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5. Kapitel. Wissenschaftliche Arbeiten auf dem Inlandeise

Wissenschaft gibt schweres Gepäck. Und wir hatten allerlei vor auf dem Inlandeis. Unter anderem beabsichtigten wir nichts mehr und nichts weniger als die Dicke des Inlandeises an einer Reihe von Punkten zu messen. Dr. Mothes hatte die Methode daheim ausgearbeitet und auf Alpengletschern geprüft, und er war es auch, der uns das Instrumentarium mit allem Zubehör lieferte, mit dem wir nun die ersten Messungen auf dem Inlandeise machen sollten.

Der Vorgang ist folgender: Man veranstaltet eine Dynamitexplosion auf der Eisoberfläche, und hat in passender Entfernung davon einen kleinen Erdbeben-Registrierapparat in Tätigkeit, der die Wellen dieses künstlichen Erd- oder Eisbebens aufzeichnet. Zuerst kommen die direkten Wellen an, die auf dem kürzesten Wege, nahe der Oberfläche, laufen. Und dann, nach Bruchteilen einer Sekunde, kommen diejenigen, die vom Boden unter dem Eise zurückgeworfen sind. Sie haben einen längeren Weg und brauchen mehr Zeit. Nach ihnen kommen noch andere Wellenarten, die überhaupt langsamer laufen und uns nichts angehen, und ganz am Schluß kommt der Schall. Alles ist auf der photographischen Registrierung zu erkennen, die so schnell läuft, daß eine Sekunde 7 cm lang ist. Das Prinzip ist also dasselbe, wie beim Echolot, nur benutzt man hier nicht die vertikale Reflexion, sondern eine schräge. –

Mit 50 kg auf dem Rücken

Das klingt alles ganz einfach. Aber wieviel Dinge sind nötig, um diese Messungen durchzuführen! Da sind zunächst zwei Kisten mit Dynamit, jede mit 25 kg Inhalt. Sie sind nicht so gefährlich, wie sie aussehen. Gefährlicher ist die kleine leichte Kiste, in der die empfindlichen Zündkapseln weich in Holzwolle verpackt liegen. Sie darf nie in der Nähe des Dynamits aufbewahrt werden. Dann kommt der Erdbebenapparat in einer besonderen Kiste mit Tragriemen, der Lichtschreiber in einer anderen schweren Kiste, dann das lichtdichte Zelt, in dem beide aufgestellt werden müssen, eine ziemlich schwere Platte aus Silumin als Unterlage, eine Riesenkiste mit 3 km isoliertem Kupferdraht und einer Anzahl von Kabeltrommeln zum Aufwickeln, eine weitere ziemlich große Kiste mit elektrischen Batterien, Lampen, dem Zündapparat und anderem Kleinkram, dann das photographische Papier mit den zugehörigen Chemikalien und Schalen zum Entwickeln, und endlich ein Bohrgerät zum Ausbohren des Loches, in das die Dynamitstangen vor der Sprengung hineingeknetet werden. Im ganzen sind das etwa 200 kg allein für die Eisdickenmessungen.

Schlittentransport durch den Bruch

Dazu kam aber noch vieles andere, denn die Eisdickenmessungen bildeten zwar den wichtigsten Teil, aber keineswegs den Gesamtinhalt unseres wissenschaftlichen Programms.

Wie bei Quervains-Hafen, so wollten wir auch hier Abschmelzbohrungen vornehmen und verwendeten dazu das gleiche Bohrgerät wie dort. Und weiter im Innern sollte an Stelle der Abschmelzung der Zuwachs gemessen werden, wozu eine größere Anzahl von 4 m langen Bambusstangen diente. Ferner hatten wir zu Versuchszwecken eine magnetische Feldwaage mit Stativ mitgenommen. Georgi hatte einen Apparat für Strahlungsmessungen, und dazu kamen dann noch Hypsometer, Aneroid, Aspirations-Psychrometer, Anemometer, Sextant und Quecksilber-Horizont, Sitometer, Bandmaß, Sonnen-Kompaß, Prismen-Fernglas und vier Photographieapparate mit den zugehörigen Platten und Filmen. Und schließlich sollten wir und unsere 32 Hunde ja auch noch leben! Zählte man alles zusammen, so kam man auf fast 2000 kg, die über den Kamarujuk-Gletscher auf das Inlandeis hinauszuschaffen waren.

Landung in der Kamarujukbucht

Da gab es für den Expeditionsleiter Arbeit. Denn diese große Unternehmung sollte hauptsächlich mit den Hilfsquellen durchgeführt werden, die uns die Kolonie Umanak und die Außenstelle Uvkusigsat boten.

Von Kekertarsuak hatten wir, wie erwähnt, den Grönländer Johann Davidson mitgebracht, einen ausgezeichneten Hundekutscher, der sich nicht, wie die meisten seiner Landsleute, vor dem Inlandeise fürchtete, sondern bereit war, uns beliebig weit zu folgen. Seine drei Hunde hatte er mitgebracht. Ich kaufte in Umanak fünf weitere Hunde als Ergänzung seines Gespanns, sowie einen alten Schlafsack für ihn selber. Auch lieh ich einen Schlitten für ihn. Drei weitere Hundeschlitten besaßen wir selbst, so daß wir nun vier Schlitten hatten. Ferner lieh ich in Umanak ein großes Zelt für die Grönländer, die uns beim Aufstieg helfen sollten, und vier Eisäxte für die Wegverbesserung auf dem Gletscher. Sodann ließen wir uns eine Küchenkiste vom Tischler anfertigen, unsere Kleider flicken und Stiefel besohlen und die Steigeisen umschmieden, so daß sie zu anderen Stiefeln paßten. Schließlich kaufte ich noch 130 kg Hundefutter in Form getrockneter Fische und ließ mir auf mein Kreditiv 1000 Kronen aus der Koloniekasse auszahlen, um in Uvkusigsat alles bar bezahlen zu können. Und nachdem dies alles erledigt war, charterten wir den kleinen Schoner »Thyra«, der der Kolonie gehört und von den Grönländern bedient wird, und ließen ihn mit unserem Gepäck beladen.

Einen Tag mußten wir noch warten, da ein heftiger »Südweststurm« herrschte, der aber in Umanak aus Südosten wehte! Am 16. Juni verabschiedeten wir uns von dem hilfreichen und liebenswürdigen Kolonieleiter-Ehepaar Dan Möller, und nachdem es noch einen öffentlichen Kaffee für die Grönländer der Kolonie auf Kosten der Expedition gegeben hatte, fuhren wir mit der »Krabbe«, den Schoner im Schlepptau, zunächst nach Uvkusigsat, wo die Vorbereitungen weitergehen sollten.

In Uvkusigsat kauften wir außer einigem Pelzzeug 300 kg getrocknetes Haifleisch und 100 kg getrockneten Fisch als Hundefutter, warben sieben Grönländer auf 10 Tage an und liehen ein größeres Ruderboot, drei Hundeschlitten und 23 weitere Hunde mit dem zugehörigen Geschirr und Peitschen. Wegen erneuten Sturmes mußten wir auch hier wieder einen Tag liegen bleiben. Als wir am 18. Juli zur Kamarujuk-Bucht weiterfuhren, schrieb ich in mein Tagebuch: »Ich bin fast erstaunt, wie reibungslos und schließlich auch schnell diese ganze Ausrüstung vor sich gegangen ist. Nirgends die geringste Schwierigkeit, nirgends ein unwilliges Wort, nirgends eine Überforderung oder sonstige ärgerliche Zwischenfälle, ohne die so etwas in Europa einfach undenkbar wäre.«

Wir trafen schon mittags am Kamarujuk-Gletscher ein und brachten noch am Nachmittag alles Gepäck an Land, worauf die »Krabbe« sofort wieder den Schoner nach Umanak zurückschleppte. Tobias hatte Anweisung, am 29. Juli wiederzukommen, um die Grönländer nach Uvkusigsat zurückzubringen. Bis dahin hofften wir unser Gepäck den Gletscher hinaufgebracht zu haben.

Nun hausten wir also wieder an Land, diesmal in dem größeren, nach meinen Angaben von Schuster-München gebauten Viermannszelt.

