der ohnedies wenig Verstand zu verlieren gehabt habe, sei darüber vollends verrückt geworden. Dieser, der tolle Peter genannt, halte sich seitdem selber für den Herrn von Andeck, und der Baron habe ihm nun seit Jahren ein Zimmer im Schloß eingeräumt, lasse den gutmüthigen Irren dort sein Wesen treiben und sorge in einer Weise für ihn, die geradezu rührend wäre, wenn nicht doch mancher rohe Spaß und häufig auch etwas wie eigene Verrücktheit sich darein mischen würde.
»Sie werden noch Gelegenheit haben, sich selbst davon zu überzeugen«, fuhr der Pfarrer fort, »denn der Baron sucht die jeweiligen Lehrer von Mönchswald immer zu seinem Umgang heranzuziehen, und Sie werden in dieser Beziehung viel Takt nöthig haben. Uebrigens, wenn Sie Anschluß an eine Familie suchen, kann ich Ihnen die Familie des Verwalters in jeder Beziehung bestens empfehlen. Da Sie sehr musikalisch sind, wie ich aus Ihren Zeugnissen ersehe, werden Sie vielleicht auch Gelegenheit finden, die verwittwete Frau Burkhardt, die Besitzerin der Fabrik, kennen zu lernen – Sie können ja jedenfalls Ihre Aufwartung dort machen. Diese Fabrik trägt auch nicht zur Verbesserung der Mönchswalder Verhältnisse bei: es ist derselbe Gang der Dinge wie sonst vielfach auch. Die Leute werden der Landwirthschaft entzogen, gewöhnen sich an hohe Löhne und vorher nicht gekannte Bedürfnisse – wer weiß aber, wie lang das so fortgehen kann? Es scheinen mir auch bereits socialdemokratische Umtriebe unter den Arbeitern Eingang gefunden zu haben, und der Geschäftsführer der Frau Burkhardt, Herr Polling, ist nicht der Mann, diese Gefahr zu beschwören. Man kann ihm eigentlich weder Gutes noch Böses nachsagen, er ist eben ein rücksichtsloser Geschäftsmann und harter Geldmensch, der schwerlich ein Herz für die Arbeiter hat. Frau Burkhardt selbst ist eine feingebildete Frau, ein Gemüth wie Gold, das vielleicht – ich weiß nicht – in früheren Jahren auch Schweres durchgekämpft hat. Es will mir wenigstens scheinen, als ob die klare, in sich harmonische Ruhe, das Ganze und gewissermaßen Abgeschlossene in ihrem Wesen nicht blos Natur seien, sondern innerlich errungen. Doch wie gesagt: ich weiß das nicht! Aber, was ich sagen wollte: auf die Fabrikverhältnisse hat sie seit dem Tod ihres Mannes keinerlei Einfluß mehr; dafür ist sie wieder zu sehr Kind von Gemüth, nicht praktisch genug, sie lebt zu sehr in der Welt der Innerlichkeit, in der Welt ihrer Dichter und Musiker, und vor einer gewissen Gewaltthätigkeit des Herrn Polling zieht sie sich mehr und mehr zurück. Sie würde eigentlich mehr auf einen Edelhof oder ins Haus eines Künstlers oder Gelehrten taugen als zur Fabrikbesitzerin. – Doch was rede ich Ihnen da? Ich wollte Sie nur, so weit es Ihnen von Werth sein muß, mit den Verhältnissen bekannt machen, aber wenn man von Frau Adelheid spricht, geht einem unwillkürlich der Mund über!«
Der gute alte Herr konnte nicht ahnen, daß er mit seinen Worten einen Stachel tiefer drückte, der ohnedies tief genug im Herzen des jungen Mannes saß. Es fiel ihm nur auf, daß Paul etwas hastig sich verabschiedete, er empfahl ihm noch, dem Herrn Rittmeister von Rauhenstein seine Aufwartung zu machen, sprach auch den Wunsch aus, Paul möchte als guter Musiker sich des Orgelspiels beim Sonntagsgottesdienst etwas annehmen, was zwar nicht seine Obliegenheit sei, worin ihm jedoch der sonst sehr tüchtige, aber wenig musikalische Lehrer von Rauhenstein sicher kein Hinderniß in den Weg legen werde.
Den Rittmeister traf Paul nicht zu Hause und bald war er wieder auf dem Wege nach Mönchswald zurück. Er ging rasch seines Weges und ärgerte sich innerlich über sich selbst. Er glaubte doch ein Mann geworden zu sein, die Herrschaft über sich selbst gewonnen zu haben und mancherlei Lebensverhältnissen gewachsen zu sein. Und nun, seit er nach diesem Mönchswald verschlagen war, kam er sich innerlich vor wie ein Faß ohne Reifen. Er mochte sich vorsagen, was er wollte, er brachte die Verstimmung darüber nicht zur Ruhe, daß er auf diesem Nest, in diesen widrigen Verhältnissen sitzen solle – wer konnte wissen, wie lange, trotz aller schönen Worte des Herrn Schulraths? Es wollte ihn zwar reizen, gerade auf schwierigem Posten den Mann zu zeigen, aber dann wollte es ihm wieder Vergeudung seiner Kraft dünken, wenn er hier mehr als gerade seine Pflicht thue. Und nun zu allem die Gewißheit, daß Adelheid Weinhold, jetzt Witwe Burkhardt, in nächster Nähe sei, daß er ihr begegnen mußte – nicht flüchtig nur wie dort im Walde, als wäre sie nur eine Traumerscheinung – und wie, wie sollte er ihr begegnen? Er war nicht mehr derselbe, der er vor Jahren gewesen, ein Gefühl sagte ihm: das kann nicht wiederkehren! Und doch wollte es wiederkehren, auf Tritt und Schritt verfolgte es ihn, er kämpfte dagegen, aber matt, lahm, des Pfarrers begeisterte Reden über Frau Adelheid hatte er doch mit Entzücken eingesogen, er sehnte sich, sie wieder zu sehen, und doch hätte er fliehen mögen, so weit der Himmel blau war – er war sich selber im Wege, er ärgerte sich über sich selbst.
So ging er allein seines Weges, der längst wieder durch den Wald führte. Bald mußte derselbe zu Ende sein, dann lag wieder Mönchswald vor ihm. Das konnte er erwarten, obwohl es schon gegen Abend ging, er trat seitswärts vom Weg in den Wald, warf sich unter einen Busch und hing seinen Gedanken nach. Von seinem Platz aus konnte er einen Theil der Straße übersehen, und bald wurden seine Gedanken unterbrochen durch einen Handwerksburschen, oder was der stämmige kräftige Mensch war, der da mit Pfeifen seines Weges kam. Paul hatte den nicht gerade schlecht gekleideten Burschen schon in Rauhenstein in ein Wirthshaus treten sehen, nun schien er ziemlich angeheitert, sprach auch zwischen sein Pfeifen hinein laut vor sich hin, er schien über die Rauhensteiner zu brummen, die ein »zurückgebliebenes Bauernpack« seien. Als er näher gekommen war, kamen seitwärts aus dem Walde zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, die Paul als Mönchswalder Schulkinder erkannte. Sie hatten Erdbeeren gesammelt und der Knabe sang mit heller Stimme die »Wacht am Rhein«.
»Halt!« schrie der Handwerksbursche die Kinder an; sie blieben ängstlich einen Augenblick stehen, dann wollten sie Reißaus nehmen. Der Bursche aber faßte den Knaben am Ohr und sagte:
»So, du hoffnungsvoller Mordspatriot, hast du auch das Liedlein schon gelernt? Wart, ich will dich ein anderes lehren! Sing mir nach!«
Und er begann den Kehrreim der »Arbeitermarseillaise«:
»Die neue Rebellion,
Die ganze Rebellion,
Marsch, marsch –«
Da stand aber schon Paul Ritter vor ihm.
»Lassen Sie das Kind!« herrschte er den Menschen an, »schweigen Sie und gehen Sie Ihres Weges!«
»So?« erwiderte der Bursche, »ich möchte wissen, wer mir hier zu befehlen hat?«
»Jeder anständige Mensch, der solche Lümmeleien nicht dulden will! Ueberdies bin ich der Lehrer dieser Kinder!«
»Ah so, der berühmte deutsche Schulmeister? Freut mich!« grinste der Bursche.
»Unverschämter Geselle! Fort jetzt!« rief Paul.
»Oho! Wenn ich mag!« gab jener zurück und fuchtelte mit seinem Stock. Mit einem Griff hatte Paul den Stock erfaßt – ein Ruck, da flog er in den Wald. Aber nun fuhr ihm der Mensch an die Kehle, die Kinder liefen schreiend davon und die Beiden rangen. Paul glaubte sich dem Burschen gewachsen, aber dieser hatte doch den günstigeren Griff, Paul strauchelte und war im Begriff zu stürzen – da schrie der Andere plötzlich laut auf und ließ los.
Beide Gegner hatten den Hufschlag eines Pferdes überhört, der sich aus der Richtung von Mönchswald her schon eine Weile im Schritt genähert hatte und nun plötzlich in einigen kurzen Galoppsprüngen in nächster Nähe erschallt war. Sofort war auch der sausende Hieb eines Reitstocks über die Schulter des Burschen gefallen und hatte ihn veranlaßt, mit einem Schmerzensschrei von Paul abzulassen und an den Rand des Straßengrabens zurückzutreten.
Der Reiter hielt auf einem eleganten Fuchs zwischen Paul und seinem Gegner. Es war ein schlankgewachsener Mann mit großem dunkelblondem Vollbart, dessen Aeußeres trotz der Civilkleidung den Reiteroffizier vermuthen ließ.
»Fassen wir den Menschen!« rief er Paul zu und sprang selbst vom Pferde. Aber der Bursche hatte kaum den Reiter scharf ins Auge gefaßt, als er mit einem Satz über den Straßengraben war und durch den Wald davoneilte.
Der Reiter lachte.
»Lauf zu! Dich kenn' ich!« sagte er und wandte sich dann an Paul: »Sie haben doch keinen Schaden genommen?«
»Nein! Aber ich habe Ihnen zu danken für Ihre Dazwischenkunft. Wer weiß –«
»Der Bursche wird zu erreichen sein! Er wird wahrscheinlich Arbeit auf der Fabrik suchen – trotz dieses Vorgangs. Frech genug ist er dazu. Ich habe ihn an den Schielaugen erkannt, er diente seinerzeit in meiner Eskadron und war der nichtsnutzigste Patron im ganzen Regiment. Ein verkommener Schreiber!«
Paul ahnte, wen er vor sich hatte, er stellte sich dem Herrn vor und auch dieser nannte seinen Namen: »Baron Rauhenstein!«
Paul erzählte näher den Vorgang, den der Baron aus der Ferne mit angesehen und sich so ungefähr gedeutet hatte. Dann gab ein Wort das andere; trotzdem Paul es dankend ablehnen wollte, ging Herr von Rauhenstein, sein Pferd am Zügel führend, noch einige hundert Schritte mit ihm zurück, Mönchswald zu – für alle Fälle sei es doch sicherer, meinte er. Man sprach über dies und das, wie bei einem ersten Zusammentreffen die Unterhaltung umherzuschweifen pflegt, und Paul empfand es nach seiner gestrigen Begegnung mit dem Baron von Andeck um so wohlthuender, daß dieser Herr von Rauhenstein eine ungezwungene Freundlichkeit ohne jede Spur von Herablassung mit jener gemessenen Zurückhaltung verband, die bei erstem Bekanntwerden viel angenehmer berührt als eine allzu beflissene Liebenswürdigkeit. Als der Rittmeister am Ende des Waldes zu Pferd stieg und sich wieder Rauhenstein zu wandte, sprach er noch sein Bedauern aus, den Besuch Pauls versäumt zu haben und forderte ihn auf, denselben gelegentlich zu wiederholen.
Paul verabschiedete sich dankend und im Weitergehen pries er innerlich diesen Zwischenfall, der ihn aus seinen Gedanken herausgerissen und ihm etwas wie Kampflust und trotzigen Muth auch den Mönchswalder Verhältnissen gegenüber zurückgelassen hatte. Zugleich kam ihm das Gefühl, als ob dort in Rauhenstein ein gewisser Rückhalt für ihn würde zu finden sein.
Als Richard von Rauhenstein an jenem Abend die Gartenterrasse betrat, wo seine Schwester Dorothea nach Gewohnheit am Theetisch seiner wartete, begann er:
»Heut' habe ich eine neue Bekanntschaft gemacht und eine alte erneuert – oder vielmehr: letzteres hat mein Reitstock gethan!«
Und er erzählte den Vorgang im Walde.
»Ein recht angenehmer Mann, dieser Herr Ritter!« fügte er bei. »Wir sind gerade nicht anspruchsvoll hier auf dem Lande, aber der Mann hat mir den Eindruck gemacht, als ob er eigentlich irgendwo anders hingehören würde, als nach Mönchswald. Und Muth hat er – das gehört immerhin nach Mönchswald.«
»Da wird man begierig sein dürfen, wie er mit unserm Herrn Vetter von Andeck zurecht kommt,« erwiderte Baronesse Dorothea. Sie sprach den Namen nicht ohne leichtes Naserümpfen aus.
»Bin auch begierig,« sagte der Rittmeister.
Das Freifräulein Dorothea von Rauhenstein erschien um ein gutes älter als ihr Bruder, welcher im Anfang der Dreißig sein mochte. Sie hatte eine sehr aufrechte Haltung und sehr gemessene Bewegungen, doch ließ eine gewisse rundliche Fülle ihrer Gestalt beides nicht gerade steif erscheinen. Ihr Naserümpfen war sehr ausdrucksvoll und machte den Eindruck, als ob es nicht zu den seltensten Bewegungen ihres nicht unschönen Gesichtes gehöre. Vielleicht rümpfte sie öfter und über mehr Dinge die Nase, als ein gewöhnlicher bürgerlicher Verstand nothwendig gefunden hätte. Doch lag auch wieder ein unverkennbarer Ausdruck von Gutmüthigkeit in ihrem Gesicht, und auf dem Bruder hafteten ihre Augen mit einem liebevollen Blick, der fast etwas Mütterliches an sich hatte.
»Du warst auf Andeck?« fragte sie.
»Ja, ich habe aber den Baron Alfred nicht aufgesucht. Ich mußte einiges mit Herrn Erdmann reden – es wird wohl wieder einmal an meine Kasse gehen. Dann bin ich noch auf die Fabrik hinübergeritten –«
Er machte eine kleine Pause und ein leichter Schatten glitt über seine Züge, während bei Dorothea, die in ihre Tasse sah, die Nasenflügel wieder in kaum merkliche Bewegung geriethen.
»Ich hatte mit Herrn Polling wegen der zwei Braunen zu reden, die er mir abkaufen möchte. Ich gebe sie nicht gern her, obwohl sie mir zum Ackerzug etwas zu leicht sein wollen. Doch bin ich beruhigter, seit ich beobachtet habe, wie sorgfältig und schonend der Fuhrmann Bührer mit den Pferden umgeht. Sonderbar, auch den Bührer mag Herr Polling nicht, er hat ein auffallendes Talent, immer gerade die Leute zurückzustoßen, die er am besten brauchen könnte. Da hat er, gerade wie ich drüben war, wieder einen Arbeiter von Mönchswald Knall und Fall entlassen um geringfügiger Widersetzlichkeit willen. Es ist ja wahr, die Mönchswalder sind rauhborstig und oft roh und widerspenstig. Aber dieser Polling hat auch eine gar zu ungute und unfreundliche Art, mit den Arbeitern umzugehen. Und seine Vorliebe für die auswärtigen Arbeiter, die er mehr und mehr heranzieht, kann ihm verhängnißvoll werden. Sie sind vielfach geschickter und anstelliger als die Mönchswalder, das ist wahr, und sie pariren besser als die Mönchswalder – aber ich bin nur begierig, wie lange? Laß sie nur einmal warm geworden und in genügender Anzahl beisammen sein! Und da ist unter den Mönchswaldern ein gewisser Benzberger, ein frecher verlumpter Kerl, der hält ganz zu den fremden Arbeitern und sucht auch die Mönchswalder in ihrem Sinn zu bearbeiten – merkwürdig, daß Herr Polling den nicht entläßt. Ich habe es ihm angedeutet, aber der Benzberger weiß jedesmal, wenn er noch so unverschämt und nichtsnutzig sich aufgeführt hat, wieder so hündisch zu kriechen, daß Polling immer wieder sich gewinnen läßt. Das gefällt mir nicht – ist kein gutes Zeichen für Polling. Ueberhaupt gefällt mir der Mann nicht. Er mag ein guter Geschäftsmann sein – wer weiß übrigens, ob er nicht zu übermüthig spekulirt – aber sonst macht er keinen angenehmen Eindruck. Schon sein Aeußeres – dieser verkniffene Mund über dem Lincolnsbart, das Amerikanerhafte – mit dem Vetter Andeck muß er auch irgend einen Span haben, und der Benzberger scheint eine Kreatur von Beiden zu sein und nach beiden Seiten – –«
»Du interessirst dich ja sehr ins Einzelne für die Dinge auf der Burkhardtschen Fabrik,« bemerkte Dorothea.
»Warum soll [ich] nicht?« erwiderte Richard, »diese Dinge sind für die ganze Gegend von Wichtigkeit –«
»Und mein Bruder interessirt sich für alle Zustände in der ganzen Gegend – und ganz im Allgemeinen!« Dorothea sagte das Letzte mit eigener Betonung.
Richard ließ einen forschenden Blick zu der Schwester hinübergehen.
Dann schwieg er und sah vor sich hin.
»Hast du Frau Burkhardt gesprochen?« fragte Dorothea in scheinbar gleichgiltigem Tone.
»Ja, flüchtig!« antwortete Richard, ohne aufzusehen. Es entstand eine Pause. Nach und nach ging ein Lächeln über Richards Gesicht.
»Bist du's überdrüssig, Schwesterchen,« sagte er, »die Herrin auf Gut Rauhenstein zu sein?«
»Du weißt,« erwiderte sie, »daß ich jederzeit bereit bin, daß es sogar mein Wunsch ist, die Herrschaft an eine Frau von Rauhenstein abzutreten, selbst wenn es – –«
»Selbst wenn es deine Freundin aus der Residenz, die Gräfin Uslar wäre!« lächelte Richard.
»Ich habe kein Recht, in dieser Beziehung einen Wunsch zu äußern,« erwiderte Dorothea etwas gereizt.
»Ei«, sagte Richard mit gutmüthigem Spott, »du hast mir ja schon oft gesagt, daß du mich eigentlich auferzogen habest, und du hast in der That bis auf diesen Tag vortrefflich Mutterstelle an mir vertreten. Mütter aber pflegen zuweilen in dieser Beziehung doch, wenigstens andeutungsweise, Wünsche zu äußern.«
»Mögen sie's!« antwortete Dorothea.
Beide schwiegen wieder eine kleine Weile. Dann begann Richard in völligem Ernst:
»Ich weiß, was dir vorhin auf den Lippen lag: ›– selbst wenn es eine bürgerliche wäre!‹ wolltest du sagen. Daß in dieser Beziehung unsere Anschauungen ein wenig auseinandergehen, wissen wir. Ich weiß aber auch, daß ich deine nicht ganz ausgesprochenen Worte ernst nehmen darf, daß du bereit bist, auch deine Anschauungen zu opfern, wenn du fühlst, daß es mein Glück gilt. Und du weißt, das zeigen deine Andeutungen, daß mein Interesse an der Fabrik drüben nicht allein aus allgemeiner Menschenliebe entspringt, sondern – einmal muß es doch heraus – aus Liebe zu Frau Adelheid.«
Er sprach das letzte mit gedämpfter Stimme. Wieder schwiegen Beide, Dorothea hatte offenbar etwas niederzukämpfen. Nach einer kleinen Weile erhob sich Richard, er strich der Schwester leise mit der Hand über die Schläfe und sagte weich, sich zum Gehen wendend:
»Nun ists heraus. Ueberlege es.«
Dorothea aber hielt ihn zurück. Ihre Stimme klang zuerst etwas rauh, aber bald bekam der Klang der Stimme und der Blick, mit dem sie zu dem Bruder aufblickte, etwas ausgesprochen Mütterliches, wie sie nun sagte:
»Nein, Richard, da ist für mich nichts zu überlegen. Darüber, daß meine Ansichten deinen Wünschen schnurstracks entgegenstehen, brauche ich kein Wort weiter zu verlieren. Aber dein Herz war allezeit so gut, dein Gefühl so richtig und dein Verstand so klar, daß ich mich immer zuletzt gefügt habe, wo du etwas ernstlich wolltest. Ich glaube, ich vermag es auch in diesem Fall.«
Richard beugte sich zu der Schwester nieder und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.
»Ich wußte es,« sagte er. Dann setzte er sich wieder neben sie und begann leise und eifrig weiter zu reden.
»Ich kanns nicht ändern,« schloß er, »es widerstrebt meinem ganzen Wesen, um sie zu werben, ehe ich irgend ein Anzeichen habe, daß auch sie mich liebt. Aber wer ergründet sie, diese seltsame Natur?«
Es war am Vormittag des folgenden Sonntags. Der Gottesdienst in Rauhenstein war zu Ende und die verhältnißmäßig wenigen Kirchgänger, die von Mönchswald herübergekommen waren, befanden sich auf dem Heimwege. Auch eine elegante Equipage fuhr in langsamem Schritte durch den Wald bergauf; sie war leer und dahinter gingen zwei Damen, theils in eifrigem Gespräch begriffen, theils dazwischen von dem Waldrain neben der Straße Blumen pflückend. Die Eine, wohl die Aeltere von Beiden, war trotz der heute schwarzen Kleidung leicht als dieselbe zu erkennen, welcher Paul Ritter neulich drüben am Wald begegnet war. Was sofort an ihrer Erscheinung auffiel, war der schwebende Gang, der kaum den Boden zu berühren schien, und die leichtgeneigte Haltung, mit der sie das Haupt trug, das mit seiner Fülle von schweren dunkeln Flechten fast etwas zu groß erscheinen wollte für die schlanke zarte Gestalt. Ihre jüngere Begleiterin war größer, von kräftiger gebauter Gestalt, und das offene Gesicht unter den blonden etwas gelockten Haaren zeigte auffallende Aehnlichkeit mit Lina Erdmann, der kleinen Schülerin Ritters, nur daß an Stelle jener großen blauen ein Paar helle braune Augen lebhaft und entschlossen in die Welt sahen.
»Und du hast also den Antrag des Pfarrers von Erlenbach abgelehnt, Frida?« sagte Frau Adelheid, indem sie den Arm ihrer Begleiterin nahm und sie mit theilnehmendem Blick ansah, dessen etwas verschleierter Glanz nicht sicher erkennen ließ, ob das Auge blau oder grau sei.
»Natürlich!« erwiderte Frida. »Er mag ja ein ganz vortrefflicher Mann sein, obwohl er mir immer etwas zu salbungsvoll war und gar zu viel vom Unglauben und vom Zeitgeist redet –«
»Kind, Kind!« unterbrach sie Frau Adelheid, »was verstehst du davon?«
»Nichts! Ich bin ja nur ein Mädchen. Aber ich meine, man könne herzlich fromm und auch ein recht guter Pfarrer sein, ohne immer zu jammern und zu eifern über die heutige ungläubige Welt. Unser alter Herr Pfarrer in Rauhenstein thuts ja auch nicht, und der ist doch gewiß ein frommer Mann und seine heutige Predigt ist mir wieder recht zu Herzen gegangen. Aber das möchte sein wie es wollte, ich liebe diesen Herrn Pfarrer von Erlenbach eben nicht, und deshalb habe ich ihn abgewiesen.«
Frau Adelheid sah nachdenklich vor sich hin. Dann begann sie wieder:
»Du weißt, es ist heute der Todestag meines Vaters, da wird mir wieder manche alte Erinnerung lebendig und ich sage dir, Mädchen: es haben schon manche sich in Liebe verbunden und es ist doch kein Glück daraus geworden. Bei meinen Eltern war es so, und das hat trübe Schatten schon in meine früheste Kindheit geworfen und mir einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Mein Vater war ein seiner Zeit berühmter Violinspieler, später Professor an der Musikschule, und er war, wie diese Männer oft sind, reizbar, leidenschaftlich, von feiner, oft allzufeiner Empfindung und leicht zu zornigem Auflodern geneigt. Meine Mutter war die einzige Tochter eines reichen Kaufmannshauses, von Kindheit auf daran gewöhnt, daß alle ihre Wünsche erfüllt wurden und jedermann ihr mit der zartesten Rücksicht und Nachsicht oder mit Unterwürfigkeit entgegenkam. Sie war schön, meine gute Mutter – o wie schön! – und von der Zeit an, da sie in die Welt trat, lagen ihr die Männer all zu Füßen. Das ist ein dummer Ausdruck, aber er ist oft genug zutreffend; du weißt nicht, Kind, wie jämmerlich die Männer in der großen Welt meist sind: alles, nur eben keine Männer, wenigstens uns Frauen gegenüber nicht. Mein Vater war ein Mann, aber kein kühler, ruhiger Mann; sein Gemüth, sein Gefühl waren noch stärker als sein Verstand, sein Wille, so kräftig auch der letztere sich geltend machen konnte. – Meine Eltern liebten sich so leidenschaftlich, wie's nur in Büchern stehen kann, oder vielmehr nicht, wie's meist in den Büchern steht, die kein echter Dichter geschrieben hat, sondern wie's im Leben ist, wo jede Leidenschaft ihre Schlacken hat. Und sie waren noch jung und beide fast in gleichem Alter, als sie ihre Ehe schlossen. Die Ehe dauerte fünfzehn Jahre, bis der Tod meines Vaters sie trennte, aber sie war kein Jahr lang glücklich. So sehr sich meine Eltern liebten, so sehr quälten sie sich gegenseitig auf tausenderlei Weise, sie konnten sich nicht ineinander schicken und finden, die Natur und noch mehr die Erziehung und die Gewohnheiten des einen stimmten nicht zu denen des andern. In großen Lebensfragen waren sie meist einig, in ihrer Weltanschauung auch, soweit Mann und Weib hierin jemals einig sein können, aber aus den tausend Kleinigkeiten und untergeordneten Fragen des alltäglichen Lebens und Verkehrs entwickelte sich immer neuer Zündstoff zur Uneinigkeit. Sie verletzten sich, wo sie's nicht wollten, sie empfanden jede Verletzung zu tief, um rasch über sie wegkommen zu können, indessen kam neues hinzu, und wenn sie auch tausendmal sich verziehen und in Liebe zu vergessen gelobten, sie vermochten sich selbst nicht zu ändern, und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Trennen wollten und mochten sie sich nicht, nicht nur um der bösen Welt willen, sondern weil sie trotz allem nicht von einander lassen konnten – o, ich habe Dinge erlebt – ich hatte von Kindheit an einen scharfen Blick, war das einzige Kind und etwas frühreif – ich kanns niemals vergessen, wie mir das alles, je älter und klüger ich wurde, desto tiefer ins Herz geschnitten hat. Ich verehrte den Vater, ich verehrte die Mutter, ich liebte beide aufs innigste – und doch das – und so – genug! Ich kann dir nicht mehr sagen, aber der Gedanke hat sich früh schon bei mir festgesetzt: wenn ich einmal eine Ehe schließen sollte, es müßte mit einem Mann sein, der hoch über mir stände, den ich verehren könnte wie einen Vater, dem ich gehorchen könnte, wie ich meinem Vater gehorchte, gegen den ich nie Recht haben wollte und der doch so gut und mild gegen mich wäre, wie mein Vater gegen mich war! – Wie ich vierzehn Jahr alt war, starb mein Vater. Einige Jahre nachher heirathete meine Mutter meinen Stiefvater – es ist mir heute noch ein Räthsel, was sie dazu bewog; ich kann mirs nur so erklären, daß sie ähnliches dabei suchte wie ich, als ich, nachdem auch meine Mutter gestorben war, meinem Manne die Hand reichte. Ich habe ihn nicht geliebt, wie ihr das so Liebe heißt, aber ich habe ihn verehrt, wie ich einen Mann verehren wollte, und geliebt, wie ich einen Mann lieben konnte, und ich war glücklich, so lange er lebte.«
»Und sind Sie jetzt unglücklich?« fragte Frida rasch, aber sogleich, als fühle sie ihre Unbesonnenheit, noch ehe sie ausgeredet, übergoß eine tiefe Röthe ihr Gesicht.
»O verzeihen Sie, ich bin ein thörichtes Mädchen!« sagte sie bittend.
Frau Adelheid blieb stehen und sah Frida an.
»Verzeihen?« sagte sie langsam, »eine Freundin mag so fragen, und deine Frage gibt mir neue Dinge zu denken. Ich habe in der That noch nie darüber nachgedacht, ob ich jetzt glücklich oder unglücklich sei, aber ich habe mich auch nie unglücklich gefühlt, seit ich Witwe bin, nicht einmal im ersten Schmerz nach meines Mannes Tod. Es war ein Schmerz, ja! Aber ich hatte so schöne Erinnerungen, an ihnen suchte ich mich zu halten, mit ihnen den Schmerz zu sänftigen. Und muß denn überhaupt jeder Schmerz unglücklich machen? Ich meine, auch ein Schmerz kann inneres Glück geben. Und jetzt: frage mich, ob ich glücklich sei – ich weiß auch keine Antwort. Ich bin ruhig und habe Frieden – wenn dies Glück ist, ja, dann muß ich wohl glücklich sein.«
Die Beiden schwiegen, jedes mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann begann Frida wieder schüchtern:
»Darf ich noch etwas fragen? Glauben Sie nicht doch, daß es eine Liebe gibt, die Sie nicht kennen, ich eigentlich auch nicht, eine Liebe, die – wie sag' ich nur gleich –?«
»Nun, sags nur mit Göthes Worten,« erwiderte Frau Adelheid lächelnd, »die Liebe, bei der es heißt: Freudvoll und leidvoll, – und so weiter! Nein, Kind – Göthe wußte das gewiß besser, aber verstanden hab ichs nie! Ich sang einmal das Lied mit der Melodie von Beethoven, und der junge Ritter, der damals in unserer Nachbarschaft Hauslehrer war und viel von Musik versteht, sagte mir offen, so schlecht habe ich noch nicht leicht etwas gesungen.«
Frida begann einige Takte von der Melodie zu summen, dann sagte sie, plötzlich abbrechend und den Kopf wiegend:
»Ich glaube doch, ich könnte das Lied verstehen. Es ist ja so einfach.«
»Ei beiläufig,« lenkte Frau Adelheid ab, »dieser Herr Ritter scheint unser neuer Schulamtsverweser in Mönchswald zu sein. Ich muß ihm kürzlich, wenn ich mich nicht völlig getäuscht habe, im Klosterwald drüben begegnet sein, und heute hat er in Rauhenstein die Orgel gespielt. Ich konnte ihn in der Kirche nicht recht sehen, aber es kann kein anderer gewesen sein. Es ist recht schnöd von ihm, daß er mich noch nicht besucht hat, wir haben doch seinerzeit so viel zusammen musicirt und sind ganz gute Freunde gewesen. – Ah, da kommt er ja leibhaftig!« schloß sie, sich umwendend, mit fröhlichem Tone.
In der That kam Paul Ritter hinter ihnen den Berg herauf gegangen. Johann Bührer hatte sich ihm angeschlossen und sogleich von jenem Vorgang im Rauhensteiner Walde gesprochen – durch die Kinder war es rasch im Dorfe bekannt geworden, daß ein Handwerksbursche sie angepackt habe und daß ihnen der Herr Ritter und diesem wieder der Herr von Rauhenstein zu Hilfe gekommen sei. Und voll Entrüstung erzählte nun Bührer, daß dieser Mensch – Kanz heiße er – ruhig in der Gegend geblieben und bereits auf der Fabrik als Arbeiter eingestellt sei. Der Kerl könne nichts, verstehe keine Bohne von der Glasmacherei, das habe sich gleich am ersten Tage gezeigt; aber er habe ein freches Mundstück und habe sich bei Herrn Polling eingeschwätzt, könne auch mit der Feder umgehen und werde nun von Herrn Polling zu Schreibereien verwendet. Mit dem Benzberger sei er auch schon gut Freund, und allerhand gedruckte Blättlein habe er mitgebracht, die vertheile er unter die Arbeiter; er Bührer, habe noch keines in die Hand bekommen, aber es werde wohl auch solch ein nichtsnutziges sozialdemokratisches Blättleswerk sein. Ob denn der Mensch nicht eigentlich vor Gericht gehöre?
Paul meinte, das werde sich finden. Inzwischen waren sie den beiden Andern nachgekommen. Sobald dieselben in Sicht waren, versäumte Bührer nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß das dort »die Frau« sei; und die Andere, die Größere, sei die Tochter des Herrn Verwalters. Sie sei früher, als der selige Herr Burkhardt noch gelebt habe, als eine Art Gesellschafterin bei der Frau gewesen, nun sei sie wieder zu Hause bei ihren Eltern, aber sie komme fast jeden Tag auf die Fabrik herüber und sei wie die beste Freundin der Frau. Es sei ein liebes gutes Fräulein und müsse fast so gescheit und gebildet sein wie die Frau, aber doch nicht ganz, denn so könn's keine Frau mehr geben auf dem Erdboden; und Musik mache Fräulein Frida auch, aber sie könne doch nicht singen wie die Frau. Doch ein resolutes Frauenzimmer sei sie und führe fast ganz allein die Haushaltung auf dem Gute, die Frau Erdmann brauche sich kaum mehr darum anzunehmen.
So plauderte Bührer unbefangen und zutraulich. Zudringliches lag nicht in seiner Art, es war nur eine offene Gutherzigkeit und ein sichtliches Wohlwollen für den jungen Lehrer. Und die rührende Anhänglichkeit und Begeisterung für Frau Burkhardt, die Bührer bei jeder Gelegenheit zeigte, hatte zwar etwas Peinliches für Paul, doch zog sie ihn gerade wieder zu dem Manne hin.
Er war, während Bührer redete, immer schweigsamer geworden und hatte seinen Schritt zu mäßigen gesucht; er hätte hier gerne ein Zusammentreffen mit Frau Adelheid vermieden, aber Bührer schritt im Eifer seiner Rede kräftig aus und Paul konnte nicht zurückbleiben, ohne auffällig zu werden. So waren sie den Frauen ganz nahe gekommen, als diese eben ihren Wagen eingeholt hatten, der am Ende der Steigung der Straße hielt.
Und nun wandte sich Frau Adelheid zurück, trat einen Schritt auf Paul zu und sagte, indem sie ihm mit fröhlichem Lächeln die Hand entgegenstreckte:
»Guten Tag, Herr Ritter! Kennen Sie Ihre alte Freundin nicht mehr und wissen Sie nicht, daß wir schon seit acht Tagen dieselbe Luft athmen?«
Wo war auf einmal die Weltgewandtheit des Herrn Schulamtsverwesers? Indem er leicht die dargebotene Hand ergriff, begann er einige Worte zu stammeln, die aber Frau Adelheid schnell wieder unterbrach:
»Meine schlimmen Hunde haben sich neulich im Klosterwald drüben etwas unfreundschaftlich gegen Sie benommen – ich hoffe, die Thiere werden bald gute Bekanntschaft mit Ihnen machen, wenn Sie die alte Freundschaft mit ihrer Herrin erneuern wollen!«
Paul nahm sich zusammen und sprach so unbefangen als möglich seine Bereitwilligkeit dazu aus, versuchte auch einen Scherz über den Angriff der Hunde auf ihn zu machen, der indeß nicht recht gelingen wollte. Frau Adelheid schien seine noch nicht geschwundene Befangenheit nicht zu beachten, sie erinnerte sich ihrer Begleiterin und stellte diese und Paul einander vor. Zwischenein hatte sie dem mit abgezogenem Hute und etwas erstauntem Blick weitergehenden Bührer freundlich zugenickt.