Es war freilich einstweilen recht unklar, wie wir namentlich den Gletscherbruch bewältigen sollten. In der Tat sollte diese Schwierigkeit, verstärkt durch äußere Umstände, unsere Unternehmung fast zum Scheitern bringen. Das Wetter wurde schlecht, und Regen und Sturm brachten die Arbeit schließlich zum stehen. Die Grönländer wurden immer bedenklicher, je mehr wir uns dem Bruch näherten, und waren nur mit Mühe weiter zu bringen. Die Steilheit und Glätte des Eises und die gewaltigen Spalten erschreckten sie. Es war schwer, auf sie einzuwirken, denn keiner von ihnen konnte dänisch sprechen, und die wenigen eskimoischen Brocken, über die wir verfügten, reichten für kompliziertere Mitteilungen nicht aus. Und sehr bald hatten die Grönländer auch nichts mehr zu essen, obwohl unsere Vereinbarung dahin ging, daß sie sich selbst verpflegen sollten.

Die ersten Schwierigkeiten

Wir mußten sie schließlich in volle Verpflegung nehmen und sie zugleich mit den ihnen offenbar unbekannten und unheimlichen Verhältnissen auf dem Gletscher systematisch vertraut machen. Aber dann konnten wir auch spüren, wie sie Vertrauen zu uns und zu der Sache faßten, und es war erstaunlich zu sehen, wie ihre Gewandtheit und Leistung auf dem Gletscher von Tag zu Tag wuchs. Nun wurde auch noch das Wetter schön, und damit hatten wir gesiegt. Als Tobias kam, lag unser gesamtes Gepäck oberhalb des Bruches, des großen Fragezeichens unserer Aufstiegslinie.

Mein Tagebuch aus diesen Tagen spiegelt den Wechsel von Befürchtungen, Spannung und schließlichem Triumph, der uns damals bewegte:

Die Trägerkolonne im Bruch

»19. Juli, abends. Der erste Tag ist herum. Das Ergebnis ist recht mäßig. Die Grönländer haben das große Depot Dies Depot hatte mit unserer diesjährigen Unternehmung nichts zu tun und wurde nur bei dieser Gelegenheit in der Kamarujuk-Bucht an Land gebracht als Basis für Unternehmungen im nächsten Jahr. weiter auf die Moräne hinaufgeschleppt bis oberhalb der Springflutmarke. Unterdessen waren wir vier mit Johann auf dem Gletscher, um den besten Weg zu finden und ihn gleich mit den Eisäxten zu verbessern. Johann hatte auf unsere Aufforderung gleich seinen Schlitten mit einer etwa 70 kg schweren Kiste über die Moräne und den untersten guten Teil des Gletschers gefahren. Es ging gerade eben. Aber man wird auch auf dem Gletscher höchstens 100 kg auf den Schlitten haben können, und zwar weil die Hunde auf dem Eis rutschen und nicht gut ziehen. Leider rutscht auch Johann sehr mit seinen Kamikkern. Beim Abstieg begann es zu regnen, und wir kamen bereits ziemlich naß unten an.«

»20. Juli, abends. Es ist fürchterliches Wetter, ein Föhnsturm, daß wir auf dem Gletscher bald umgeweht worden wären, und das Zelt beinahe wegfliegt. Und dabei gießt es in Strömen, noch mehr als gestern. Gestern lag ich auf der Windseite und wurde links naß, heute bin ich Koch, liege daher auf der Türseite und bin schon rechts ganz naß. Immerhin ist anzuerkennen, daß wir selbst und die Grönländer heute doch noch etwas geschafft haben. Die Grönländer haben zuerst mit drei Schlitten fünf Kisten zum Depot III hinaufgefahren. Es war eine große Schinderei für die Menschen wie für die Tiere. Und dann haben sie noch 17 Kisten bis auf die Gletscherzunge (Depot II) getragen. Jedenfalls haben sie heute gut gearbeitet, und ich habe ihnen daher eine Dose Kaffee und zwei Pakete Keks spendiert. Durch den Regen sind heute alle Bäche stark angeschwollen, und das halbe Areal in dem Moränenzirkus ist überflutet. Von den Felswänden stürzen riesige Wassermengen herab, die vom Sturm zerstäubt und als Wolkenschwaden entführt werden. Himmel, was für ein Wetter! Die ganze Natur ist in wildem Aufruhr. Von den Wänden rasseln Steine herab.«

»21. Juli, abends. Der heutige Tag war besser, als es heute früh aussah. Es hat die ganze letzte Nacht hindurch fürchterlich gegossen und gestürmt. Um 11 Uhr Vormittag hörte es auf zu regnen, und um 2 Uhr nachmittags kamen wir fort. Wir haben heute vier Schlitten mit teilweise über 100 kg beladen bis zum Depot III hinaufgefahren und von da mit nur je einer Kiste weiter bis zum Depot IV an der westlichen Moräne. Unter den benutzten Schlitten war auch einer der beiden Hamburger Hundeschlitten. Er ist gleich oben geblieben. Wir hatten in Hamburg zwei Hundeschlitten, etwas abgeändert nach dem grönländischen Modell, bauen lassen. Sie waren, ebenso wie der norwegische, für das Inlandeis selbst bestimmt und sollten daher auf dem Gletscher möglichst geschont werden. Leider verloren wir beim Überschreiten des Baches einen Hund, der von der Strömung mitgerissen wurde. Als wir zurückkamen, lag er halbtot da, wurde dann von den anderen Hunden, ehe wir es verhindern konnten, fast ganz tot gebissen und schließlich von den Grönländern durch Erdrosseln getötet.

Übrigens war es schwierig, die Grönländer heute so weit zu bekommen. Sie wollten nicht mehr, kamen aber dann doch, nachdem ihnen Depot IV als Ende des heutigen Transports gezeigt war. Oben verteilte ich den Inhalt meines Tabaksbeutels. Jetzt, am Zelt, baten die Grönländer um Butter. Wir gaben ihnen etwa 1/8 Dose.«

»22. Juli, nachmittags. Heute wurden vier mittelschwere Lasten bis zum Depot IV hinausgeschafft. Vom Zeltplatz an wurden nur zwei Schlitten benutzt, aber die Grönländer trugen außerdem noch Säcke mit Hundefutter. Am Depot II auf der Gletscherzunge wurden dann alle vier Schlitten beladen, aber etwas weniger als gestern. Dafür luden wir aber bei Depot III nichts ab, sondern fuhren nach einer Pause gleich weiter bis zum Depot IV. An mehreren Stellen hatten wir Nutzen vom Seil, und den letzten Aufstieg zum Depot IV neben der westlichen Moräne machten wir ohne Hunde durch Hinaufhissen zweier Schlitten, die mit 150–200 kg belastet waren.

Georgi, Loewe und Sorge blieben noch oben, um den weiteren Weg auszuhauen, während ich mit den Grönländern hinabging und ihnen das Schwarzbrot aus unserer nächsten Proviantkiste gab. Sie scheinen mit Lebensmitteln knapp zu sein. Der ertrunkene Hund hat das Gute, daß sie wenigstens noch etwas Fleisch haben. Augenblicklich sind sie alle mit dem Boot auf dem Wasser. Hoffentlich fischen sie etwas.

Unser Verhältnis zu den Grönländern ist gut, und ich hoffe daher, daß wir mit der Arbeit hier fertig werden. Nur müssen wir ihnen anscheinend viel Lebensmittel geben und vor allem immer selber bei der Arbeit dabei sein. Wir werden daher vielleicht das Depot für das nächste Jahr angreifen müssen.

Heute vormittag war die Sonne so gnädig, zu scheinen, aber schon während der Arbeit bewölkte es sich wieder und jetzt, kurz vor 6, fallen die ersten Regentropfen. Kann denn der Himmel gar kein Einsehen haben! Wir haben hier wirklich ein Wetter, daß es einen Hund jammern könnte!

½8 Uhr. Es gießt in Strömen. Ich sitze im fest verschlossenen Zelt und warte auf die anderen, die wohl ganz durchnäßt hier ankommen werden. Das ist nun der ›schöne grönländische Sommer‹!

11 Uhr abends. Die anderen sind zurück. Sie waren völlig durchweicht. Es gießt noch immer. Eben hörte man ein starkes Geprassel vom Gletscher her, und soweit man es bei dem Geräusch des Regens und der Wasserfälle unterscheiden kann, wird es von einem dauernden Brausen gefolgt. Was ist da wieder geschehen? Irgend eine neue Teufelei ist sicher wieder im Gange. Muß ich wirklich noch hinaus in die Traufe, um nachzusehen? – – Ja, ich war eben draußen, die Wiederholung des Polterns brachte mich endgültig auf die Beine. Am linken (von hier) Gletscherrande sieht man einen mächtigen Wasserfall, der bisher nicht da war. Ich bin besorgt wegen unseres Depots IV. Ist der neue Randstrom hier über den Rand des Gletschers fort gegangen, so können wir unter Umständen morgen vergeblich nach unserem Depot suchen.«

»23. Juli, mittags. Das war eine unruhige Nacht! Prasselnder Regen bis zum späten Vormittag, Sturmstöße von solcher Gewalt, daß ich Schuster kaum einen Vorwurf hätte machen können, wenn unser Zelt zerrissen wäre, dazu das Brausen der Wasserfälle, die uns rings umgeben. Das Poltern von heute Nacht wiederholte sich jetzt zu Mittag noch einmal. Jetzt kann man sehen, daß der neue Randstrom den Gletscherrand unterwühlt und zum Einsturz gebracht hat. Man sieht große Eisblöcke neben dem Gletscher liegen. Aber unser Depot IV ist unversehrt, man sieht es mit dem Fernrohr. – Nachmittags. Da es immer wieder anfing mit Regen, haben wir für heute alles aufgegeben.«

»24. Juli, abends. Wir haben fünf Sack Hundefutter und vier Kisten zum Depot IV hinaufgebracht und haben dann den Grönländern den Weitertransport eines Schlittens mit einer Kiste bis nach Depot V (mitten im Bruch) vorgemacht. Die Grönländer gingen angeseilt als Zuschauer und wurden dann entlassen. Nachher haben wir vier noch einen Hamburger Schlitten mit einer Kiste zum Depot V gebracht und den weiteren Weg durch den Bruch bis auf die obere Schlittenbahn erkundet und Stufen geschlagen. Der Gesamtstand der Transporte ist wenig befriedigend. Wir werden doch wohl gut tun, durch den Gletscherbruch eine Tragstelle einzuschalten. Das wird schneller gehen, als das Ziehen eines Schlittens, auf dem doch nur eine Kiste angebracht werden kann. – Heute war prachtvoll stilles Wetter.«

»25. Juli, abends. Ein strahlender Tag: strahlender Sonnenschein und ein strahlendes Ergebnis! Heute früh sagte mir Johann, die Grönländer hätten nichts mehr zu essen. Wir haben darauf das Depot für das nächste Jahr angegriffen und den Inhalt einer Proviantkiste wesentlich für die Grönländer bestimmt. Ich gab ihnen gleich Hafergrütze, Zucker, Butter, Keks, Schwarzbrot, Knäkkebrot heraus. Ein Jubelgeheul aus dem Grönländerzelt war die Antwort. Und dann haben wir sechs Kisten von Depot II nach Depot IV gefahren und acht Kisten von Depot IV durch den ganzen Bruch, an Depot V vorbei, bis Depot VI getragen! Bei Depot IV verteilte ich Schokolade. Darauf trugen die Grönländer jeder seine Kiste bis Depot V, wo abgesetzt wurde. Dann gingen wir erst alle ohne Gepäck, die Stufen verbessernd, bis zum Depot VI durch, und hier fragte ich die Grönländer, ob sie die Kisten noch bis hier herauf tragen wollten, wenn dann Schluß gemacht würde und sie abends reichlich zu essen kriegten. Sie stimmten begeistert zu und trugen die Kisten anstandslos hinauf. Nun liegen also schon 320 kg auf der oberen Hundeschlittenbahn. Damit sind wir über den toten Punkt hinweggekommen!«

»26. Juli, nachmittags. Eben von der Arbeit auf dem Gletscher zurückgekehrt. Herrlicher Sonnenschein den ganzen Tag, aber etwas Wind, was ganz angenehm war. Heute haben wir die Hälfte des Depots II nach IV gefahren. Sodann haben wir in zwei Gängen sechs Kisten, 10 Sack Hundefutter und den norwegischen Schlitten durch den Bruch von IV nach VI hindurchgetragen, zusammen etwa 620 kg, eine sehr gute Leistung!

Meine Kameraden machen zu diesen Trag-Transporten bedenkliche Gesichter. Sie fürchten, daß einmal einer der Grönländer in eine Spalte abrutscht, da die Stufen immer wieder so stark zusammenschmelzen. In der Tat ist diese Gefahr da, und ich benutze auch jede Gelegenheit, die Grönländer zur Vorsicht zu mahnen. Aber ich glaube, daß wir uns damit begnügen müssen, die vorhandenen Stufen täglich bei der ersten Trägerkolonne etwas auszubessern. Die Abschmelzung ist jetzt kolossal. Wenn wir den Weg erst noch wesentlich verbessern wollten, so müßten wir viel Arbeit hineinstecken, und das würde mit Zeitverlust verbunden sein. Durch letzteren aber würde die Arbeit infolge der Abschmelzung vergebens werden.«

»27. Juli, nachmittags. Wieder ein strahlend schöner Tag mit gutem Fortschritt. Wir haben das ganze Depot III nach IV hinaufgefahren – nur die kleine Kiste mit Zündkapseln steht noch einsam aus der ebenen Eisfläche – und dann haben wir wieder zwei Tragkolonnen bis zum Depot VI durchgeführt.

Gestern hat Sorge angefangen, den Weg im Gletscherbruch durch Ruß-Tupfen zu markieren, mit hervorragendem Erfolg. Heute ging er weiter, indem er in die Stufen Ruß hineinstreute. Bei der starken Sonnenstrahlung schmolz der Ruß sofort ziemlich tief ein, so daß sich die Spuren von selbst vertieften, schon im Laufe von wenigen Stunden!

Ich gehe jetzt immer nur mit einem Steigeisen, das andere habe ich einem der Grönländer geliehen, und meine Kameraden machen es ebenso. Die Grönländer selbst haben auch Steigeisen, nämlich etwa 4 cm breite starke Bleche mit reibeisenartigen Löchern, die beiderseits vom Fuß etwas aufgebogen sind und mitten unter die Kamiksohle geschnallt werden. Zum Teil verfertigen sie sich auch Holzsohlen mit einem Ledergelenk, die mit Nägeln gespickt werden. Und drittens flechten sie sich Sohlen aus Seil, die sie unter den Fuß zurren, oder binden auch einfach eine dicke Schnur um den Fuß, womöglich mit einem Knoten unter der Sohle, was doch sehr drücken muß.

Interessant ist auch ihre Art, mit dem Kopf zu tragen. Die Last ruht dabei teilweise auf dem Rücken, aber der Hauptzug wird von Kopf und Stirn aufgenommen. Sie sind sehr geschickt darin, sich ein solches Kopfband aus gewöhnlicher dünner Schnur, die etwa 6-10 mal genommen wird und zugleich zum Zurren der Traglast dient, zurecht zu knoten. Haben sie nur irgend eine Leine, so ist eins, zwei, drei die Sache gemacht, und sie ziehen mit Kisten bis zu 40 kg los! Heute haben sie so die schweren Schlittenproviantkisten getragen, wenn auch immer zwei Mann dabei in der Weise abwechselten, daß der zweite eine leichte Last zur Erholung trug.

Seitdem die Grönländer von uns in volle Verpflegung genommen sind, leisten sie Vorzügliches. Hier kann man wirklich sagen: Der Weg zum Herzen geht durch den Magen!«

Blick vom Nunatak »Scheideck« über den Kangerdluarsuk- Gletscher auf das Hochlandeis mit seinen Eislawinen

»28. Juli, (Sonntag) nachmittag. Vorzügliches Ergebnis: Wir haben alles durch den Bruch bis zum Depot VI hinaufgebracht. Es war eine viel größere Quälerei, als ich dachte, namentlich mit den Schlitten, die obendrein noch mit je einer Proviantkiste beladen waren. Die Grönländer haben hier wie überhaupt in den letzten Tagen ausgezeichnete Arbeit geleistet. Ich habe ihnen als Belohnung außer zwei Fleischkonservenbüchsen und einer Büchse kondensierter Milch und etwas Zucker noch je eine Zigarre und zwei Eßlöffel voll Aquavit spendiert. Namentlich der letztere wirkte schon im voraus oben bei der Arbeit sehr aufmunternd. Ich war aber doch so vorsichtig, ihn erst dann in Aussicht zu stellen, als sie sich ohnehin bereit erklärt hatten, alles hinaufzuschaffen.