Als Paul bei der Vorstellung zu Frida Erdmann hinübersah, fiel ihm sofort die Aehnlichkeit mit ihrer Schwester, seiner Schülerin, auf und es war ihm, als liege auf ihrem Gesicht und in ihren Augen dieselbe heitere Neugier und dieselbe vertrauenerweckende Offenheit, die ihn an jenem Morgen bei der kleinen Schwester so wohlthuend angemuthet hatten. Sein Blick verweilte etwas länger bei Frida, als es unter diesen Umständen die Höflichkeit gerade geboten hätte.
Aber nun wandte sich Frau Adelheid wieder zu ihm und lud ihn ein, mit in den Wagen zu steigen und bis Mönchswald mitzufahren. Paul lehnte es dankend ab, aber in einer etwas ungelenken Weise, und Frau Adelheid war so fein, dieß nicht zu bemerken sondern zu sagen:
»Ach, Sie haben wohl noch etwas mit Bührer zu reden – ich kann Ihnen den Mann empfehlen, wenn Sie irgendwie seine Dienste brauchen. Also auf Wiedersehen! Ich hoffe, Sie besuchen mich bald!«
Die Frauen stiegen ein und fuhren davon, und Paul Ritter – begann wieder einmal, mit sich selbst zu hadern.
Daß er seine innere Befangenheit Frau Adelheid gegenüber nicht unter einem völlig sicheren äußeren Benehmen zu verbergen gewußt hatte, das peinigte ihn im Augenblick mehr als seine innere Unklarheit selbst, er schalt sich einen Tölpel, der auf dem besten Weg sei, in Mönchswald vollends ganz zu verbauern, er machte die Sache vor sich selbst ärger, als sie gewesen war, und häkelte sich mit all seinen Gedanken an widrigen Aeußerlichkeiten und Kleinigkeiten fest, als ob diese der Grund des inneren Unbehagens gewesen wären. Nun schalt er sich auch darüber, daß er im Hause des Verwalters, von wo man ihm mit Gefälligkeit entgegen gekommen war, noch keinen Besuch gemacht hatte – er hatte wohl die Verpflichtung dazu gefühlt, aber ebenso die Nöthigung, auf Andeck zuerst dem Baron seine Aufwartung zu machen; das aber hatte er gern möglichst hinausgeschoben. Er war auch in der Stadt gewesen, um für Einrichtung seiner Zimmer einiges zu besorgen und hatte damit seine Verzögerung vor sich zu begründen gesucht. Nun aber nach diesem Zusammentreffen mit Fräulein Erdmann, belästigte ihn auch diese kleine Angelegenheit und sogleich stieg hinter ihr wieder ein Dutzend anderer Aermlichkeiten und Widerwärtigkeiten seines Mönchswalder Alltagslebens auf. Dann fiel sein Blick auf den vor ihm gehenden Bührer und der Gedanke war ihm unbequem, was wohl dieser sich für Gedanken darüber machen werde, daß er sich hier auf einmal als ein alter Bekannter von Frau Burkhardt entpuppt habe? Und dann zürnte er sich selbst wieder darüber, daß er diese Nebensachen so wichtig nehme und nicht abschütteln könne – und dann sah er wieder Frau Adelheid vor sich mit ihrem unbefangenen Lächeln und Frida daneben mit dem fragenden Blicke – und endlich redete er sich in einen Grimm gegen die Oberschulbehörde hinein, die nichts Besseres gewußt habe, als ihn nach Mönchswald zu schicken, wo alles zusammentreffe, ihn aus Rand und Band zu bringen – und dann schämte er sich wieder darüber und dachte an die Worte des Barons von Andeck, der sich gewundert hatte, daß Paul nicht »aufs Schimpfen über die Behörde anbiß.«
Paul gieng langsam und erst kurz vor Mönchswald holte er Bührer wieder ein.
»Der Herr Schulamtsverweser kennen die Frau von früher her?« sagte dieser ganz unbefangen. »Da wundert michs nur, daß Sie sie nicht schon neulich im Klosterwald erkannt haben. Freilich, damals wars schon gegen Dunkelwerden und man verändert sich auch mit der Zeit. Obwohl die Frau sich in der ganzen Zeit, daß sie hier ist, gar nicht verändert hat.«
Paul mußte der letzteren Bemerkung Recht geben, er antwortete mit einer allgemeinen Redensart und beschäftigte sich schweigend damit, das Bild der Frau Adelheid mit dem Bild zu vergleichen, das in seiner Erinnerung lebte, und das übte trotz allem eine sänftigende, klärende Wirkung auf seine unbehagliche Stimmung. Und dazwischen schob sich ihm das Gesicht von Frida Erdmann wieder vor sein inneres Auge und er mußte lächeln, als er es aufs neue unwillkürlich mit dem Kindergesicht seiner kleinen Schülerin verglich. So kam er allmälig wieder in frischere Stimmung und nahm sich vor, jetzt sogleich seine Besuche auf Schloß Andeck und im Erdmannschen Hause zu machen und dann bald auch bei Frau Adelheid.
Auf das kleine Kirchlein von Mönchswald zeigend, das kaum über die andern Gebäude hervorragte, sagte Bührer:
»Sehen Sie, Herr Ritter, da hätten wir eine Kirche mitten im Dorf – wenn wir nur einen Pfarrer dazu hätten, oder wenigstens einen Vikar oder Amtsverweser! 's ist halt gut, wenn ein Pfarrer im Ort ist und auch ein bischen zusehen kann, wie's im Dorf und in den Häusern zugeht. Der Herr Pfarrer von Rauhenstein kommt freilich oft zu uns herüber, und ein paarmal im Jahr ist auch Gottesdienst, aber 's ist doch nicht, wie wenn ein Pfarrer im Ort wär' und wie wenn auch alle Sonntag ein Gottesdienst im Ort wär'. Freilich, das Kirchlein ist auch nimmer gar sauber, 's ist ohnedies ein alter Bau – er soll so alt sein wie das alte Schloß dort oben auf Hohenandeck – das haben die Bauern im Bauernkrieg ausgebrannt, heißt es. Und eine Orgel ist auch nicht mehr d'rin, da siehts allemal bös aus mit dem Gesang!«
»Da könnte man helfen«, bemerkte Paul, »wenn man einen ordentlichen Kirchenchor hätte. Der könnte die Stelle der Orgel vertreten, wenn er gut eingeübt wäre.«
Bührers Augen glänzten.
»Ja,« sagte er, »wenn wir unsern alten Gesangverein noch beieinander hätten. Aber der ist schon lang auseinandergegangen, 's hat Angelegenheiten gegeben im Wirthshaus und auch mit dem Baron, und dann all' Augenblick wieder ein anderer Lehrer – da ist eben kein Gang mehr in der Sache gewesen. Jetzt ists schon lang aus. Aber wenn der Herr Ritter wieder so 'was anfangen wollt', ich wär' gleich dabei, und der Schreinerfritz auch, und 's gäb' noch manche –«
»Schon recht,« antwortete Paul, »aber im Sommer läßt sich nichts dergleichen anfangen und – ob ich im Winter noch da bin?« Er zuckte die Achseln.
»Ja, wollen Sie denn auch so bald wieder fort?« fragte Bührer traurig. »Sehen Sie, ich sag's grad, wie ich's denk: zu Ihnen hätten wir jetzt schon ein Zutrauen, nicht ich allein, auch andere habens gesagt, – 's gibt auch noch rechte Leut' in Mönchswald, und was rechte Leut' sind, denen hats schon gefallen, wie die Kinder am ersten Tag aus der Schule gekommen sind und erzählt haben, wie Sie mit dem Benzbergerle kurzen Prozeß gemacht haben – andere haben freilich geschimpft und gesagt, das ließen sie sich nicht gefallen, ihre Kinder dürfe der Schulmeister nicht anrühren, und der alte Benzberger ist wüthend auf Sie – Sie dürfen sichs aber nicht anfechten lassen, er ist ein feiger Tropf und kuscht gleich, wenn man ihm grad ins Gesicht sieht – aber, sehen Sie, mein Bub, der Heiner, hat gesagt: ›so haben wir noch keinen Lehrer gehabt, bei dem paßt man auf, man kann gar nicht anders‹ – und wie Sie sich der Kinder da neulich gegen den Kanz angenommen haben, das hat den Leuten auch gefallen, und daß Sie die Orgel spielen können, hat man heut auch gemerkt – und ich mein' halt, wenn Sie dablieben und sich um die Stelle melden thäten – «
Paul lächelte, nicht ganz so sauer wie damals am ersten Tag auf der Steige im Klosterwald drüben, aber nicht viel süßer:
»Ich danke für die gute Meinung, aber – das wollen wir abwarten.«
Als Bührer vor dem Schulhaus von dem Lehrer sich verabschiedete, sagte er noch:
»Sehen Sie, da drüben im grünen Baum sitzt richtig der Kanz mit dem Benzberger zusammen, grad' haben sie die Köpfe an die Scheiben gesteckt. Den Kanz sollt' man der Polizei übergeben –«
»Damit er ein paar Tage eingesteckt wird und es nachher so frech treibt wie vorher,« sagte Paul. »Es wird gescheiter sein, man läßt die Sache auf sich beruhen; ein Kerl, wie der zu sein scheint, entläuft dem Zuchthaus nicht!«
Eine Viertelstunde darauf war Paul Ritter auf dem Weg ins Schloß. Am Ende des Dorfes, gegen den schroffen Bergabhang hin, auf dem die Trümmer von Hohenandeck aus dem Walde ragten, führte ein breiter Weg zwischen alten Nußbäumen einen kleinen Hügel hinauf, einige hundert Schritte weit, und dann stand Paul gerade vor der Hauptfront des Schlosses Andeck. Es war ein mächtiger Bau im Stil der deutschen Renaissance, der aber einen ähnlich verwahrlosten Eindruck machte wie die meisten Bauernhöfe von Mönchswald. In der großen Halle im Erdgeschoß, in der die breite Treppe mit geschnitztem eichenem Geländer aufwärts führte, hingen Hirschgeweihe schief und verspinnwebt an den Wänden und Pfeilern, an dem Treppengeländer wurden die Handschuhe Pauls voll Staub, als er mit der Hand darüberstreifte. In dem breiten hallenden Gang des oberen Stocks hingen bis zur Unkenntlichkeit geschwärzte Ahnenbilder an den Wänden, kein Diener war um den Weg und Paul wußte nicht, nach welcher der gleichfalls geschnitzten eichenen Thüren er sich wenden sollte. Wie er noch zweifelnd stand, kam den Gang her ein langer hagerer Mann in mittleren Jahren, in einen Schlafrock mit breiten türkischrothen Aufschlägen gekleidet, eine lange Pfeife im Mund, Haare und Bart ähnlich kurz geschnitten, wie der Baron sie trug. Der Mann kam mit schlotterndem Gang auf Paul zu, pflanzte sich, starke Wolken aus seiner Pfeife paffend, vor ihm auf, und indem er mit den etwas vorstehenden Augen auf ihn heruntersah und den Mund zu einem gnädigen Lächeln verzog, sagte er:
»Was wollen Sie? Sie wollen wohl eine Bittschrift überreichen? Ich bin nämlich der Herr Reichsfreiherr Alfred von Andeck-Rauhenstein auf Andeck und von und zu Rauhenstein, ich kann die Ahnenprobe vertragen, was mein ungetreuer Vetter, der Baron Richard von Rauhenstein-Rauhenstein anzweifelt. Dieser aber hat nur eine Seitenlinie in Besitz genommen und ist ein Bauer geworden. Es freut mich, daß Sie mit Ihrer Bittschrift sich an mich wenden, da sind Sie ganz vor die rechte Schmiede gekommen! Mein Diener wird Ihnen Ihre Bittschrift abnehmen, ich habe ihm erst vor zwei Jahren eine neue Livree angeschafft. Uebrigens dürfen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen machen, denn wir müssen sparen. Wir liegen gegenwärtig in Fehde mit einem gewissen Ritter Polling, mit dem wir schon manche Lanze gebrochen haben, er ist aber jetzt ins Kloster gegangen, weil die Aebtissin Adelheid seine Muhme ist. Junger Geldadel das! Ruinirt alte Geschlechter in den Finanzen! Ich habe deswegen eine Ersparniß gemacht, ich habe die Dienerglocke abgeschafft und pflege meinem Kammerdiener zu pfeifen. Sehen Sie, so!« Er nahm zwei Finger in den Mund und pfiff gellend.
Paul wußte, wen er vor sich hatte; es war der tolle Peter. In dem Unsinn, den der Unglückliche heraussprudelte, ließ sich leicht eine Mischung aus eigenen fixen Ideen, unverdauter Lektüre, vielleicht auch aufgeschnappten Redensarten und unpassenden Spässen des echten Baron Andeck erkennen. Während Paul noch überlegte, wie er wohl diesem Irren am besten antworte, kam auf den Pfiff desselben ein alter Diener in abgetragener Livree, mit halb gutmüthigem halb verschmitztem Gesichtsausdruck die Treppe herauf.
»Nimm dem Herrn seine Bittschrift ab, Johann, führe ihn ins Wartezimmer und komm dann, um mir meine Orden anzulegen!« rief der tolle Peter dem Diener mit wichtiger Miene zu und wandte sich zum Gehen, nicht ohne noch mit wohlgefälligem Nicken zu bemerken, wie Paul dem Diener seine Karte gab. Dieser blinzelte bedeutungsvoll mit den Augen, öffnete dann eine Thüre und Paul trat in ein großes hohes, aber so gut wie leeres Zimmer; nur ein alter Lehnstuhl stand in einer Fensternische, an der Wand einige Sessel.
Während der Diener sich in das nächste Zimmer begab, um dem echten Baron den Besuch zu melden, sah sich Paul in dem Raume um und bemerkte mit Wohlgefallen die prächtige alte Vertäferung, die bis zu halber Wandhöhe reichte, und die freilich höchst schadhaften gewirkten Tapeten über derselben. Alles machte in diesem Schloß den Eindruck einstiger gediegener Pracht, die Herrn von Andeck mußten vor dreihundert Jahren, nachdem die Bauern ihre Burg im Walde droben gebrochen hatten, es trefflich verstanden haben, sich neu anzubauen und einzurichten, und die Mittel dazu konnten auch nicht gefehlt haben. Ein einziges Bild hieng an der Wand, besser erhalten als die andern im Gang draußen; es war eine junge Frau, deren Tracht eine Augsburger Patrizierin aus jener Zeit vermuthen ließ, in der dies Schloß gebaut sein mußte. Ein Sonnenstrahl fiel gerade auf das Bild, Paul schaute auf in die klugen Augen der Frau, die ihn unwillkürlich an die Augen von Frau Adelheid gemahnten, wie sie ruhig und freundlich auf ihn heruntersahen. Dann glaubte er im Gesicht eine Aehnlichkeit zu entdecken, nur die Haare waren anders: in goldrother Farbe, die noch jetzt in dem dunkelnden Gemälde leuchtete, ringelten sie sich unter der Haube hervor auf die Schultern der Frau herunter.
Paul stand eine Weile in den Anblick des Bildes vertieft, dann trat er, als der Diener immer noch nicht zurück kam, in eine Fensternische und schaute hinaus. Das Fenster führte in den inneren Hof des Schlosses, der von dem Hauptbau und den beiden Seitenflügeln gebildet wurde, weiterhin sah man in einen nicht eben großen Garten, der, verwahrlost wie alles Uebrige, mit einstmals geschnittenen Taxusbäumen und verstümmelten Sandsteinfiguren den Geschmack des vorigen Jahrhunderts zeigte. Gleich dahinter aber stieg der Wald steil bergan und oben schauten die Trümmer von Hohenandeck herunter. Seitwärts von dem Garten war noch einiges von Oekonomiegebäuden zu bemerken und hinter denselben, gleichfalls schon am Waldrande, blickte der hirschgeweihverzierte Giebel eines Wohnhauses hervor – dort wohnte wohl der Verwalter.
Der Eindruck verschollener Pracht und Herrlichkeit stimmte das im Grund weiche Gemüth Pauls wehmüthig und mild, sein Widerwille gegen den jetzigen Besitzer des Schlosses verwandelte sich halb in Mitleid. Und dann der Irre, der in diesen Räumen sein Wesen trieb, ein übergeschnappter Bauernbursche, der sich den Erben all dieser Vergangenheit wähnte – es war unsäglich traurig. Und als sollte dieses Traurige noch durch das Lächerliche gesteigert werden, kam nun auf einmal vom Gange her der tolle Peter in das Wartezimmer herein, statt des Schlafrocks trug er jetzt einen alten Frack, der vorn auf der Brust über und über bedeckt war mit papierenen Cotillon-Orden, und einen Cylinderhut auf dem Kopf. Die Pfeife hatte er nicht weggelegt, er trat hastig herein und rief:
»Wo ist der schlechte Knappe, warum läßt er mich meine Orden mit eigener Hand anlegen?« – »Ah, da sind Sie ja«, lächelte er plötzlich wieder, Paul erblickend – »ah, ich verstehe, Johann ist doch ein kluger Diener, er hat Sie zu meinem Haushofmeister geführt – da sind Sie ganz vor der rechten Schmiede. Nur müssen Sie geduldig sein – wissen Sie«, fügte er leiser bei, »der Mann trinkt ein wenig – aber als Haushofmeister ist er trefflich – und da ist er am frühen Morgen spät auf. Sie wundern sich, daß ich rauche, selbst wenn ich die Orden angelegt habe? Ja sehen Sie, dies ist das einzige Vorrecht, das man den Reichsfreiherrn von Andeck bei der Medi – Medita – Mediatisirung gelassen hat – ja das ist ein heilloses Wort, mein Herr, Sie wissen wohl, was man darunter versteht? Es bedeutet so viel als Reichsunmittelbarkeit – nein, Wegnahme der Reichsunmittelbarkeit, wir sind nicht mehr reichsunmittelbar, wir gehorchen dem Landesherrn, aber wir rauchen bedeckten Hauptes – –«
Hier wurde der Redeschwall des Irren durch den Diener unterbrochen, der aus dem andern Zimmer kam und Paul bat, einzutreten.
»Nun also«, nickte der tolle Peter freundlich, »übergeben Sie Ihre Bittschrift nur meinem Haushofmeister. Es ist besser so. Komm, Johann, nimm mir meine Orden wieder ab!« Und er schritt würdig und dampfend hinaus.
Paul trat bei dem Baron Andeck ein. Auf den ersten Blick machte dies Zimmer mit seiner modern-eleganten aber abgebrauchten Einrichtung einen noch peinlicheren Eindruck als alles Bisherige, zumal über dem hier gleichfalls erhaltenen dunkelbraunen Getäfer eine helle geschmacklose Papiertapete und nicht durchweg anständige Bilder dem Auge weh thaten und das Ganze einen durchaus unordentlichen Eindruck machte.
Baron Andeck erhob sich halb von einem Ruhebett, winkte dem Besucher, Platz zu nehmen und sagte mit müdem Lächeln:
»Es freut mich, Sie kennen zu lernen! Ach ja, ich habe Sie schon einmal gesehen – wie wars doch gleich? Ja, freilich, neulich, im Wirthshaus drunten – und da hats ein kleines Mißverständniß gegeben, wenn ich mich recht erinnere. Nun dergleichen kann vorkommen – ich erinnere mich nicht mehr so genau – Sie haben sichs wohl zurecht gelegt. Und wie geht es Ihnen, wie leben Sie sich ein in Mönchswald?«
Paul war einen Augenblick etwas verblüfft von diesem Empfang, der von dem kürzlichen Auftreten des Barons so sehr abstach; er gab einige allgemeine Redensarten zur Antwort, wie er aber dabei den Baron näher ins Auge faßte, steigerte sich das Gefühl des Mitleids gegen diesen Mann, das ihn vorhin hatte überkommen wollen. Es war ein Bild vollkommener Hinfälligkeit, das der Baron hier in seinem noch nüchternen Zustande an dem Morgen bot, der für ihn offenbar kaum erst begonnen hatte. Und wie er sich, während er redete, so mit der Hand über die Augen fuhr und dieselben dann wieder matt auf sein Gegenüber richtete, war es, als ob aus diesem trüben Blick und dem müden Lächeln doch etwas spreche wie ein Versuch, ein besseres Ich aufzuwecken, das für gewöhnlich unter wüstem Treiben begraben lag. Auch bemühte der Mann sich offenbar, in Rede und Bewegungen die gute Form zu wahren, die er damals im Wirthshaus so gut wie ganz abseits gelassen hatte.
»Sie haben«, begann er im weiteren Verlauf des Gesprächs wieder, nicht ohne Anstrengung, »Sie haben da vorhin, wenn ich mich nicht täusche, meinen Hausgenossen kennen gelernt. Es ist ein guter armer Teufel, ein harmloser Geisteskranker, der bei mir das Gnadenbrod hat – ein einsamer Mann wie ich muß doch irgend ein Geschöpf um sich haben, und solch ein Geisteskranker ist oft gescheiter als gesunde Menschen. Besser und harmloser jedenfalls – oh – ja –«
Der Baron lehnte sich wie in einem Anfall von Schwäche zur Seite und stützte den Kopf in die Hand, er murmelte etwas, das wie »Schlechtigkeit«, – »Fluch auf die Menschheit« klang, auch den Namen »Polling« glaubte Paul zu verstehen. Er erhob sich, auch der Baron raffte sich wieder auf.
»Verzeihen Sie,« sagte er, »das sind so Zufälle – in meinem Alter – Sie wollen gehen? Besuchen Sie mich wieder, Herr Ritter! Wenn Sie mir zuweilen etwas vorlesen wollten – meine Augen – auf Wiedersehen!«
Paul gieng. Im Vorzimmer warf er noch einmal einen Blick auf das Gemälde an der Wand, dann eilte er aus dem Schlosse zu kommen. Er athmete ordentlich auf, als er im Freien war, und reckte sich in die Höhe, wie wenn er etwas von sich abzuschütteln hätte.
An den Oekonomiegebäuden vorüber fand er leicht den Weg zum Hause des Verwalters, der zugleich Förster und Rentbeamter für die beiden herrschaftlichen Besitzungen Andeck und Rauhenstein war. Herr Erdmann stand in dem kleinen blumenbepflanzten Vorgärtchen und schnitt einige Seitentriebe an den eben aufgeblühten Rosenstöcken ab. Es war eine breitschultrige Gestalt von forstmännischem Ansehen. Als er Paul erblickte, schritt er freundlich auf ihn zu und sagte, ihm die Hand zum Gruße bietend:
»Herr Ritter, wenn ich mich nicht täusche? Ja, ja, ganz Ihr Vater! Schön, daß Sie sich sehen lassen! Meine Lina erzählt schon die ganze Woche von dem neuen Herrn Lehrer. Sie sind uns kein ganz Fremder – Ihre Eltern habe ich wohl gekannt, und Sie selbst erinnern sich gewiß meines Vaters noch, vielleicht auch meiner!«
Paul versicherte, sich noch einigermaßen zu erinnern, und Erdmann fuhr munter fort:
»Ihren Vater haben wir Buben nur den lateinischen Kupferschmied geheißen, und ich weiß noch wie heut, welchen Heidenrespekt ich vor ihm bekam, als ich einmal etwas in seiner Werkstatt abzuholen hatte und er mich ein wenig warten ließ, während er an seinem Ambos weiterhämmerte – ›Fritz‹, fragte er auf einmal, ›was heißt sapere aude auf deutsch?‹ Es war noch nicht heftig mit meinem Latein dazumal, ist auch nie heftig geworden, ich sah den lateinischen Kupferschmied nur mit offenem Mund an. ›Sei so keck und werd ein vernünftiger Mensch‹, sagte er lachend, ›das heißts auf deutsch, Suppenlateiner! Wirsts schon noch lernen! Da hast dein Häfelein, trags ordentlich nach Haus und sag' einen schönen Gruß!‹ Ich hab' mir das Sprüchlein gemerkt, habs später auch verstanden – 's ist ein gutes Sprüchlein, vom alten Horaz stammts, glaub' ich – ja, ja – mein Vater sagte, es sei schad um Ihren Vater, daß es nicht zum Studiren habe langen wollen in seiner Jugend! Aber solche Handwerker sind auch 'was werth, 's gibt wohl keine derartigen mehr heutzutag! – Sie waren damals noch gar nicht auf der Welt, aber von späterer Zeit weiß ich noch, wie ich Sie einmal bei meinem Vater traf – ich war gerade in den Ferien von der Forstschule hier – ich fragte Sie, was Sie denn werden wollten? ›Ein Bauer oder ein Jäger‹, gaben Sie zur Antwort, Sie waren damals erst so hoch« – er zeigte mit der Pfeife, die er in der Hand hielt, die Höhe und strich den noch blonden Bart – »nun sind Sie doch ein Schulmeister geworden, wie es mein Vater durchaus haben wollte. ›Ein rechter Dorfschulmeister‹, pflegte er zu sagen, ›kann mehr werth sein für die Welt als mancher Professor – und der kleine Ritter soll mir ein Schulmeister werden!‹ Aber nun kommen Sie ins Haus, daß ich Sie meinen Frauenzimmern vorstelle – ach, die Frida haben Sie ja heute schon gesehen? Und die Frau Burkhardt kennen Sie auch? Schön, da haben Sie ja allerlei Bekannte bei uns und werden sich wohl angewöhnen können!«
Paul hatte lächelnd zugehört und ab und zu ein Wort dazwischen geworfen. Es wurde ihm behaglich bei der munteren Gesprächigkeit des Verwalters und die alten Erinnerungen thaten ihm wohl. Und als er nun in das Familienzimmer trat, wo ihn Frau Erdmann gleichfalls freundlich, wenn auch etwas zurückhaltender begrüßte, da wars ihm, wie wenn er hier rasch zuhause werden könnte. Die kleine Lina, die eben beschäftigt war, den Mittagstisch zu decken, grüßte ihren Lehrer halb zutraulich, halb respektvoll und der Verwalter lud ihn ohne viel Umstände ein, gleich mit bei Tisch zu bleiben. Paul mußte wohl oder übel annehmen und bald trat auch Frida herein, die in der Küche beschäftigt gewesen war. Es zog ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie den jungen Mann grüßte; sie mußte, wie sie später gestand, unwillkürlich daran denken, daß Paul Ritter der Frau Adelheid seinerzeit erklärt habe, so schlecht habe sie noch nichts gesungen wie das »Freudvoll und leidvoll –«
Bei Tische wurden wieder allerlei alte Erinnerungen aufgefrischt, mancherlei Beziehungen zu gemeinschaftlichen Bekannten hervorgezogen, der Verwalter erzählte von seinen beiden Söhnen, von denen der ältere die Forstakademie besuche, während der jüngere, der scheints ein Gelehrter werden wolle, noch auf dem Gymnasium sei; Frau Erdmann, eine etwas stille Frau mit guten klugen Augen, denen man ansah, daß diese Frau in Wahrheit die Seele des Hauses sei – erkundigte sich ein wenig darnach, wie denn Paul im Dorf drunten versorgt und versehen sei; auch Frida streute zuweilen ein frisches Wort in die Unterhaltung und die kleine Lina sah nur immer mit leuchtenden Augen ihren Lehrer an. Diesem selbst war es zum erstenmal seit manchem Tage wieder so recht warm und wohl zu Muth und sein Mönchswalder Schicksal wollte ihm weniger beklagenswerth erscheinen.
Man kam auch auf das Schloß zu sprechen, Paul bedauerte, daß dasselbe nicht besser erhalten sei, erwähnte des Bildes in dem Wartezimmer und fragte, wen dasselbe wohl vorstelle?
»Da müssen Sie sich an Frida wenden«, sagte Herr Erdmann lachend, »sie hat den ganzen Kopf voll von alten Geschichten und Sagen und kann über Alterthümer sprechen wie ein Buch.«
»Aber Papa,« verwehrte sich Frida erröthend, »Herr Ritter glaubt ja am Ende, ich sei ein Blaustrumpf! Zu einem solchen hat mich die Mutter ganz gewiß nicht erzogen!«
Frau Erdmann schüttelte lächelnd den Kopf und der Verwalter sagte:
»Na, sei nur ruhig, so schlimm ists freilich nicht! Drüben, die Frau Burkhardt,« wandte er sich wieder an Paul, »die ist so ein bischen ein Bücherwurm – Blaustrumpf will ich nicht sagen und darf ich nicht sagen, wenn ichs nicht mit meiner Fräulein Tochter für immer verderben will – übrigens eine vortreffliche Frau! Nun, Sie kennen sie ja! Also – die Frau Adelheid, wie sie in der Gegend allgemein heißt, hat eine besondere Vorliebe für alte Sachen, Bilder und Geschichten, und von der hat Frida so dies und das gelernt.«
»Das Bild,« sagte nun Frida, »stellt die Freifrau Kunigunde von Andeck vor, die Frau des Freiherrn Ulrich von Andeck, der das Schloß nach dem Bauernkrieg gebaut hat. Die Bauern haben das alte Schloß droben zerstört und das Kloster drüben, wo jetzt die Fabrik steht, ebenfalls. Der Vater jenes Ulrich von Andeck soll ein rechter Bauernschinder und roher Rittersmann gewesen sein, dem seine Unterthanen nicht hold waren. Ulrich von Andeck selber aber muß in der Welt gewesen sein und viel gelernt haben; er sei mit Ulrich von Hutten bekannt gewesen, steht in alten Familienpapieren, die uns hier einmal in die Hand gekommen sind, und so viel ist sicher, daß er später der Reformation sich anschloß und daß seitdem Mönchswald und ebenso Rauhenstein, welches damals noch den Herren von Andeck gehörte, protestantisch sind. Seine Frau war eine Patrizierstochter von Augsburg – wie hieß doch gleich die Familie?«
Frida sah ihren Vater an. Dieser lachte:
»Ja, wenn du's nicht weißt, ich weiß es noch weniger! Ich habe so viel mit der Gegenwart von Haus Andeck zu thun, daß ich keine Zeit habe, mich um die Vergangenheit zu kümmern.«
»Nun, der Name ist ja am Ende gleichgiltig,« fuhr Frida fort, »die Familie soll mit den Peutingern in Augsburg oder den Pirkheimern in Nürnberg verwandt gewesen sein – ich weiß das auch nicht mehr sicher. Jedenfalls hat sie viel Geld gehabt, wie diese angesehenen reichsstädtischen Familien meist, und daß das Schloß nicht nur mit Geld, sondern auch mit Geschmack gebaut wurde, sieht man ja heute noch. Sie hat aber nicht lange gelebt, die Frau Kunigunde, sie starb bald nach der Geburt eines Sohnes und Herr Ulrich von Andeck soll sein Leben lang um sie getrauert haben.«
»Aber nun muß ich sehen, daß die Herren ihren Kaffee nach Tisch bekommen«, brach Frida ab und eilte hinaus.
Paul hatte der Erzählung mit Interesse zugehört und er mußte sich gestehen, daß nicht nur die Erzählung, sondern auch die Erzählerin ihn interessirte. Frida hatte das alles so ohne jedes Wichtigthun, so einfach und leichthin erzählt und doch so sicher und gewandt, und wie sie dann am Ende rasch absprang, um an den Kaffee zu denken, das stand ihr trefflich.
Erdmann war nachdenklich geworden. Nun forderte er Paul auf, während der Kaffeetisch im Freien hinter dem Hause bereitet werde, einen Gang durch die Oekonomiegebäude mit ihm zu machen.
»Ich weiß nicht,« sagte er, »ob Sie sich dafür interessiren, aber Sie haben ja seinerzeit gesagt, daß Sie ein Jäger oder Bauer werden wollen – ich bin beides und ein Zahlenmensch dazu – so werden Sie schon gern auch ein wenig in die Landwirthschaft hineinsehen. An Hunden haben Sie dazumal auch eine Freude gehabt – ich habe ein paar Prachtexemplare von Hühnerhunden!«
Die beiden Männer giengen durch Hof und Ställe und Paul wunderte sich über den Umfang der Viehhaltung, den er sich nicht so groß gedacht hatte.
»Ja, sehen Sie, das ists,« sagte Erdmann, »wenn ich nicht auf die Viehzucht den Nachdruck legen würde, wer weiß, ob wir noch über Wasser wären! Zwar kann ich nicht in das allgemeine Gejammer einstimmen, daß es mit dem Ackerbau eben gar nichts mehr sei – es kommt sehr darauf an, wie er betrieben wird – aber etwas ist schon dran. Und es könnte so manches mit leichter Mühe besser gemacht werden, wenn die Leute nur wollten, wenn die harten Bauernschädel nur für Belehrung zugänglich wären, wenn nicht jeder meinen würde, in dem lahmen Trott und Trab, in dem der Vater und der Großvater und der Urgroßvater gehottet hat, müsse er eben auch weiter hotten! O 's ist manchmal, um aus der Haut zu fahren! Was hab' ich an die Köpfe schon hingeschwatzt – alles umsonst! Lesen natürlich wollen sie schon gar nichts. Und was mich allemal am meisten empört, das ist die elende Art, wie dann zuletzt unser Herrgott der Sündenbüßer für jede Bauerndummheit sein muß! 's ist ja recht und gut – ich machs auch so – sich in Gottes Willen ergeben, wo der Mensch nichts dazu und nichts davon thun kann, aber kämpfen und ringen soll der Mensch, so lang er kann, und seine Augen und sein Hirn aufthun, lernen und bessern und seine Hände regen – dann kann er im übrigen mit gutem Gewissen den lieben Gott walten lassen! Aber der Teufel hol' diese faule dumme Art, diese Türkenfrömmigkeit, die nichts ist als ein Faulkissen für die eigene Dummheit und Hartköpfigkeit. Unsern Herrgott zum Sündenbüßer für die eigene Dummheit und Faulheit oder mitunter auch Schlechtigkeit machen, das ist die ganze Religion von solch einem Kerl! Und so sind die meisten in Mönchswald drunten. Dem Pfarrer von Rauhenstein gehen sie nicht mehr in die Kirche, weil er ihnen keine solche Türkenfrömmigkeit predigt, sondern eine tapfere, thatkräftige, aufrechte Frömmigkeit, weil er ihnen kein Federbett unter ihre Sünden und Lüderlichkeiten schiebt, sondern ihnen den Heiligenschein ausputzt und ihnen sagt: werdet andere Leute und nehmts genau mit Pflicht und Gewissen; weil er ihnen die Vernunft nicht schmäht als etwas Sündenverderbtes, sondern sagt: braucht sie! – das wollen sie nicht hören, das stört sie in ihrem Schlendrian, und dann sagen sie, der Weg nach Rauhenstein sei so weit. Und dabei kommen die großen Bauern immer mehr herunter und fallen den Juden in die Hände, und die kleinen Leute verlüderlichen ihre Aeckerlein vollends ganz und laufen auf die Fabrik, wo sie alles lernen, nur nicht sparen und haushalten – wenigstens seit der alte Herr Burkhardt todt ist – und die ganze Gesellschaft wird immer roher und verdorbener, und dazu –«
Er brach ab mit einem Blick auf das Schloß hinüber. Sie waren inzwischen wieder in die Nähe der Verwalterswohnung gekommen, wo man in ein breites Wiesenthal hinuntersah, das sich zwischen dem waldigen Bergvorsprung, auf dem die Ruine lag, und dem südlichen breiteren und höheren Bergrücken hineinzog.