Die Schwierigkeiten waren groß, und die Lage eine Zeitlang kritisch. Aber nun ist der Triumph, daß es doch geglückt ist, um so größer. Auch wir wollen heute ein Fest feiern.

Ich bin diese Tage unausgesetzt bei den Grönländern »mit dabei« gewesen und habe nach Maßgabe meiner Kräfte mitgeschuftet. Die Grönländer sind dabei immer gewandter auf dem glatten Eis geworden und gehen jetzt mit bloßen Kamikkern fast ebenso sicher wie wir mit Steigeisen, übrigens hat sich gezeigt, daß sie sehr gut die Grödeln unter den Kamikkern tragen können.«

»29. Juli, abends. Noch einmal ein Tag mit prächtigem Wetter und prächtigem Fortschritt! Wir ließen zuerst eine Anzahl leichter Traglasten bis zum Depot VI hinauftragen, das wir in zwei Stunden erreichten, spannten dann an und fuhren acht Kisten bis auf das Plateau oberhalb des Gletschers hinauf, etwa 2 km jenseits des Depot VI. Es ging sehr glatt. Nur bei den Firnspalten fuhren die Grönländer – Johann ausgenommen – nicht wendig genug, so daß etwa 10 Hunde in die Spalten fielen. Da die meisten Grönländer als Zugleinen das ziemlich dünne Bindegarn verwendeten, das allmählich zerschlissen ist, rissen dann die Zugleinen, und die Hunde fielen hinab. Einmal mußte sich Sorge abseilen und mit dem Hund im Arm wieder Hochziehen lassen. Ein andermal stieg Loewe, sogar unangeseilt, in eine Spalte hinab. Johann fuhr glänzend, er kam schon mit leerem Schlitten zurück, als wir die Hunde aus den Spalten holten. Auf der Rückfahrt über die obere sehr ebene Fläche guten Eises konnten wir alle auf den Schlitten sitzen.

Als wir wieder beim Depot VI angelangt waren und die Schokolade ausgeteilt wurde, erhoben plötzlich die Grönländer ein Jubelgeschrei: Tobias kommt! Sie hatten mit ihren scharfen Augen die »Krabbe« auf eine Riesenentfernung entdeckt. Der Abstieg ging dann natürlich schnell vonstatten.«

– Soweit mein Tagebuch.

Nunatak »Scheideck«

Als ich mit den Grönländern an Bord der »Krabbe« nach Uvkusigsat abfuhr, um sie dort zu entlohnen, und unser Depot VI mit bloßem Auge oben über dem Bruch liegen sah, konnte ich mit mir zufrieden sein. Wenn das Hinausschaffen des Gepäcks auch schwierig gewesen war, so hatten sich die Vorbereitungen dazu doch als ausreichend erwiesen, und die Unternehmung war trotz widrigen Wetters und der anfänglichen Bedenken der Grönländer vollständig geglückt. Und damit war die Voraussetzung für die Erfüllung auch der weiteren Aufgaben verwirklicht, die wir auf dem Inlandeis hatten, nämlich zunächst unseres wissenschaftlichen Programmes und dann einer Hundeschlittenreise ins Innere.

Unsere Eisdickenmessungen sollten sich durch die ganze Randzone des Inlandeises hindurch bis zum Beginn des Firngebietes erstrecken. In der nächsten Zeit mußten also gleichzeitig Transporte geleistet und beobachtet werden. Um meine Kameraden von den ersteren zu entlasten, beschloß ich, drei Grönländer noch für eine weitere Woche anzuwerben. Zusammen mit Johann konnten sie in unseren beiden kleinen Zelten wohnen.

Als ich am 31. Juli wieder zur Kamarujuk-Bucht zurückkehrte, brachte ich daher wieder drei unserer Grönländer mit, die daheim ihre Ausrüstung ergänzt hatten, sowie etwas Hundefutter und zwei neue Hunde als Ersatz für den ertrunkenen und einen zweiten, der uns entlaufen war und als verloren gelten mußte. Abends fuhr Tobias mit der »Krabbe« nach Umanak zurück. Er hatte den Auftrag, am 9. August wieder am Aufstiegsgletscher zu sein, um die drei Grönländer nach Uvkusigsat zurückzubringen. Diese eine Nacht schliefen wir noch in unseren Zelten unten am Wasser. Am nächsten Tag sollte der Zeltplatz bis oberhalb des Gletschers verlegt werden.

Als wir eben einschlafen wollten, wurden wir durch ein gewaltiges Donnern neben uns an der südöstlichen Bergwand erschreckt. Kleinere Steinfälle hatten wir ja an dieser 800 m hohen Wand aus brüchigem Paragneis alle Augenblicke erlebt. Aber dies war ein Bergsturz! Die Hauptmasse blieb auf halber Höhe auf einer Schutt-Terasse liegen, und hier breitete sich alsbald eine riesige Staubwolke aus. Von da sprangen nur einzelne Blöcke, die mehr Fahrt hatten, zu uns herunter. Sie hatten gerade die Richtung auf unsere Zelte, blieben aber auf der Schutthalde am Fuß der Wand, etwa 200 m von uns entfernt, liegen.

Die Grönländer stürzten erschreckt aus ihrem Zelt und flüchteten, beruhigten sich aber bald wieder, als sie sahen, daß wir dies Schauspiel nur aus der geöffneten Zelttür beobachteten. In der Tat war uns sofort klar, daß wir von diesem Sturz nichts zu befürchten hatten. Ging freilich ein Bergsturz großen Stils an dieser Stelle nieder, so gab es kein entrinnen, ob man im Zelt blieb oder nicht.

Wir waren eben wieder in unsere Schlafsäcke zurückgekrochen, als das Donnern aufs neue begann: ein zweiter Bergsturz an gleicher Stelle und etwa von gleicher Stärke! Bereitete sich hier Größeres vor? Sollte die Expedition in der letzten Nacht, die sie hier unter der Wand lag, noch verunglücken?

Es war nicht ganz leicht, wieder einzuschlafen. Aber wir sollten ja morgen unsere Kräfte gebrauchen, und schließlich glückte es auch. Und es passierte auch weiter nichts im Lauf der Nacht. Es war nur eine jener zahllosen Vorführungen, die Mutter Natur veranstaltete, um uns diesen Sommer in Grönland möglichst abwechslungsreich zu machen. Föhnstürme, Kalbungswellen, Eislawinen, Randsee-Entleerungen, Gletscherspalten gehörten auch dazu. Ich schrieb einmal in mein Tagebuch: »Es ist sonderbar mit unserer Expedition, mit irgend etwas sind wir immer ›im Druck‹«. Und das traf buchstäblich zu bis zum letzten Tage, an dem die »Krabbe« noch beide Schraubenflügel verlor.

Am Abend des nächsten Tages saßen wir todmüde, aber sehr zufrieden, in unserem Zelt in 900 m Seehöhe auf dem Inlandeis. Am Meere lag jetzt nichts mehr, was wir hier oben brauchten; alles, was wir nicht schon hier hatten, lag bei Depot VI oberhalb des Gletscherbruches. Die Traglasten bis zu diesem Depot hinauf waren schwer gewesen, und mein Stoßseufzer: »Oh dieser Gletscher!« entwickelte sich mehr und mehr zum geflügelten Wort. Aber tröstlich war es eben doch bei dieser Aufstiegslinie, daß jeder Meter, den man stieg, endgültig gewonnen war.

Es war übrigens nicht leicht, die Zelte auf dem festen Eis zum Stehen zu bringen. Die Heringe schmolzen im Handumdrehen wieder heraus. Schlimmer noch waren die Wassermengen auf der Eisoberfläche. Wir mußten ein Netz von Kanälen rings um das Zelt anlegen, um zu verhindern, daß die zahlreichen und ständig wechselnden Rinnsale ihren Weg durch das Zelt nahmen. Die als Unterlage dienenden Renntierfelle, die seit dem Regenwetter am Fjord nicht wieder richtig trocken geworden waren, saugten das Schmelzwasser wie ein Schwamm auf und begannen zu faulen, so daß die Haare büschelweise ausfielen.