Erdmann lachte:
»Sie werden denken, ich sei ein alter Polterer, weil ich mich da so in Eifer hineingeredet habe. Aber so gehts jedem, wenn er von seinem Fach redet und Liebe dafür hat! Da sehen Sie hinunter in das Wiesenthal! Wissen Sie, was der alte römische Landwirth Marcus Porcius Cato gesagt hat, – da, der mit dem ceterum censeo, von dem man uns Lateinern in der Schule erzählt hat – ›im übrigen mein' ich‹ heißts auf deutsch, und um die Zerstörung von Karthago hat sichs gehandelt –«
»Ja,« nickte Paul, »ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Ich hab's einmal in einer Vorlesung gehört! Der alte Römer, der ein Buch über die Landwirthschaft geschrieben hat, wurde einmal gefragt, was er für die beste Art von Bodenkultur halte. ›Eine gute Wiese!‹ antwortete er. Und zum Zweiten? ›Eine mittelmäßige Wiese!‹ Und zum Dritten? ›Eine schlechte Wiese.‹ Ists so?«
»Jawohl«, erwiderte Erdmann. »Ich weiß nicht, wie's damals in Italien mit der Landwirthschaft und Viehzucht bestellt war, aber der alte Brummbär Cato wird gewußt haben, was er redete. Und bei uns triffts nächstens aufs Haar auch zu. Aber da sehen Sie hinunter! Dieses ganze Wiesenthal gehört den Mönchswaldern, theils der Gemeinde, theils einigen größeren Bauern – aber was ists? Sumpf ists und nichts weiter! Der Bach, der dort aus dem Wald kommt, hat kein rechtes Bett, es sind auch noch einige Quellen da vor dem Wald, und da ist alles jahraus jahrein versumpft, und was für Futter drauf wächst, können Sie sich denken – Sie verstehen ja etwas von Botanik, wenn ich vorhin recht gehört habe. Nichts als saures Zeug wächst da drunten! Aber nun – den Bach ein bischen regulirt, die Quellen gefaßt, ein paar Röhren gelegt und Gräben gezogen: und da drunten wäre der schönste Wiesengrund, den man sich denken könnte! Und dann Vieh drauf gehalten und – o, ich darf gar nicht dran denken, wenn ich nicht wüthend werden soll, und doch muß ichs jeden Tag sehen! Wie oft hab ichs dem Schultheiß und den Bauern schon gesagt – rein umsonst! Das koste zu viel Geld, sagen sie, und trage sich doch nicht aus. Sie thun nichts, sie thun nichts, man mag reden, was man will! Da müßte kommandirt werden und gefuchtelt, dann könnte etwas werden! Ich wollte es auch schon durchsetzen, daß der ganze Sumpf von der Herrschaft angekauft und zurecht gebracht würde, aber – nun, das hat freilich noch allerlei Hacken, aber der größte Hacken wäre zuletzt der, daß die Bauern doch den Boden auch nicht hergeben wollen. Sie wittern doch, ein anderer könnt' am Ende einen Vortheil draus ziehen, und das gönnen sie keinem, lieber soll Sumpf Sumpf bleiben! Und so ists in allen Dingen durch die Bank!«
Paul hatte mit Aufmerksamkeit zugehört. Diese Dinge waren ihm neu, aber er begriff den Sinn und den Zusammenhang dieser scheinbar rein landwirthschaftlich fachmännischen Dinge mit den gesellschaftlichen und auch sittlichen Zuständen, und er versicherte den Verwalter, der sich entschuldigte, weil er ihn wohl langweile, daß dies keineswegs der Fall sei. Erdmann klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte:
»Ja, ja! Das ist schön, wenn Sie das nicht langweilt! Es könnte nichts schaden, wenn ihr Herren Lehrer euch mehr für solche Dinge interessiren wolltet, ihr könntet viel Gutes stiften. Was ein Lehrer auf dem Land für Einfluß haben kann, wenn er auch ein wenig aus seiner Schulstube herausguckt, das hab' ich bei meinem Vater gesehen, als er noch Dorfschulmeister war. Freilich, damals wars noch keine solche Hetzerei mit der Schule selbst, mit dem Einpauken von allem Möglichen, was für die Bauernbuben am Ende doch zu hoch ist. Aber trotzdem, heute noch könnte mancher Lehrer mehr Einfluß auch außer der Schule haben, wenn er der rechte Mann dazu wäre. Ja, ja, lieber Herr, auf die rechten Männer kommts eben überall an. Einrichtungen und papierene Vorschriften, Redenhalten und Belehren – mag recht und gut sein, aber die Männer gehören dazu, die der Sache Kraft geben, die eingreifen, durchfahren, rücksichtslos, mit überlegenem Willen und Verstand und – daran hängts meist besonders – mit einiger Selbstverleugnung und mit furchtlosem Muth, der nicht nach jedem Vetterlesgeschwätz umguckt und sich von den ersten Mißerfolgen abschrecken läßt. Sehen Sie, 's ist arg bei uns – ich habe Ihnen ja eben auch ein Jammerliedlein davon vorgepfiffen – aber so gar viel ärger als an manch anderm Ort ists auch nicht. Da jammert jeder darüber, wie verfahren und verlottert alles bei uns in Mönchswald sei, man wird Ihnen auch sonst schon genug davon erzählt haben – meinthalb, es soll alles wahr sein, aber was hilft das bloße Jammern, das uns nur in immer ärgeren Verruf bringt, daß es nächstens für einen Glaubenssatz gilt, bei uns sei Hopfen und Malz verloren! Die rechten Männer auf den Platz, dann kann noch manches gut werden! Auch in Rauhenstein drüben wars früher nicht, wie's jetzt ist, aber der Baron Richard und der Pfarrer und der Schultheiß – auch der Schulmeister ist recht – die sind ins Zeug gegangen und haben etwas zu Wege gebracht. Und hier – ich meinestheils kann wenig thun, ich habe alle Hände voll, wenn ich auf dem herrschaftlichen Gut und in den vielfach auch verlüderlichten Wäldern Ordnung schaffen will; ich habe schon einiges zurecht gebracht, ich darfs wohl sagen, obwohl der Karren noch lange nicht aus dem Graben ist – aber man schaffe uns einen Schultheißen her, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat und feste Fäuste zum Durchgreifen, und einen Schulmeister, wie ich meine, daß er sein sollte – bleiben Sie einmal bei uns, Herr Ritter, und versuchen Sie das Ding – und dann schickt die Leute wieder mehr unserm Rauhensteiner Pfarrer zu oder meinthalb errichtet hier eine eigene Pfarrei – nur schafft einen Mann darnach – und das Uebrige, hm, nun – da werden ja wohl mit der Zeit auch Veränderungen vorgehen. Aber nur Männer her und keine Heulmaier, zugegriffen, angepackt, nicht blos geflennt! Dann müßt's doch närrisch zugehen, wenn nicht auch aus dem ganzen Mönchswalder Sumpf noch wenigstens eine mittelmäßige Wiese zu machen wäre! – Aber jetzt genug! Kommen Sie, der Kaffee wird kalt!«
Hinter dem Hause des Verwalters stieg der dort mit Nadelholz bestandene Wald rasch an und das nächstgelegene Stück desselben war durch Wege und Ruheplätze mit Tischen und Bänken in eine freundliche Anlage verwandelt. Etwa fünfzig Schritte aufwärts stand ein aus rohen Tannenstämmchen errichteter, mit Rinde gedeckter Pavillon, dorthin führte der Verwalter seinen Gast; die Andern waren schon oben, der Kaffee und die Cigarren standen bereit. Zwischen den Bäumen hindurch konnte hier der Blick das ganze Mönchswalder Thal übersehen, auch hinausschauen gegen die Ebene hin; dort am Fuße des Bergrückens, über den Paul seinerzeit nach Mönchswald gekommen war, lag die Fabrik zwischen mehreren Teichen, dahinter wie ein kleines Dörflein zeigten sich Arbeiterwohnungen. Das zur Fabrik gehörige Wohnhaus schaute kaum hinter einer hohen Baumgruppe hervor, die sich bis an den Rand des einen Teiches vorschob.
In Pauls Gemüth wollte wieder jene Unruhe sich regen, die ihn die letzten Tage her geplagt hatte, aber hier, in dem kleinen Kreise dieser frischen klaren lebenskräftigen Menschen, bei der muntern Unterhaltung, die sich rasch wieder entspann, konnten keine unklaren Gedanken und Gefühle die Herrschaft bekommen. Paul selbst kam in lebhaftes Plaudern und Erzählen von dem und jenem, was er draußen in der Welt gesehen und erlebt hatte, und mehr als einmal ertappte er sich darüber, daß er seine Worte unwillkürlich an Frida richtete.
Es war friedlich und sonntagsstill ringsum, der Harzgeruch des Waldes duftete, die Sonnenstrahlen spannen herüber und hinüber, Bienen summten von ihrem Stand am Waldsaume herauf, die Drossel sang und über den Wald von Rauhenstein herüber klang das Glockenläuten des Sonntagnachmittagsgottesdienstes. Die beiden Hühnerhunde des Verwalters, die derselbe mit heraufgebracht hatte, schmiegten sich schlafend zu seinen Füßen und ein Falter mit purpurschwarzen sammtenen Flügeln schwebte einen Augenblick um Fridas blonde Haare.
»Heut ists so schön wie im Himmel!« sagte die kleine Lina einmal in einer Pause des Gesprächs, und hocherröthend schlug sie die Augen nieder, als Paul ihr nickend über die weichen Locken strich.
Wo die Mönche vor Jahrhunderten ein Kloster gegründet haben, da war gewiß ein gesegneter Fleck Erde. Wasser zu natürlichen oder künstlichen Fischteichen, Wald und Wild durfte nicht fehlen und womöglich mußte auch ein sonniger südlicher Hang zu finden sein, wo die edle Rebe gedieh. Auch an dem südlichen Bergabhang des jetzt noch so genannten Klosterwaldes sollten einst Weinberge gewesen sein, jetzt war nichts mehr davon zu entdecken. Von dem Kloster selbst waren nur noch einige Strebepfeiler des Chors, einige Fensterspitzbogen mit halbzerstörtem Maßwerk vorhanden, die von alten Ulmen umschattet im Wasser des untern Teichs sich spiegelten. Eine neue Welt hatte sich auf der Stätte der Vergangenheit angesiedelt; statt der ewigen Lampe in der Klosterkirche oder dem späten Lichtlein aus eines gelehrten Bruders Zelle glühten die Schmelzöfen der Burkhardtschen Glashütte, wo das Horaglöcklein die Mönche zu nächtlichem Gebet gerufen hatte, da rief jetzt die Fabrikglocke Männer mit arbeitsharten Händen zu ihrem Tagwerk, und an der Stelle des Klostergärtleins zwischen den Kreuzgängen blühten und leuchteten aus wohlgepflegten Rasenflächen die Blumenteppiche der Frau Adelheid.
Von Mönchswald her kommend führte die Straße nach der Fabrik zuerst dicht am Rande des links allmählig aufsteigenden Klosterwaldes hin, dann bei einer Biegung des Weges schob sich plötzlich zwischen Straße und Wald der obere Teich, tiefer gelegen als die Straße, die gegen den jähen Absturz zum Teich hin mit Schranken geschützt war. Düster und mit grünen Binsen bedeckt lag das Wasser dort unten, von den Eschen des Waldsaumes überragt. Hier hatte die Liese, des tollen Peters Liebste, einst ihren Tod gefunden. Auf der andern Seite der Straße senkte sich die Erhebung des Bodens wieder leicht, hundert Schritte nach rechts lag der größere untere Teich, dessen frisches klares Wasser noch wie ehmals Fische beherbergte. Ein Nachen lag unter den Ulmen angebunden, welche auf einer kleinen in den See vorspringenden Landzunge über den Resten des ehemaligen Chores und weit übers Wasser hinein ihre Aeste breiteten. Wohnhaus und Garten der Fabrikbesitzer waren auch von dieser Stelle der Straße aus durch die ziemlich ausgedehnte Baumgruppe hindurch nur theilweise zu erkennen, dagegen geradeaus, in der Richtung der weiterführenden Straße waren die rauchgeschwärzten Fabrikgebäude mit den qualmenden Kaminen der Schmelzöfen zu sehen und weiter gegen die Ebene hin, einige Minuten von der Glashütte entfernt, lagen die Arbeiterwohnungen, einige Dutzend kleiner einstöckiger Häuser, aus denen nur ein größeres mit einem Thürmchen hervorragte.
Es war ein schwüler Tag um die Erntezeit gewesen, der sich zum Ende neigte, noch wollte kein Gewitter Kühlung bringen, nur ein grauer schwerer Dunst umzog tief herabhängend den Himmel und mischte sich mit dem Rauch aus den Schlöten der Glashütte. Eben hatte die Fabrikglocke zur Feierabendpause geläutet, und der Theil der Arbeiter, welcher bei dem Tag und Nacht nicht stillestehenden Betrieb der Glashütte von Mittag bis Mitternacht Dienst hatte, schickte sich an, das Abendbrot zu genießen. Diejenigen, welche die Arbeiterwohnungen bei der Fabrik inne hatten, waren meist auf dem Weg dorthin, anderen, namentlich den in Mönchswald Wohnenden, wurde ihr Abendbrot von Frauen oder Kindern in die Fabrik gebracht oder hatten sie es Mittags selbst in der Tasche mitgenommen. Theils in der Hütte selbst um die Schmelzöfen her, theils im Hofe vor derselben machten sie sichs so bequem, als es ging. Die andere Hälfte der Arbeiter, die um Mitternacht zur Ablösung kommen sollte, pflegte noch in dem Arbeiterdörflein oder in Mönchswald drüben der Ruhe, wenn nicht der Eine oder Andere der Mönchswalder, der noch ein Aeckerlein besaß, den freien Nachmittag benützt hatte, um auf demselben den Roggen zu schneiden, dessen Ernte eben begonnen hatte. Auch eine Anzahl von Mönchswalder Schulkindern war neben den erwachsenen Arbeitern zu bemerken; dieselben wurden als sogenannte Einträger verwendet, um die noch heißen Gläser aus den Händen der Bläser und Former in die Verkühlöfen zu tragen.
Völligen Feierabend hatten nur die Arbeiter in den Glasschleifereiwerkstätten, welche in dem zweiten Gebäude neben der Hütte sich befanden, wo auch die Magazine und die Comptoirräume untergebracht waren.
Aus diesem Gebäude trat eben ein schlankgewachsener Arbeiter von aufrechtem raschem Gang, dessen noch ziemlich jugendliches Gesicht hübsch und anziehend zu nennen gewesen wäre, wenn nicht ein herber Zug um den nur von leichtem Bärtchen beschatteten Mund den Eindruck gestört hätte. Seine scharfblickenden lebhaften Augen gingen suchend umher, während er sich eine Cigarre anzündete, dann bog er um die Ecke des Gebäudes und schlug auf dessen Hinterseite einen Weg ein, welcher durch das Feld im Bogen nach den Arbeiterwohnungen führte. Aus einer Hinterthüre des Gebäudes tretend gesellte sich dort zu ihm der schlitzäugige Kanz, sie gingen eine Weile schweigend, dann begann jener in einem Dialekt, der den Rheinländer vermuthen ließ:
»Sag' einmal, Kanz, hast du von Benzberger noch nicht erfahren, was eigentlich der Handel zwischen Polling und dem Baron von Andeck ist und was Benzberger selbst dabei zu thun hat?«
»Nein, Thielmann,« erwiderte Kanz, »was ich aus dem Gerede Benzbergers schließen kann, ist nicht viel. Die Hauptsache weiß er sicher selber nicht. Der Baron und unser Herr Polling thun, als ob sie sich nicht kennen würden, aber es ist kein Zweifel, daß sie sich kennen und hassen. Woher, warum, das bleibt die Frage. Der Benzberger hat, das ist mir klar, weiter gar nichts dabei zu thun, so wichtig er sich oft aufspielt. Die ganze Geschichte ist, daß der Baron sich oft den Spaß macht, dem Benzberger zu trinken zu geben und dann allerdings seine Freude hat, wenn der Kerl im Rausch unverschämt wird und Herrn Polling irgendwie ärgert. Und Polling scheint darauf zu lauern, durch den Benzberger den Baron etwas auszuholen, über ihn auf dem Laufenden zu sein. Das muß ihm aus irgend einem Grund Werth haben, und der Baron schwatzt wohl auch, wenn er getrunken hat, allerlei. Das ist alles! Was im Hintergrund steckt, weiß Benzberger so wenig als ich!«
»So, so!« sagte Thielmann. »Uebrigens hör', laß dich nicht zu tief ein mit diesem Benzberger. Wir können ihn ja wohl soweit brauchen, aber im Grund ist er doch ein dummer und unzuverläßiger Kerl! Wer weiß, was der im Rausch einmal ausschwatzt. Ueberhaupt habe ich nicht mehr zu viel Vertrauen darauf, daß die Mönchswalder für unsere Sache zu gewinnen sein werden. Benzberger und etwa noch Bender und Maurer sind die einzigen, die eigentlich angebissen haben, und das sind gerade die nichtsnutzigsten Bursche. Die Andern sind stumpf und träg, unfähig, den socialistischen Gedanken zu fassen, und was bessere Leute sind, die stehen unter dem Einfluß des Fuhrmanns Bührer, vor dem wir uns gehörig in Acht zu nehmen haben. Die Dinge sind jedenfalls noch lange nicht so reif, wie du zu meinen scheinst, wir müssen noch sehr zurückhaltend sein und dürfen ja nichts von unsern eigentlichen Zielen verrathen. Hier wäre allerdings ein Punkt, wo man den Hebel einsetzen könnte, um das Landvolk in die socialdemokratische Bewegung zu ziehen, aber wie gesagt, wir müssen sehr langsam und bedächtig vorgehen. Hier auf der Fabrik geht alles gut, Polling mit seiner hochnäsigen Bourgeoismanier arbeitet uns ja vortrefflich in die Hände, aber weiter hinaus – so lange der Verwalter Erdmann und der Baron von Rauhenstein noch irgendwelchen Einfluß haben, stehen wir immer noch erst am Anfang; auch der Pfarrer von Rauhenstein gefällt mir nicht, er ist nicht fanatischer Pfaff genug, um uns wider Willen in die Hände zu arbeiten – der Pfarrer von Erlenbach wäre schon besser – und dann der neue Schulmeister von Mönchswald, der bei unserer Frau Adelheid herumschwänzelt – hm, der hat wohl andere Dinge im Kopf und geht wahrscheinlich bald wieder, wie seine Vorgänger, sonst wäre er sicherlich auch gefährlich!«
»Der Hund!« knirschte Kanz zwischen den Zähnen und juckte mit den Schultern, als ob ihn der Hieb noch schmerzte, den ihm Richard von Rauhenstein damals verabreicht hatte. »Der und der Baron Rauhenstein, mein gestrenger Herr Rittmeister von ehemals, müßten mir als die ersten dran, wenns einmal losgienge. Verklagt haben sie mich übrigens doch nicht, es ist ihnen wahrscheinlich selbst nicht ganz wohl bei der Sache!«
Thielmann blieb stehen, sah den Andern scharf an und sagte mit strengem Ton:
»Hör, das war auch eine dumme und nichtsnutzige Geschichte, durch die du dir in Mönchswald nur von vornherein geschadet hast! Der Hieb von dem Baron hat dir von Rechtswegen gehört und du darfst deinem Schöpfer danken, wenn du nicht noch einmal von den Mönchswaldern gewalkt wirst! Bührer wäre mir schon im Stand dazu, noch einmal über dich zu kommen. Überhaupt, Freundchen, muß ich dir allen Ernstes erklären, daß du ein geordneteres Leben anzufangen hast! Es ist jetzt genug mit der Lumperei und Sauferei. Wenn du in meinem Vertrauen bleiben und eine leitende Rolle neben mir spielen willst, so muß das anders werden. Du weißt wohl, wie die Bourgeoisköpfe uns immer als verkommene Subjekte verschreien und nicht zugeben wollen, daß ein Socialdemokrat auch ein anständiger Mensch sein kann. Dem muß man Thatsachen entgegenhalten, und überdies brauchen wir klare kühle Köpfe, wenn wir vorwärts kommen wollen, nicht den ewigen Dusel und Nebel!«
Kanz zuckte die Achseln:
»Schön und gut! Aber sieh 'mal unsere Heerden an! Tugendhelden und Ueberzeugungsschwärmer wie du sind die Minderzahl, sind jedenfalls nicht diejenigen, deren Fäuste einmal, wenns losgeht, ohne Besinnen und Scrupel dreinschlagen und zugreifen. Ich will den Tag erleben, wo du vor lauter Gewissen zu den Bourgeois übergehst!«
»Schweig!« herrschte ihn Thielmann an und seine Augen funkelten, »Gottlob daß es noch Leute bei uns gibt, die ein Gewissen haben. Und hiemit sag ich dir: Disciplin muß sein und ich habe hier das erste Wort zu reden. Willst du nicht pariren, so ist deines Bleibens nicht lang, so günstig dir Polling sein mag. Ich habe keine Lust, auf diesem schwierigen Posten mir durch Lumpereien und Dummheiten von Anfang an alles verderben zu lassen. Verstanden?«
Kanz schwieg und lächelte vor sich hin. Dann sagte er im Weitergehen, aus seinen Chinesenaugen zu Thielemann hinüberschielend:
»Uebrigens brauchst du dich nicht zu ereifern! Ich habe mich selbst entschlossen, solid zu werden. Seit ich da im Comptoir Schreibersdienste thue, ist mir doch das alte Handwerk wieder in die Glieder gefahren. Ich will solid werden, arbeiten und mein Examen machen!«
»Du ein Examen?« hohnlachte Thielmann.
»Willst du damit sagen,« erwiderte Kanz ruhig, »daß ich dazu schon zu verlottert und verkommen sei, so muß ich dich einfach auf die Probe vertrösten. Willst du aber sagen, daß ich zu dumm sei, ein Schreiberexamen zustande zu bringen, so verbitt ichs mir. Und zum Beweis, daß ich so wenig auf den Kopf gefallen bin wie du, sollst du meine weiteren Pläne hören.«
»Ich bin begierig,« spöttelte Thielmann.
»Spotte nur,« sagte Kanz, »aber höre! Der Schultheiß von Mönchswald ist ein alter kindischer Knabe. Er wird sicher bald mit Tod abgehen, wenns auch erst in einigen Jahren ist. Inzwischen habe ich Zeit, mich wieder ein bischen herauszumachen, meinen Ruf ein wenig herzustellen, ein Examen zu bestehen und – was die Hauptsache ist – die Mönchswalder kirre zu machen. Ich kann auch heucheln, wenns mir paßt. Und dann, wenns an die Schulzenwahl geht, tritt der Herr Verwaltungskandidat Kanz als Bewerber um die Stelle auf und – er bekommt sie, verlaß dich drauf. Ich habe immer Glück wenns gilt, Verstand ohnedies.«
»Und dann,« sagte Thielmann mit herbem Hohn, »und dann wird der Herr Schultheiß Kanz von Mönchswald ein Bourgeois von der schlimmsten Sorte und freut sich, die Schliche der Socialdemokraten zu kennen, um ihnen auf den Dienst zu passen. Und dazu sollen wir dir wohl noch helfen!«
»Pharisäischer Tugendspiegel!« höhnte nun Kanz seinerseits, »ihr gewissenhaften Schwärmer meint, nur ihr allein seid echte Apostel des neuen Evangeliums. Nein, Herr, wenn du ein guter Socialdemokrat bist aus ehrlicher Ueberzeugung, ich bin einer aus Gift, Galle und Haß, und wärs nur der Haß gegen den Rittmeister Rauhenstein. Wer schon so durch Sümpfe und Gossen gegangen ist wie ich, hat das Zeug zum braven Bourgeois verloren für alle Zeiten. Wenn ich Schultheiß von Mönchswald bin, dann, Freund, können deine schönen Plane Wirklichkeit werden, dann wollen wir anfangen, das Landvolk ins Garn zu führen – und ich sag dir: wenns einen Teufel gäb' oder einen Gott, der eine sollte mich holen oder der andere im Wetter erschlagen, wenn ich jemals etwas anderes werde als ein Socialdemokrat aus Haß und Neid – und ob ich zehnmal zeitweise den braven Bürgersmann heucheln müßte!«
Ueber Thielmanns Gesicht gieng etwas wie ein Ausdruck des Ekels. Er schwieg eine Weile, endlich sagte er:
»Nun gut, wir werden sehen. Dein Plan läßt sich hören, und – was hat Hasenclever einmal gesagt? ›Wir würden nicht anstehen, die Hand des Teufels zu ergreifen, wenn für unsere Bestrebungen Nutzen daraus entstünde!‹ Sei's drum!«
»Danke für das Kompliment!« grinste Kanz. –
Inzwischen saß drinnen in dem kleineren Zimmer neben dem allgemeinen Comptoir der Geschäftsführer und Stiefonkel von Frau Burkhardt, Herr Polling. Es war ein noch rüstig aussehender, wenn auch ergrauender Mann mit derben und harten Gesichtszügen; was seinem Gesicht den besondern und nichts weniger als angenehmen Ausdruck gab, das war jene in Amerika häufige Barttracht, von der einmal ein geistreicher Mann gesagt hat, wenn ihn nichts anderes aus Amerika vertrieben hätte, so wären es diese Lincolnsbärte gewesen.
Herr Polling hatte eben die Posttasche erhalten, welche Bührer von der Bahnstation gebracht hatte, und öffnete die eingelaufenen Briefe. Einen Brief in amtlichem Format mit dienstlichem Siegel warf er ärgerlich beiseite.
»Wieder vom Pfarramt Rauhenstein,« murmelte er, »was will der Pfaff wieder?«
Er fuhr fort, andere Briefe zu öffnen. Nach einer Weile rief er den ersten Buchhalter aus dem Comptoir herein; es war ein Mann in mittleren Jahren mit aufgewecktem Gesicht.
»Bitte, Herr Berg, öffnen Sie hier den Wisch des Pfarramts Rauhenstein und sehen Sie, was wieder gewünscht wird!«
Herr Berg öffnete und las.
»Es handelt sich,« sagte er dann, »wieder um die Mönchswalder Schulkinder, die wir als Einträger beschäftigen. Das Pfarramt, oder eigentlich das Schulinspektorat, erklärt, daß es zum letztenmal das Ersuchen an die Fabrikleitung richte, schulpflichtige Knaben nicht mehr bei Nacht, überhaupt nicht länger als sechs Stunden täglich in der Fabrik zu beschäftigen. Da die Ortspolizeibehörde von Mönchswald außer Stand zu sein scheine, den gesetzlichen Vorschriften in dieser Beziehung Nachdruck zu verschaffen, so werde das Schulinspektorat die Sache höheren Orts vorlegen, wenn nicht jetzt endlich und sofort Abhilfe geschafft werde.«
Herr Polling murmelte einen englischen Fluch und sagte: »Immer die alte Geschichte! Aber wir brauchen die Buben! Sagen Sie, Herr Berg, gibts denn da keinen Ausweg?«
Herr Berg zuckte die Achseln:
»Nach dem Gesetz ist das Pfarramt völlig im Recht und wir werden nachgeben müssen. Das war schon länger meine Meinung. Und wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: ich glaube, auch die Klugheit würde rathen, nachzugeben. Sie wissen, die Beschränkung der Kinderarbeit ist auch eine socialdemokratische Forderung und nach meiner Privatmeinung keine unberechtigte. Ich bemerke aber schon längere Zeit, daß socialdemokratische Umtriebe auch bei unsern Arbeitern begonnen haben – ich dächte, man sollte denselben möglichst die Handhaben entziehen. Als Herr Burkhardt noch lebte –«
Herr Polling hatte mit spöttischem Lächeln zugehört. Nun unterbrach er den Sprecher:
»Unsinn! Gehen Sie mir mit diesen Schrullen! Wenn Herr Burkhardt sich hat bange machen lassen und die Herren Arbeiter mit Sammthandschuhen angerührt und gehätschelt hat, das war seine Sache. Ich will schon fertig werden ohne das. Gehen Sie mir mit dem ewigen Gerede von der socialistischen Gefahr, das jetzt in Altdeutschland Mode ist. Machen lassen! Das verfliegt, wie's gekommen ist! Hat uns drüben in Amerika auch keine Sorgen gemacht! Und wenn die Bursche je einmal schwierig werden – nun, Herr, wozu hat denn das deutsche Reich seine berühmten Soldaten?«
»Ich fürchte, wenn wirs darauf ankommen ließen« – erwiderte Herr Berg, doch er unterbrach sich: »übrigens wie Sie wollen! Soll ich dem Pfarramt Rauhenstein antworten, und was?«
»Dumme Geschichte! Dahinter steckt sicherlich auch wieder der Gelbschnabel, der Schulmeister. Muß auch der Frau Burkhardt 'was vorgedudelt haben – sie fieng heute schon bei Tische von der Sache an, ich hörte aus jedem Wort den Schulmeister reden und dachte mir halb, daß nun auch das amtliche Schriftstück folgen werde. – Lassen wirs heute! Ich will's überlegen.«
Herr Berg gieng. Polling blätterte noch eine Weile in Büchern und Briefen, dann trat er ans Fenster und sah in den Hof hinaus. Dunst und Rauch hieng noch tiefer und schwerer über den Gebäuden, hie und da fegte ein kurzer Windstoß daher, aber noch immer schien kein Gewitter ausbrechen zu wollen.
Ueber den Hof gieng Frau Adelheid, sie kam von den Arbeiterwohnungen her, wo sie die kranke Frau eines Arbeiters besucht hatte. Als Polling sie sah, trat er vom Fenster zurück.
»Also heute Abend«, murmelte er, »werden wir wieder die Laffen bei uns sehen, den Schulmeister und den Bauernbaron mit seiner hochadeligen Schwester! Und dann der Pfaff und die Verwaltersleute, diese blonden deutschen Seelen mit ihrer einfältigen Ehrlichkeit! Dies ganze Volk ist mir zuwider; und Andeck – hm, ob er mich eigentlich überhaupt wiedererkannt hat? 's ist doch schon lange her, seit – – Bah, alter Knabe, plagt dich diese Geschichte noch? Wir haben noch mehr erlebt drüben überm Wasser! War eigentlich eine Dummheit, wieder herüber zu kommen, – doch ich mußte für einige Zeit verschwinden! Bin zu bekannt drüben und hatte kein Glück mehr. Ob mirs hier günstiger sein wird? Herr bin ich thatsächlich schon auf diesem Fleck Erde – wenn ichs in der That bin, warum soll ichs nicht auch noch dem Namen nach werden? Bin kein junger Liebhaber mehr wie der sentimentale Schulmeister und der hochwohlgeborene Herr von Rauhenstein, aber der alte Burkhardt war auch nicht jünger als ich. Doch sie selbst, meine Frau Nichte? Wir werden sehen!« schloß er und trat wieder an den Arbeitspult. –
Frau Adelheid schritt an ihrem Wohnhause vorüber durch den Garten nach der Landzunge, die sich in den Teich hineinstreckte. Dort zwischen dem epheuumzogenen Gemäuer unter den ragenden Ulmen hatte sie ein reizendes Plätzchen angelegt und dort war schon an manchem Sommerabend die kleine Gesellschaft um den Theetisch versammelt gewesen, welche Frau Adelheid auch heute erwartete. Sie sah prüfend zum Himmel empor, an welchem dunkle schwarzblaue Wolken langsam sich herwälzten. Dem Zimmermädchen, das ihr entgegentrat, gab sie den Auftrag, den Theetisch im Hause zu decken, und das Mädchen meldete, Erdmanns haben sich entschuldigen lassen, sie seien heute zu sehr beschäftigt wegen der Ernte, Herr von Rauhenstein sei vorhin vorübergeritten auf dem Weg nach der Bahnstation, wo er Geschäfte habe, er habe hinterlassen, daß das gnädige Fräulein und der Herr Pfarrer von Rauhenstein gleichfalls heute verhindert seien, er selbst werde auf dem Rückweg wieder vorsprechen.
»Und Herr Ritter?« fragte Frau Adelheid.
Von diesem war keine Absage gekommen, Paul befand sich eben auf dem Wege nach der Fabrik, wo er die letzten Wochen her kein seltener Gast gewesen war. Es war, als sei zwischen ihm und Frau Adelheid wieder derselbe Verkehr wie vor Jahren; sie war sich immer gleich, freundlich, gütig wie ehmals, nur daß an Stelle einer mädchenhaften Zurückhaltung die milde Würde und unbefangene Sicherheit der Frau getreten war, welche sie, wie Paul meinte, fast noch besser kleidete. In ihm aber war die alte Leidenschaft wieder erwacht und zuweilen, wenn er mit ihr am Klaviere saß oder sie zu ihren Liedern begleitete, wars ihm auf Augenblicke, als liege gar nichts zwischen Einst und Jetzt. Und doch wars nicht mehr dasselbe; sobald er wieder ruhig mit sich und seinen Gefühlen allein war, wollte es ihm sein, als sei sein Fühlen und Empfinden matt und lahm geworden, er schalt sich zuweilen einen Thoren, der Funken aus der Asche blase, die doch nie mehr das alte lodernde Feuer werden können, und einen Gedanken an die Zukunft ließ er gar nicht an sich heran; er lebte der Gegenwart, dem Augenblick und doch nicht mit ganzem vollem Herzen. Auch die immer gleiche freundliche Ruhe von Frau Adelheid wirkte dämpfend auf sein Gefühl, und noch etwas in seinem Innern machte ihn wirr und getheilt, so ängstlich er es vermied, mit seinen Gedanken daran zu rühren. Fast so häufig als im Hause der Frau Adelheid verkehrte er im Hause des Verwalters, dort wurde es ihm immer ruhig wohl zu Muth und die stille fast mütterlich besorgte Art, mit der Frau Erdmann sich um die kleinen Bedürfnisse und Alltagsangelegenheiten des jungen Mannes kümmerte, machte ihm das Haus rasch wie zu einer zweiten Heimat. Aber zuweilen beunruhigte ihn hier doch das dunkle Gefühl, daß ihm Frida nicht so gleichgiltig sei, wie er sich vorsagte, und wenn er sie, was häufig geschah, bei Frau Adelheid traf, so lag etwas wie eine Hemmung auf seinem Empfinden für die letztere.
Sein Verhältniß zu dem Baron von Andeck hatte sich ganz leidlich gestaltet. Es war nicht zu vermeiden, daß Paul ihn zuweilen im Wirthshaus und in Zuständen traf, wo seine Vorgänger nur die Wahl gehabt hatten, mit ihm zu trinken und sich seine groben Spässe gefallen zu lassen oder seine Gunst rasch zu verscherzen. Bei Paul war es anders; der Baumwirth sagte einmal zu Bührer: »unser Herr Ritter verstehts, mit dem Baron umzugehen! Vor dem nimmt sich der Alte zusammen, er muß gleich am ersten Abend gemerkt haben, daß dieser Herr sich nicht hudeln läßt. Höflich ist der Herr Ritter immer, aber wenn der Baron zu viel hat und in seinen alten Ton verfallen will, so sagt er ihm immer etwas kurz hin und geht, daß mirs schon oft gewesen ist, als ob der Baron sich schäme. Er brummt dann noch eine Weile vor sich hin, aber er gibt sich zufrieden.«
Zuweilen, namentlich Vormittags, wenn der Schuldienst es erlaubte, war Paul auch in der That auf dem Schlosse, um dem Baron vorzulesen. Er hatte es nicht für Ernst gehalten, als der Baron bei seinem ersten Besuch einen Wunsch dahin ausgesprochen hatte, aber eines Sonntag Vormittags hatte ihn der Baron ausdrücklich zu diesem Zweck zu sich bitten lassen und seitdem hatte sich dies zuweilen wiederholt. Freilich, der Alte achtete kaum auf das Vorgelesene, er brütete ziemlich stumpf vor sich hin, schien auch zuweilen zu schlafen. Aber immer überkam Paul jenes Gefühl des Mitleids mit dem verkommenen Manne, das von dem Eindruck der ganzen Umgebung im Schlosse genährt wurde, nicht zum mindesten auch von der Erscheinung des tollen Peters, der mehrmals, wenn Paul da war, sich einfand, mit wichtiger Miene zuhörte oder seine verrückten Bemerkungen dazwischen machte, die der Baron schweigend gewähren ließ. Paul sagte sich, er thue hier ein Werk der Barmherzigkeit, und was ihn immer wieder gern jene Räume betreten ließ, war das Bild im Vorzimmer, vor dem er manchmal eine Weile stillstand.