Nach ein paar Tagen verlegten wir deshalb den Zeltplatz auf einen kleinen, 2 km entfernten Nunatak, der an der Eisscheide zwischen Kamarujuk-Gletscher und Kangerdluarsuk-Gletscher liegt. Wir nannten ihn »Scheideck«. Es war eine Erlösung, wieder auf trockenes Land zu kommen, Schlafsäcke und Renntierfelle wieder trocknen zu können und ebenso unser durchnäßtes Schuhzeug.

Dieser kleine Nunatak Scheideck, »unser Nunatak«, war uns stets eine freundliche, willkommene Aufenthaltsstätte, wenn auch kein Pflänzchen auf ihm wuchs. Und die Aussicht von dort war herrlich! Man sah über beide Gletscher hinweg, die sich zwischen drei Hochlandfirnen hinabsenkten. Alle Augenblicke gingen Eislawinen namentlich von der den Kangerdluarsuk-Gletscher nördlich begrenzenden Felswand herab. Und auf der anderen Seite das Inlandeis! Er ist uns ans Herz gewachsen, der kleine Nunatak »Scheideck«! Auf ihm fühlten wir uns geborgen. Hier feierten wir auch unsere Wiedervereinigung nach unseren Schlittenreisen.

In den folgenden Tagen waren immer Loewe und Sorge mit Eisdickenmessungen und die Grönländer mit Transporten beschäftigt. Georgi und ich pendelten zwischen der Wissenschaft und der Transportarbeit hin und her; bald halfen wir den Grönländern, bald machten wir Abschmelzbohrungen oder Strahlungsmessungen oder anderes.

Dem weiteren Vorschieben des Depots ging eine Erkundung voraus, die Georgi und ich auf Ski durchführten. Leider zeigte sich dabei, daß das Gelände vor uns stark von Spalten durchsetzt war. Einmal brach ich gleichzeitig mit beiden Skiern bis zu den Schultern in eine gleichgerichtete Spalte ein, und wir hatten nicht einmal ein Seil mit! Wenige Minuten später brach ich noch einmal mit dem einen Ski ein. Die Spalten waren hier mit Neuschnee so gut zugedeckt, daß nicht das geringste Anzeichen von ihnen zu erkennen war.

Da den Grönländern – immer mit Ausnahme von Johann – die Spalten sehr unheimlich waren, gingen wir bei dem ersten Weitertransport alle mit, und zwar, gingen wir angeseilt auf Ski voraus, während die Grönländer Anweisung hatten, auf den Schlitten zu sitzen. Wir kamen auf diesen 9 km über mehr als 100 Spalten, die größtenteils durch eine lockere Schneebedeckung unkenntlich waren, und mußten schließlich zwischen zwei solchen Spalten Halt machen und abladen, da den Grönländern die Sache zu unheimlich wurde. Hätten wir damals gewußt, daß wenige Meter vor uns die letzte Spalte lag, die wir überhaupt auf unserem Kurs nach Osten treffen würden!

Auch die weiteren Depotfahrten nach diesem »Depot zwischen den Spalten« gingen alle glatt. Als Tobias mit der »Krabbe« kam, waren wir fertig.

Georgi und ich begleiteten die drei Grönländer zum Fjord hinab und benutzten diese Gelegenheit, um an verschiedenen Stellen auf dem Gletscher noch Abschmelzbohrungen auszuführen. Wir erhielten im ganzen fünf solche Stationen. Sie lagen in 40, 270, 570, 970 und 1210 m Seehöhe und verteilten sich längs einer westöstlichen Linie von der Gletscherzunge bis zu unserem späteren Zeltplatz »am Bach«, der 17 km östlich von »Scheideck« lag.

Obwohl diese Stationen natürlich mit dem Gedanken an eine Nachmessung im nächsten Jahre angelegt wurden, wo sie dann den Betrag der jährlichen Abschmelzung liefern werden, konnten wir doch schon jetzt bei unseren wiederholten Besuchen Werte für die tägliche Abschmelzung ableiten. Die größte tägliche Abschmelzung betrug 5–6 cm und wurde etwa Anfang August in den niedrigeren Seehöhen gefunden. Diese außerordentlich starke Abschmelzung – im Monat 1 ½ m! – gibt die Erklärung dafür, daß die von uns geschlagenen Stufen immer wieder so schnell verschwanden. Die Beobachtungen zeigen ferner deutlich die Abnahme der Abschmelzung bei fortschreitender Jahreszeit im August und September und auch die Abnahme mit der Seehöhe. Die oberste Station, in 1210 m Seehöhe, ergab als tägliche Abschmelzung nur noch Bruchteile des Zentimeters. Wir befanden uns hier schon nahe an der Firngrenze, wo Abschmelzung und Zuwachs sich die Waage halten.

– Georgi und ich kehrten nach Entlohnung der Grönländer in Uvkufigsat nicht sogleich zu unseren Kameraden zurück, die bei »Scheideck« mit Eisdickenmessungen beschäftigt waren. Wir hatten erst noch ein kleines Zwischenspiel zu erledigen.

Johann hatte uns nämlich erzählt, weiter nördlich in dem von uns nicht mehr besuchten Fjord Kangerdluk (= Fjord) liege etwas südlich von dem großen Rink-Gletscher ein kleinerer, vom Inlandeis herabkommender Gletscher, der fast nicht kalbe, und dessen Oberfläche, wie er selbst durch Begehung festgestellt habe, ganz spaltenfrei sei. Er halte diesen Gletscher für unsere Zwecke für geeigneter als den Kamarujuk-Gleischer.

Die Unterhaltung mit Johann war allerdings nicht so wortreich. Er verstand kein Wort Dänisch. Er hatte uns auf der Karte diesen Gletscher gezeigt und dazu gesagt: »Imera ajing, Kamarujuk ajorpok!« (vielleicht gut, Kamarujuk schlecht!), und dann hatten wir, zuerst mit dem Lexikon, dann mit Tobias als Dolmetscher, das übrige aus ihm herausbekommen.

Ich hatte allerdings sofort große Bedenken gegen diese neue, von Johann vorgeschlagene Aufstiegslinie. Für dies Jahr kam sie ohnehin nicht mehr in Betracht, denn wir waren ja mit unserem ganzen Gepäck schon oben. Aber auch für unsere nächstjährigen Pläne glaubte ich nicht an die Brauchbarkeit der neuen Aufstiegslinie. Denn Rinks-Gletscher ist einer der großen Schnelläufer und sehr produktiv, und der Kangerdluk ist daher einer der berüchtigten Eisfjorde. Johann behauptete zwar, es sei »nami siko« – kein Eis – im Fjord, aber wenn dies auch für diese Jahreszeit zutreffen mochte, so war der Fjord doch sicherlich erst einen Monat später befahrbar als die Kamarujuk-Bucht.

Aber wie dem auch sein mochte, es war schwer, eine solche Behauptung ungeprüft zu lassen, und in der Nacht zum 10. August fuhren Georgi und ich kurz entschlossen von Uvkufigsat zum Kangerdluk und in ihn hinein. Nur an der Mündung, bei der Karrat-Insel, standen die Eisberge so gedrängt und war das Wasser zwischen ihnen so mit Kalbeisbrocken bedeckt, daß wir die Fahrt verlangsamen mußten. Das Innere des Fjordes war richtig, wie Johann gesagt hatte, fast eisfrei. Der hier fast immer wehende stürmische Föhn beförderte im Verein mit starkem Strom alle neu entstehenden Eisberge schnell hinaus.

Am Nachmittag des 10. trafen wir unangefochten beim Gletscher ein und ankerten unmittelbar neben dessen Front, im Angesicht der imponierenden Bruchwand des Rink-Gletschers, wo alle Augenblicke Kalbungen vor sich gingen. Wir mußten aber die Erkundung wegen Regens noch auf den nächsten Tag verschieben. Eine Gesellschaft von 23 Grönländern, die hier mit Frauenboot und sechs Kajakken dem Seehundsfang nachgingen, halfen uns, die Zeit zu vertreiben. Als wir am Lande bei ihnen saßen, und Tobias sich einen Bissen Seehundfleisch aus ihren Kochtöpfen schmecken ließ, wurde ich nach meinem Vornamen gefragt. Die Frau eines der Fänger erwartete ein Kind, und wünschte diesem meinen Namen zu geben, zur Erinnerung an dies denkwürdige Zusammentreffen! – Ob es nun wirklich Alfred heißt, auch wenn es ein Mädchen geworden ist, habe ich leider nicht mehr feststellen können.

In der Nacht wurden wir, wieder einmal, mit Kalbungswellen beglückt. Sie ließen an Stärke nichts zu wünschen übrig, aber es war kein Eis in der Nähe, und da war es nur halb so schlimm. Die Anker hielten, nur unsere Trosse, die am Land um einen sehr großen Stein herumgelegt war, riß sich los. Wir zogen sie einfach ein und lagen dann viel besser, da der starke Strom, der parallel zum Ufer lief, uns immer in gleicher Richtung hinter den Ankern hielt.

Am folgenden Mittag begannen Georgi und ich unsere Gletscherwanderung, die 12 Stunden dauerte. Wir gingen den Gletscher etwa 8 km weit hinauf. Die untersten 7 km waren in der Tat vollkommen spaltenfrei, aber doch ziemlich uneben und so flach, daß wir nach sechs Stunden mühsamen Marsches erst 250 m Seehöhe erreicht hatten. Beim Kamarujuk-Gletscher war man schon in einer Stunde ebensoweit. Dann aber standen wir vor einem ausgedehnten Bruch voll wilder Spalten, der, wenn überhaupt, mindestens ebenso schwierig für Fußgänger passierbar war wie derjenige beim Kamarujuk-Gletscher, und dabei etwa dreimal so lang war wie jener. Und jenseits dieses Bruches schienen noch weitere Bruchzonen zu kommen. Damit war einwandfrei festgestellt, daß der Kamarujuk-Gletscher als Aufstiegslinie weit überlegen war. Später haben übrigens Loewe und Sorge auf ihrer Schlittenreise gesehen, daß auch das Hinterland des von Johann vorgeschlagenen Gletschers reisetechnisch große Schwierigkeiten bietet.

Lager »Abschied«

Unsere Aufgabe war damit erledigt, und wir kehrten zur »Krabbe« zurück, die wir um Mitternacht erreichten.

Die lange Wanderung über die apere Gletscherzunge hatte uns Gelegenheit geboten, viele interessante Abschmelzerscheinungen zu beobachten. Große, ¾ m tiefe wassergefüllte Mittagslöcher bildeten mit ihrer regelmäßigen halbmondförmigen Gestalt ein dankbares Studienobjekt. Bisweilen waren sie ausgeartet zu größeren Teichen mit auffallend ebenem Boden, der zu der übrigen unebenen Eisoberfläche in sonderbarem Gegensatz stand. Von Blaubändern mit Verwerfungen trafen wir Hunderte von interessanten Beispielen.

Wunderbar war es, wieder in die gemütliche Kajüte der »Krabbe« zurückzukehren. Es war jetzt um Mitternacht schon ziemlich dunkel, aber Lampe und Primus brannten, der Tisch war gedeckt, und Tobias hielt gebratene Seehundleber für uns bereit! Und hinterher gab es noch Tee und eine Zigarre.

Die Natur hier im Kangerdluk ist von einer niederdrückenden Wildheit und Unzugänglichkeit. Stundenlang fährt man an 1000 m hohen Felswänden entlang, wo kein Fußbreit einer Schutthalde oder eines Uferstrandes vorhanden ist. Hängegletscher schauen über die Wandränder und senden Eislawinen herab. Auf unserer Gletscherwanderung sahen wir eine solche Eislawine herabstürzen und hörten noch eine andere, die wir nicht sehen konnten. Selbst die Bäche müssen Hunderte von Metern in wilden Wasserfällen durch die Luft stürzen, um herabzukommen. Und unten im Fjord rasen Kalbungswellen am Ufer entlang, wälzen sich Eisberge und geht ein reißender, von Moränenschlamm getrübter Strom nach außen. Und darüber hinweg braust der Föhnsturm! Im nächsten Fjord, gegenüber dem Ostufer der Upernivik-Insel, waren wir Zeugen eines Felssturzes. Die Staubwolke hielt sich solange, daß Georgi sie photographieren konnte. Und bald darauf fuhren wir unter einer Wand vorbei, von der nach dem letzten Regen, also gestern oder heute, ein Felssturz herabgegangen sein mußte. Es läßt sich nicht leugnen: Mutter Erde beträgt sich in dieser Gegend nicht sehr mütterlich!

Der Sprung über die Gletscherspalte...

.... so daß etwa zehn Hunde in die Spalte fielen.

Aber in unserer Kajüte fühlen wir uns geborgen. Unser braves Boot mit seinen eichenen Planken verträgt auch harte Stöße. Auf der Herfahrt fuhren wir durch Unachtsamkeit des grönländischen Begleitmanns einmal mit voller Fahrt gegen eine große Kalbeisscholle, glücklicherweise mit dem Steven. Wir fielen alle um, die Kalbeisscholle ging entzwei, aber die »Krabbe« hielt! Und jetzt läuft sie wieder fast sechs Knoten, nachdem wir in Umanak die Reserveschraube haben aufsetzen lassen anstelle der alten, die im Torsukatak etwas verbogen wurde. Durch diese Maßnahme hat sich auch der Husten des Motors gelegt; die Fehlzündungen entstanden nur durch Überlastung des Motors infolge der verbogenen Schraube. Auch der Anker, den ein Eisberg im Hafen von Umanak zerdrückt hatte, ist wieder repariert, und die »Krabbe« ist vom Bug bis zum Heck tipp-topp!

Als ich so in der gemütlichen Kajüte saß, hatte ich eine Vision. Vielleicht war ich auch eingeschlafen und träumte. Ich saß bei warmem Sonnenschein in einer blühenden Rosenlaube – es waren Crimson Rambler – in einem bequemen Lehnstuhl. Meine Frau saß neben mir und las mir den Bericht über unsere Hundeschlittenreise auf dem Inlandeise vor! Das war unzweifelhaft angenehmer als sie zu machen! Schade nur, daß ich nicht behalten habe, wie sie verlief. Ich hätte das damals gern gewußt!

Wir beeilten uns, wieder zur Kamarujuk-Bucht zurückzukehren und gingen wieder zu unseren Gefährten nach »Scheideck« hinauf. Wir hatten jeder etwa 25 kg zu tragen und stöhnten wieder sehr: »Oh dieser Gletscher!« Aber als wir oben waren, waren wir doch sehr befriedigt, daß es möglich ist, mit so schwerem Gepäck in 10 Stunden vom Fjord die 900 m bis zum Nunatak Scheideck hinauf zu gehen. Wir brachten frisches Seehundsfleisch und Teebrötchen mit – letztere ein Geschenk von Frau Winterberg – und dies bildete die materielle Grundlage für das Fest der Wiedervereinigung.

Unsere Kameraden waren inzwischen nicht untätig gewesen. Sowohl Sorge wie Loewe hatten jeder eine Station für Eisdickenmessung erfolgreich erledigt; Sorge hatte im Einzugsgebiet des Kamarujuk-Gletschers eine Eisdicke von 300 m gemessen und Loewe auf dem oberen Kangerdluarsuk-Gletscher eine Dicke von 600 m. Wir konnten also jetzt den Zeltplatz weiter auf das Inlandeis hinauf verlegen.

Dazu mußten wir nun erst einmal Hundekutscher werden. Wir hatten vier Schlitten und vier Gespanne, waren aber fünf Personen. Einer mußte also Passagier bleiben. Es kostete mich, wie ich gestehen muß, Überwindung, aber ich rang mich doch schließlich zu dem Entschluß durch, selbst die Rolle des Passagiers zu übernehmen. Ich kannte immerhin das Hundekutschieren von der Danmark-Expedition her, meinen Kameraden aber war es neu, und sie legten begreiflicherweise alle den größten Wert darauf, selber in dieser edlen Kunst Erfahrungen zu sammeln.

Die drei verfügbaren Hundegespanne – Johann besaß ja ein eigenes – wurden also verteilt, ebenso die Schlitten, und als erste Amtshandlung mußten die neugebackenen Hundekutscher ihre Hunde füttern. Johann bekam viel Arbeit mit den Hundegeschirren. In der Zwischenzeit, wo er alleiniger Herr über 31 Hunde gewesen war, war ihm die Arbeit etwas über den Kopf gewachsen, und die Hunde hatten viele Geschirre und Zugleinen gefressen. Aber schließlich kamen wir dank Johanns Geschicklichkeit mit allem in Ordnung, und am nächsten Tage ging es auf die erste eigene Schlittenfahrt.