Soeben hatte die Erntevakanz begonnen. In der Schule hatte Paul die letzten Tage viel Noth und Widerwärtigkeit gehabt. Namentlich waren es die auf der Fabrik beschäftigten Knaben, welche natürlich beim Unterricht matt und abgespannt, zerstreut und gleichgiltig waren. Und es war allerdings auf des Lehrers Betreiben geschehen, daß das Pfarramt Rauhenstein jenes ernstliche Ersuchen an Herrn Polling gerichtet hatte. Auch bei Frau Adelheid hatte sich Paul über die Sache ausgesprochen und diese hatte verheißen, das Ihrige zu thun, damit Abhilfe geschafft werde. Freilich, hatte sie mit umwölkter Miene hinzugefügt, sie merke mehr und mehr, daß sie nur eine Frau sei und zuweilen machtlos auf ihrem eigenen Grund und Boden.
Paul beabsichtigte, am nächsten Morgen auf einige Tage in die Residenz zu reisen: gegen Abend, ehe er sich auf den Weg nach der Fabrik machte, sprach er geschwind auf Andeck im Erdmann'schen Hause vor. Er wußte bereits, daß er die Familie am Abend nicht bei Frau Adelheid treffen werde, und wollte einen Auftrag von Frau Erdmann nach der Residenz sich geben lassen. Er fand alle im Hause vollauf beschäftigt, er konnte nicht lange stören und ging bald wieder weiter; Frida traf er, wie sie mit Krügen über den Hof gieng, um den Taglöhnern den Vespertrunk zu bringen. Sie grüßte ihn flüchtig aber freundlich und Paul konnte sichs nicht versagen, ihr einen Augenblick nachzusehen, wie sie geschäftig weitereilte.
Er ging noch ins Schloß zu dem Baron, der ihm gleichfalls einen Auftrag mitgeben wollte, und fand diesen bei einigen geleerten Weinflaschen in einem keineswegs erfreulichen Zustand. Er nöthigte Paul zu sitzen und ein Glas Wein zu trinken und sprach allerlei aufgeregte Dinge nach seiner Art durcheinander.
»Nun, wie ists,« fieng er auf einmal an, »Sie gehen in die Residenz? Wollen Sie sich um unsre Schulstelle bewerben? Sie sind der erste Schulmeister seit langer Zeit wieder, der mir gefällt, obwohl Sie sich noch manche Untugenden abgewöhnen müssen. Aber bewerben Sie sich nur, meinerseits ist Ihnen die Nomination zu der Stelle sicher!«
Paul war sehr unangenehm berührt; er gab kurz zur Antwort, daß er die Güte des Herrn Barons zu schätzen wisse, daß er aber bis jetzt noch nicht daran gedacht habe, sich um die Mönchswalder Schulstelle zu bewerben.
»Was, Sie wollen nicht?« rief der Baron, »Sie hochmüthiger –« Er unterbrach sich und lachte roh: »Ah, ich weiß, wo der Hase läuft! Sie stecken viel da drüben auf der Fabrik – wollen wohl das Schulmeistersröcklein an den Nagel hängen und Fabrikbesitzer werden! Gratulire! Wie weit sind Sie denn mit Frau Adelheid?«
Paul fuhr in heller Empörung empor.
»Herr Baron,« rief er, »ich gestehe Ihnen kein Recht zu, diese Sprache mit mir zu reden und ich werde Ihr Haus nicht mehr betreten, wenn –«
»So gehen Sie zum Teufel, Sie einfältiger Schulmeister!« schrie der Baron und Paul war schon an der Thüre. Er hörte wieder das Gelächter des Barons hinter sich, das Bild der Frau im Vorzimmer schien ihm spöttisch herabzusehen und in höchster Aufregung stürmte er zum Schloß hinaus und davon.
Seine Gedanken wirbelten. Er war voll zorniger Empörung über die Rohheit des Barons, der mit plumpem Hohn hervorgezerrt hatte, was er im Innersten wahrte, der rücksichtslos mit derbem Wort genannt hatte, was er selbst bisher zu scheu gewesen war, nur als leise Hoffnung in sich zu nähren. Es war ihm, als habe die Rede des Barons sein Innerstes und Heiligstes entweiht, beschmutzt, ausgeplündert, als müsse ihm Frau Adelheid an der Stirne ansehen, was ihm widerfahren war, als schrieen es alle Bäume an der Straße ins Feld hinaus: da seht den Schulmeister, der eine reiche Wittwe und eine Fabrik heirathen will!
Er war achtlos auf dem Weg nach der Fabrik dahingestürmt, nun besann er sich plötzlich, wohin ihn seine Füße trugen, er hielt an und wollte umkehren. Konnte er so vor Frau Adelheid treten? Nein, fort, fort aus diesem Mönchswald, fort aus dieser schwülen Umgebung, die ihn beängstigte, beklemmte, ihm sein bestes Selbst zu verwirren, zu vernichten drohte!
Er athmete tief auf, aber die drückende Schwüle der Luft preßte ihm auf Lunge und Herz. Ueber die Waldberge herein schwollen und hiengen die gedunsenen Wolken, schwarz, fahl umsäumt. Ein Windstoß nahm ihm den Hut. Als er ihm nacheilte und ihn zu haschen suchte, dreimal vergebens – immer rollte ihm der verruchte Filz wieder unter den Händen weg, bis er ihn endlich festhalten konnte – da biß er im Grimm die Zähne zusammen, im Grimm über das Hutungeheuer, das moderne, steife, rollende, kugelnde Unthier, und als er die Bestie endlich hatte, da mußte er lachen, lachen über seinen Grimm, lachen über sich selbst. Und dies Lachen befreite ihn. Nein, sagte er sich in erwachendem Trotz, nein, dieser Mensch soll dir keinen Schmutz in die Seele werfen dürfen! Schüttle es ab, was hängen geblieben ist, wie du hier den Staub von dem Filz schüttelst – weiter auf deinem Weg, nun erst recht! – hin zu ihr!
Als er durch den Garten nach den Ulmen hingieng, fielen die ersten Tropfen, es dämmerte schon, der Teich lag grau und unruhig – Frau Adelheid trat ihm entgegen und bot ihm die Hand.
»Gut, daß Sie da sind!« sagte sie, »es bricht los! Kommen Sie ins Haus!«
Sie war unruhiger als sonst und Paul glaubte einen wärmeren Druck ihrer Hand verspürt zu haben.
In dem nach dem Garten und Teich schauenden Erker des Ecksalons standen Paul und Adelheid schweigend neben einander und sahen hinaus in das losbrechende Wetter. Rasch ward es finster draußen, der Regen hielt immer noch zurück, aber schon zuckten die Blitze und rollten die Donner. Der Wind fuhr um den Erker in heftigen, abgebrochenen Stößen, zuweilen hörte man den Fall von Ziegeln und Backsteinen von den Dächern und Kaminen der Fabrikgebäude. Nun begann klatschend der Regen auf Dächer und Bäume und an die Scheiben zu schlagen, jeden Augenblick erhellte ein Blitz grell und breit die nächste Umgebung vor den Fenstern, die alten Ulmen beugten und neigten sich im Sturm, der Teich schäumte aufgewühlt und das alte Gemäuer unter den Ulmen schien zu wanken.
Frau Adelheid gehörte zu den Frauen, die ein Gewitter in unbezwingbare Angst versetzt. So sehr sie sich zu beherrschen suchte, so war ihr die Angst doch deutlich anzumerken; einmal bei einem besonders raschen und heftigen Wetterschlag faßte sie unwillkürlich einen Augenblick Pauls Arm. Die Luft war noch immer dumpf und schwül, zumal hier innen im Zimmer, und wie das schöne Weib so angstvoll neben dem jungen Manne stand, da stürmte es auch in ihm wie draußen, und der Funke, den die Worte des Herrn von Andeck dennoch in sein Herz geworfen hatten, zuckte zum Blitz verwandelt durch sein Inneres. Wie, sprach es in ihm, sollst du nicht werth sein, nach Hohem greifen zu dürfen? Soll sie nicht dennoch dein werden, die hier als schwaches Weib neben dir steht? Sollst du nicht Manns genug sein, sie mit starkem Arme zu halten, zu stützen, zu führen durchs ganze Leben?
Seine Gestalt hob sich hoch, aber er schwieg. Er empfand zu fein, um diese Lage, um Adelheids Angst auszunützen, er fühlte, daß sie ihm ein Vertrauen zeige, das er ehren müsse. Aber er fühlte zugleich eine stolze Seligkeit, die über alle Worte gieng.
Wie lange sie so gestanden, keines wußte es. Nun begann sich der Aufruhr draußen etwas zu sänftigen, Frau Adelheid trat in das Zimmer zurück und setzte sich in einen Stuhl. Paul blieb noch einen Augenblick in dem Erker stehen, seine Blicke hiengen an ihrer Gestalt, an dem flechtengekrönten Haupt, das sie in die feine Hand stützte – nun trat er ans offene Klavier und sang ein Lied, das er vor Jahren irgendwo gefunden und selbst in Musik gesetzt hatte:
Wenn der Blitz meine Stirne streift,
Zürnende Donner rollen,
Jauchzt mirs im Herzen, im vollen,
Und der kühnste Gedanke reift.
Ueber dem dräuenden Wolkenzug
Wölbt sich der Himmel doch –
Ist er fern, ist er hoch,
Grad so hoch geht meiner Liebe Flug!
Er erhob sich langsam vom Klavier und sah zu Frau Adelheid hinüber. Sie sah ihn an mit einem Blick, in dem etwas wie eine verwunderte Frage lag – aber nur einen Augenblick, sie schien wieder ihre ganze Ruhe gewonnen zu haben.
»Mich, wundert, daß Sie jetzt singen mögen,« sagte sie leichthin. »Von wem ist die Musik?«
»Von mir!« erwiderte Paul. Er sagte es mit gepreßter tonloser Stimme, es war, als krampfe sich etwas in seinem Innern zusammen bei dem klaren kühlen Ton ihrer Frage. Er hörte kaum, wie sie noch sagte: »recht hübsch!« – er verschränkte die Arme auf der Brust und preßte die Lippen zusammen. Dann trat er rasch wieder in den Erker, wo sie ihn nicht sehen konnte, und schaute stumm wieder in die Nacht hinaus, die immer noch von Blitzen durchzuckt wurde, wenn auch in längeren Zwischenräumen. Er hörte den Regen leiser rauschen, den Donner ferner über die Berge wegziehen, er hörte, wie Frau Adelheid hinter ihm im Zimmer hin und her gieng, er hörte wie im Traume ihre Worte: wo nur Baron Rauhenstein bleiben mag bei diesem Wetter? – er stand und starrte und wandte sich nicht um.
Nun trat Frau Adelheid wieder zu ihm.
»Sie haben eigentlich Recht,« sagte sie, »man sollte sich dem Eindruck des Gewitters nicht so unbedingt hingeben. Wollen Sie mir nicht etwas vorlesen?«
Er wandte sich um, sein Blick streifte nur flüchtig ihr Gesicht, ihren Blick vermeidend, er holte von einem Bücherschrank das nächste beste Buch, setzte sich zum Tisch vor die Lampe und blätterte.
Da gieng die Thür auf und, von Herrn Polling gefolgt, trat Richard von Rauhenstein ein. Seine Kleider zeigten noch Spuren des Wetters, an die Stirn hielt er ein Tuch gepreßt, unter dem Tropfen Blutes hervordrangen. Entsetzt eilte ihm Frau Adelheid entgegen: »um Gottes willen, Herr Baron, was ist geschehen?«
»Nichts, nichts, gnädige Frau,« erwiderte Richard lächelnd. »Beruhigen Sie sich und verzeihen Sie, daß ich Sie auf diese Weise störe! Aber ich kann wirklich in diesem Augenblick nicht weiter kommen – ein kleiner Sturz mit dem Pferd, das sich am Fuß verletzt hat –«
Und nun erzählte er, daß er noch vor Ausbruch des Gewitters, das sich zuerst im Thalkessel gefangen haben mußte und erst später sich noch etwas in die Ebene gezogen hatte, von der Bahnstation abgeritten sei. Er hatte gehofft, noch vor dem schlimmsten Ausbruch die Fabrik zu erreichen, aber es war ihm nicht mehr gelungen. Sein Pferd war immer unruhiger geworden und in der Nähe der Arbeiterwohnungen, als plötzlich noch ein verspäteter Blitz mit heftigem Donner, wie es schien dicht neben der Straße, ins Erdreich schlug, hatte das Pferd gescheut, einen jähen Seitensprung gemacht und war dann mit dem Reiter gestürzt. Bei der augenblicklichen grellen Beleuchtung durch den Blitz hatte der Baron einen Mann am Wege stehen sehen, dessen plötzliches Auftauchen sicher am meisten zu dem Scheuen des Pferdes beigetragen hatte. Er hatte Kanz zu erkennen und ein höhnisches Auflachen zu hören geglaubt. Der Sturz war überraschend glücklich abgelaufen, eine starke Fleischwunde an der Stirn war alles, was der Reiter davon getragen hatte; das Pferd lahmte. Als Richard sich aufrichtete, merkte er, daß ihm jemand behilflich sein wollte, der bereits sein Pferd am Zügel hielt, und Kanz – der war es in der That – sagte mit höhnischer Höflichkeit, daß er sich glücklich schätze, dem Herrn Rittmeister diesmal Böses mit Gutem vergelten zu können. Dieser fertigte den Menschen kurz ab und erreichte ohne weitere Beihilfe den Hof der Fabrik, fand Bührer, dem er das Pferd übergeben konnte, und traf im Comptoir noch Herrn Polling, der ihm die Wunde wusch und sonst behilflich war und ihn dann zu Frau Adelheid heraufführte.
So sehr sich der Baron bisher beherrscht hatte, am Ende seines Berichts lehnte er sich doch erschöpft in einen Sessel zurück und schloß einen Augenblick in einer Anwandlung von Schwäche die Augen, während die Wunde wieder heftiger zu bluten begann. Frau Adelheid klingelte ihrem Mädchen und bat um die Erlaubniß, nach der Wunde sehen zu dürfen. Richard fühlte, daß er es nicht verwehren könne, und wie sie nun mit weicher geschickter Hand die doch ziemlich starke Wunde noch einmal auswusch und einen kunstgerechten Verband anlegte, da schloß er aufs neue die Augen und sagte sich in seinem Innern, daß er sein Lebenlang so stillhalten und die weiche Hand an seiner Stirne fühlen möchte. In kurzem war er wieder soweit erholt, daß er mit den andern am Theetisch Platz nehmen und sich an der Unterhaltung betheiligen konnte. Diese wurde freilich fast ausschließlich von ihm und Frau Adelheid geführt, Paul Ritter und Polling verhielten sich meist schweigsam. Letzterer erwiderte auf eine gelegentliche Bemerkung des Barons, daß er diesen Kanz von früher her als einen schlechten Burschen kenne: derselbe sei aber sehr anstellig und benehme sich von Tag zu Tag besser. Der Rittmeister zuckte die Achseln und sprach von andern Dingen. Bald jedoch war drunten der Wagen der Frau Adelheid vorgefahren, welcher ihn nach Hause bringen sollte, und er wollte nicht lange mehr zögern, um seine Schwester nicht in Unruhe zu lassen. Paul erbot sich, bis Rauhenstein mitzufahren, damit der Baron für alle Fälle unterwegs jemand bei sich habe. Richard wollte wenigstens bis Mönchswald seine Begleitung dankend annehmen.
Beim Abschied sprach Baron Rauhenstein noch seine Befriedigung aus, daß er seinen Fuchs so ruhig in Bührers Händen lassen könne; Polling meinte, er würde das Pferd weggeben, obgleich es wohl keinen ernstlichen Schaden genommen habe; es sei doch ein wildes, unbändiges Thier, mit dem einem gelegentlich allerlei begegnen könne. Richard antwortete, das komme ganz auf den Reiter an –
»Doch wohl nicht immer,« fiel Frau Adelheid ein, »wir haben heute das Gegentheil erlebt. Würden Sie nicht darauf verzichten, das Pferd zu reiten, wenn Sie Ihre Freunde allerseits recht schön darum bitten würden?«
»Nein!« erwiderte Richard lächelnd, aber bestimmt, »das Pferd ist mir lieb und ist ein treues Thier trotz seiner Wildheit. Wir trennen uns nicht.«
Frau Adelheid sah ihn mit einem Blicke an, der zu sagen schien: diese Antwort habe ich erwartet.
Weder der Rittmeister noch Paul sprach viel, als sie miteinander durch die Nacht dahinfuhren. Jeder war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, aber bei beiden drehten sich die Gedanken um denselben Mittelpunkt. In Mönchswald bestand der Baron darauf, daß Paul aussteige und ihn allein weiterfahren lasse, was denn auch geschah.
Von den Dächern tropfte es noch leise, am Himmel traten die Sterne aus zerrissenen Wolken vor, die Natur war besänftigt, als ob nichts gewesen wäre, aber in Pauls Gemüth stürmte es aufs neue und heftiger als zuvor, als er nun allein war und mit hastigen Schritten sein Zimmer wieder und wieder durchmaß.
Verschmäht, zum zweitenmal verschmäht von demselben Weibe! Oder was war es denn anders? Damals vor Jahren konnte es ihr doch kaum entgangen sein, daß er sie liebte – sie hatte es nicht beachtet! Und heute jedenfalls: sie mußte es aus seinem Gesang herausgehört haben, was er hineingelegt hatte – und dann nur dieser verwundert fragende Blick, diese immer sich gleichbleibende Ruhe, diese kühlen Worte! »Recht hübsch!« O ja, recht hübsch, wenn ein Mann die Fülle eines warmen Gefühls im Liede ausströmt – das klingt ja recht hübsch, das ist ja eine angenehme Zerstreuung für einen Augenblick! Oder das nicht einmal? Das Weib hat Angst vor dem Wetter draußen – was in eines Mannes Seele stürmt, kümmert sie nicht, sie begreift nicht, wie er es austönen lassen mag, während draußen noch ein bischen Donner grollt! O ja, recht hübsch! Und dann kommt der Herr Baron – da ist man ängstlich besorgt, da – – Schäme dich, du thust ihr Unrecht! Wer gibt dir ein Recht, zu verlangen, daß sie dich liebe? Was gibt dir ein Recht, anzunehmen, daß ihr der Rittmeister – – sie hat die Pflichten der Hausfrau erfüllt, mehr nicht! Weißt du, ob sie überhaupt einer Liebe fähig ist, die – – Einerlei! Verschmäht! Das bleibt! Geschieht mir recht! Wer hieß mich, alte Leidenschaften neu zu erwecken? Warum ließ ich mich nicht warnen, heute noch – die Rohheit des Baron Andeck – – Und das mußtest du dir bieten lassen? Soweit bist du gekommen in Mönchswald?
Und das alles kommt nur daher, daß du nicht auf der rechten Stelle im Leben stehst! Hier in Mönchswald bist du verloren, ausgesetzt, hast keinen Wirkungskreis, der dir entspräche, dir einen Halt gewährte, dich befriedigte und innerlich klar und sicher machte! Nein, fort, fort aus diesem verlorenen Winkel, fort in die Welt, in größere Kreise, zu tüchtigem Wirken, wie du's kannst, wie du's fordern darfst nach dem, was du bist – –
Pauls Blick fiel auf eine Zeitung, die auf dem Tische lag; er nahm sie auf und überflog hastig die darin ausgeschriebenen Schulstellen. Es waren einige begehrenswerthe Stellen an Mittelschulen in der Residenz darunter; ohne weitere Ueberlegung griff Paul nach Tinte und Papier und mit fliegender Feder schrieb er Bewerbungen um zwei dieser Stellen zumal. Was er zur Begründung seiner Bewerbung anführte, und der Ton, in dem er es that, stimmte zwar vollständig zu seinem Zustand der Aufregung, weniger aber zu der für solche Schriftstücke üblichen und schicklichen Schreibweise. Er fügte ein Schreiben an das Pfarramt Rauhenstein bei, worin er um Weiterbeförderung seiner Bewerbungen bat und vorschriftmäßig anzeigte, daß er, entgegen seiner bisherigen Absicht, den gesammten Ferienurlaub zu einer größeren Reise verwenden wolle. Mit einer Art grimmiger Genugtuung faltete er die Schriftstücke zusammen und warf sie sofort in den am Schulhause befindlichen Briefkasten, von wo sie der Postbote andern Tages nach Rauhenstein bringen sollte.
Als Paul am andern Morgen, zur Abreise bereit, aus dem Schulhause trat, war es ihm nicht ganz wohl beim Blick auf den Briefkasten. Einen Augenblick schwankte er, ob er nicht den Brief sich zurückgeben lassen solle. Nein, sagte er sich trotzig, geh's seinen Gang!
Die Regenwolken eines grauen feuchtkalten Novembertags hiengen tief ins Mönchswalder Thal herab. In seinem gut erwärmten Zimmer, das so behaglich eingerichtet war, als mans von der Junggesellenwohnung eines Schulamtsverwesers in Mönchswald irgend erwarten konnte, saß Paul Ritter und schrieb an einen Freund:
»Das Winterhalbjahr hat begonnen und ich sitze, wie Du richtig vermuthest, immer noch in Mönchswald; aber es ist mir dabei wohler zu Muthe, als Du ahnst. Es ist alles gekommen, wie wir es uns letzten Sommer, als wir in Zürich zusammen waren, gedacht haben. Für meine – ich hab's ja damals schon zugestanden – recht thörichten Bewerbungen habe ich nach meiner Rückkehr aus den Ferien von der Oberschulbehörde einen Verweis erhalten. Man verkenne zwar einerseits nicht, hieß es, daß der Amtsverweser Ritter vermöge seiner Fähigkeiten und Kenntnisse Anspruch auf eine bessere Stellung im Schuldienst habe; dagegen habe man andererseits mit Befremden und Mißfallen den unbescheidenen Ton bemerkt, mit welchem er diesen Anspruch erhebe; man wolle demselben hiemit dies Befremden und Mißfallen ausgesprochen haben und versehe sich zu ihm, daß er bestrebt sein werde, die Erwartungen, die man in Betreff der Versehung der Schulstelle in Mönchswald von ihm gehegt habe, in der nächsten Zukunft in vollem Umfange zu rechtfertigen u. s. w. – es war ein unmißverständlicher Wink: bis auf weiteres bleibst du hübsch in Mönchswald!
»Du kannst dir denken, daß ich nicht gerade aufjauchzte, als der Herr Pfarrer von Rauhenstein mir dies, wenn auch in schonungsvollster Weise, mittheilte, aber ich war auf so etwas gefaßt und mußte mir sagen, daß ich einen dummen Streich gemacht habe; ich steckte deswegen meine Nase ziemlich ruhig ein. Ich habe Dir seither nicht geschrieben, weil ich zuerst mit mir selbst völlig ins Klare kommen und mich stramm zurechtrücken wollte, wie ichs durchaus nöthig hatte. Nun bin ich so weit und bin ganz heiter dabei. Es thut dem Menschen recht gut, wenn er auch einmal in die Lage kommt, sich selbst gehörig den Standpunkt klären zu müssen, man ist nachher ein ganz anderer Mensch.
»Jetzt hab' ich mir gesagt, daß es unmännlich und unrecht ist, mit ›wenn‹ und mit ›aber‹ seine Zeit todtzuschlagen, mit sich selbst Mitleid zu haben und sich alle Tage vorzusagen: wenn du in der und der Stellung wärst, da wolltest du etwas leisten! Nein, ein rechter Kerl leistet zuerst einmal da, wohin er eben einmal gestellt ist, was er irgend kann! Wer in engem Kreise nichts Tüchtiges leistet, der ist auch in größerem Kreise nichts nutz!
»Summa: ich frage jetzt gar nicht mehr, wie lang ich noch hier werde auszuharren haben, sondern ich fasse einmal hier an, greife zu, wo ich kann, und suche in diesem Mönchswald zurechtzurücken, was mir erreichbar ist. Findets dann über kurz oder lang ein Ende – gut, so mag ein Anderer, wenn er der Mann dazu ist, weitermachen, wo ichs gelassen habe.
»Der Verwalter Erdmann hat Recht: wir Lehrer müssen, wenn uns unser Schulgeschäft nicht alle Zeit und Kraft in Anspruch nimmt – und das ist hier und bei mir wenigstens nicht der Fall – auch über die Schulstube hinausgucken und sehen, was wir sonst in der Gemeinde wirken können. Hier, scheint mir, wird sichs hauptsächlich darum handeln, unter der jüngeren Bürgerschaft einen tüchtigen Kern zu sammeln. Ich habe einmal den Anfang an dem Punkt gemacht, wo man am leichtesten einsetzen kann: ich habe die Reste des ehemaligen Gesangvereins gesammelt und ihn durch einige Sonntagsschülerinnen auch noch zu einem Kirchenchor erweitert. Wir üben fleißig, und am Jahresabend, wo bei uns im Ort Gottesdienst ist, wollen wir uns zum erstenmal in der Kirche hören lassen. Ich denke, es soll gehen; später wollen wir auch zuweilen in Rauhenstein singen. Der Baron von Rauhenstein meint, ich solle auch den Versuch zur Gründung eines Kriegervereins machen – das hat noch Haken, doch wirds vielleicht später gehen. Ich finde, die Leute hier sind nicht so schlimm, wie man meint: es kommt nur darauf an, wie man sie anfaßt, man muß für den Anfang hie und da ein Auge zudrücken – mit der Zeit wird manches besser werden. Herr Erdmann möchte mich zu Abendvorträgen über landwirthschaftliche Dinge ermuntern – aber hier verstehe ich zu wenig, obwohl ich mich einzuarbeiten suche, auch möchte ich nicht zu viel auf einmal unternehmen. Ueberdies haben mich die Zustände auf der Fabrik veranlaßt, mich ernstlicher um die Socialdemokratie zu kümmern; ich habe vor Jahren schon, am Rhein drunten mich ein wenig mit der Sache befaßt und habe diese Studien wieder aufgenommen.
»Du siehst, meine Zeit ist vollauf ausgefüllt und ich befinde mich wohl und heiter dabei. Das ist auch gut Frau Adelheid gegenüber. Ich habe keine Zeit, dem oder jenem Gefühl nachzuhängen, das sich doch zuweilen noch regen will, ich habe auch guten Grund, sparsamer in ihrem Hause zu verkehren. Sie selbst ist so fein, zu thun, als ob nichts geschehen wäre, und seit jene Bitterkeit in mir geschwunden ist, wächst bei mir eine ruhige Verehrung für sie, die mir nur wohl thut. Ich sehe, wir können auf ganz gutem Fuße miteinander weiter verkehren.
»Baron Andeck – das möchtest Du wohl auch noch wissen – scheint seine Rohheit, die er in der Betrunkenheit an mir verübt hat, ganz vergessen zu haben. Er ließ mich, nachdem ich wochenlang nicht bei ihm gewesen, auffordern, ihn zu besuchen, ich habe ihm jedoch schriftlich, ruhig und klar, das Nöthige gesagt und habe ihn seither nur flüchtig an dritten Orten gesehen. Dagegen gehe ich viel mit Erdmanns um; die Alten sind für mich besorgt wie für einen Sohn. Auch der Umgang mit Fräulein Frida ist mir recht angenehm. Sie ist eine einfache gesunde thätige Natur und hat recht hübsche Bildung. Sie singt in unserem Chor mit; für die Aufführung hat sogar Frau Adelheid ihre Mitwirkung zugesagt. – Mit dem Baron Rauhenstein bin ich gleichfalls in ganz gutem Verkehr, und der Pfarrer in Rauhenstein ist mir ein schätzbarer Vorgesetzter.« – – –
Es war schon Dämmerung, als Paul seinen Brief zusammenfaltete. Da klopfte es an seiner Thüre und herein trat Kanz. Erstaunt erhob sich Paul und unwillkürlich flog sein Blick in die Ecke, wo als Erinnerung an den Feldzug ein französisches Chassepotgewehr mit aufgepflanztem Bajonett lehnte. Kanz bemerkte den Blick und einen Augenblick zuckte es spöttisch um seine Mundwinkel. Doch schnell nahm er wieder die demüthige Miene und Haltung an, mit der er eingetreten war.
»Was wollen Sie?« fragte Paul kurz und scharf.
»Ich möchte Sie um Verzeihung bitten,« erwiderte Kanz mit sanftem Tone, »ich habe mich in betrunkenem Zustand an Ihnen und Ihren Schulkindern vergangen, ich war damals auf schlechten Wegen, aber ich bin jetzt zur Einsicht gekommen und möchte mich bessern. Dazu muß ich aber Ihre Verzeihung haben und ich bitte Sie, mir diese nicht zu verweigern. Sie nehmen dadurch einen Druck von meiner Seele und geben mir Kraft zum Guten.«
Das Erstaunen Pauls wuchs. War das Ernst oder war der Mann ein abgefeimter Heuchler? Paul vermochte es nicht zu entscheiden; er mochte den Mann, dem es ja Ernst sein konnte, nicht zurückstoßen, und doch wars ihm, als dürfe er ihm nicht trauen. Er gab sehr zurückhaltend zur Antwort:
»Nun ja, ich verzeihe Ihnen und wünsche sehr, daß Sie sich in der That bessern mögen. Allem nach, was ich von Ihnen höre, scheint es höchste Zeit dazu zu sein!«
»Ach ja,« gab Kanz zur Antwort, »Sie haben Recht. Ich danke Ihnen für Ihre Verzeihung! Nun ist mir leichter. O wenn Sie in mein Herz sehen könnten, Herr Ritter! Und nun, da Sie mir verziehen haben, habe ich Muth, Ihnen noch eine Bitte vorzutragen. Sie wissen vielleicht, ich gehöre eigentlich dem Schreibereifach zu, ich hatte es schon bis zum Notariatsgehilfen gebracht, aber dann kam ich in schlechte Gesellschaft, wurde auch von socialdemokratischen Gedanken angesteckt und – kurz, ich bin eben heruntergekommen. Aber nun habe ich mich von all dem losgesagt, ich hoffe, es werde noch nicht zu spät sein, daß ich wieder zu meinem Beruf zurückkehre; ich habe früher nicht wenig gelernt, aber viel wieder vergessen und möchte nun wieder ernstlich arbeiten und mich auf ein Examen vorbereiten. Ich möchte einen rechten Beruf bekommen, der mir einen inneren Halt gewährt und – nun meine Bitte wäre, daß Sie mir bei der Vorbereitung ein wenig nachhelfen würden. Besonders, wenn Sie die große Güte haben wollten, mir im Französischen und in der Mathematik –«
Paul unterbrach ihn. Er konnte sich abermals eines Mißtrauens nicht erwehren; doch wiederum: wenn es dem Manne Ernst wäre, so wäre es ja Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen!
»Zu eigentlichen Unterrichtsstunden,« sagte Paul, »fehlt mir die Zeit, das muß ich Ihnen sogleich sagen! Ueberhaupt, das werden Sie einsehen, können Sie nicht von mir verlangen, daß ich Sie ohne Weiteres als einen anderen Menschen betrachte. Doch will ich Ihnen nicht jede Hilfe versagen; Sie mögen, wo Sie in Ihren Arbeiten nicht zurechtkommen, sich zuweilen an mich wenden, und wenn Sie mit der Zeit wirkliche Proben von ernsthafter Besserung geben, so wollen wir weiter sehen.«
»Sie haben wieder Recht,« sagte Kanz mit gerührtem Ton, »ich kann nicht mehr verlangen. Schon für das muß ich Ihnen äußerst dankbar sein! Aber erlauben Sie mir noch – halten Sie mich nicht für unbescheiden – sehen Sie, ich muß vorläufig auf der Fabrik bleiben, um mein Brot zu verdienen, und da werde ich zwar von Herrn Polling auf dem Comptoir verwendet, aber ich habe doch keinen andern Umgang als die Arbeiter in der Schleiferei und diese sind alle mehr oder weniger Socialdemokraten. Da wäre es mir von großem Werthe für meine Besserung, wenn ich irgendwo anders Anschluß finden könnte – aber, Sie wissen ja – durch mein Benehmen damals gegen die Kinder habe ich mir die Leute in Mönchswald, gerade die besseren, ungünstig gestimmt, sie ließen mich wohl nicht ankommen. Doch wenn Sie ein gutes Wort für mich einlegen wollten, oder besonders wenn Sie – ich bitte, halten Sie mich nicht für zudringlich – wenn Sie mich in Ihren Gesangverein aufnehmen wollten, Da hätte ich doch einen Anschluß, einen Halt –«
Kanz sprach in ungemein biederem ehrlichem Tone und doch konnte Paul das Gefühl nicht loswerden, als ob in diesem zur Schau getragenen Bekehrungseifer etwas Berechnetes, eine Unlauterkeit liege, wonicht Schlimmeres. Er erwiderte:
»Ueber die Aufnahme in unseren Chor kann ich, auch wenn Sie musikalisch genügend befähigt sind, doch nicht allein entscheiden; hier hat der Ausschuß ein Wort mitzureden. Und wenn Sie nicht genügend zum Gesang befähigt sind, so kann und muß ich Sie von vornherein abweisen.«
Er zündete die Lampe an, öffnete das Klavier und ließ Kanz etwas singen. Die Stimme klang rauh und abgetrunken, doch mochte sie früher besser gewesen sein und so ganz ohne musikalische Befähigung schien der Mann nicht zu sein.
»Nun, wie gesagt,« entschied Paul, »ich will Sie nicht ohne weiteres abweisen, obwohl Ihre Stimme kein großer Gewinn für uns sein wird. Aber ich muß mit dem Ausschuß reden; fragen Sie in einigen Tagen wieder an!«
Kanz dankte wieder in gerührtem Tone, versicherte, daß der Herr Lehrer sich einen Gotteslohn verdienen werde, wenn er ihm helfe, auf bessere Wege zu kommen, und verabschiedete sich. Vom Schulhause gieng er in den »grünen Baum« hinüber, nicht ohne sich umzusehen, ob ihm Ritter nicht etwa nachschaue. Er kicherte leise vor sich hin.
Als Kanz in die Wirthsstube trat, wurde er von Benzberger und dessen Kameraden, die gleich neben der Thüre saßen, mit Halloh und erhobenen Gläsern begrüßt. Er aber warf ihnen einen verächtlichen Blick zu und setzte sich still und bescheiden in eine Ecke.