Diese erste Fahrt war nicht etwa eine bloße Probefahrt, sondern gleich eine Nutzfahrt. Wir fuhren alles beim Zeltplatz entbehrliche zunächst bis zum Depot zwischen den Spalten und dann noch 6 km weiter bis zu einem Oberflächenbach, der im Augenblick unpassierbar war und uns gerade den Weg versperrte. Und obendrein führte der Weg durch das oben geschilderte Spaltengelände. Vielleicht erscheint dies manchem kühn, da es doch bekannt ist, wie schwer die lange Hundepeitsche zu regieren und die Hunde zu lenken sind. Aber der Erfolg zeigt, daß ich die Fähigkeiten meiner Kameraden in diesem Punkt richtig eingeschätzt habe. Es ging alles wie am Schnürchen, wenn sie natürlich auch noch nicht verstanden, eine große Kunst bei ihrer Fahrtechnik zu entwickeln. Sie wußten aber, worauf es ankommt und dann ist es ja – Gott sei Dank – sehr viel leichter, mit den Hunden auszukommen, wenn sie Lasten fahren und müde werden, als mit leeren Schlitten zu üben. Die Rückfahrt eingerechnet, legten wir an diesem Tage 32 km zurück, gewiß kein schlechter Anfang!

Die Spalten waren diesmal harmloser. Sie waren durch die fortgeschrittene Ausaperung leichter zu erkennen, und dabei hielt der Schnee auf ihnen dank der tieferen Temperatur viel besser als das vorige Mal. Nur am Schlusse fiel einmal Loewes Schlitten ganz in eine offene Spalte hinein, aber da er leer war, konnten die Hunde ihn ohne Schwierigkeit halten. So verlief unser Debüt im Hundekutschieren zu allseitiger Befriedigung. Am folgenden Tag verlegten wir dann auch die Zelte bis zu dem Oberflächenbach. Hier waren wir aus dem Spaltengebiet vollständig heraus, so daß sich dieser Zeltplatz wieder gut für Eisdickenmessungen eignete.

Während Sorge und Loewe hier die Messungen ausführten, holten Georgi, Johann und ich zunächst das Depot zwischen den Spalten und fuhren es dann noch ein Stück weiter nach Osten. Wir nannten dies neue Depot »B«. Bei diesen Fahrten kutschierte ich Loewes Hunde, ein besonders gut eingefahrenes Gespann. Es war lustig, wieder einmal – nach 21 Jahren! – die Hundepeitsche zu schwingen und das Tripp-Trapp all der Hundebeine vor dem Schlitten zu sehen.

Schließlich verlegten wir wieder den Zeltplatz vorwärts, vorbei am Depot »B.«; der neue Zeltplatz »Abschied« lag bereits 45 km von »Scheideck« entfernt im Firngebiet. Hier sollte die letzte und wichtigste Eisdickenmessung ausgeführt werden. Daß diese Messungen schwierig waren und ein hohes Maß von Geschicklichkeit und Ausdauer von den Messenden verlangten, dürfte dem Leser schon nach der früher gegebenen Beschreibung klar sein.

Schon die Sprengungen verlangten große Umsicht. Es ist wohl überhaupt nicht jedermanns Sache, mit ein paar Kilogramm Dynamit in der Tasche spazieren zu gehen. War dann das Bohrloch bis 1/2 oder 1 m Tiefe herabgeführt, so wurden die plastischen Dynamitstangen mit aller Kraft mit der Hand hineingeknetet und schließlich mit dem Skistock – nur nicht mit der Eisenspitze! – hineingedrückt. Wer das zum erstenmal sieht, erwartet in diesem Moment die Katastrophe. Aber Loewe weiß ganz genau, daß nichts passiert, wenn nur das Dynamit nicht gefroren ist und er keine zu harten Gegenstände verwendet. Schließlich bohrt er mit dem Bleistift in den Dynamitpfropfen ein Loch, und dann kommt der unangenehmste Teil der ganzen Operation, die Einführung der Sprengkapsel in dieses Loch.

Die Sprengkapsel muß, im Gegensatz zum Dynamit, wie ein rohes Ei behandelt werden. Fällt sie unglücklich hin, so kann sie losgehen. Sie hat zwei Drahtenden, an welche die beiden Enden des Zündkabels angeschlossen werden. Dies Zündkabel war bei uns 50 m lang. Es war also nicht möglich, bei der Explosion mehr als 50 m vom Explosionsherd abzustehen! Bei den meisten Sprengungen, wo 1–2 kg Dynamit verwendet wurden, genügte diese Entfernung. Bei der letzten wurden aber 13 ½ kg auf einmal in die Luft gejagt; hierbei wurde Loewe ganz von Sprengstücken überschüttet. Aber da wir uns hier schon im Firngebiet befanden, so waren es nur Schneebrocken, so daß er mit einigen derben Püffen davonkam. Zur Zündung selbst dient ein kleiner Dynamo, der mit der Hand betätigt wird und auf dem Wege über das Zündkabel in dem Zündhütchen einen Glühdraht durchschmilzt.

Es dauerte aber lange, bis es zur Sprengung kam. Zuerst verschwand Sorge mit den Apparaten im lichtdichten Zelt und war bis auf weiteres für die Umwelt verloren. Tagelang war er nicht wieder herauszulocken, selbst sein Leibgericht, der Pemmikan, verlor in solchen Fällen die Macht über ihn. Bisweilen saßen auch beide, Sorge und Loewe, in dem Zelt und waren nicht mehr herauszubekommen. Es war aber auch keine leichte Aufgabe, die vorläufig noch mehr auf Laboratoriumsverhältnisse als für den Feldgebrauch zugeschnittene Apparatur aufzustellen und zu justieren.

Alfred Wegener

Da waren tausend Kleinigkeiten, die nicht klappten. Ein kleines Glasprisma, das in den Lichtweg der Zeitmarkierung eingeschaltet war, war beim Transport herausgefallen und mußte erst wieder eingesetzt werden. Der Boden des Zeltes war nicht genügend lichtdicht, das helle diffuse Licht, das das Eis durchstrahlte, drang von unten herauf und mußte behelfsmäßig abgeblendet werden. Zur Entwicklung der photographischen Registrierung standen nur die gewöhnlichen Schalen zur Verfügung, die für lange Streifen sehr unbequem sind. Der kleine Benzin-Katalyt-Ofen, der zur Erwärmung des Zeltes und namentlich des Entwicklers beigegeben war, konnte nicht benutzt werden und zwar aus dem guten Grunde, weil wir kein Benzin hatten! Wir mußten daher unsere Zuflucht zum Meta-Brennstoff nehmen, der eigentlich zum Anzünden des Primuskochers bestimmt war. Und dann war der Apparat naturgemäß von einer Empfindlichkeit, die bei Hundeschlitten-Transporten sonst als hoffnungslos betrachtet wird. Infolgedessen konnten kleine Beschädigungen nicht ganz vermieden werden, wie der Bruch einer Gelenkfeder oder eine Verbiegung an der Zeitwippe, deren Schwingungen die Sekundenpunkte auf dem Registrierstreifen lieferten.

Schneemannbau. Schlitten mit Hodometer

Loewe und Sorge hatten seinerzeit Dr. Mothes bei seinen letzten Versuchen in den Alpen assistiert, aber die Bedienung des Apparates hatte doch hauptsächlich Dr. Mothes selber übernommen, und obendrein war die Apparatur jetzt teilweise abgeändert. Unter diesen Umständen war die selbständige Durchführung dieser Beobachtungen unter den viel schwierigeren Bedingungen auf dem Inlandeis für Sorge und Loewe eine Aufgabe, von der von vornherein keineswegs feststand, ob sie glücken würde. Aber sie kamen mit Ausdauer schließlich über alle Schwierigkeiten hinweg, dank namentlich der instrumentellen Geschicklichkeit Sorges.

Während bei Dr. Mothes stets drei Personen tätig sein mußten – der eine im lichtdichten Zelt, der andere daneben als Signalgast, der dritte an dem weit entfernten Sprengort – arbeiteten sich Sorge und Loewe zu zweit ein, indem die Sprengung zu einem bestimmten, vorher verabredeten Zeitpunkt ausgeführt wurde. Es ist klar, daß diese Verbesserung unter den gegebenen Reiseverhältnissen von großer Tragweite für uns war. Sie wechselten ferner miteinander so ab, daß bei der Hälfte der Stationen Sorge den Registrierapparat bediente und bei der anderen Hälfte Loewe. Der andere hatte dann immer die Sprengungen auszuführen.