»Kopfhänger!« rief Benzberger, »was ists denn eigentlich auf einmal mit dir? Ich wills noch erleben, daß der Kerl ein Pietist wird und zu den Stundenbrüdern nach Erlenbach geht! Oder ist ihm unsereiner schon zu gering, weil er auf der Fabrik das Schreiberlein spielen darf? Ist schon was rechts! Na, wart nur!«
Kanz that, als höre ers nicht. Nicht weit von ihm saßen zwei in der Gegend bekannte Viehhändler, Söhne Israels, die manches Geschäft in Mönchswald machten. Ein Bauer vom Dorf saß bei ihnen, offenbar schon in ziemlich angetrunkenem Zustand: es war der Besitzer eines größeren Bauernhofes, der aber, wie man wußte, schon stark verschuldet war. Er hatte ein Papier vor sich, Tinte und Feder standen auf dem Tisch, die beiden Juden sprachen eifrig auf ihn ein und setzten ihm die Vortheile auseinander, die er haben werde, wenn er das Papier unterschreibe. Kanz hörte dem ziemlich laut geführten Gespräch aufmerksam zu und merkte bald, um was sichs handelte und daß der Bauer im Begriff war, eine Forderung zu unterschreiben, die ihn vollends um Hab und Gut gebracht hätte.
Als der Bauer eben zur Feder gegriffen hatte, dieselbe wieder und wieder eintunkte und in der schwerfälligen Hand zurechtrückte, trat Kanz unbemerkt hinter ihn und las über seine Schulter hinweg laut und deutlich, was auf dem Papier stand. Die Händler fuhren auf und verbaten sich jede Einmischung, Kanz ließ sich nicht beirren und machte den Bauern noch einmal auf die Zahlen und den Wortlaut des Schriftstückes aufmerksam. Dieser wurde stutzig und rief den Baumwirth.
»Ich habe dich schon lange gewarnt, Michel,« sagte dieser mürrisch, »wer nicht hören will, muß fühlen! Mach' deine Augen auf und sauf nicht so viel!«
Die Juden zankten und eiferten, der Bauer wurde grob, er schien auf einmal wieder ernüchtert und sagte zu Kanz:
»'s ist wahr! So stehts da! So ists! Erklären Sie mirs noch genauer!« Und trotz des Protestes der Juden begab er sich mit Kanz die Stufen hinauf, wo der Tisch heute leer war, und ließ sich von ihm weiter über die Sache belehren. Die Juden entfernten sich schimpfend, der Bauer rief ihnen nach, sie sollen nur morgen wieder kommen, und dann setzte ihm Kanz mit Gewandtheit ein neues Schriftstück auf, der Baumwirth mußte dem Bauern bestätigen, daß er auf diese Weise besser fahre, und die Juden mußten andern Tags richtig von ihrem schönen Vorhaben abstehen.
Kanz stand dem Bauern später noch in ähnlichen Angelegenheiten bei und half ihm ein gut Stück aus den Schlingen seiner Gläubiger heraus. Dies wurde in Mönchswald bekannt und bald war Kanz auch bei andern Bauern ein gesuchter Rathgeber in Geldsachen, Kaufs- und Rechtsangelegenheiten.
Während dies im Wirthshaus vorgieng, waren im Schulhaus drüben die Männer des Gesangvereins zu einer Singprobe. Als nach derselben Paul den Ausschußmitgliedern, unter denen Bührer und der Schreiner waren, das Aufnahmsgesuch des Kanz mittheilte, rief Bührer:
»Um Gotteswillen, Herr Ritter, nehmen Sie sich vor dem Kerl in Acht! Das ist alles Heuchelei! Glauben Sie mirs aufs Wort! Er thut jetzt freilich seit einiger Zeit, wie wenn er solid werden wollte, mit dem Benzberger und derlei Kameraden geht er gar nicht mehr um, aber ich sag' Ihnen: ein Spitzbub' bleibt er doch! Ich pass' ihm auf den Dienst und weiß auch, daß er oft heimlich mit dem Thielmann verhandelt, wenn er meint, daß es niemand sehe – dem Thielmann kann man sonst nichts Böses nachsagen, aber ein Socialdemokrat ist er, das weiß ich gewiß! Und ich sags noch einmal: dahinter steckt irgend eine Lumperei und dem Kanz trau' ich keine drei Schritt' über den Weg, und wenn er sich noch so scheinheilig stellt! Und in unsern Verein darf er nicht, sonst ist alles ruinirt, und am selben Tag, wo er eintritt, tret' ich aus!«
»Ich auch!« sagte der Schreiner, und die beiden anderen Ausschußmitglieder stimmten bei.
»Gut,« sagte Ritter, »dann ist's schon entschieden. Sein Gesang ist ohnedies nicht viel werth. Aber ich hätte gemeint, so ganz sollte man ihn nicht zurückstoßen – wenns ihm nun doch Ernst wäre mit seiner Besserung?«
»Aber das ists ihm nicht!« erwiderte Bührer bestimmt. »Ich behalte noch Recht, Sie werdens sehen. Sehen Sie ihm nur in die Augen. Der Kerl ist ein Schuft und bleibts!«
Kanz selber aber sagte am nächsten Abend zu Thielmann, indem er ihm von dem Geschehenen erzählte: »Es geht, es geht! Den Schulmeister hab' ich schon halb drangekriegt. Er ist zwar noch etwas mißtrauisch, aber er ist ein Schwärmer wie du, dem will ich schon noch einen blauen Dunst vormachen. In ihren Gesangverein werden sie mich freilich nicht aufnehmen: da hat der Bührer mitzureden und der ist mir spinnenfeind. 's ist schad drum, ich wollte diese Sängergesellschaft schön zerwühlt haben. Aber bei den Bauern setz' ich mich fest, wart nur! Und dann, wenns gilt, kannst du mir zum Schultheißenamt gratuliren!«
»Wir wollens abwarten!« erwiderte Thielmann. »Ein förmliches Geschäft brauchst du dir übrigens nicht daraus zu machen, die Bauern aus Wucherhänden zu befreien. Du weißt, daß unsre Sache um so besser gedeiht, je unzufriedener die Leute sind, je schlechter es ihnen geht. Es thut mir persönlich zwar leid, daß wir auf den Ruin der Leute, geradezu auf die Massenverarmung spekuliren müssen, aber es geht um der Sache willen nicht anders. Das Elend muß ungeheuer werden, die ganze bestehende Gesellschaftsordnung muß in allen Theilen bankerott werden, dann wird das Volk einsehen, daß das Heil nirgends anders liegt als im socialistischen Staate. Also, störe die Leute nicht zu viel im Herunterkommen und in der Unzufriedenheit!«
Kanz lächelte: »Du darfst ruhig sein! Es ist nur, bis ich das Vertrauen der Bauern gewonnen habe, das ich für meinen Zweck brauche. Unter der Hand will ich mich dann mit den Hauptwucherern schon ins Benehmen setzen, daß die dummen Bauern vom Regen in die Traufe kommen, ohne es zu merken.«
»Du bist und bleibst ein ausgepichter Hallunke,« sagte Thielmann, »und nimmst es gar noch als Kompliment, wenn man dirs sagt. Nun, mach' zu! Was uns nützt, muß für uns gut sein. Wenn du dich bei dem Schulmeister einschwätzen und ihn unschädlich machen könntest, das wäre freilich viel werth. Er schadet uns neuerdings mehr als früher; die Leute, die er mit seinem Gesangverein und dergleichen Dingen an sich zieht, sind für uns so gut wie verloren. Ich merke es wohl, er singt nicht nur mit ihnen, er beeinflußt sie auch sonst. Und der Bührer ist sein getreuer Helfer dabei. Unter den Arbeitern in Mönchswald haben wir in letzter Zeit eher verloren als gewonnen. Uebrigens gehts dafür sonst um so besser; die fremden Arbeiter sind fast alle nahezu reif und der schöne Streich, den Polling neulich gemacht hat, kommt uns wieder gut zu statten. Der verstorbene Herr Burkhardt hat gewußt, was er that, als er die Fabriksparkasse einrichtete, den Gewinnantheil gewährte und den Arbeitern einige Aeckerlein überließ. Nun hat ja Polling den Gewinnantheil gestrichen, der Sparkasse die Garantie seinerseits entzogen, so daß sie sicher zu Grunde gehen wird, und die Ackerstücke hat er ebenfalls zurückgezogen. Die Lohnerhöhung, die er dafür in Aussicht gestellt hat, wird auf sich warten lassen. Das ist ganz prächtig, die Unzufriedenheit wächst, aber ich suche sie zurückzuhalten bis auf den rechten Zeitpunkt. Wir werden es jetzt bald wagen können, Versammlungen zu halten und einen Agitator auftreten zu lassen. Wenn einmal die socialistische Volksrede über die Köpfe hinbraust und in die erhitzten unzufriedenen Gemüther schlägt, dann wirds vorwärts gehen! Und Mister Polling wird sich eines Tages wundern, wenn wir ihm über Nacht über den Kopf gewachsen sind!«
Der Winter schritt voran. Der Dezember brachte unerwartet Schnee und Eis, zwang die Menschen, näher zusammenzurücken und erleichterte dies den Entfernten durch eine treffliche Schlittenbahn.
Zwischen dem Fräulein von Rauhenstein und Frau Adelheid hatte sich seit dem vergangenen Sommer ein lebhafterer Verkehr ausgebildet und Dorothea rühmte gegen ihren Bruder zu dessen innerster Befriedigung, wie sie immer neue Vorzüge an Frau Adelheid entdecke. Paul Ritter erfreute sich der wachsenden Seelenruhe und Unbefangenheit, mit der er den Umgang mit Frau Burkhardt pflegen konnte, und ward ein immer regelmäßigerer Gast im Erdmannschen Hause. Zuweilen gieng er mit dem Verwalter und dem Baron Rauhenstein auf die Jagd und ließ sich von Erdmann darüber loben, daß er zum Jäger doch nicht ganz verdorben sei – er war ja auch seinerzeit einer der besten Schützen in seinem Regiment gewesen. »Auch vom Bauern steckt 'was in Ihnen!« sagte Erdmann mehrmals, wenn Paul am Abend im Erdmannschen Familienzimmer saß und des Verwalters oft etwas lange landwirthschaftliche Reden nicht nur mit Geduld, sondern mit Interesse anhörte und durch Fragen und Antworten bewies, daß er in der That dabei lerne. Das kam ihm dann in der abendlichen Fortbildungsschule zu statten, deren Einrichtung in Mönchswald diesen Winter zum erstenmal durch den Pfarrer von Rauhenstein nicht ohne Mühe durchgesetzt worden war.
Auch ein allgemeinerer geselliger Verkehr zwischen den verschiedenen Häusern in Mönchswald und Rauhenstein fehlte nicht, wobei Frau Adelheid und ihr Haus immer den Mittelpunkt gab. Man las gemeinsam, musicirte und unterhielt sich sonst auf mancherlei Weise. Paul Ritter mußte sich gestehen, daß auch in engem Kreise, in einem abgelegenen Winkel des Landes ein anregendes geistiges Leben möglich sei und daß man nicht des Treibens der großen Welt in den Städten bedürfe, wenn nur gute und strebsame Menschen sich zusammenfinden, wo immer es auch sei.
Der untere Teich bei der Fabrik war hart und fest gefroren. Frau Adelheid ließ ihn vom Schnee säubern und eines Sonntagnachmittags entfaltete sich ein lebendiges Treiben auf demselben. Frau Adelheid war eine gewandte Schlittschuhläuferin und übte dies gesunde Vergnügen mit besonderer Vorliebe. Auf diesen Tag hatte sie ihre Freunde von Mönchswald und Rauhenstein, einige Familien aus dem Bezirksstädtchen und die Angestellten vom Fabrikcomptoir zu einem kleinen Eisfeste eingeladen. Richard von Rauhenstein und Paul Ritter waren gleichfalls zwei Schlittschuhläufer, die sich sehen lassen konnten, bei den übrigen jüngeren Herren und Damen war der Eifer und die Freude manchmal größer als die Kunst; aber alle tummelten sich wacker mit frisch gerötheten Gesichtern, unter Lachen und Scherzen, während die Aelteren theils vom Ufer aus zusahen, theils im gastlichen Hause der Frau Adelheid sich behaglich zusammensetzten.
Es war ein schönes Bild, das der Teich bot. Der Himmel sah in heller und kalter Klarheit herunter, auf den Bäumen und Büschen am Ufer funkelten und glänzten die tausend Schneekrystalle im Sonnenlicht und auf der glatten Eisfläche bewegten sich jugendliche Gestalten in stetem Wechsel der Bewegungen durcheinander. Die Farben der Kleider und Schleier brachten Leben in das weißschimmernde Winterbild.
Ein Genuß war es, Frau Adelheid zu sehen, wie sie so leicht und sicher, in ruhiger Haltung über das Eis hinglitt. War sonst schon ihr Gang leicht und schwebend, so schien vollends das Gesetz der Schwere völlig für sie aufgehoben, wenn sie den Stahlschuh am Fuße hatte. Zuweilen wagten sich ihre beiden Hunde auf das Eis herein und sprangen in weiten Sätzen um sie, wenn sie allein über den Teich hineilte – bald aber glitten die Thiere aus, überschlugen sich zu allgemeiner Heiterkeit und trollten beschämt ans Ufer zurück, um doch nach einiger Zeit sich aufs neue zu ihrer Herrin zu wagen. Dann wieder stand Frau Adelheid an dem kleinen Büffet, das sie unter den Ulmen dicht am Ufer hatte aufschlagen lassen, und entzückte als liebenswürdige Wirthin ihre Gäste. War sie so auch hier der Mittelpunkt, der immer wieder alle Blicke auf sich lenkte, so war doch eine ebenbürtige Erscheinung neben ihr Richard von Rauhenstein. Es war das Bild ruhiger gehaltener Kraft, wenn er entweder allein seine Bogen fuhr oder mit Frau Adelheid den Teich umkreiste, und Erdmann sagte, als er eine Weile vom Ufer aus zusah, zu dem neben ihm stehenden Pfarrer von Rauhenstein: er sei im Zweifel, wann er diesen Mann lieber sehe, wenn er seinen wilden Fuchs kraftvoll bändige, seine Anordnungen auf dem Gute mit klarer Umsicht treffe oder hier auf dem Eise in stolzer Sicherheit sich bewege? »Sie könnten noch etwas hinzufügen,« erwiderte der Pfarrer – »manche Standesgenossen des Herrn von Rauhenstein zucken die Achseln über ihn wegen seiner einfachen Art, wegen seiner ›bürgerlichen‹ Interessen und Beschäftigungen, und den Beinamen des Bauernbarons, den ihm andere aufgebracht haben, haben jene Herren aufgenommen, weil sie es für einen Mangel an ihm halten, daß er mehr Zeit auf rationellen Betrieb seines Gutes und Hebung der Landwirtschaft in der Gegend verwendet als auf sogenannte noble Passionen, daß er nicht von jeder neuen Sängerin und Tänzerin zu schwatzen weiß und sonst dem oberflächlichen angegeisteten Geschwätz abhold ist, mit dem Andere ihre feinere Geistesbildung auszuweisen wähnen. Aber Sie haben so gut als ich schon oft bemerkt – und das ists, was ich Ihren Worten beifügen wollte – daß er nicht der bloße Landwirth und Krautjunker ist, als den man ihn verschreit, daß er vielmehr eine tiefere Geistesbildung besitzt als Dutzende von den Herren und Damen, die sich über ihn moquiren. Er hat Geschmack und Urtheil, wo jene nur aufgelesene Redensarten haben, aber er hält zurück mit seinem Urtheil, wo er sich nicht eigentlich als Fachmann weiß; er hat Kenntnisse auf den verschiedensten geistigen Gebieten, aber er prahlt nicht damit und kennt auch die Grenzen seines Wissens. Und dann gefällt er mir noch besser als auf dem Pferd oder hier auf dem Eis, wenn er in seiner bescheidenen Art an einem belebten Gespräch über geistige Interessen theilnimmt, viel hört und wenig spricht, aber das Wenige so, daß es Hand und Fuß hat. Das rühmt auch Frau Adelheid an ihm.«
Erdmann nickte zustimmend und wies lachend auf Frida, die eben durch Paul Ritter vor einem Sturz bewahrt wurde.
»Hier auf dem Eis,« sagte Paul zu Frida, die noch nicht ganz sicher auf den Schlittschuhen war, »hier müssen Sie mirs schon gestatten, daß ich den Schulmeister ein wenig herauskehre. Der Grund, warum die meisten Damen es auf dem Eis nie zu völliger Fertigkeit oder doch nicht zu der ruhigen, festen und leichten Haltung der Frau Adelheid bringen, liegt darin, daß man sie nie recht schulmeistert. Sie werden von Anfang an von den Herren geführt, über jedes kleine Fortschrittchen belobt und lernen die Anfangsgründe nicht recht; das macht sich auch später noch bemerkbar, wenn sie längst für fertige Schlittschuhläuferinnen gelten, ohne es doch zu sein.«
Frida lachte: »Schön, Herr Ritter! Schulmeistern Sie mich nur! Ich will nichts scheinen, was ich nicht bin. Mein Vater pflegt zu sagen, sein Vater habe öfters gesagt: wer nie recht geschulmeistert worden ist, aus dem wird nie etwas Rechtes!«
Und er schulmeisterte munter drauf los und Frida wurde zusehends sicherer.
Der Abend brach rasch herein, es wurden Fackeln angezündet und bunte Lampen unter die Schlittschuhläufer vertheilt. Vom klaren Himmel herunter sandte der Mond sein blasses Licht und mischte es mit den farbigen Lichtern, die unten in stetem Wechsel über Schnee und Eis, Baum und Busch und Gemäuer und fröhliche Menschenkinder hinglühten.
Die Stimmung der Gesellschaft wurde immer munterer und belebter, nur Richard von Rauhenstein schien an der allgemeinen Fröhlichkeit keinen Antheil mehr zu nehmen. Soweit er es schicklicherweise konnte, hielt er sich abseits und fuhr allein seine Bogen oder schaute mit ernstem Blick in das heitere Getümmel.
Frau Adelheid fuhr an ihm vorüber; er schloß sich ihr wieder an.
»Verzeihen Sie,« begann er, »wenn ich in Ihr frohes Fest nicht mehr recht zu taugen scheine. Sie werden Nachsicht üben, wenn ich Ihnen sage, welche Erinnerungen mir dieser Abend weckt. Eben solch ein Fest war es, das mir vor Jahren eine Braut geraubt hat – eine Braut oder die es doch wenige Tage nachher werden sollte! Das Eis war schon nicht mehr so fest, wie es heute hier ist, sie wagte sich auf eine dünnere Strecke, das Eis brach und sie versank. Alle Rettungsversuche waren umsonst, ich selbst und ein Anderer, die wir sie mit Schwimmen zu erreichen suchten, konnten nur mit Mühe noch das eigene Leben retten – es war auf dem Rhein und an jener Stelle stärkere Strömung. Ich habe seither kein solches Eisfest mehr mitgemacht bis heute.«
Er schwieg. Frau Adelheid hielt neben ihm; auch sie stand schweigend, aber unter ihren gesenkten Wimpern glaubte er zwei schwere Tropfen hervorquellen zu sehen. Dann schlug sie den Blick zu ihm auf und reichte ihm, immer noch schweigend, die Hand. Er hielt sie fest, während er bewegt sagte:
»Ich danke Ihnen! Das schmerzt noch zuweilen in der Erinnerung, aber es ist verwunden. Ich habe schon davon geträumt, daß ich wiederfinden könnte, was ich an Glück und Liebe verloren, daß ichs finden könnte –«
Er hielt inne und sah sie an. Ein kaum merkbarer Druck ihrer Hand, ein flüchtiges Aufleuchten in ihrem Auge – sie setzte sich wieder in Bewegung, und Richard folgte ihr zu der übrigen Gesellschaft.
Sie waren abseits gestanden, halb von einem überhängenden Busch verborgen, aber sie waren doch beobachtet worden. Am Ufer im Schatten war Polling gestanden.
»Ahem, meine Herrschaften,« murmelte er vor sich hin, während er langsam dem Hause zugieng, »so weit sind wir bereits? Da wirds Zeit, daß ich dazwischen trete.«
Als Richard einige Stunden später mit seiner Schwester im Schlitten nach Hause fuhr, war er schweigsamer als sonst, aber er lächelte zuweilen still vor sich hin. Dorothea sah ihn nur von der Seite an, sie fragte nicht, sie ahnte, was ihn bewegte.
»Nun werb' ich! Ich werbe!« sagte Richard plötzlich aus seinen Gedanken heraus und Dorothea drückte ihm innig die Hand.
Andern Tages war Frida Erdmann wieder bei Frau Adelheid. Sie saßen mit Handarbeiten beschäftigt zusammen und plauderten behaglich vom gestrigen Tag. Doch schien Frida dabei etwas zerstreut, so daß Frau Adelheid eine scherzhafte Frage nach dem Grund nicht zurückhalten konnte.
»Schon wieder soll ich einen Korb austheilen«, sagte Frida halb lachend. »Es will mir fast komisch vorkommen, wenn ein Mädchen mehr als einmal einem Manne sagen soll: ich achte Sie, Verehrtester, aber ich mag Sie nicht.«
Sie sagte das so drollig, daß auch Frau Adelheid in lautes Lachen ausbrach.
»Aber Kind, das ist eigentlich nicht zum Lachen,« sagte dann die Letztere wieder ernst werdend, »bedenke –«
»– daß auch Männer Herzen haben, die brechen können –« fiel Frida ein, »obwohl ich eigentlich nicht glaube, daß schon einmal einem das Herz gebrochen ist. Es ist ja auch noch kein Mädchen an gebrochenem Herzen gestorben, und wir seien doch das schwache Geschlecht, sagt man.«
»Ei, ei! Nicht so leichtfertig!« drohte Frau Adelheid, abermals lachend.
»Ich nehme es aber gewiß nicht leichtfertig«, antwortete Frida, nun in der That ernsthaft. »Nur ich selbst komme mir etwas komisch dabei vor, weil ich nicht recht einsehen kann, was eigentlich die Männer an mir finden. Sehen Sie mich nicht so ungläubig an! Ich erwarte durchaus nicht, daß Sie mir widersprechen sollen – ich sehe es wirklich nicht ein. Aber der Mann, um den sichs jetzt handelt – gestern Abend, als wir nach Hause kamen, war sein Brief da – er thut mir aufrichtig leid und als ganz junger Backfisch habe ich ihn auch wohl leiden mögen. Er war damals als Praktikant bei meinem Vater und ist jetzt Förster in Langenried. Vielleicht, wenn er es damals versucht hätte«, fügte sie wieder heiter bei, »mein junges Herz zu rühren, so hätte er es gewinnen können, aber jetzt – –«
Sie stockte. »Aber jetzt?« fragte Frau Adelheid mit feinem Lächeln, und als Frida erröthend den Blick senkte, fuhr sie fort: »Du brauchst mirs nicht zu sagen und ich will dich nicht weiter fragen. Thu, was dein Herz dich heißt, so wirds das Rechte sein!«
Frida warf den Kopf zurück: »Nein, ich wills Ihnen sagen! Sie sind immer so gut gegen mich gewesen, daß Sie ein Recht auf mein Vertrauen haben. Ich weiß jetzt, was die Liebe ist, von der wir damals auf dem Weg von Rauhenstein gesprochen haben. Aber nicht den Förster von Langenried liebe ich, sondern – –«
»Paul Ritter?« ergänzte Frau Adelheid die abermals Stockende. Frida nickte, Adelheid zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn.
»Ich sah es kommen,« sagte sie, »und billige deine Wahl! Ritter ist ein guter tüchtiger Mensch und er verdient es, eine Hausfrau zu bekommen, wie du bist!«
»Aber –«
»Kein Aber! Sei still und warte! Zeit bringt Rosen. Er liebt dich schon, ohne es recht zu wissen.«
Beide schwiegen eine Weile; dann begann Frau Adelheid wieder:
»Und nun Vertrauen gegen Vertrauen! Du bist mir eine liebe Freundin geworden, wenn du auch das freundschaftliche Du in übergroßer Bescheidenheit zurückgewiesen hast. Du hast dich vorhin an unser Gespräch im letzten Sommer erinnert – auch ich habe seitdem oft dran gedacht und gestern Abend habe ich wieder das Lied gesungen: ›Freudvoll und leidvoll –‹ Und ich sage dir: ich habe es gut gesungen! Jetzt versteh ichs, und das ist doch ein ander Ding, als ich früher gewußt habe. Weißt du nun genug?«
Währenddem war drunten im Hofe der Schlitten des Herrn von Rauhenstein vorgefahren, ohne daß die Beiden darauf geachtet hatten. Richard hatte unten erfahren, daß Frau Adelheid nicht allein sei; er wollte sie aber allein sprechen, um sich gleich heute Gewißheit über sein künftiges Lebensglück zu holen. Denn die nächsten Tage sollten ihn auf einige Monate in die Ferne führen, er sollte einen Prinzen des Fürstenhauses auf einer Reise in den Orient begleiten und dabei Ankäufe von arabischen Pferden für ein Landgestüte besorgen. In der Hoffnung, Frau Adelheid später allein zu finden, gieng er vorerst zu Herrn Polling, mit dem er etwas Geschäftliches zu bereden hatte. Es handelte sich um eine landwirthschaftliche Kreditbank, welche Baron Rauhenstein für die Umgegend ins Leben zu rufen bestrebt war und an der in seinem Theil sich zu betheiligen auch Polling bisher geneigt gewesen war. Heute verhielt er sich auffallenderweise ablehnend und dann sagte er:
»Ich will Ihnen ein offenes Geständniß machen, Herr Baron. Unsere Geschäfte stehen so, daß wir keinen Pfennig anders als auf das Allernöthigste verwenden können. Wir haben schon längere Zeit immer mit Verlust gearbeitet und standen in allerletzter Zeit dicht vor der Zahlungsunfähigkeit. Eine günstige Wendung hat uns zwar für den Augenblick noch vor dem Schlimmsten bewahrt, aber noch sind wir nicht gerettet und die äußerste Gefahr kann, muß fast jeden Tag wiederkehren.«
Richard war nicht völlig überrascht, aber doch einigermaßen erstaunt. Er hatte Polling schon länger im Verdacht gehabt, daß er gewagt spekulire und durch Ueberproduktion das Geschäft in Gefahr bringe – wie dies in der That auch der Fall gewesen war. Daß es aber schon so weit gekommen sei, hatte er nicht geahnt; er dachte mit Schrecken an Frau Adelheid, welche sicher ebensowenig eine Ahnung von dem Sachverhalt hatte; und dann empfand er es wieder mit freudiger Genugthuung, daß er durch seine Vermögensumstände im Stande sei, Hilfe zu leisten und die Gefahr abzuwenden, ohne daß Frau Adelheid etwas davon erfahre. Das freilich ahnte er nicht, daß ihm Polling kaum die Hälfte der Wahrheit gesagt hatte: denn eben in neuester Zeit hatte Polling aus der Betheiligung an einem zwar höchst unsoliden, aber vorläufig um so einträglicheren Gründergeschäft so viel Gewinn gezogen, daß die genannte Gefahr nicht nur völlig abgewendet war, sondern auch alle früheren Verluste mehr als reichlich gedeckt waren.
Ehe aber Richard eine Antwort fand, fuhr Polling fort:
»Ich spreche hierüber so offen zu Ihnen, Herr Baron, weil ich ja nun in Ihnen den Mann sehen darf, dem wir die Rettung zu verdanken haben werden.«
Richard stutzte. »Ich verstehe Sie nicht,« sagte er. »Daß meine Freundschaft für Frau Burkhardt mir jederzeit gebieten würde, im Fall einer Noth, soweit es nur überhaupt möglich ist, Hilfe zu leisten, versteht sich – obwohl ich Ihnen eben so offen bekenne, Herr Polling, daß ich nicht völlig überzeugt bin, ob Sie nicht bei größerer Vorsicht die gegenwärtige Lage hätten verhüten können. Indessen verstehe ich nicht, warum Sie nun erst und nun ganz besonders in mir den Mann sehen wollen –«
»Herr Baron,« fiel Polling ein, »wir reden von Geschäften und da muß manche zarte Rücksicht schweigen, die sonst wohl am Platz ist. Und ich muß Sie schon bitten, mirs zu gut zu halten, wenn ich mir in Amerika drüben angewöhnt habe, etwas gerader aufs Ziel loszugehen, als man in Europa gewohnt ist. Also Mann gegen Mann und im Interesse des Geschäftes gesprochen: Sie sind im Begriff, durch die Hand meiner Frau Nichte –«
»Herr!« unterbrach ihn Richard, »Sie mischen sich in Dinge, die keine Geschäfte sind!«
Er erhob sich. Polling blieb ruhig sitzen und fuhr fort:
»Ich sagte Ihnen schon, daß gewisse Dinge keine zarten Rücksichten ertragen, und ich füge bei: dieser Meinung ist auch Frau Burkhardt!«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Richard. »Sie werden anmaßend, mein Herr!«
»Ich will damit sagen,« antwortete Polling unbeirrt, »daß meine Nichte Ihren Bemühungen um sie entgegenkommt, weil auch sie einsieht, daß dies die einzige Rettung für uns ist!«
»Herr, Sie lügen!« brauste Richard auf. »Verstehen Sie, was ich sage?«
»Theilweise, Herr Baron! Das heißt, ich will nicht verstehen, was Ihre Worte nach den üblichen Ehrbegriffen für mich zu bedeuten hätten. Ich will das nicht verstehen, weil ich meine Person vorläufig in den Hintergrund stelle und nur das mir anvertraute Geschäft im Auge habe. Aber ich verstehe, daß Sie nicht glauben wollen, Frau Adelheid wäre fähig, Ihre Hand anzunehmen, um das Geschäft zu retten! Sie meinen, dazu sei sie zu edel, verstehe auch dazu schon viel zu wenig von Geschäften. Sie haben Recht, sie ist ein Kind in dieser Beziehung, aber ich habe ihr die Augen geöffnet, ich habe ihr gesagt: ›so und so stehts, Frau Nichte! Wollen Sie weiterhin Ihre Huld an den Schulmeister verschwenden, so mögen Sie Frau Schulmeister werden und von einer kärglichen Besoldung leben, wenn Ihnen das behagt. Wollen Sie aber die Mittel behalten, weiterzuleben, wie Sie's gewohnt sind, so thun Sie Ihre Augen auf und kommen Sie den Bewerbungen des Herrn von Rauhenstein entgegen!‹ – Yes, Sir,« fuhr er fort, während Richard ihn sprachlos ansah, »so hab' ich offen und nüchtern gesprochen, die Sentimentalitäten haben wir drüben überm Wasser abgethan. Die Frau Nichte hat mir zuerst entrüstet die Thüre gewiesen, dann hat sie geweint wie ein Kind und geklagt, daß sie nicht im Stande sei, in ärmliche Verhältnisse herunterzusteigen, dann hat sie gefunden, daß Sie, Herr Baron, ein vortrefflicher, liebenswerther Mann seien – und dann – gestern – nun, das Weitere wissen Sie besser als ich. Nun wiederholen Sie Ihr: Herr, Sie lügen!«
Richard von Rauhenstein hatte sich weggewandt und starrte zum Fenster hinaus. Er gab keine Antwort, ihm wirbelten alle Sinne. Konnte das Wahrheit sein? Und doch – eine solch freche Lüge? Seinem ehrlichen Gemüth wollte das kaum möglich scheinen. Und wäre es denn zum erstenmal gewesen, daß eine Frau so gehandelt hätte – aus Schwachheit natürlich, Schwachheit eines verwöhnten Glückskindes? Aber nein! Hundert andere konnten so handeln, sie nicht! Doch was wars mit dem Schulmeister, von dem Polling gesprochen? Wars nicht in der That auffällig, wie häufig und nah sie mit Paul Ritter verkehrte? – Die Eifersucht begann in Richard zu erwachen und um weitere ruhige Ueberlegung wars geschehen.
Polling hatte ihn mit hämischer Miene betrachtet. Nun sprach er wieder im ruhigen Tone des rauhen Ehrenmanns und nüchternen praktischen Geschäftsmanns:
»Ich rechne, Herr Baron, das alles ist Ein Ding! Ich kenne das – bin auch einmal jung gewesen. Sie erhalten das Weib, das Sie begehren – ein schwaches Weib eben wie alle, aber liebenswürdig, schön, klug – was verschlägts Ihnen, ob Sie so oder so zum Ziele kommen? Das, was man in Deutschland Idealismus nennt, ist ja doch nur Schein, das wissen Sie so gut als ich. Und wenn Sie Idealist bleiben und aus Liebe handeln wollen, nun ja, um so besser! In acht Tagen kann meine Nichte eine Bettlerin sein oder gerettet – das liegt in Ihrer Hand, Herr Baron!«
Richard wandte sich um. Der Ekel überwog im Augenblick bei ihm alle andern Gefühle; er ergriff seinen Hut.
»Genug!« sagte er stolz, indem er sich zum Gehen wandte, »Sie werden von mir hören!«
Wenige Minuten nachher fuhr sein Schlitten wieder Rauhenstein zu. Polling aber rieb sich die Hände.
»Diese ehrlichen Gefühlsnarren!« murmelte er. »Sind leicht zu übertölpeln! Schön, Frau Nichte, den Zweiten wären wir gleichfalls los! Der ist abgekühlt!«
– »Und du glaubst wirklich diese plumpe Lüge?« fragte Dorothea von Rauhenstein, nachdem Richard ihr von seiner Unterredung mit Polling berichtet hatte.
»Wer sagt dir, daß ich glaube, daß ich ohne Weiteres für bare Münze nehme, was mir Polling gesagt hat?« erwiderte Richard.
»Aber du bist geneigt, es zu glauben?«
»Geneigt? Nein abgeneigt! Aber eben weil die Lüge so plump, so dumm plump wäre, zu dumm für diesen schlauen Yankee, den Polling –«
»Eben darum bist du dennoch geneigt, sie zu glauben. Aber wie, wenn Polling eben darauf gerechnet hätte? – wenn er gedacht hätte: lüge ich fein, so durchschaut er mich – so klug ist er; oder wenn er mich nicht durchschaut, so denkt er zu hoch von Frau Adelheid, als daß es Eindruck machen würde; lüge ich aber recht plump und grob, recht dick und dumm, so ist er zu ehrlich, um mir eine solche Lüge zuzutrauen, und wenn er sie auch meinem Charakter zutrauen würde, so hält er doch mich, den Mister Polling, für zu klug, als daß ich so einfältig lügen würde – er glaubt mir; und wenn er nur die Hälfte glaubt, wenn nur etwas hängen bleibt, so ist es genug, um diesen feinfühlenden Mann gegen Frau Adelheid abzukühlen. – So hat Polling gedacht, glaub' mirs, und alles ist Lüge!«
»Ich bewundere deinen Scharfsinn, Schwesterchen!« sagte Richard, trotz allem lächelnd. »Aber,« fuhr er wieder düster fort, »welchen Grund in aller Welt könnte Polling zu dieser Lüge haben? Was kann er für ein Interesse dabei haben, mich von Frau Adelheid zu entfernen?«
»Weiß ichs? Du bist ihm bei Frau Adelheid im Wege – in welcher Richtung, das ist gleichgiltig. Und nun sag mir nur Eines: nimm an, noch vor einem halben Jahre hätte man mir das erzählt, was dir Polling erzählt hat, ich hätte es geglaubt und dir als glaubwürdig mitgetheilt – ei, da möcht' ich meinen Herrn Bruder gehört haben! Wie hätte er mir da eine Rede gehalten über Standesvorurtheile, die mich ungerecht machen, die mich verleiten, eine Bürgerliche für weniger zartfühlend, weniger edel zu halten, ihr niedrige Gesinnung zuzutrauen – wie hätte da mein Bruder mit Feuer und Wärme darauf geschworen: nie, niemals ist diese Frau fähig, so zu handeln! – Nun, ich gebe zu, damals hätte ich vielleicht an dies Märchen geglaubt, ich kannte Adelheid zu wenig – aber jetzt glaube ich nimmermehr daran – und jetzt muß ich die Frau, die du liebst, gegen eine elende Lüge vertheidigen, vertheidigen vor dir?«
Richard schwieg. Er war seiner Schwester im Innersten dankbar für ihre Worte und er hatte nicht zu viel Achtung vor Polling, um ihm am Ende auch eine ganz ordinäre Lüge zuzutrauen. Die Klarheit und Sicherheit des Gefühls aber war für Richard in dieser Sache gestört durch den Stachel der Eifersucht, den ihm Polling durch seine Anspielung auf Paul Ritter ins Herz gedrückt hatte. Und diesen einen Punkt verschwieg er seiner Schwester.