An jeder Station mußte eine ganze Reihe von Sprengungen vorgenommen werden. Schon aus dem einfachen Grunde, weil der Sprengort etwas weiter vom Registrierapparat gewählt werden muß, als das Eis dick ist. Da man aber die Eisdicke noch nicht kennt, muß man sich wie bei der Artillerie einschießen, bis der Einsatz der reflektierten Wellen an die richtige Stelle der ganzen Wellenfolge kommt. Im ganzen haben wir vier Stationen vermessen. Die beiden ersten waren schon erwähnt; im Einzugsgebiet des Kamarujuk-Gletschers maß Sorge eine Eisdicke von 300 m, und auf dem oberen Kangerdluarsuk-Gletscher maß Loewe 600 m. Die nächste Station war beim Zeltplatz »am Bach« in 1250 m Seehöhe, schon weit auf dem Inlandeis. Hier maß Loewe eine Eisdicke von 750 m. Die letzte Messung, die wieder Sorge zufiel, wurde bereits im Firngebiet ausgeführt, nämlich, wie erwähnt, bei unserem neuen Zeltplatz »Abschied«, 45 km von »Scheideck« entfernt. Dies war der spannendste Teil der ganzen Unternehmung, weil bisher noch niemals, auch in den Alpen nicht, eine Dickenmessung im Firngebiet ausgeführt war und es von vornherein recht zweifelhaft war, ob der stark lufthaltige Firn die Erschütterungswellen genügend leitet. Hier mußten deshalb auch die größten Dynamitmengen verwendet werden, zumal man außerdem auch noch mit einer größeren Mächtigkeit rechnen mußte. Und unser Dynamitvorrat ging zu Ende! Es waren die letzten 13 ½ kg, mit denen die entscheidende Registrierung erhalten wurde!

Für Sorge waren das wohl die spannendsten Momente auf der ganzen Expedition. Alles war auf eine Karte gesetzt. 10 Sekunden vor der verabredeten Zeit begann er in dem dunklen Zelt in streng durchdachter Reihenfolge alle die sorgfältig vorbereiteten Handgriffe auszuführen, die nötig waren. Ein einziges Versehen, ein Fehlgriff im Dunkeln, und der Hauptzweck unserer Reise wäre vereitelt gewesen. Aber als alles auf die Sekunde genau ausgeführt war, das Uhrwerk lief und er beobachten konnte, wie der Lichtpunkt auf dem photographischen Papier genau zur erwarteten Zeit ins Zittern geriet, einmal, – das waren die direkten Wellen, – zweimal – Hurra, das waren die reflektierten, – dreimal – das waren die nachfolgenden Transversalwellen – da wäre er am liebsten mitsamt dem ganzen Zelt in die Luft gesprungen vor Freude und mußte sich zusammennehmen, um auch noch den Schall abzuwarten, der ganze fünf Sekunden hinterher geballert kam. Da wußte er, die Registrierung war geglückt. Und tatsächlich zeigte sich dann bei der Entwicklung des Papiers, daß alle Wellenzüge gut erkennbar und die Messung einwandfrei gelungen war.

Sie lieferte für die Dicke des Inlandeises an dieser Stelle den Wert 1200 m. Es war also nicht nur die erste im Firn geglückte Messung überhaupt, sondern sie ergab auch eine weit größere Eisdicke, als jemals zuvor gemessen war.

Daß das Inlandeis schon an dieser Stelle eine so große Mächtigkeit besaß, war überraschend. Die Eisoberfläche hatte ja hier erst eine Seehöhe von 1500 m. Das Land unter dem Eise konnte also nur 300 m hoch sein. Und das, obwohl das Küstenland, nur 50 km westlicher, sich über 2000 m erhob!

Was dürfen wir hiernach für das eigentliche Innere von Grönland erwarten? Es wäre keine geringe Überraschung, wenn sich etwa herausstellte, daß das Land im Innern Grönlands unter dem Meeresspiegel liegt! Aber natürlich besteht die Möglichkeit, daß unsere Messung gerade über einem tiefen Tal ausgeführt ist. Um dies zu entscheiden, muß eine viel größere Zahl von Eisdickenmessungen ausgeführt werden, wie wir sie für die nächsten Jahre planen.

Unsere Eisdickenmessungen hatten doch mehr Zeit beansprucht, als ich vorausgesehen hatte. Am 1. August waren wir mit unserem Zelt vom Fjord auf das Inlandeis übergesiedelt; und wir schrieben schon den 21., als wir den Zeltplatz »Abschied« erreichten, wo die letzte Messung gemacht wurde.

Die Fahrt dorthin war kalt, bei der Ankunft maß Georgi -18,5° C bei Schneefegen. Die tiefe Temperatur war mit wundervollen Luftspiegelungen nach oben verbunden, über den Küstenbergen erschien ihr umgekehrtes Bild, oft statt dessen auch nur Vertikalverzerrung. Diese Art der Spiegelung entsteht durch Temperaturumkehrung, d. h. wenn über einer unteren kalten Luftschicht schon in geringer Höhe wärmere Luft liegt. Ich habe in Nordostgrönland diese Spiegelung oft gesehen und auch photographiert. Die jetzige war von ungewöhnlicher Schönheit und wirkte malerisch durch die Beleuchtung der sich spiegelnden Berge. Sie standen als dunkelblaue scharfe Silhouetten gegen den leuchtenden gelbroten Abendhimmel.

Aprahams Gespann

Bei der vorgerückten Zeit war ich in Sorge wegen der weiteren Entwicklung unserer Unternehmungen. Mit den Eisdickenmessungen würden wir zwar fertig werden. Aber ich hätte gern nach Beendigung der Messungen noch einen Vorstoß nach Osten gemacht, und Tobias war schon zum 8. September bestellt.

Johann Davidson, unser Hundekutscher

Die Lösung aus diesem Dilemma war nur durch Teilung in zwei Gruppen möglich: Die Ostgruppe mußte, ohne die Messungen an der letzten Station erst abzuwarten, sofort weiterfahren, die Meßgruppe aber blieb beim Zeltplatz »Abschied« und machte zuerst in Ruhe die Messung dort fertig. Blieb dann für sie noch Zeit, so konnte sie sich noch andere Aufgaben stellen.

Das sah nun sehr einfach aus, hatte aber einen großen Haken: wir hatten nur einen Primus und Kochtopf und waren jetzt auch mit dem Zelt nicht auf eine solche Trennung eingerichtet. Ich wagte deshalb anfangs gar nicht, mit diesem Plan an die Öffentlichkeit zu treten. Als aber schließlich Georgi ganz von selbst davon anfing, hielten wir Kriegsrat, und der Vorschlag fand begeisterte Zustimmung. Ich muß gestehen, ich hatte dabei ein rabenschwarzes Gewissen. Es war ja klar, die Ostabteilung mußte aus drei Personen bestehen, Georgi, Johann und mir, und da wir in der Majorität waren, so mußte uns sowohl das schöne große Zelt wie der Primus zufallen. Die Meßabteilung – Loewe und Sorge – mußte sich mit dem schon sehr defekten kleinen Zweimannszelt begnügen, konnte allerdings später nach Beendigung der Sprengungen in das lichtdichte Apparatezelt übersiedeln. Viel schlimmer aber war das Fehlen eines zweiten Primus. Wir versuchten deshalb am Zeltplatz »Abschied«, einen einfachen Kochapparat für Petroleum zu bauen. Georgi gab die Konstruktion an, und Sorge fertigte ihn an. Das Probekochen zeigte zwar noch allerlei Mängel, aber es schien doch immerhin möglich zu sein, damit Essen zu kochen.

Im übrigen waren Loewe und Sorge unsere erfahrensten Alpinisten; sie blieben in der Randzone, wo die Temperatur nicht allzu tief sinken konnte, und sie behielten das am leichtesten zu behandelnde Hundegespann von Loewe. Diese Tatsachen ließen mich hoffen, daß sie den aus unserer Trennung entstehenden Schwierigkeiten gewachsen sein würden. Und der Erfolg hat mir auch recht gegeben.


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