Dorothea begann wieder: »Du bist mir unverständlich, du bist anders als sonst! Warum bist du, wenn du je zweifeltest, nicht sogleich zu Frau Adelheid gegangen und hast dir bei ihr selbst Gewißheit geholt? Das wäre sonst deine Art gewesen!«
»Das war auch mein erster Gedanke, aber« – er stockte. Er hätte eigentlich sagen müssen: ich war zu verwirrt, von erwachender Eifersucht fortgetrieben! – aber er sagte es nicht. »Sie war nicht allein,« fuhr er fort, »Fräulein Erdmann war bei ihr!«
»Dann geh' morgen zu ihr!« sagte Dorothea.
»Und was soll ich ihr sagen, was sie fragen?« gab er zurück. »Wenn ich offen und gerade heraus rede und Polling hat gelogen, so kränke ich sie. Mache ich Umschweife, so gehe ich so klug, als ich gekommen bin, denn wenn alles Lüge ist, so ahnt sie nichts davon und wird nichts thun, die Lüge zu entkräften; ist aber nur ein Korn Wahrheit daran, so täuscht sie mich wieder, wie sie mich bisher getäuscht hat.«
»So warte einige Zeit! Die Sache muß sich ja bald irgendwie klären – und inzwischen vertraue ihr einfach und denke von ihr nicht anders, als du bisher gedacht hast.«
»Du weißt, daß ich nicht warten kann. In zwei Tagen muß ich reisen.«
»So reise, ohne sie noch einmal zu sehen, und vertraue bis zu deiner Rückkehr!«
»Und wenn Polling gelogen hat – soll ich dann monatelang fern sein und ihm das Feld lassen, wer weiß für welche Niederträchtigkeit?«
»Inzwischen bin ich da und habe offene Augen, und die Andern sind auch da.«
»Und sie selbst – was wird sie denken?«
»Sie weiß von deiner bevorstehenden Abreise – überlaß es mir, dich darüber zu entschuldigen, daß du keinen Abschied genommen!«
»Wenn aber so viel wahr ist, daß sie Hilfe braucht, wenn der Fall eintritt, daß sie über Nacht zur Bettlerin werden könnte –«
»Für diesen Fall magst du Erdmann, soweit nöthig, ins Vertrauen ziehen und ihm Vollmachten geben. Doch vielleicht ist auch das nur Täuschung!«
»Schwerlich! Wird ein Geschäftsmann Lügen verbreiten, die ihm den Kredit geradezu zerstören können, wird er vorgeben, dem Bankerott nahe zu sein, wenn es nicht der Fall ist?«
»Er spekulirt auf deine Noblesse, auf deine Verschwiegenheit, auf zarte Rücksicht für Frau Adelheid, selbst für den Fall noch, daß du nähere Beziehungen zu ihr abbrechen würdest!«
Richard hatte nichts mehr zu entgegnen. Er wünschte, Dorothea möchte Recht haben, wie er denn im Grunde eigentlich nicht ernsthaft an Frau Adelheid irre geworden war. Hätte er sich entschließen können, seiner Schwester gegenüber jenen Punkt zu berühren, der ihm das richtige Gefühl verwirrt hatte, sie hätte gelacht über die Männer, die in solchen Dingen blind seien und nicht sehen, was jeder Backfisch merken könne; sie hätte ihm gesagt, was ihre Beobachtungen ihr längst ergeben hatten, daß Adelheids Beziehungen zu Paul Ritter keinerlei Grund zur Eifersucht für Richard abzugeben geeignet seien, daß also Polling jedenfalls in diesem Stück gelogen habe – ein Grund mehr, ihm auch im Uebrigen nicht zu glauben.
Doch dieser Punkt wurde nicht berührt und Richard fand in den folgenden Tagen zum mindesten nicht die Stimmung, wieder vor Frau Adelheid zu treten. Er reiste ab mit dem lästigen Bewußtsein, ungeklärte Verhältnisse zu hinterlassen. Für alle Fälle hatte er über die geschäftliche Seite der Sache Erdmann unterrichtet und ihm die nöthigen Vollmachten gegeben. An Polling hatte er noch zwei Worte geschrieben, um ihm dies mitzutheilen und ihm zu sagen, daß er sich Weiteres bis nach seiner Rückkehr vorbehalte.
Als Polling diese Zeilen erhielt, rieb er sich abermals die Hände: »Glückliche Reise, Herr Baron! Wenn Sie wiederkommen, werden Sie finden, daß ich meine Zeit und meinen Vortheil auszunützen verstanden habe!«
Was Paul Ritter sich vorgesetzt hatte: unter der jüngeren Bürgerschaft von Mönchswald einen tüchtigen Kern zu sammeln – das gelang ihm schon im Laufe des Winters in einem Maße, daß er selbst überrascht war. Es war, als hätte der bessere Theil der Leute im Dorf nur darauf gewartet, daß jemand sich ihrer annehme, als fühlte mancher Mann selbst, daß es Zeit sei, sich gegen den wirthschaftlichen und sittlichen Ruin der Gemeinde aufzuraffen. Der Fuhrmann Bührer war es in erster Linie, der unermüdlich thätig war, um dem Einfluß Ritters Thüren zu öffnen und diesen selbst immer neu aufzumuntern. An den Gesangverein schloßen sich nach und nach auch Andere an, die nicht mitsangen, aber sonst sich zu dem Verein hielten, und Paul verstand es, in seinem lebhaften Verkehr mit diesen Leuten jene Mischung von freundlichem Entgegenkommen und taktvoller Zurückhaltung zu finden, welche die Leute nicht fühlen läßt, daß man gesellschaftlich und geistig über ihnen steht, aber die Würde wahrt und Zudringlichkeiten von vorn herein abschneidet. Und ebenso verstand er es, ohne selbst aufdringlich zu werden, die Leute für höhere Interessen zu gewinnen, und er fand immer dankbare Zuhörer, so oft er im Schulzimmer oder im Wirthshaus eine Anzahl Männer um sich versammelte und in zwangloser Weise sie unterhielt, indem er sie belehrte. Auch im Verkehr mit Einzelnen gewann er sich manches Herz unter Jungen und Alten, und die Frau Musika verfehlte auch in Mönchswald ihren Eindruck auf die Gemüther nicht.
Paul betrieb aber auch das Singen in seinem Verein mit Ernst und Nachdruck. Er wußte wohl, daß jede straffe Disciplin, und so auch die stramme Handhabung des Taktstockes den Menschen in der Ordnung und Selbstbeherrschung fördert, und er betrachtete seinen Gesangverein zugleich als ein Mittel, diese Tugenden zu pflegen. Und seine Sänger und Sängerinnen ließen sichs so gefallen; anfangs machten einige wohl große Augen, versuchten es auch, den Verein als Taubenschlag oder Kneipgesellschaft zu betrachten – aber Paul wußte bald den Ernst zu zeigen. Dabei ließ seine freundliche und liebenswürdige Art kein verdrossenes Wesen aufkommen und milderte die oft nöthige Strenge.
Als am letzten Abend des Jahres in dem hellerleuchteten Kirchlein von Mönchswald Gottesdienst gehalten wurde, trat Paul zum erstenmal mit seinem vollen Chore auf und rechtfertigte seine früher gegen Bührer ausgesprochene Meinung, daß auch ohne Orgel ein erhebender Gesang möglich sei. Und die Wirkung auf alle einigermaßen zugänglichen Gemüther in der Gemeinde blieb nicht aus – der Verein gewann an Achtung und Theilnahme, die Getreuen Pauls hingen immer fester an ihm und er selbst gewann mehr und mehr Lust und Liebe, in Mönchswald zu wirken und zu schaffen.
Freilich, das waren nur Anfänge – was durch Jahrzehnte in einem Dorfe verdorben worden ist, wird nicht in einem Winter durch einen Gesangverein gebessert. Auch war es nur eben der noch tüchtigere Kern der Bevölkerung, auf den Paul in dieser Art Einfluß gewann. Es fehlte nicht an solchen, welche scheel auf diese Bestrebungen sahen und sich ablehnend verhielten; namentlich wo Kanz sich bei den Bauern eingeschwätzt und festgesetzt hatte, oder in den Kreisen der ganz heruntergekommenen Saufbrüder, die Benzberger anführte, stieß das Wirken Pauls auf mehr oder weniger ausgesprochenen Widerstand.
Kanz hatte den Versuch, sich von Paul Ritter in seinen angeblichen oder wirklichen Examensstudien nachhelfen zu lassen und denselben bei dieser Gelegenheit für sich einzunehmen, bald aufgegeben. Paul war allzu zurückhaltend und mißtrauisch gewesen, als daß Kanz es nicht vorgezogen hätte, sich anderwärts um Beliebtheit in Mönchswald zu bemühen. Wo er aber Eingang fand, da arbeitete er nach Kräften dem wachsenden Einfluß Ritters entgegen. Er und Thielmann knirschten vor Zorn über diesen Einfluß, der sich auch unter den Arbeitern auf der Fabrik verspüren ließ. Sogar einige der fremden Arbeiter, die noch nicht ausgesprochene Socialdemokraten waren, schlossen sich dem Gesangvereinskreise in Mönchswald an.
Unter diesen Umständen hielt es Thielmann gegen das Ende des Winters für gerathen, nun einmal offen die socialistische Fahne zu entfalten, um zu sehen, was überhaupt in der Gegend zu hoffen sei.
»Gehen wir jetzt nicht ernstlich ins Zeug,« so schrieb er an einen Agitator seiner Partei, »so kann der Same, den ich hier im Stillen ausgestreut habe, wieder erstickt werden. Fassen wir aber jetzt noch die Sache kräftig an, so halte ichs wohl für möglich, daß mancher Schwankende gewonnen wird und sogar dem Schulmeister seine Getreuen irre gemacht werden. Warum der Mann solchen Einfluß gewinnt, das ist einfach: er weiß die Leute zu begeistern! Sollte aber nicht unsere Lehre, feurig vorgetragen, noch höhere Begeisterung wecken? Darum kommen Sie bald und theilen Sie mir mit, auf wann ich eine Versammlung und einen Vortrag von Ihnen ankündigen darf und was das Thema dieses Vortrags sein wird.«
Acht Tage darauf war in dem Amts- und Intelligenzblatt des Bezirks die Ankündigung zu lesen, daß am kommenden Sonntag im Saal des Gasthauses zum grünen Baum in Mönchswald eine Volksversammlung gehalten werde; Herr Dreesike aus Ronsdorf werde einen Vortrag halten »über die sociale Frage«. »Die arbeitende Bevölkerung der Umgegend, sowie auch der Bürger und Landmann sind freundlichst eingeladen,« hieß es am Schluß.
»Da müssen Sie aufs Seil, Herr Ritter!« sagte Erdmann zu Paul, indem er ihm das Blättchen hinhielt.
»Wie so?«
»Nun, natürlich müssen Sie dem socialdemokratischen Apostel entgegentreten! Sie sind der Mann dazu – irgend jemand muß es ja doch thun!«
»Davon bin ich noch nicht so ganz überzeugt,« versetzte Paul. »Es kommt doch nie etwas Ersprießliches heraus bei solchen Wortgefechten.«
»Wie mans nimmt!« gab Erdmann zurück. »Natürlich werden Sie den Agitator nicht bekehren und die andern wohl auch nicht, die schon als fertige Socialdemokraten kommen. Aber bedenken Sie: festen Fuß hat die Socialdemokratie bei uns noch nicht gefaßt – das soll vielmehr eben jetzt geschehen. Läßt man dem Schwätzer ohne Widerspruch das Wort, so ist zweifelsohne die erste Schlacht für die Herren gewonnen – Sie wissen ja noch besser als ich, wie bestechend die Redensarten dieser Leute auf urtheilslose Köpfe wirken, namentlich wo ohnedies vieles faul ist, wie bei uns. Tritt aber jemand dem Geschwätz eines solchen Wühlers nur mit einigem Glück gegenüber, werden nur einige Redensarten entlarvt, so ist den Zuhörern schon der unbedingte Respekt vor dem Agitator genommen, sie werden doch stutzig und gehen nicht ohne weiteres auf den Leim.«
»Sie mögen Recht haben,« erwiderte Paul, »ich glaube auch, daß man diesen Agitatoren viel zu viel das Feld und das Wort läßt. Das hat aber eben seine guten Gründe: auch unter den Gebildeten sind die Wenigsten im Stand, jenen Rednern erfolgreich zu widersprechen, weil sie die Sache, um die sichs handelt, zu wenig kennen und den Schlagworten der Agitatoren nicht gewachsen sind.«
»Ich wärs auch nicht im Stand,« gestand Erdmann ehrlich, »ich habe mir wohl für mich selbst einen Vers auf die sociale Frage gemacht, aber diesen eingepaukten und im Schwätzhandwerk geschulten socialdemokratischen Kloppfechtern gegenüber käm' ich auch nicht auf. Bei Ihnen ists etwas anders; Sie haben sich eingehender mit der Sache beschäftigt –«
»Ich traue mir trotzdem wenig zu, und wenn ich abgeführt werde, dann ist die Sache nur verschlimmert!«
»Ach was, nur Muth! Es muß gehen!«
»Ich wills versuchen!«
»Nur zu! Ich gehe natürlich mit. Im schlimmsten Fall bekommen wir Prügel, und das ist auch nicht das Aergste! Uebrigens – bestellen Sie die Leute vom Gesangverein auf den Platz, das wird unter allen Umständen gut sein!«
– Als Paul und Erdmann zur bestimmten Stunde den ziemlich geräumigen Saal des Baumwirths betraten, war derselbe schon annähernd gefüllt. An einem etwas erhöhten Tischchen im Hintergrund saß Thielmann neben einem fremden schwarzbärtigen Manne mit kleinen Aeuglein und recht behaglichem Gesichtsausdruck. Theils an den übrigen Tischen sitzend, trinkend und rauchend, theils stehend füllte eine große Anzahl von Arbeitern von der Burkhardtschen und einer andern Fabrik aus der Gegend den Saal. Weniger zahlreich waren die Mönchswalder Bauern vertreten, doch fehlten auch sie nicht und mit Befriedigung bemerkte Paul Ritter, daß so ziemlich alle seine Sänger und Andere, die zu ihnen hielten, anwesend waren. Sie hatten sich auf einer Seite des Saales um Bührer geschaart. Die Getreuen Thielmanns dagegen waren nicht ungeschickt da und dort im Saale vertheilt, um zu rechter Zeit auf die Kraftworte des Herrn Agitators ein Bravo erschallen zu lassen. Kanz war nicht zu erblicken.
Als der Saal sich gefüllt hatte, erhob sich Thielmann, stellte mittelst einer Glocke Ruhe her und erklärte: wenn sich kein Widerspruch erhebe, so werde er den Vorsitz in der Versammlung übernehmen. Niemand widersprach und Thielmann ersuchte den Herrn Dreesike, indem er ihn der Versammlung vorstellte, seinen Vortrag zu beginnen.
Der Schwarzbärtige erhob sich, ließ seine Aeuglein fröhlich im Saal umherlaufen, räusperte sich, legte dann sein Gesicht in möglichst grimmige Falten und begann:
»Männer, Arbeiter! Die sociale Frage ist, wie der große Lassalle sagt, eine Magenfrage!«
»Bravo!« riefs aus allen Ecken und Enden des Saales, aber es waren nur vereinzelte Stimmen, welche riefen, und mehr als einer der übrigen Anwesenden wandte erstaunt den Kopf, um sich nach den Bravorufern umzusehen.
»Ja, meine Herrn,« fuhr der Agitator fort, »eine Magenfrage! Das heißt, diese Frage ist hervorgerufen durch die Jahrhunderte alte Thatsache, daß das Volk hungert!«
»Bravo!« rief's wieder.
»Das Volk hungert,« sprach Herr Dreesike weiter, »das arbeitende Volk, welches alle Mittel zum Leben schafft mit schwieligen Händen, unermüdlich vom Morgen bis zum Abend, thätig mit dem Hammer, mit der Feile, mit der Axt, mit der Sense, mit dem Pflug, beschienen von den Gluten des Schmelzofens, getroffen von den Pfeilen der Mittagssonne, das arbeitende Volk, welches – –« so gings etwa eine Viertelstunde weiter. In blumenreicher Sprache fuhr der Redner fort, das »arbeitende Volk« zu schildern, seine rastlose Thätigkeit, seinen aufreibenden Fleiß. Waren auch seine Gleichnisse und Bilder vielfach geschmacklos, schwülstig und übertrieben, sie fesselten immerhin die Aufmerksamkeit, die Bravorufer in den Ecken thaten das Ihrige und es gelang ihnen, bei manchen besonders kräftigen oder rührenden Ausdrücken ein allgemeines Bravo zustandezubringen.
»Und dieses Volk«, sprach nun Herr Dreesike weiter, »dieses Volk, das ihr kennt, das ihr selbst seid, zu dem wir alle gehören, ihr, ich – dieses Volk hungert, es hungert immer noch wie vor Jahrhunderten, während seine Unterdrücker sich mästen von dem Schweiß der Unterdrückten! Das Volk, das arbeitende aber enterbte Volk, das ausgeschlossen ist von dem Mitgenuß der Güter der Erde, das enterbte Volk hungert! Das ist die fürchterliche Thatsache, welche als Anklage gegen die Ausbeuter zum Himmel schreit, die fürchterliche himmelschreiende Thatsache, aus welcher die sociale Frage entspringt. Männer, Arbeiter, enterbtes Volk! Wie lautet also die sociale Frage? Sie lautet fürs Erste: warum hungert das enterbte Volk? Sie lautet fürs Zweite: wie schaffen wir Brot für das hungernde enterbte Volk?«
»Bravo!« riefen die Bravomacher wieder und diesmal stimmte wirklich fast die ganze Versammlung mit ein. Nur wenige Männer vom Gesangverein, welche durch Paul Ritters Belehrungen schon einigermaßen über die socialdemokratischen Schlagworte ins Klare gekommen waren, flüsterten lachend zusammen und Bührer rief laut: »Redensarten!« – worauf Benzberger aus einer Ecke rief: »Maul halten! Hinaus!« Thielmann klingelte, es wurde wieder ruhig, Dreesike sah sich triumphirend um und redete weiter:
»Nun also: warum hungert das enterbte Volk? So lautet die erste Frage, und die Antwort ist: weil die herrschende kapitalistische Produktionsweise dem Arbeiter den vollen Arbeitsertrag vorenthält und ihn, wie der große Lassalle sagt, mit ehernen Klammern an das eherne Lohngesetz schmiedet!«
Brüllendes Bravo kam aus den Ecken, aber der Widerhall in der Versammlung war nur schwach, man sah den meisten Gesichtern an, daß sie sich vergeblich besannen, was der Redner eigentlich gesagt habe, und Bührer rief abermals: »Redensarten!«
»Es wird mir zugerufen,« fuhr Dreesike mit überlegener Miene fort, »das seien Redensarten! Das sind keine Redensarten, sondern wissenschaftlich festgestellte Thatsachen. Das eherne Lohngesetz ist ein wissenschaftliches Gesetz, das der große Lassalle entdeckt und festgestellt hat. Ich bitte also, mich nicht mehr mit solchen Zurufen zu unterbrechen, wo es sich um wissenschaftlich Bewiesenes handelt!«
Das machte Eindruck! Wissenschaftliche Thatsachen! Die Gesichter der Zuhörer wurden ernst, lang und respektvoll; selbst Bührer wurde halb stutzig. Eine feierliche Stille entstand und der Redner fuhr fort:
»Unter dem ehernen Lohngesetz schmachtet das arbeitende Volk, solange die kapitalistische Produktionsweise dauert und dem Arbeiter den vollen Arbeitsertrag vorenthält. Kraft des ehernen Lohngesetzes –« nun giengs wieder eine Viertelstunde weiter in haarsträubenden Schilderungen des Elendes, in welchem das arbeitende Volk schmachte, des üppigen Lebens der »Blutsauger«, der »kapitalmächtigen Ausbeuter«, der »sich vom Schweiße der Arbeiter mästenden Nichtsthuer« – und wieder brachten die Schreier in den Ecken bei den Kraftstellen manches donnernde Bravo zustande. Herr Dreesike verstand es trefflich, das Mitleid mit der eigenen Lage und den Neid gegen Bessergestellte bei den Zuhörern rege zu machen.
»Und nun«, fuhr er fort, »werden wir rasch die Antwort finden auf die zweite Frage: wie schaffen wir Brot für das hungernde enterbte Volk? Männer, Arbeiter! Ihr habt keine Hilfe zu erwarten von Seiten des Kapitals, keine Hilfe vom Staate, wie er ist, keine Hilfe irgendwoher als von euch selbst! Ihr selbst müßt die Ketten brechen, in die ihr geschlagen seid, ihr müßt euch vereinigen zur Zertrümmerung der schmählichen Knechtschaft, ihr müßt euch anschließen der täglich wachsenden Schaar von entschlossenen Männern, welche sich Socialisten nennen, welche kämpfen wollen mit allen Mitteln, bis der Staat der Zukunft errichtet ist, der socialistische Staat der allgemeinen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!«
»Bravo! Bravo!« scholls durch den Saal, während Herr Dreesike sich schmunzelnd niedersetzte Nur wenige Zuhörer schüttelten bedenklich die Köpfe und der unverbesserliche Bührer rief abermals: »Redensarten!« Abermals entstand Lärm: »Hinaus mit ihm, haut ihn!« Benzberger war wieder der Hauptschreier.
Doch Thielmann verstand es, rasch wieder Ruhe herzustellen; seine mächtige Stimme übertönte den Lärm und seine Persönlichkeit war geachtet bei Anhängern und Gegnern. Er dankte dem Redner für seinen »zündenden Vortrag« und ein Blatt Papier ergreifend sprach er weiter:
»Es ist beantragt, die Versammlung möge eine Resolution fassen. Um jedoch auch etwaige abweichende Meinungen zum Wort kommen zu lassen, fordere ich jeden, der etwa noch reden will, auf, sich zu melden.«
»Jetzt ists Zeit,« flüsterte Erdmann Paul zu, »aber lassen Sie mich zuerst zwei Worte sagen, Sie kommen dann nachher mit dem schweren Geschütz!«
Es entstand völlige Ruhe im Saal, als Thielmann dem Herrn Verwalter Erdmann das Wort gab und dessen hohe breitschultrige Gestalt vortrat. Er strich sich über den blonden Bart und begann:
»Ihr lieben Leute! Die Meisten von euch kennen mich und wissen, daß ich keine schönen und langen Reden halten kann wie der Herr Vorredner. Und ich kenne die Meisten von euch und weiß, daß ihr zwar keine Heiligen und auch keine Gelehrten seid, aber doch euern gesunden Menschenverstand besitzt – und ehrliche Leute werdet ihr auch sein wollen. Deswegen will ich nur einige Fragen an euern gesunden Menschenverstand richten – seid so gut und thut mir, oder vielmehr euch selbst den Gefallen, ehrliche Antworten zu geben!«
Auf den Gesichtern der meisten Zuhörer lag ein halbes Lächeln und der unverkennbare Ausdruck des Wohlwollens und der Achtung. Erdmann fuhr fort:
»Also, sagt mir einmal: habt ihr Hunger?«
Die Frage verblüffte; einer sah den andern an, aber es kam keine Antwort. Endlich rief einer: »nein, aber Durst!« und schallendes Gelächter folgte dieser Antwort.
Erdmann sprach wieder: »Hunger nicht, aber Durst? Ja, ja, darüber wäre viel zu sagen, und der Herr Vorredner hätte auch sagen können: das Volk hat Durst! Oder auch: das Volk hungert manchmal, weil es zu viel Durst hat! Oder: in manchem Haus hungert Weib und Kind, weil der Mann immer Durst hat! Doch davon wollte ich nicht reden – ich will überhaupt keine Rede halten, ich wollte nur wissen, ob ihr in der That das arbeitende aber hungernde Volk seid? Ihr habt, scheint es, keine Lust zu behaupten, daß ihr alle Hunger leidet, und ich meinerseits kenne zwar genug arme Leute unter euch, aber keinen, der am Hungertuche nagen muß, solange er arbeiten will. Dagegen kenne ich manchen, der ein wohlhabender Mann sein könnte, wenn er recht arbeiten wollte, und ich kenne einige, die allerdings vielleicht zum hungernden Volk gehören, aber gewiß nicht zum arbeitenden. Hab ich Recht?«
»Nein!« schrie Benzberger, »Ja!« riefen viele andere Stimmen, aber aus den Ecken, wo die Bravomacher des Herrn Dreesike standen, erscholl Zischen und Pfeifen. Thielmann klingelte.
»Nun will ich euch noch etwas fragen,« rief Erdmann, »der Herr Vorredner hat sich selbst ausdrücklich auch zum arbeitenden Volk gezählt, und da ja, wie er sagt, das arbeitende Volk hungert, so wird er sich wohl auch zum hungernden Volk rechnen. Glaubt ihr, daß der geehrte Herr Vorredner selber hungert?«
Abermals kam wieder Lärm und Zischen aus den Ecken, Dreesike sprang zornig empor und sah die meisten Gesichter lachend auf seine wohlgenährte behäbige Figur gerichtet. Der Lärm wuchs und nur mit Mühe konnte Thielmann einige Ruhe herstellen und selber das Wort ergreifen.
»Als Vorsitzender,« sagte er, »kann ich persönliche Angriffe nicht dulden und muß dem Herrn Verwalter das Wort entziehen, wenn er nicht bei der Sache bleiben will!«
Beifallsgeschrei ertönte aus den Ecken, Erdmann lächelte und sagte:
»Ich bin gern bereit, das Wort abzugeben, ich bin kein Schwätzer meines Handwerks und Zeichens. Aber,« fügte er mit kräftiger Stimme und nachdrücklicher Betonung bei, »ich glaube doch, daß ich bei der Sache geblieben bin, und ich sag' euch, Leute, es gibt Schwätzer von Handwerk, die herumziehen und mit ihren Redensarten die Köpfe verwirren, Neid und Haß säen unter der Bevölkerung, während sie selbst ein recht behagliches Leben führen – und das sind die socialdemokratischen Reiseapostel!«
Nun gieng der Lärm doppelt und dreifach los, Drohungen und Scheltworte flogen gegen Erdmann, der ruhig dastand und seine Leute musterte, aber die Mehrzahl der Anwesenden nahm in dem Lärm doch Partei für ihn, Bührer und andere drängten sich zum Schutz um ihn – da sprang Paul Ritter auf einen Stuhl und bat ums Wort. Der Lärm legte sich halb und Thielmann rief mit einer Stimme, der man anmerkte, daß er selbst sich mit Mühe beherrschte:
»Ich ertheile dem Herrn Ritter das Wort, aber ich erkläre, daß ich sofort die Versammlung schließen werde, wenn nicht Ruhe wird. Ich mißbillige die Aeußerungen des Herrn Verwalters, aber ich mißbillige auch den Lärm, der sich nicht ziemt, wenn von den heiligen Rechten der Arbeiter die Rede ist. Ich erwarte, daß die Versammlung die Würde des arbeitenden Volkes wahrt, und ich ersuche Herrn Ritter, sich streng an die Sache zu halten!«
»An die Sache werde ich mich halten,« begann Paul, »das dürft ihr alle versichert sein! Aber eben um der Sache willen beginne ich gleichfalls mit einigen Fragen! Fürs Erste: es ist euch eine Resolution vorgeschlagen – wißt ihr, was eine Resolution ist? – Es rufen dieselben Leute Ja, welche den ganzen Abend allerlei rufen, aber das sind nur wenige. Die Andern schweigen. Eine Resolution ist eine Erklärung, worin eine Versammlung ihre Meinung kund thut über eine Angelegenheit, in der sie keine bindenden Beschlüsse fassen kann. Habt ihr aber eine Meinung in dieser Angelegenheit? Wißt ihr, was kapitalistische Produktionsweise ist? Wißt ihr, was das eherne Lohngesetz ist? Wißt ihr, was Socialismus ist? Wißt ihr, was es mit dem socialistischen Staate auf sich hat, von dem ihr Abhilfe erwarten sollt? – Ihr schweigt abermals, denn das Dutzend fremder Jarufer dort hinten seid nicht ihr! Wie wollt ihr also eine Erklärung abgeben über Dinge, die ihr nicht versteht? Oder hat euch etwa der erste Redner erklärt, um was es sich eigentlich handelt? Nein! Er hat Worte gemacht, die für euch nichts bedeuten, er hat euch mit der Behauptung stutzig gemacht, daß er wissenschaftlich Bewiesenes vorbringe, er hat euch geschmeichelt, hat andere geschmäht, er hat Mitleid mit euch selber, Neid und Haß gegen andere bei euch zu schüren gesucht, er hat euch die Socialdemokratie als Retterin angepriesen – aber er hat euch nichts klar gemacht, er hat euch nur verwirrt! Wollt ihr von mir hören, um was es sich handelt? Aber hören müßt ihr – wenn ihr nicht hören wollt, so schweig' ich!«
»Wir wollen nichts mehr hören! Herunter, hinaus!« riefen die socialdemokratischen Schreier. »Wir wollen hören!« riefen die Mönchswalder.
Wieder klingelte Thielmann und donnerte: »Ruhe! Ich frage die Versammlung, ob Sie den Redner weiter hören will?«
»Ja!« rief die überwiegende Mehrzahl der Versammlung, die Neinrufe giengen verloren.
»So hört! Ich wills so kurz als möglich machen! Vom arbeitenden Volk hat man euch vorgeredet – wer ist das arbeitende Volk? Ist das arbeitende Volk nur ein besonderer Stand, eine Klasse des Volkes? So thun die Socialdemokraten. Doch ich frage: arbeitet nicht das ganze Volk, Hoch und Nieder, Reich und Arm, Handarbeiter und Kopfarbeiter? Arbeitet denn nicht der Staatsmann wie der Bauer, der Gelehrte wie der Handwerker, der Beamte und Kaufmann wie der Holzspälter, der Künstler wie der Fabrikarbeiter? So dumm seid ihr doch nicht, daß ihr euch einreden laßt, nur Handarbeit sei Arbeit, Kopfarbeit aber nicht, nur Lohnarbeit sei Arbeit, selbstständige Arbeit für eigene Rechnung nicht! Es gibt freilich auch Faullenzer im Lande –«
»Ja wohl,« rief ein fremder Arbeiter dazwischen, »und das sind die Ausbeuter, die reichen Blutsauger!«
»So?« fuhr Paul fort, »habt ihr noch keinen armen Faullenzer gesehen, noch keinen, der durch Faullenzerei arm geworden ist? Es gibt reiche und arme Faullenzer und Nichtsthuer, aber ihre Zahl ist verschwindend klein im Vergleich zu der Zahl derer in allen, wohlgemerkt in allen Ständen, die arbeiten, hart und angestrengt arbeiten, arbeiten müssen, wenn sie leben wollen. Das arbeitende Volk, das ist das ganze deutsche Volk in allen Ständen, dasselbe ganze Volk, das im Krieg in Reih und Glied gestanden ist – sobald ihr euch das Gegentheil weis machen laßt, so seid ihr schon auf dem Holzweg, auf dem euch die Socialdemokraten haben wollen. Denn sie wollen Haß und Neid schüren zwischen den verschiedenen Ständen und Volksklassen, sie wollen – –«
»Lügen, Verleumdungen!« rief der Agitator Dreesike.
Paul wandte sich um und den Mann scharf ins Auge fassend, fragte er: »Haben Sie wirklich die Stirn, zu leugnen, was die Häupter Ihrer Partei unverblümt zugestehen, was die socialdemokratischen Zeitungen fast jeden Tag predigen?«
»Was?« fragte Dreesike, doch etwas unsicher.
»Was?« erwiderte Paul: »daß das letzte Ziel der Socialdemokratie keineswegs ist, Brot zu schaffen für das hungernde enterbte Volk, von dem Sie reden, das Loos der ›Arbeiter‹, wie Sie sagen, zu verbessern auf geordnetem gesetzlichem Wege, sondern daß das letzte Ziel ist die wilde Revolution, die rohe Zerstörung alles dessen, was wir bisher Recht und Ordnung geheißen haben, und die Aufrichtung eines sogenannten freien Volksstaates, in dem es aber nichts weniger gibt als Freiheit, in dem es Eigenthum so wenig mehr gibt als freie selbstgewählte Berufsarbeit, Religion so wenig mehr als ein Vaterland? Wollen Sie das leugnen Angesichts dessen« – Paul zog einen Pack Zeitungen aus der Tasche – »Angesichts dessen, was Ihre Parteiblätter fort und fort verkündigen? Wollen Sie das leugnen? Ja oder Nein?«
»Ja!« sagte Dreesike dreist.
»Nun,« rief Paul, der vor Entrüstung für den Augenblick selbst die Ruhe verlor, »dann sind entweder Sie der Lügner oder sind Sie ein öder gedankenloser Schwätzer, der eine Frechheit begeht, wenn er das Volk lehren und leiten will!«
Knirschend und mit geballten Fäusten stürzte Dreesike auf Paul Ritter los, aber Bührer und einige Andere schoben sich wie eine Mauer zwischen Beide. Die Bravomacher tobten und brüllten, man drängte und stieß und stritt sich lärmend im ganzen Saal, Thielmann rief und klingelte vergebens, einige ältere Bürger von Mönchswald riefen nach der Polizei, am Eingang des Saales erschien ein Landjäger – einen Augenblick gelang es Thielmann noch, mit seiner Stimme den Lärm zu übertönen und die Versammlung für geschlossen zu erklären, dann begannen die Socialdemokraten die »Arbeitermarseillaise«. Aber kaum waren die ersten Worte derselben erklungen:
»Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet
Zu unsrer Fahne steht zu Hauf –«
– so stimmten die Gesangvereinler mit Macht die »Wacht am Rhein« an, und unwillkürlich von dem Zauber gepackt, den dies Lied seit dem großen Kriege übt, fiel fast die ganze Versammlung mit ein. Die Socialdemokraten mochten brüllen, so laut sie wollten:
»Die neue Rebellion,
Die ganze Rebellion!
Marsch, Marsch!«
– noch lauter und mächtiger tönte es:
»Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!«
Der Landjäger war inzwischen mit Benzberger, der sich besonders toll geberdete, zusammengerathen, der natürlich betrunkene Benzberger hatte ihm eine freche Antwort gegeben, dann sogar einen Stoß – der Landjäger verhaftete ihn. Einige andere Schreier machten Miene, die Verhaftung zu verhindern, aber Thielmann hatte sich indessen bis zu der Stelle des Saales durchgearbeitet, wo dies vorgieng, er beschwichtigte und brachte es wirklich dahin, daß seine Genossen mit ihm und dem Herrn Agitator Dreesike abzogen.
Draußen sagte er aufgeregt zu dem Letzteren: »Sie haben alles vollends verdorben durch Ihr einfältiges Leugnen! Sie haben doch gesehen, wie der Verwalter und der Schulmeister ihre Leute mißtrauisch zu machen wußten – da hätte nur noch Ehrlichkeit geholfen, ehrliches Geständniß: ja, so kanns nicht mehr weitergehen, es muß von Grund aus anders werden! Das hätte doch noch Eindruck gemacht – jetzt ists zu spät! – Und wer heißt euch Schafsköpfe die Arbeitermarseillaise anstimmen?« fuhr er einige Andere an.
Droben aber im Saale schallte inzwischen der Ruf: »Dableiben, dableiben! Ruhe!« Erdmann ergriff die von Thielmann im Stich gelassene Glocke, und nachdem der Lärm sich einigermaßen gelegt hatte, rief er mit schallender Stimme:
»Wer noch ein ehrlicher Kerl ist in Mönchswald, der bleibe da! Wir setzen die Versammlung noch eine Weile fort. Ich bin Vorsitzender! Herr Ritter hat weiter das Wort.«
Es entstand leidliche Stille. Paul Ritter begann wieder:
»Habt ihr jetzt gemerkt, was das für Lügenapostel sind? Hier, in den eigenen Zeitungen dieser Herren steht schwarz auf weiß, was dieser Mensch frech ableugnet – jeder von euch kann's haben und lesen, wenn er will! Habt ihr jetzt gehört, was sie von euch wollen? Die neue Rebellion, die ganze Rebellion! Das könnt ihr noch brauchen in Mönchswald, daß vollends alles drunter und drüber und draufgeht! Aber mit meiner Rede ists jetzt vorbei für heute, wir alle haben nicht mehr die nöthige Ruhe! Ich habe euch auseinandersetzen wollen, was die Redensarten dieses Herrn Dreesike zu bedeuten haben. Es ist ja wahr, es gibt viel Noth, Armuth und Elend auf der Welt, das wissen wir alle, und es ist auch wahr, daß es da und dort hartherzige Ausbeuter und reiche Nichtsthuer gibt –«
»Polling!« rief ein Mönchswalder Arbeiter.
»Aber nicht der selige Herr Burkhardt und die Frau!« rief Bührer.
»Es ist wahr,« fuhr Paul, ohne auf diese Unterbrechung zu achten, fort, »es ist viel zu verbessern an unsern heutigen Zuständen und manche Noth, die so alt ist als die Menschheit, harrt noch der Abhilfe. Aber das muß auf anderem Wege geschehen als auf dem Weg der verlogenen Schwätzerei, des Neides und Hasses und der plumpen rohen Umsturzwuth. Doch das alles können wir heute nicht mehr abhandeln. Wollt ihr, so will ich euch ein andermal, so gut ich kann, ein Licht über die Socialdemokratie aufstecken – es sind noch einige Wochen, ehe die Frühjahrsgeschäfte angehen – wollt ihr einige Abende kommen und hören? Wollt ihr!«
»Ja!« scholl die allgemeine Antwort zurück, wenn auch bei Vielen nur aus rege gewordener Neugier.
»Gut! Ich will mein Möglichstes thun. Für heute, denk' ich, gehen wir ruhig nach Haus, und jetzt schlage ich euch zum Schluß auch eine Resolution vor – ihr wißt ja jetzt, was das ist – und diese lautet:
›Wir haben nichts verstanden von dem Geschwätz der Socialdemokraten und wollen nichts von ihnen, solange sie nichts besseres bringen als Geschwätz; wir sind ein Theil des gesammten deutschen Volkes, das arbeitet in allen Ständen, und wir wollen Abhilfe für vorhandene Nothstände nicht anders als auf dem Wege des Gesetzes und der Ordnung und im friedlichen Zusammenwirken aller Volksklassen.‹
Das ist auch eine Resolution!«
»Seid ihr damit einverstanden?« rief Erdmann.
»Ja!« riefs im ganzen Saal.
»So ist die Versammlung geschlossen!« erklärte Erdmann und Bührer mit den Gesangvereinlern stimmte an:
»Deutschland, Deutschland über alles,
Ueber alles in der Welt!«
Der Frühling war gekommen, die Knospen und die Herzen giengen auf. Im Mönchswalder Thal wogte ein Meer von Obstbaumblüten, die Wälder ringsum standen im ersten saftgrünen Trieb, in den Büschen am Waldsaum hinter Schloß Andeck schlug die Nachtigall die ganze Nacht hindurch.
Es war wieder Sonntagmorgen, über den Wald herüber klangen wieder die Kirchenglocken von Rauhenstein, in dem Hüttchen am Waldhang hinter dem Verwaltershause saß Frida Erdmann. Sie hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, aber sie las nicht; den Kopf in die Hand gestützt schaute sie über das Thal nach den Wäldern hinüber. Wer das muntere, allzeit heitere und aller Gefühlsweichheit fremd scheinende Mädchen kannte, wäre erstaunt gewesen, den ernsten, fast traurigen Ausdruck wahrzunehmen, der hier auf ihrem Gesichte lag.
Sie liebte Paul Ritter; langsam war die Liebe in ihr Herz gezogen, aber um so fester hatte sie sich darin eingenistet. Und je mehr sie gewohnt war, ihr tieferes Fühlen in sich zu verschließen, desto reicher hatte diese Liebe, durch fortwährenden Umgang mit Paul genährt, ihr ganzes Inneres mit tausend feinen Wurzelfäden durchzogen.
Auch zwischen Frida und Frau Adelheid war seit jenem kurzen Austausch am Tage nach dem Eisfeste kein Wort mehr über diesen Gegenstand gewechselt worden. Ebensowenig aber hatte Frida irgend ein Anzeichen, ob ihre Neigung von Paul erwidert werde. Paul hatte seinerseits Ursache, das auch bei ihm immer kräftiger heranwachsende Gefühl streng in sich zu verschließen: es war ein gewisses Mißtrauen gegen sein eigenes Herz, dessen er nicht mehr sicher zu sein meinte, seit es ihn der Frau Adelheid gegenüber in solche Verwirrung gesetzt hatte; und es war eine Mischung von Stolz und Scheu vor abermaliger Abweisung, denn auch er glaubte keinerlei Anzeichen zu haben, ob Frida mehr für ihn fühle als freundschaftliches Wohlwollen. So hatte bisher eins vor dem Andern sein Herz zurückgehalten, und was Frida an diesem Morgen beschäftigte, das war eine Aeußerung Erdmanns, die er den Abend zuvor gethan: es könne nun wohl kaum mehr lange anstehen, bis Paul Ritter Mönchswald wieder verlasse. Er hatte beigefügt, wie selbstverständlich es sei, daß ein Mann von Ritters Tüchtigkeit und Befähigung nicht in einem Winkel des Landes versauern dürfe; zugleich aber hatte er es lebhaft bedauert, daß gerade solche Männer so rasch wieder den kleinen Wirkungskreisen entzogen werden, wo gerade sie und sie allein befähigt wären, Gutes und Nöthiges zu schaffen. Die Wirksamkeit Ritters sei entschieden schon nach dieser kurzen Zeit in den Mönchswalder Verhältnissen fühlbar, in der Jugend sei ein anderer Geist, mehr Zucht und Ordnung, und bei den Alten spüre man ebenso, daß das Bessere wieder Raum gewinne. Es sei nur ein Anfang, aber ein vielversprechender, und den socialdemokratischen Wühlereien sei seit jener Volksversammlung der Boden immer gründlicher entzogen worden, sie seien auf den kleineren Theil der fremden Fabrikarbeiter beschränkt geblieben.
»Und jetzt,« hatte Erdmann geschlossen, »ist unser alter Schultheiß gestorben – er war ein guter Mann aber ein Schwachmathikus ersten Ranges – wenn wir jetzt noch einen jungen thatkräftigen Schultheißen bekämen und Herrn Ritter behalten könnten! Doch an letzteres ist nicht zu denken!«
Diese Worte tönten in Frida wieder, wie sie so saß und in die sonntagmorgenstille Frühlingswelt hineinschaute. Wie lange noch, sagte sie sich, und er wird gehen – und du bist allein! Aber du bist nicht mehr, was du gewesen, ehe er gekommen ist – wie willst du weiterleben?
Sie spann weiter an ihren Gedanken, sie sah dem Weih nach, der in der Richtung nach Rauhenstein hin seine Kreise zog – dort drüben war Ritter an diesem Morgen, sie wußte es und es war ihr, als geschehe dort heute etwas, was über ihr Schicksal entscheide. Nun tönte wieder die Glocke über den Wald herüber, wieder vergieng Viertelstunde auf Viertelstunde – nun kamen rasche Tritte den Fußweg herauf – Frida kannte den Schritt und ihr Herz schlug höher als sonst, wenn sie diesen Schritt vernahm.
Auf Paul Ritters Gesicht war eine lebhafte Erregung zu bemerken, als er zu Frida trat.
»Ich komme von dem Pfarramt Rauhenstein,« sagte er hastig, indem er ihr ein Papier hinhielt, »hier, lesen Sie!«
Frida las. Es war ein Schreiben der Oberschulbehörde an das Pfarramt und Schulinspektorat Rauhenstein, worin demselben kund gegeben wurde: man habe mit Befriedigung die günstigen Berichte über den Schulamtsverweser Ritter in Mönchswald gelesen und man sei gewillt, diese schätzbare Kraft an entsprechenderem Orte zu verwenden, man gebe daher dem Herrn Ritter anheim, sich nach seiner Wahl um die eine oder die andere von zwei genauer bezeichneten Schulstellen in der Residenz zu bewerben.
Als Frida gelesen hatte und das Papier zurückgab, sagte sie mit leuchtenden Augen: »das freut mich!«
»Mich hat's nicht gefreut,« erwiderte Ritter gesenkten Blickes.
»Weil es mich in neuen Zwiespalt mit mir selber gebracht hat.«
»Wie so? Es war doch Ihr Wunsch, einen Wirkungskreis zu bekommen, der Ihnen entspräche! Und Sie müssen einen solchen haben, Sie müssen aus unsern engen Verhältnissen heraus, Ihnen steht noch eine andere Zukunft bevor, als –«
»Als Schulmeister von Mönchswald zu werden, wollen Sie sagen? So hab' ich früher auch gedacht, aber ich habe den Gedanken überwunden – und nun ist er aufs neue in mir geweckt worden. Doch ich bin schon wieder fertig mit ihm.«
Frida sah ihn erstaunt an. »Ich verstehe Sie nicht!« sagte sie. Paul lächelte:
»Sagen Sie mir: was bin ich denn? Ich bin so stolz, zu sagen: ich bin ein brauchbarer Schulmeister von Mönchswald! Ich habe auch einmal geglaubt, das sei nichts; aber ich weiß jetzt: das ist etwas, das ist mehr als ich voraussichtlich je in der Residenz werden könnte. Aeußerlich bessere Stellung, äußerlich angenehmere Lebensverhältnisse könnte ich dort erringen – aber wo liegt denn die Befriedigung? Doch nirgend anders als im Wirken. Was ich aber dort auf den mir angebotenen Stellen wirken könnte, das kann geradesogut der oder jener Andere wirken – man vermißt mich dort nicht. Doch hier in Mönchswald – ich bin abermals so stolz, zu sagen: hier würde man mich vermissen! Dort könnte ich nur stückweise wirken, hier habe ich ein Ganzes vor mir, einen engbegrenzten aber in sich abgeschlossenen Wirkungskreis und – ich preise mich glücklich darüber – hier hab' ich gelernt: lieber aus dem Vollen schaffen in der Beschränkung, als Stückwerk liefern in der Weite, von der man doch nur einen kleinen Theil beherrscht und erreichen kann! Hier habe ich etwas angefangen – gezwungen zuerst und ohne Liebe, aber ich habe Liebe dafür gewonnen und ich weiß: der, welcher nach mir käme, würde jedenfalls nicht die Liebe zu Mönchswald mitbringen, die ich habe!«
Paul hatte so beredt gesprochen und mit so warmem Tone, daß Frida fühlte: das ist nicht gemachte Bescheidenheit, das ist echt und das ist in innern Kämpfen errungen. Sie schwieg, sie hatte nicht den Muth, ihn irre machen zu wollen in dem, was er als gut und recht erkannt, obwohl ihre Liebe sie höher von ihm denken ließ, als daß sie diese Selbstbescheidung gebilligt hätte. Und doch sprach aus diesen Worten wieder ein kräftiges Bewußtsein des eignen Werthes.
Paul lächelte wieder: »Kurz, ich bin der Schulmeister von Mönchswald. Der bin ich und bleib' ich! Ich melde mich um die hiesige Stelle!«
Nun schwiegen Beide; beide spannen ihre Gedanken weiter und das Schweigen dauerte länger und länger. Endlich sagte Frida, nur um das Schweigen zu unterbrechen:
»Wenn Ihr Entschluß nicht unwiderruflich ist, so reden Sie nicht mit meinem Vater davon. Er würde Sie nur darin bestärken, denn er ließe Sie gar ungern ziehen!«
»Und Sie?« fragte Paul mit plötzlichem Entschluß.
»Ich?« – sie stockte und Paul fragte wieder:
»Meine Gesangvereinler würden mich vermissen, wenn ich gienge, Herr Erdmann, wie Sie sagen, auch, vielleicht noch der oder jener in Mönchswald – und Sie?« Er sagte das mit einem Ton, auf den Frida zuerst keine Antwort fand. Nur flüchtig schlug sie den Blick zu ihm auf, um ihn sogleich wieder zu senken. Er aber rief freudig:
»Ich weiß Ihre Antwort! Jetzt weiß ich sie! Ich werde der Schulmeister von Mönchswald, aber nur wenn Sie die Frau Schulmeisterin werden!«
Doch kaum, daß ers gesagt, bereute ers. Sie Dorfschulmeisterin? fragte er sich. Nimmermehr!
Aber wie er das Auge wieder zu ihr aufschlug und in das ihre sah, wars mit seinem Zweifel vorbei –
»Willst du mein Weib werden, Frida, wo es auch sei?« fragte er.
»Ja!« war ihre freudige Antwort; und als kurz darauf Erdmann mit seiner Frau vom Kirchweg nach Rauhenstein zurückkehrten, konnten sie ihr Amen sagen zu dem Ja der Glücklichen.
– Erdmann war hocherfreut über den Entschluß Pauls, sich um die Mönchswalder Schulstelle zu bewerben. Beide sprachen am Nachmittag eben davon und Paul fand es nur peinlich, daß er nun den Baron Andeck als den Patron um die Nomination angehen mußte, was nach dem zwischen ihm und dem Baron Vorgefallenen kein angenehmes Ding war. Da kam der Bediente des Barons herüber, er hatte Paul im Dorf gesucht und erfahren, daß er hier oben sei – der gnädige Herr lasse Herrn Ritter bitten, ihn zu besuchen, meldete er. Paul und Erdmann sahen sich erstaunt an, Paul versprach jedoch nach einigem Besinnen, zu kommen.
Baron Andeck war krank; es war schwer zu sagen, was ihm eigentlich fehle, aber er war krank und war selbst der Meinung, daß er sterben müsse. Der tolle Peter theilte sich mit dem Bedienten in die Pflege des alten Herrn, und so verrückt er sich außerhalb des Krankenzimmers fortwährend geberdete, im Krankenzimmer selbst that er still und vernünftig das Gebotene.
Als Paul Ritter bei dem Baron eintrat, fand er ihn halbaufgerichtet im Bette sitzen; sein Aussehen war verfallener als sonst, seine Stimme matt und seine Rede von häufigem Husten unterbrochen.
»Sie kommen also doch?« redete er Paul an. »Zum drittenmal hätte ich Sie nicht vergebens gebeten, daß Sie's nur wissen! Uebrigens gefällt mir Ihr Hochmuth, und wenn Sie an meiner Stelle wären und ich an der Ihrigen, und Sie hätten mich behandelt wie ich Sie, ich hätte es gerade gemacht wie Sie. Daß ich Sie abermals habe rufen lassen, das mögen Sie als einen Beweis davon ansehen, daß ich Respekt vor Ihnen habe – – genug davon!« fuhr er fort, als Paul etwas erwidern wollte, »Sie haben nun Ihre Genugthuung! Und nun hören Sie weiter! Ich muß sterben, das weiß ich, und weil Sie seit langer Zeit der erste Mensch wieder sind, der mir gefallen hat, wollte ich Ihnen eben das noch sagen. Ich fordere übrigens auch etwas dafür: Sie sollen meine Beichte anhören! Ich will keinen Pfaffen an meinem Bett und will keine Bekehrungsscene spielen. Ich will nur noch einmal einem Menschen sagen, wie mirs im Leben gegangen ist und wie ich der Mensch geworden bin, der ich bin. Wie Sie dann über mich urtheilen mögen, ist mir gleichgültig, aber anhören sollen Sie mich und vielleicht denken Sie zuletzt doch auch etwas anders von mir als das übrige Menschengesindel!«
Er schwieg erschöpft und Paul fragte, ob er nicht sich schonen und zu weiterem eine andere Zeit wählen wolle? Er ehre das Vertrauen, das ihm der Herr Baron schenken wolle und stehe ihm auch später zur Verfügung, obwohl –
»Obwohl,« unterbrach ihn der Baron, »obwohl Sie immer noch nicht ganz begreifen, wie Sie zu diesem Vertrauen kommen? Das ist auch nicht nöthig und ich sage Ihnen offen, daß ich, wenn Sie mich angehört haben, auch einen Dienst von Ihnen verlange – Sie sehen, ich mache es wie das übrige Menschengesindel: ich schenke Ihnen mein Vertrauen aus reinem Eigennutz, denn Sie sind der Mann, den ich brauchen kann!«
Er versuchte bei den letzten Worten zu lächeln und Paul verspürte wieder jenes Mitleid, das ihn dem Baron gegenüber schon öfter überkommen hatte. Er reichte dem Kranken von dem nebenstehenden Tischchen die Erfrischung, die dieser begehrte, und hörte dann schweigend an, was der Baron ihm mit mannigfachen Unterbrechungen durch Husten- und Schwächeanfälle, oft stoßweise und abgebrochen erzählte:
»Ich bin früh Waise geworden und habe kaum mehr Erinnerungen an meine Eltern. Auch diese wenigen Erinnerungen sind nicht angenehm. Meine Eltern müssen das Erziehungsgeschäft wenig verstanden haben – die Mutter überließ mich der Bonne und vom Vater bekam ich mehr Püffe als gute Worte. Ich war ein schwächliches Kind und alle Welt sagte mir später deutlich, ich sei auch dumm. Ich war nicht dumm, aber weil mir jedermann sagte, daß ichs sei, glaubte ichs zuletzt selbst. Ich wurde in ein Pensionat gegeben, nachdem meine Eltern gestorben waren – man kümmerte sich dort nicht mehr um mich als um ein Dutzend Anderer auch, ich lief so mit in der Heerde, meine Kameraden plagten und hudelten mich als den Dummen und Schwachen – ich mußte mirs gefallen lassen, denn ich konnte nichts dagegen machen. Zuerst haßte ich Kameraden und Erzieher, aber nach und nach gewöhnte ich mich so an die Behandlung, daß ich sie ganz in der Ordnung fand. Später that man mich in eine Kadettenanstalt – dort wars dasselbe: ich war der Letzte, der überall Gescholtene, der nur aus Gnaden und um des adeligen Namens willen überhaupt noch mitzählen durfte. Ich fand auch das bald ganz in der Ordnung so. Am Ende brachte ichs doch noch zum Lieutenant, ich trat in ein Regiment in einer kleineren Garnisonsstadt. Den Dienst konnte ich maschinenartig versehen, man hatte mich ja dazu dressirt, im Uebrigen war ich auch hier nur die Zielscheibe für die schlechten Witze der Herren Kameraden. Ich war jetzt wirklich dumm, stumpf, gutmüthig und unterwürfig dabei wie ein Pudel. Nun kams aber anders. Es trat um jene Zeit noch ein anderer junger Lieutenant ins Regiment, ein bürgerlicher, Namens Polling, etwas jünger als ich. Als Bürgerlicher wurde er von den andern Officieren über die Achsel angesehen, aber ich war erstaunt und überglücklich, daß er mich nicht hudelte und pudelte. Er war sogar freundlich zu mir, er zog mich in seinen Umgang – er kam mir ungemein gescheit vor und ich war wie im siebenten Himmel, daß ich ihm nicht zu dumm war wie den Andern. Etwas wie Selbstvertrauen regte sich zum erstenmal in mir, etwas wie Liebe und Freundschaft, während ich sonst nur gewohnt war, die Menschen zu fürchten oder ihnen stumpf zu grollen. Wir schlossen Freundschaft und mir gieng nun erst das Leben auf. Und dann noch etwas: durch Polling lernte ich ein Mädchen kennen – auch eine Bürgerliche – schön, gut, eine entfernte Verwandte von Polling, wie er sagte – ich liebte und wurde geliebt – ich war selig, ich war ein Mensch geworden durch Liebe und Freundschaft. Das dauerte ein halbes Jahr, da – da –«
Baron Andeck stöhnte, seine Fäuste ballten sich krampfhaft, er sank mit einem gemurmelten Fluch in die Kissen zurück. Paul sprang ihm bei, er rief dem Diener – nach einigen Minuten hatte der Kranke sich wieder erholt, er winkte dem Diener, das Zimmer zu verlassen, und fuhr fort:
»Sie haben mich betrogen, die Beiden, der Freund und das Mädchen! Eines Tages waren beide verschwunden und hatten nichts zurückgelassen als ungeheure Schulden auf meinen Namen und einen häßlichen Ehrenhandel für mich, der hier weiter nichts zur Sache thut. Mit genauer Noth entgieng ich der Kassation, mußte aber kurz darauf meinen Abschied nehmen. Daß damals die Verschuldung begann, die heute noch auf meinem Gute lastet, ist Nebensache. Aber aus meinem kurzen Glück und Traum von frischem menschenwürdigem Leben war ich jäh erwacht. So viel hatte ich nun gelernt, daß ich das Leben genießen wollte, statt dumpf hinzubrüten und mich hudeln zu lassen – aber an Menschengüte und Menschenwerth verzweifelte ich, das bischen Achtung vor mir selbst, das ich gewonnen hatte, war auch rasch wieder weg – nun fiengs an: ein wüstes Genußleben! Ich wollte mich betäuben, ich wollte wenigstens das vom Leben genießen, was die Sinne kitzelte – genug! Die Leute sagen, ich sei immer mehr herunter gekommen, sei ein junger Wüstling gewesen und ein alter Gewohnheitstrinker geworden, sie verachten mich – sie mögen Recht haben, sie wissens nicht anders. Ich aber will, wenns ein Gericht gibt in der Ewigkeit, vor demselben anklagen den Ehrenmann Eduard Polling, derzeit geschäftsführenden Leiter der Burkhardtschen Glasfabrik bei Mönchswald!«
Paul war tief bewegt von dieser Erzählung, aber er fand kein Wort – was sollte er auch sagen? Nach einer Pause, in welcher der Baron seine Kräfte wieder gesammelt, fuhr derselbe fort:
»Sie sehen mich mitleidig an, junger Herr! Ich begehre kein Mitleid, ich begehre nur Ihren Dienst für meine Rache! Denn diese soll den Zerstörer meines Daseins treffen. Hören Sie weiter! Die Beiden haben sich nach Amerika gewendet, Polling ist im Lauf der Jahre drüben etwas geworden, ein Ehrenmann, wie mans drüben sein kann, solange man dem Zuchthaus zu entgehen weiß, er hat Geld erworben und wieder verloren und zehnfach wieder gewonnen – vor einigen Jahren fand ers doch räthlich, aus Amerika zu verschwinden, er tauchte hier auf und gilt auch hier als Ehrenmann, den Jugendstreiche seinerzeit fortgetrieben haben, dem man sie aber nun nicht mehr nachtragen darf. Frau Burkhardt traut ihm als dem Bruder ihres im übrigen rechtschaffenen Stiefvaters, er ist der thatsächliche Herr auf der Fabrik, hat selbst Antheil am Geschäft. Daß er für seinen Vortheil dabei ausreichend besorgt ist, läßt sich denken. Ich habe gethan, als ob ich ihn nicht wieder gekannt hätte, ich wollte mir meine Rache sparen, aber ich habe längst meine Spione auf der Fabrik und unter der Dienerschaft im Haus: ich weiß, er fühlt sich sicher vor mir, er glaubt, daß ich ihn nicht beachte, er weiß nicht, daß ich weiß – – kurz, der alte Sünder – er will die Frau Adelheid heiraten – aber er soll – ich kann nicht mehr – dort auf dem Tisch – der Brief – lesen Sie!«
Der Baron verfiel wieder in seine Schwäche, Paul griff nach dem bezeichneten Brief und las. Der Brief war an den Herrn von Andeck gerichtet von einer Frau Mary Polling, sie schrieb aus einem Spital in New-York, wo sie krank und hilflos lag. Sie flehte den Mann, der sie einst geliebt, um Verzeihung an, sie versicherte, nur das Opfer schnöder Verführung gewesen zu sein, als sie ihn hintergieng und entfloh; sie bewies aus beigelegten Dokumenten, daß sie in Amerika die rechtmäßige Gattin von Eduard Polling geworden, sie berichtete aber auch, wie sie schon vor vielen Jahren von demselben verlassen und nun in die äußerste Noth gerathen sei, sie wandte sich an die Großmuth des Herrn von Andeck, sie wußte, daß Polling wieder in Deutschland sich aufhalte und bat, ihr zu ihrem Rechte gegen ihren Mann zu verhelfen.
Als Paul gelesen und der Baron eine Weile geruht hatte, sprach der Letztere wieder:
»Und nun hören Sie, was ich von Ihnen verlange: Polling wird sein Ziel bei Frau Adelheid erreichen. Er hat meinen Vetter von Rauhenstein wegintriguirt, er hat die geschäftlichen Verhältnisse auf der Fabrik so gestaltet, daß die ganze Existenz von Frau Adelheid von ihm abhängig ist, sie sucht nichts Schlimmes hinter ihm und er ist der Mann, durchzusetzen, was er sich vorgesetzt. Und es soll soweit kommen, er soll bis zum Hochzeitstag gelangen. Aber dann treten Sie auf mit diesen Papieren, die ich Ihnen anvertraue, und übergeben ihn dem Gericht wegen des Verbrechens der Doppelehe. Ich werde es nicht mehr erleben, aber ich will meiner Rache sicher sein, ehe ich sterbe. Wollen Sie?«
Paul zögerte einen Augenblick mit der Antwort, dann sagte er so mild als möglich, aber bestimmt:
»Nein, Herr Baron! So nicht, das nicht! Hören Sie mich! Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, Polling werde sein Ziel bei Frau Adelheid erreichen. Eher greift sie zum Bettelstab. Aber selbst wenn Sie Recht hätten, wollen Sie dulden, daß dieser Mensch so weit komme?«
»Warum nicht? Was geht mich die Frau an? Ich will nur meine Rache!«
»Ich aber werde zu dieser Rache nicht Ihr Werkzeug sein. Was ich thun will, ist: ich übergebe in Ihrem Namen diese Dokumente dem Herrn von Rauhenstein, sobald er zurückgekehrt ist, ich berichte ihm, was Sie mir vertraut haben – und er mag dann zu rechter Zeit dazwischentreten. So viel zu thun, halte ich mich nach dem, was ich jetzt weiß, berechtigt, ja verpflichtet – zu anderem bin ich nicht der Mann!«
»Können Sie mich zwingen? – Sie wollen kein Mitleid von mir, Herr Baron, sonst würde ich Ihnen sagen, wie mich die Geschichte Ihres Lebens bewegt und wie ich darüber urtheile. Ich brauche Ihnen auch nicht zu sagen, wie ich nach dem allem über Polling denke. Aber ich wiederhole: zu einem Werkzeug der Rache gebe ich mich nicht her, zumal wenn noch Andere darunter leiden müßten; wohl aber bin ich bereit, alles zu thun, was mir zusteht und in meiner Macht liegt, um einen Schurken rechtzeitig zu entlarven und Andere von ihm zu befreien. Das sage ich Ihnen zu, mehr nicht.«
Baron Andeck schwieg.
»Und noch Eines, Herr Baron!« fuhr Paul fort. »Sie verlangten von mir, daß ich Ihre Beichte anhöre. Ich habe Sie angehört, nun gestatten Sie mir auch –«
»Ich will keinen Pfaffen, das habe ich Ihnen zum Voraus gesagt,« fuhr der Baron dazwischen, »ich will auch nicht, daß Sie den Pfaffen machen!«
»Ich will nicht den Pfaffen machen«, erwiderte Paul, »ich spreche nur als Mensch – wollen Sie mir eine Frage gestatten?«
»Meinthalb!«
»Nun, halten Sie die Rache für edel, zu deren Werkzeug Sie mich gewinnen wollen?«
»Edel?« lachte Baron Andeck höhnisch und krampfhaft hustend. »Edel? Hat an mir jemand edel gehandelt? Hat mir jemand Respekt beigebracht vor dem Menschengesindel? Und nun verlangen Sie von mir Edelmuth?«
Der tolle Peter steckte den Kopf zur Thüre herein, dann schlüpfte er geräuschlos vollends ins Zimmer, trat ans Bett des Barons, rückte ihm die Kissen zurecht, reichte ihm eine Erfrischung, grüßte Paul mit einem gnädigen Nicken und schlich auf den Zehen wieder hinaus.
Baron Andeck sah ihm nach, sein Gesicht nahm plötzlich einen andern Ausdruck an, fast weich – dann deckte er die Hand über die Augen. Paul ahnte, was in dem Mann vorgieng, was der Anblick des Irren in ihm geweckt hatte. Schweigend saß er da – der Bediente öffnete die Thüre, das Bild der Ahnfrau an der Wand des Vorzimmers schaute herein – plötzlich sprang Paul auf: »was ist Ihnen, Herr Baron?« – der Diener eilte herzu – noch einige Augenblicke, dann standen sie an der Leiche des Herrn von Andeck.
Es war Schulzenwahl in Mönchswald – ein heißer Frühsommertag und heißer Wahlkampf! Zwei Parteien mit ihren Kandidaten standen sich schon seit Wochen gegenüber. Kanz war der eine Kandidat; ein Examen hatte er nicht gemacht, so viel er auch schon von demselben geredet und geprahlt hatte, aber an Anhängern fehlte es ihm nicht. Es waren das hauptsächlich ältere Bauern mit großen aber heruntergekommenen Höfen; bei ihnen stand er im Ansehen wegen seiner Gewandtheit, womit er ihnen in Geldangelegenheiten, Prozessen und dergleichen beistand; er hatte sich vor ihnen den Schein zu geben verstanden, als ob er ein studirter Rechtskundiger sei. Unter dem jüngeren Geschlecht und den in Mönchswald ansäßigen Fabrikarbeitern waren es besonders Leute vom Schlage Benzbergers, Unzufriedene mancher Art und die Wenigen, welche sich der socialdemokratischen Richtung der fremden Arbeiter angeschlossen hatten. Letztere und Thielmann selber waren nicht wahlberechtigt, konnten auch die Kandidatur des Kanz nicht offen unterstützen, wußten aber doch im Stillen für ihn zu wirken.
Der Kandidat der Gegenpartei war Paul Ritter. Seine Ernennung zum Schulmeister war noch nicht endgiltig geworden, da wegen der Abwesenheit des Barons Rauhenstein, auf den mit dem übrigen Andeck'schen Erbe auch das Patronatsrecht übergegangen war, eine Nomination noch nicht hatte erfolgen können. Doch bestand keinerlei Zweifel, daß ihm die Stelle werde, und sein Entschluß, dieselbe anzunehmen, hatte große Freude bei seinen Anhängern in Mönchswald hervorgerufen und ihm noch mehr als zuvor die Herzen gewonnen. Der Gedanke, in dem künftigen Schulmeister auch zugleich den neuen Schultheißen zu gewinnen, war von den Kreisen des Gesangvereins ausgegangen und hatte bei allen denen lebhaften Anklang gefunden, welche vorher schon seinem Wirken Eingang verstattet hatten. Nach längerem Widerstreben hatte Paul, auf Erdmanns Zureden, die Kandidatur angenommen. Jüngere Bauern, die Handwerker des Orts, der bessere Theil der auf der Fabrik Arbeitenden, kurz hauptsächlich die sogenannten kleinen Leute und das jüngere Geschlecht waren es, die seine Partei bildeten.
Richard von Rauhenstein war einige Tage vor der Wahl zurückgekommen. Sofort hatte sich Paul zu ihm begeben, theils um die Nomination zu der Mönchswalder Schulstelle bei ihm nachzusuchen, theils und hauptsächlich, um den letzten Willen des Herrn von Andeck ihm zu übermitteln. Paul hatte sich befugt geglaubt, dies eben in der Weise und dem Sinne zu thun, wie er es dem Verstorbenen zugesagt hatte. Er begriff die Erregung, in welche seine Eröffnungen den Herrn von Rauhenstein versetzten. Daß in dem warmen Händedruck, mit welchem ihm derselbe zu seiner Verlobung mit Frida und seinem Entschluß, in Mönchswald zu bleiben, Glück wünschte, auch eine stille Abbitte von Seiten Richards lag, konnte er freilich nicht wissen. Ebensowenig wußten Beide, wie Polling die Abwesenheit Richards auszunutzen verstanden hatte.
Polling hatte – scheinbar gelegentlich und mit dem Ton des Spottes über gewisse Leute, welche die noble Denkart gepachtet zu haben vorgeben – der Frau Adelheid erzählt: Herr von Rauhenstein sei vor seiner Abreise in den Orient bei ihm gewesen, habe Andeutungen gemacht, daß er sich um die Hand der Frau Adelheid zu bewerben gedenke, und sich sehr angelegentlich nach dem Vermögens- und Geschäftsstand der Fabrik erkundigt; er, Polling, habe ihm leider sagen müssen, daß dieser Stand dermalen kein günstiger sei, und darauf hin habe sich Herr von Rauhenstein sofort in auffälliger Weise zurückgezogen. Polling hatte das so glaubwürdig zu machen gewußt, daß Frau Adelheid, nachdem sie anfänglich mit Entrüstung diese Angaben zurückgewiesen hatte, doch in einen ähnlichen Zustand des Zweifels und der Verwirrung gerathen war, wie Richard vor seiner Abreise. Dann war Polling – ebenfalls gelegentlich und im Ton selbstloser Besorgniß – mit der Eröffnung herausgerückt, daß infolge ungünstiger Verhältnisse die Geschäfte der Fabrik mehr und mehr im Rückgang begriffen seien und das gesammte Burkhardtsche Vermögen auf dem Spiel stehe. Er hatte wieder und wieder davon geredet – Frau Adelheid, in diesen Dingen in der That das reine Kind, hatte keinen Grund zu mißtrauen. Es war ja auch einige Wahrheit an der Sache, wenn gleich Polling entstellte und übertrieb. Dann hatte Polling nach und nach – im Tone des reinen Ehrenmannes und schüchternen Rettungsengels, scheinbar verschämt und mit tiefem Bedauern – gestanden, daß er persönlich sich in einer viel besseren Lage befinde, daß ihn zwar auf seinen kleinen Antheil am Geschäft die Verluste gleichmäßig treffen, daß aber sein nicht im Geschäft steckendes, sondern großentheils in Amerika umgetriebenes Vermögen infolge günstiger Umstände wachse und sich mehre; er hatte sich entschlossen erklärt, im Nothfall, wenn alles andere versage, in die Lücke zu treten, um das Haus Burkhardt zu retten – hatte freilich dabei leicht angedeutet, daß er ebenso gut auch in das Burkhardtsche Verderben könnte verflochten werden. So hatte er die arme Frau gehetzt, in Noth und Verwirrung gesetzt und glaubte nun auf dem Punkte zu sein, den letzten Trumpf auszuspielen und sein Spiel zu gewinnen.
Von dem allem hatte Richard von Rauhenstein keine Ahnung. Aber er befürchtete nach den Eröffnungen Ritters noch mehr als vorher irgend eine Schufterei und beschloß, sofort in den nächsten Tagen eine Aufklärung all dieser Dinge herbeizuführen. Er war nun nicht mehr im Zweifel, daß Dorothea Pollings Angaben mit Recht als reine Lüge gekennzeichnet habe.
Nun war der Wahltag da. Mönchswald war in großer Aufregung. Auf den Gassen bildeten sich Gruppen, der »grüne Baum« und das andere Wirthshaus im Dorf waren keinen Augenblick leer von eifrig redenden und streitenden Gästen, sämmtliche Arbeiter der Fabrik feierten, auch die nicht wahlberechtigten Fremden machten blau und tranken – des Ausgangs der Wahl harrend, der, wie die Eingeweihten wußten, für die socialdemokratischen Hoffnungen der letzte Rettungsanker sein sollte. Nur Thielmann hielt sich auf der Fabrik. Seinem ehrlichen geraden Sinn war das Treiben des Kanz mehr und mehr zum Ekel geworden und er traute dem Burschen so wenig mehr, daß er auch für den Fall der Wahl desselben nichts Gutes mehr hoffte. Im Uebrigen war die Partei des Kanz voll Siegesgewißheit, während die Partei Ritters und Ritter selbst wenig Hoffnung auf das Gelingen hatte. Doch hielten sich beide Parteien noch die Wage, es konnte auf wenige Stimmen ankommen – um so größer war die Aufregung, man warb noch auf beiden Seiten, und je näher das Ende der Wahlhandlung kam, desto mehr drohte die beiderseitige Erregung nächstdem in Thätlichkeiten auszuarten.
Endlich war die Entscheidung da: mit wenigen Stimmen Mehrheit hatte Paul Ritter doch noch gesiegt. Die Unterlegenen waren wüthend und eine kleine Prügelei blieb nicht aus, die aber durch das Einschreiten der anwesenden Landjäger ein rasches Ende fand. Kanz und die fremden Arbeiter zogen lärmend nach der Fabrik, dort trat ihnen Polling entgegen, schalt sie in der schroffsten Weise über ihr Nichterscheinen bei der Arbeit, ergriff diese sehr ungünstige Gelegenheit, ihnen eine erneute Lohnherabsetzung anzukündigen, und drohte im Fall der Widersetzlichkeit mit sofortiger Entlassung. Der Lärm wuchs, da die Meisten mehr oder weniger betrunken waren, und nur durch des nüchternen Thielmanns Einschreiten konnte mühsam für heute Ruhe geschafft werden.
Auch Frau Adelheid war auf diesen Auftritt aufmerksam geworden, sie ließ Polling zu sich bitten – unter den Ulmen am Teich erwartete sie ihn und hielt ihm ungeduldig und erzürnt sein schlechtes Verhältniß zu den Arbeitern und die häufige Wiederholung ähnlicher Auftritte vor. Polling antwortete wie die gekränkte Unschuld, er sprach wegwerfend von dem Arbeitergesindel, er entwickelte seine Grundsätze über die rücksichtslose strenge Behandlung, die diesen Leuten gegenüber nöthig sei, und als Frau Adelheid auf die Zeiten verwies, da der alte Herr Burkhardt noch gelebt habe und alles so ganz anders gewesen sei, sprach er mit überlegener Weisheit davon, wie sich die Zeiten überhaupt geändert haben, wie die Arbeiter übermüthig geworden seien, die Geschäfte dagegen zu stocken beginnen, er sprach vom Wiener Krach, der eben begonnen habe, vom sicher bevorstehenden Berliner Krach – und schließlich erklärte er rund und trocken, daß eine Lohnherabsetzung allerdings nicht einmal mehr viel Werth habe, denn die Fabrik stehe gleichfalls vor dem Krach. Und als Frau Adelheid erschrocken in Thränen ausbrach, glaubte er seine Zeit gekommen, bot sein amerikanisches Vermögen zur Rettung an, erklärte aber mit plötzlich ganz verändertem Ton, daß er dafür eine Bedingung habe und diese sei – ihre Hand!
Frau Adelheid sah ihn mit weit offenen Augen an, sie fand kein Wort auf diese Zumuthung – im Hof drüben tönte Hufschlag – Polling wiederholte dringender und durch ihr Schweigen zuversichtlicher gemacht seine Forderung – da trat Richard von Rauhenstein heran.
Ueberrascht gieng ihm Adelheid zwei Schritte entgegen, ein eigenthümlich fragender Blick flog flüchtig zwischen beiden hin und her, dann begrüßte sie ihn etwas förmlich und unsicher, Richard aber war entschlossen, sofort und ohne Umwege auf die Sache loszugehen. Er bat Frau Adelheid um die Erlaubniß, in ihrer Gegenwart einige Worte mit Herrn Polling reden zu dürfen – »Sie werden den Herrn dabei von einer neuen interessanten Seite kennen lernen! Inzwischen haben Sie wohl die Güte, einen Blick in diese Papiere zu werfen!«
Er reichte ihr den Brief von Mary Polling und die denselben begleitenden Dokumente und wandte sich an Polling mit der Frage:
»Sie haben den Baron Alfred von Andeck in Ihrer Jugend schon gekannt?«
Polling erbleichte, doch erwiderte er ruhig und leichthin:
»Es mag sein, daß ich ihm einmal begegnet bin – ich entsinne mich nicht mehr genau. Hier habe ich keinen Umgang mit dem Herrn Baron gepflogen –«
»Letzteres begreife ich; was das Frühere anlangt, so darf ich wohl Ihrem Gedächtniß einigermaßen zu Hilfe kommen. Wollen Sie sich gefälligst an Marie Bernard erinnern und an die betrügerischen Schulden, die Sie auf den Namen des Lieutenants von Andeck gemacht haben – es war vor Ihrer Abreise nach Amerika!«
Polling biß die Zähne zusammen, ehe er aber eine Antwort fand, fuhr Richard fort:
»Gestatten Sie mir ferner die Frage: haben Sie neuere Nachrichten von Ihrer Frau Gemahlin, Frau Mary Polling, einer geborenen Bernard? Nicht? Jener Brief dort ist von ihrer Hand und enthält Nachrichten, die für Sie als pflichttreuen Gatten sehr wichtig sein müssen. Es geht Ihrer armen Frau sehr schlecht, mein Herr!«
»Herr Baron«, sagte jetzt Polling mit scheinbarem Gleichmuth, »ich verstehe, daß Sie mich beleidigen wollen, ich erwidere Ihnen, daß Sie ein Lügner und Verleumder sind, und stehe Ihnen an jedem andern Ort und mit jeder Waffe zur Verfügung. Hier möchte ich Sie bitten, Rücksicht auf die Dame des Hauses zu nehmen!«
»O ja«, erwiderte Richard, »ich habe diese Rücksicht bereits genommen, indem ich in die Hand von Frau Burkhardt die Beweise für meine Behauptungen gelegt habe. Sie mögen es der Anwesenheit dieser Dame und dem Ort, an dem wir uns befinden, danken, daß ich Sie nicht auf der Stelle behandle, wie es einem Ehrenmann Ihrer Sorte gebührt.«
Er warf einen Blick nach dem Tisch am Garteneingang, auf dem er seine Reitpeitsche niedergelegt hatte, und fuhr fort, während Polling eine höhnische überlegene Miene anzunehmen suchte:
»Und nun bitte, wiederholen Sie in Anwesenheit von Frau Burkhardt, was Sie mir vor meiner Reise so bieder und treuherzig und im Namen dieser Dame anvertraut haben! Bitte, wiederholen Sie es selbst – Sie haben ja wohl keine zarten Rücksichten, die Sie verhindern würden, von dem Geschäft zu reden, das Sie damals mit mir machen wollten. Es war ja nur ein Geschäft nach Ihrer Meinung – – Sie wollen nicht darauf zurückkommen? Nun, dann müssen Sie mir verzeihen, gnädige Frau,« wandte er sich an Frau Adelheid, die starr vor Staunen zugehört und dazwischen in dem Brief von Mary Polling gelesen hatte, »wenn ich so unzart bin, die Sache beim Namen zu nennen: Herr Polling hat mir eröffnet, daß Sie sich entschlossen hätten, in Rücksicht auf die günstigen Vermögensumstände, in denen ich mich befinde – –«
»Um Gottes Willen, hören Sie auf!« rief Frau Adelheid, die nun plötzlich eine Ahnung durchzuckte, um was es sich handle. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, am ganzen Körper zitternd. Dann, sich stolz emporrichtend und einen Schritt auf Polling zutretend, fragte sie:
»Nun?«
Polling zuckte die Achseln.
»Ich will Antwort!«
»Ich gab sie schon! Verleumdungen!«
Frau Adelheid wandte sich verächtlich ab.
»Ich bitte um Ihren Arm, Herr Baron!« Und ohne Polling noch eines Blickes zu würdigen, ließ sie sich von Richard durch den Garten ins Haus führen.
Polling stampfte mit dem Fuß. »Verdammt,« murmelte er, »das war dumm! Verlorenes Spiel! Wir müssen noch einmal übers Wasser, alter Knabe!« Er wandte sich seiner Wohnung zu.
Was aber Richard und Adelheid weiter miteinander redeten, das hat niemand belauscht. Eine Stunde später fuhren sie zusammen im Wagen nach Rauhenstein und Richard führte seiner Schwester Dorothea seine Braut entgegen.
Der Wind gieng schon über die Stoppeln und in den Buchenwäldern um Mönchswald her begann das Laub sich sachte zu färben; aber der Himmel schaute blau und klar herunter und spiegelte sich in den Teichen um die Fabrik, wo eine Doppelhochzeit gefeiert werden sollte. Frau Adelheid hatte darauf bestanden, daß Frida zugleich mit ihr vor den Altar trete und daß in ihrem Hause das doppelte Hochzeitfest gefeiert werde. Nach demselben sollte sie selbst zunächst ihrem Gatten nach Rauhenstein folgen, erst später, wenn Schloß Andeck wieder in wohnlicheren Zustand versetzt wäre, wollten beide dorthin übersiedeln. Jetzt hauste dort noch der tolle Peter mit dem alten Bedienten – Richard hatte es nach dem Tode des alten Herrn von Andeck nicht über sich gewinnen können, den Irren sogleich aus dem Schlosse zu entfernen.
Polling war längst in aller Stille aus der Gegend verschwunden; an seiner Stelle war ein junger gewandter Techniker als Fabrikdirektor angestellt worden. Derselbe hatte alle Hände voll zu thun, um den Geschäftsgang von dem schwindelhaften Betrieb, den Polling beliebt hatte, wieder in solide Bahnen zu lenken, obwohl das Geschäft keineswegs so am Rande des Untergangs stand, wie Polling dies für seine Zwecke dargestellt hatte. Auch gab sich der junge Mann alle Mühe, ein gutes Einvernehmen mit den Arbeitern herzustellen, ohne daß ihm dies so rasch gelungen wäre. Der Haß gegen Polling wurde von Vielen auch auf den neuen Direktor übertragen, und Kanz, der seit seiner Niederlage in der Schulzenwahl den Socialdemokraten nicht mehr länger maskirte, hetzte und schürte nach Kräften. Mit Thielmann befand er sich dabei in fortwährendem Widerstreit: dieser hatte zwar nicht seine socialdemokratische Ueberzeugung aber doch die Hoffnung aufgegeben, aus Mönchswald einen Mittelpunkt für die Umtriebe seiner Partei machen zu können, er sprach sich offen dahin aus, daß sein einziges Ziel hier nur noch das sei, für die Arbeiter auf der Fabrik eine möglichst günstige Lage zu erringen; wenn dies geschehen sei, wolle er die Gegend verlassen. Zu einem Strike jedoch wollte er die Hand nicht bieten, so sehr Kanz und einige andere darauf hindrängten: Thielmann wollte warten, bis Herr von Rauhenstein durch seine Verheiratung mit Frau Adelheid der Herr der Fabrik geworden sei, um dann erst zu sehen, welche Stellung diesem gegenüber einzunehmen wäre. Auch sah er klar, daß nur ein kleiner Theil der Arbeiter noch unbedingt der socialdemokratischen Fahne folgte und daß deswegen auf einen günstigen Ausgang einer Arbeitseinstellung keineswegs zu rechnen wäre. Kanz dagegen wollte nur Unruhe und Aufregung um jeden Preis und Thielmann mußte all seinen Einfluß aufbieten, um thörichte Streiche zu verhüten. Uebrigens wußte Kanz, daß seine Entlassung von der Fabrik nur eine Frage der Zeit sei; um so rücksichtsloser gieng er darauf aus, noch möglichst viel Wirrwarr zu stiften und sein Wort zu bewahrheiten, daß er Socialdemokrat aus Haß und Neid sei. Thielmann seinerseits verhehlte ihm seine gründliche Verachtung längst nicht mehr.
Paul Ritter hatte inzwischen die Mönchswalder Schulstelle endgiltig erhalten und war als Schultheiß der Gemeinde bestätigt worden. Man verspürte es im Dorfe bereits, daß eine andere Hand die Zügel führe als die seines altersschwachen Vorgängers.
Am Abend vor dem Hochzeitfeste – die bürgerliche Trauung der beiden Paare war an diesem Tage schon vorhergegangen – war eine bunte Gesellschaft in Haus und Garten der Frau Adelheid versammelt, und so verschiedenartig die Menschen waren, die sich hier zusammenfanden, so war doch kein Mißton in der Gesellschaft zu bemerken, und wo je die verschiedene Lebensstellung der Anwesenden zu einem solchen hätte Veranlassung geben können, da wußte Frau Adelheid mit feinem Takt alles so zu ordnen, daß jeder sich wohl und an seinem Platze befand.
An demselben Abend sollte zugleich die Einweihung eines neugebauten Schmelzofens mit der üblichen Feierlichkeit durch die Arbeiter vollzogen werden. Als es dunkel geworden war, erschien eine Deputation von Arbeitern vor Richard und Adelheid, um sie und ihre Gäste zu der Feier einzuladen. In der Hütte, wohin die Herrschaften durch die Deputation geführt wurden, waren sämmtliche Arbeiter im Feiertagskleide versammelt, ein Faß Bier war im Hintergrund aufgelegt, aus den im Gang befindlichen Schmelzöfen flammten rothe Lichter durch den dunkeln Raum und auf die Gruppen der Männer, im Innern des neuen Ofens war ein Tannbaum aufgestellt, mit Bändern verziert und mit Lichtern besteckt, einer der Arbeiter that einen Weihespruch und dann umkreisten die Arbeiter singend, die Gläser in Händen, in gemessenem Umzug den Ofen.
Nicht alle Gesichter der Arbeiter sahen in unbefangener Fröhlichkeit drein, da und dort flog ein finsterer Blick zu den Zuschauern hinüber, und auf einmal, als eben ein anderer Gesang verstummt war, begann eine rauhe Stimme, der sich nach und nach andere gesellten, die Arbeitermarseillaise. Es war Kanz, der das Lied angestimmt hatte: der Umzug begann sich zu verwirren, widersprechende Rufe wurden laut, Thielmann suchte zu beschwichtigen, aber alle diejenigen, die Kanz auch gegen Thielmann als einen »Abtrünnigen« zu verhetzen gewußt hatte, fielen nur um so lauter in den Gesang ein.
Da trat Richard von Rauhenstein einige Schritte vor, in ruhigem militärischem Kommandoton übertönte sein »Halt!« den beginnenden Lärm, der Umzug stockte, der Gesang verstummte, in Gruppen umstanden die Arbeiter ihren neuen Herrn, Kanz und seine Gesellen begannen zu murren und durcheinanderzureden, aber Richard gebot noch einmal: »Ruhe!« und es wurde still in dem Raume.
»Dieses Lied gehört nicht hieher«, sagte nun Richard völlig ruhig, »und ich will es überhaupt nicht mehr hören!«
»Oho!« rief Kanz und drängte sich in die vorderste Reihe, »ists nicht genug, daß die Rechte des arbeitenden Volkes mit Füßen getreten werden –«
»Sie schweigen!« befahl Richard und wandte sich an die Andern:
»Ich bin gerne und jederzeit bereit, Klagen und Wünsche anzuhören, wenn ihr solche habt, und ihnen nach Möglichkeit Rechnung zu tragen. Aber abtrotzen lasse ich mir nichts, das merkt euch zum Voraus! Habt ihr mir gleich heute etwas zu sagen, so beauftragt einen von euch, den Sprecher zu machen!«
Die Leute schwiegen einen Augenblick, dann begann ein Gemurmel, dann tönten lauter und lauter die Rufe: »Thielmann!« – nicht ohne Widerspruch von Seiten einiger Genossen des Kanz. Endlich trat Thielmann vor.
»Herr Baron«, begann er, »ich bin Socialdemokrat aus Ueberzeugung –«
»Das weiß ich«, erwiderte Rauhenstein, »und ich achte jede ehrliche Ueberzeugung, auch wenn ich sie für falsch und thöricht halte. Aber ich sehe nicht ein, wie das hieher gehören soll? Ich rede hier nicht mit der politischen Partei der Socialdemokraten, sondern mit den Arbeitern dieser Fabrik, deren Besitzer ich von heute an bin!«
»Und doch bitte ich, mich anzuhören,« sagte Thielmann mit Ruhe und Anstand. »Ich bin Socialdemokrat aus Ueberzeugung und eine Reihe der Männer, die hier stehen, theilen diese Ueberzeugung. Und demgemäß sind wir der Ansicht, daß der Arbeiter ein Recht habe auf den vollen Ertrag seiner Arbeit und daß es eine Ungerechtigkeit sei, ihn mit kärglichem Lohn abzuspeisen, während –«
Richard unterbrach ihn: »Es ist hier nicht der Ort, über socialdemokratische Ansichten zu streiten. Uebrigens wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir klar und bestimmt sagen könnten, was denn der volle Arbeitsertrag ist, von dem so viel geredet wird?«
Thielmann schwieg und dachte nach. Diese Frage setzte ihn offenbar in einige Verlegenheit.
Baron Rauhenstein fuhr fort: »Ich wundere mich nicht, daß Sie die Antwort schuldig bleiben! Es hat eben noch kein Mensch diese Antwort geben können. Also verschonen Sie mich gefälligst mit allgemeinen Redensarten, die nichts bedeuten sondern nur die Köpfe verwirren, und sagen Sie mir rund und deutlich: was haben die hiesigen Arbeiter für Wünsche oder Klagen?«
»Wir wollen keine Sklaven sein«, rief nun Kanz wieder, »wir wollen uns nicht ausbeuten lassen –« und andere Stimmen riefen durcheinander: »Rechte des arbeitenden Volkes« – »voller Arbeitsertrag« – »Lohnerhöhung« – »Herabsetzung der Arbeitszeit« – »menschenwürdiges Dasein« – – so schwirrte es durcheinander. Die Mehrzahl übrigens schwieg; es war nur jene kleinere Anzahl von Schreiern, die sich hervorthat.
»Ruhe!« befahl Rauhenstein abermals und fuhr fort: »Kanz, Sie sind auf der Stelle entlassen, nicht wegen Ihrer abgeschmackten Redensarten, die mir gleichgiltig sind, sondern weil Sie ein unverschämter Mensch und überhaupt ein nichtsnutziger Bursche sind, mit dem überdies der Strafrichter das Weitere reden wird. Ich kenne Ihre Schliche! Sie verlassen die Hütte auf der Stelle!«
Die nächsten Anhänger von Kanz murrten, während er selbst einigermaßen betroffen stand.
»Wer sich mit Kanz auf Eine Linie stellen will, kann ebenfalls sofort seine Entlassung haben,« sprach Richard wieder. »Jeder geordnete Arbeiter ist mir recht, selbst wenn er glaubt, für seine Person der socialdemokratischen Lehre huldigen zu müssen, aber die Krakehlmacher und Unruhstifter dulde ich nicht. – Nun, wirds? Fort!« befahl er noch einmal, und mit einigen gemurmelten Flüchen und Schimpfreden entfernte sich Kanz. Zwei der Andern folgten ihm, die Uebrigen blieben.
»Es thut mir leid,« nahm Richard wieder das Wort, »daß ich gleich zum Anfang in dieser Weise verfahren muß, aber es geht nicht anders. Ich will Frieden haben mit euch Arbeitern und deßwegen müssen die Friedensstörer gehen. Und nun hört mich weiter: mir scheint, ihr seid euch selbst nicht ganz klar darüber, was ihr wollt; deßwegen will ich meinerseits euch Vorschläge machen, denn ich weiß allerdings, daß in letzter Zeit nicht alles gewesen ist, wie es hätte sein sollen, und daß ihr Ursache zu mancherlei Klagen habt. Ich wiederhole euch: abtrotzen, durch Unruhen oder socialdemokratische Redensarten abtrotzen werdet ihr mir keinen Pfennig und kein Titelchen eines Rechtes. Ich bin Herr in meinem Eigenthum und werde es bleiben, solange es überhaupt noch Eigenthum gibt. Aber ich will euch nicht ausbeuten wie todte Arbeitskräfte, sondern ich ehre in jedem von euch, der ein rechtschaffener Arbeiter ist, den Menschen, und es soll jedem werden, was recht und billig ist. Euer Wohl liegt mir aufrichtig am Herzen, wie es dem seligen Herrn Burkhardt am Herzen lag – ich kann euch nicht über Nacht zu unabhängigen reichen Leuten machen, aber ich will thun, was ich kann, daß eure Lage eine möglichst auskömmliche sei. An euch liegt dann das Weitere! Nun also: ich stelle alle die Einrichtungen wieder her, die seinerzeit zu Herrn Burkhardts Zeiten in Geltung waren, ihr erhaltet eure Ackerstücke wieder, ich unterstütze eure Kassen, wie dies früher der Fall war, ich gewähre euch in einer noch zu bestimmenden Weise einen gewissen Antheil am Geschäftsgewinn – – nun, seid ihr damit zufrieden?«
Die Worte Richards, die mit Wärme gesprochen waren, hatten einen sichtlichen Eindruck auf die meisten Arbeiter gemacht. Nur einer aus der Kanzischen Kameradschaft rief jetzt: »Gnadenbrocken!«
»Wer nicht damit zufrieden ist,« erwiderte Richard mit bestimmtem Ton, »wer fortfahren will, zu krakehlen und zu hetzen, der ist entlassen. Seid ihr aber zufrieden, so werdet ihr noch einsehen, daß ich nichts will als euer Wohl! Nun, wollt ihr?«
»Ja!« scholl nun die allgemeine Antwort und ein Mönchswalder, der geradezu begeistert schien von Richards Worten, brachte ein Hoch auf den Herrn von Rauhenstein aus, das auch ziemlich allgemeinen Wiederhall fand.
Noch einmal nahm Richard das Wort, er dankte den Arbeitern für diesen Ausdruck guter Gesinnung und fügte bei:
»Die geschäftlichen Verhältnisse der Fabrik gestatten es jetzt, wie mir der Herr Direktor sagt, den vor einem Vierteljahr herabgesetzten Lohn wieder auf seine frühere Höhe zu bringen. Dies gilt von heute an! Und nun gute Nacht!«
Er zog sich mit Adelheid und den Andern, welche schweigend diesem Auftritt angewohnt hatten, zurück, die Arbeiter aber umkreisten wieder singend den Schmelzofen – die Mehrzahl war nun in der That für Richard gewonnen. Nur Thielmann suchte ernst und schweigend seine Wohnung auf.
Indes war der Garten beleuchtet worden und auch der aufgehende Mond begann sich im Teiche zu spiegeln. Die Nacht war für die vorgerückte Jahreszeit noch auffallend mild und zwischen dem Gemäuer unter den Ulmen wurde von einigen jüngeren Festgästen auf natürlicher Bühne ein kleiner Polterabendschwank aufgeführt, als dessen Verfasserin im Stillen Dorothea von Rauhenstein genannt wurde. Eben war derselbe unter allgemeinem Beifall zu Ende gespielt worden, da hallte es im Hofe von Männertritten und verworrenen gedämpften Stimmen – waren die Arbeiter aufs neue schwierig geworden? Der Gedanke tauchte in Paul Ritter und Richard von Rauhenstein zugleich auf, und ohne ein Wort zu wechseln giengen beide rasch dem Gartenthore zu, vor dem sich eben eine Anzahl Männer aufstellte. Doch beim Näherkommen erkannte Paul bald seinen Gesangverein, der unter Bührers Leitung sich zu einem Ständchen ordnete. Und schon begann der Gesang und lockte bald auch Adelheid und Frida und einen Theil der Gäste in die Nähe. Unwillkürlich mußte Paul jenes ersten Abends in Mönchswald gedenken, da Bührer und seine Kameraden ihm vor dem Schulhause gesungen hatten: wie ganz anders sah er heute in die Zukunft als damals!
Als der Gesang zu Ende war, trat Bührer vor und sprach einige Verse, auf deren Verfasserschaft er sich nicht wenig zu gute that:
»Wir wünschen Glück dem edlen Doppelpaare,
Das morgen stehen wird vor dem Altare!
Wir freuen uns, daß Herr von Rauhenstein
Bald ziehen soll im Schlosse Andeck ein
Mit unserer ›lieben Frau‹, sie mög' gewähren,
Daß wir sie also nennen und verehren.
Nicht minder freut sich Mönchswald, daß es hat
Für Schul' und Rathhaus wieder Rath und That,
Daß unser Herr Ritter bei uns blieb,
Das ist den Jungen und Alten lieb,
Und weil Fräulein Frida seine Frau soll sein,
So wollen wir noch mehr uns freun,
Und daß alle zusammen glücklich sein,
Das wünschet der Gesangverein!
Nun, Kameraden, rufet noch:
Sie sollen leben dreimal hoch!«
Das Hoch erschallte begeistert und dann dankte Paul im Namen beider Paare; er dankte nicht nur für dies Ständchen, sondern er sprach den Männern des Gesangvereins auch dafür seinen besonderen Dank aus, daß sie es gewesen seien, die durch ihre Unterstützung ihm einen Wirkungskreis in Mönchswald ermöglicht haben, der über die Grenzen der Schulstube hinausgehe; er versicherte in seinem eigenen sowie in Baron Rauhensteins Namen, daß sie beide auch in Zukunft alles thun werden, was sie zum Wohle von Mönchswald thun können, und bat um weiteres Vertrauen und kräftige Unterstützung. Er wußte dies alles so volksthümlich, im Stil und Ton der Leute, die er vor sich hatte, zu sagen und verflocht am Schluß in feiner Weise auch Adelheid und Frida als die Gehilfinnen der Männer so in seine Rede, daß die Leute abermals in ein jubelndes Hoch ausbrachen.
Noch war das Hoch nicht verhallt, da entstand eine Bewegung unter den Männern, sie traten auseinander und machten einem Landjäger Platz, der nach dem Herrn Schultheißen Ritter fragte und einen Haftbefehl gegen Kanz vorzeigte. Als Paul ihn gelesen, klärte er Herrn von Rauhenstein mit einigen Worten über die Sache auf, dieser nickte und sagte: »ich sah's kommen!« Dann gieng Paul mit dem Landjäger nach den Arbeiterwohnungen.
Kanz sollte wegen mehrfachen Betruges verhaftet werden. Er hatte das Vertrauen, in das er sich bei einigen Bauern von Mönchswald geschwatzt hatte, ganz in dem Sinne benützt, wie er es seinerzeit gegen Thielmann ausgesprochen hatte. Unter der Hand hatte er sich mit einem Hauptwucherer in der Stadt ins Benehmen gesetzt und durch verschiedene Fälschungen sich und jenem zu beträchtlichen Vortheilen verholfen. Aber aus Anlaß einer Vermögensuntersuchung war die Sache doch an den Tag gekommen.
Als Paul mit dem Landjäger in der Wohnung des Kanz erschienen, fanden sie denselben in Gesellschaft Benzbergers und im Zustand wilder Aufregung. Er hatte begonnen, seinen Koffer zu packen, Benzberger hatte ihm helfen wollen, Kanz hatte einen Trunk beschafft und demselben tüchtig zugesprochen. Als ihm seine Verhaftung angekündigt wurde, fieng er wüthend an zu schimpfen, der Lärm zog jene beiden Gesinnungsgenossen herein, die vorhin mit ihm die Hütte verlassen hatten, diese, ebenfalls betrunken, suchten sich seiner Verhaftung zu widersetzen und Kanz erwischte die Gelegenheit, zu entfliehen. Er wandte sich Mönchswald zu und bis in die Nähe des oberen Teiches hatte er einigen Vorsprung. Dort kamen ihm die Verfolger näher, der Landjäger, Bührer und einige andere, die sich mit Freuden der Verfolgung angeschlossen hatten – und dicht am Teich trat ihm auf die Rufe der Verfolgenden eine Gestalt entgegen, die sich eben von ihrem Sitz auf den am Abhang errichteten Schranken aufgerichtet hatte. Es war der tolle Peter.
Seit einiger Zeit war mit diesem eine Veränderung vorgegangen, er war stiller und trübsinniger geworden und es war, als würden in ihm Erinnerungen an frühere Zeit wieder heller. Wenn er einmal der Beaufsichtigung entrinnen konnte, wanderte er an den oberen Teich hinaus und starrte in das schwarze Wasser, in dem die Liese einst ihren Tod gefunden hatte. Auch an diesem Abend hatte er sich hiehergeschlichen – nun trat er dem fliehenden Kanz entgegen.
»Halt! Auf der Stelle!« rief er ihn in seinem bekannten Tone an, »ich habe hier zu befehlen!«
Kanz wollte ihn auf die Seite schieben, der Irre faßte ihn am Rock, Kanz suchte sich loszureißen, beide kamen ins Ringen, der tolle Peter entwickelte eine Kraft, die Kanz nicht bei ihm gesucht hätte, er drückte ihn gegen die Schranken, ein morscher Balken gab nach und im selben Augenblick, da die Verfolger ankamen, stürzten die Ringenden, sich fest umklammert haltend, mit einander den steilen Abhang hinunter in den Teich. Ein Schrei, ein Plätschern im Wasser – dann ward es still drunten und im ungewissen Mondlicht verzitterten weiter und weiter die Ringe auf der dunkeln Wasserfläche. –
Eine Reihe von Jahren sind seit jener Doppelhochzeit vergangen. Als kürzlich der Gewährsmann für diese Geschichte, ein alter Universitätsfreund Richards, diesen nach längerer Zeit wieder besuchen wollte, war er beim Gang durch Mönchswald erstaunt über die Veränderungen, die schon das Aeußere der Gassen, Häuser und Höfe aufwies. Da war nicht mehr der Eindruck des Zerfallenden, Verlotterten, den man früher auf den ersten Blick gehabt hatte, und wenn auch das Schmucke und Gediegene noch nicht erreicht war, das in Rauhenstein drüben auffällt, wenn auch da und dort noch etwas an frühere Zeit erinnerte, so sah man doch deutlich: Mönchswald verjüngt sich wieder und ist im Emporkommen begriffen! Herr Erdmann, den der Gast zuerst traf, begann in der ersten Minute ein Loblied darüber zu singen, wie alles so ganz anders geworden sei, seit sein Schwiegersohn Ritter als Schulmeister und Schultheiß hier walte und Herr von Rauhenstein Schloß und Gut Andeck und die Burkhardtsche Fabrik übernommen habe. So ganz glatt und eben, ohne viel Kampf und Widerwärtigkeit sei's natürlich nicht gegangen und jetzt noch gebe es manchen Haken, aber er, Erdmann, habe von jeher gesagt: 's ist nicht halb so arg mit dem Mönchswalder Elend! Schafft nur die rechten Männer her, so wirds anders werden!
»Die rechten Männer haben wir,« schloß er, »und die rechten Frauen auch! Frau Adelheid – so heißen wir die Frau von Rauhenstein immer noch – ist ›einfach ein Engel‹, wie Bührer sich heute noch ausdrückt, oder, wie ich sage: die Frau, wie sie im Buche steht! Von Geschäften und Zahlen versteht sie zwar heute noch so wenig wie früher, aber der gute Geist in Schloß und Dorf ist sie – fragen Sie nur zum Beispiel einmal die Armen! Und auch meine Frida muß ich loben: eine resolute Frau Schulmeisterin und Schultheißin, grad wie sie Ritter nöthig hatte!«
Auch Schloß Andeck war vortheilhaft verändert: die schönen Formen des alten Baues kamen wieder voll und ganz zur Wirkung und im Innern war alles im Geschmack gediegener Renaissance, den modernen Bedürfnissen angepaßt, restaurirt. Frau Adelheid empfieng den Gast in jenem Zimmer, in welchem immer noch das Bild der Ahnfrau über dem Getäfer hieng, und auch ihm fiel unwillkürlich ihre Aehnlichkeit mit jenem Bilde auf, wie sie ihm entgegentrat, ihren dreijährigen Knaben an der Seite, der ganz seines Vaters Ebenbild zu werden schien. Dann kam Richard selbst und der erste Blick in sein Gesicht sagte dem Freund: der Mann ist glücklich!
Am Abend kam Paul Ritter mit seiner Frau zum Thee, auch ihnen war das Glück an den Augen abzusehen und die Befriedigung erfolgreichen Schaffens und Wirkens war dem ganzen Wesen Pauls abzuspüren. Er bereut es bis heute nicht, Schulmeister von Mönchswald geworden zu sein.
Im Laufe der Unterhaltung kam man auch auf die Fabrik und die Arbeiter derselben zu sprechen und Richard konnte mit berechtigtem Stolz versichern, daß die Arbeiterfrage auf seiner Fabrik so gut wie nicht mehr vorhanden und von socialdemokratischen Regungen keine Spur mehr zu entdecken sei.
»Ei,« fragte Paul, »wissen Sie, was aus dem Thielmann geworden ist, der damals die Socialdemokratie bei uns einführen wollte?«
»Ich habe kürzlich zufällig von ihm gehört,« erwiderte Richard. »Es scheint, daß die Erfahrungen, die er bei uns gemacht hat, ihn ziemlich abgekühlt haben. Eine ehrliche Haut war er von jeher, nur daß er sich wie mancher Andere an dem socialdemokratischen Evangelium das Gehirn ein wenig verbrannt hatte. Er gieng dann von hier weg, wie gesagt etwas enttäuscht und abgekühlt, er soll noch einige Zeit lang anderwärts Versuche mit socialdemokratischen Umtrieben gemacht haben, es muß ihm auch da und dort besser gelungen sein, aber es scheint, daß eben das Gelingen ihm noch deutlicher als das Mißlingen gezeigt hat, welche Grundsuppe von Unsinn und wilder Leidenschaft aufgerührt werden muß, wenn das geträumte Reich der Zukunft vorbereitet werden soll. Als nun gar die Meuchlerschüsse in Berlin gefallen waren, versichert mein Gewährsmann, da habe Thielmann sich vollends mit Ekel von dem ganzen Treiben abgewandt; er habe zwar immer noch socialistische Ideen im Kopf, aber im Grund nicht anders mehr als wir alle; jedenfalls verzichte er darauf, sie auf dem Wege verwirklichen zu wollen, auf dem die heutige Socialdemokratie sich befindet.«
– Als der Freund nach einigen gemüthlich verlebten Tagen von Schloß Andeck und Mönchswald schied und Bührer ihn auf die Bahnstation kutschirte, schwärmte ihm dieser noch Verschiedenes über die neue Zeit vor, die in Mönchswald angebrochen sei, und versicherte zum Schluß allen Ernstes, daß er eigentlich das erste Verdienst bei der Sache habe, denn er habe Herrn Ritter nach Mönchswald gebracht und ihm gleich angesehen, daß das der Rechte sei.