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2. Kapitel. Mit Handschlitten auf dem Inlandeis

Unsere erste Schlittenreise auf dem Inlandeis sollte mit Handschlitten vor sich gehen. Ich hatte seinerzeit sowohl auf der Danmark-Expedition wie auf J. P. Kochs Expedition an Handschlittenreisen auf der Randzone des Inlandeises teilgenommen. Beiden Schlittenreisen war gemeinsam, daß wir schließlich die Schlitten nicht mehr weiter brachten und einen Gewaltmarsch ohne Ausrüstung machen mußten, um überhaupt dahin zu gelangen, wo wir hin wollten. In beiden Fällen wurde nur ein Schlitten benutzt, der von vier, bzw. von drei Mann gezogen wurde, und Zelt, Schlafsäcke und Kochgeräte waren die gleichen, wie sie auch bei Schlittenreisen mit Zugtieren verwendet wurden.

Diese Erfahrungen schienen mir zu beweisen, daß es bei Handschlittenreisen besser ist, wenn jeder Mann seinen eigenen Schlitten zieht. Man hindert sich dann gegenseitig nicht beim Ziehen, und das Gesamtgewicht eines Schlittens mit Last wird so gering, daß er nötigenfalls über kurze schwierige Stellen hinweg getragen werden kann. Bestärkt wurde ich in dieser Auffassung durch die alten Berichte über die erfolgreichen Handschlittenreisen von Jensen und Garde, bei denen diese Forderung so gut wie verwirklicht war. Außerdem mußte die Ausrüstung wesentlich leichter sein als die bei Verwendung von Zugtieren gebräuchliche. Schon die Schlitten durften nicht schwerer sein als gewöhnliche Rodelschlitten, und die größte Last, die zu ziehen war, durfte das Doppelte einer guten Traglast, also 50 kg, nicht überschreiten. Nach diesen Gesichtspunkten war also unsere Schlittenausrüstung zusammengestellt.

Der Aufstieg auf das Inlandeis sollte im nördlichen Teil der Diskobucht erfolgen. Als günstigste Stelle bot sich hier der Quervains-Hafen, Die ältere grönländische Bezeichnung ist Eke = Mundwinkel. wo im Jahre 1912 der Schweizer de Quervain seine berühmte Durchquerung nach Angmagsalik begann.

Seitdem haben viele Reisende, darunter auch manche Damen, diese verhältnismäßig leichte und ganz gefahrlose Aufstiegsroute auf das Inlandeis benutzt, um einmal den Blick über die endlosen Eisgefilde des Innern schweifen zu lassen. Hier sollten sich also meine Kameraden ihre ersten Lorbeeren als arktische Schlittenreisende verdienen. –

Auf der Diskobucht empfing uns grobe See, und im Ata-Sund mußte Georgi, wenn er, um Luft zu schnappen, den Kopf aus der Maschinenluke heraussteckte, scharf aufpassen, um nicht unversehens eine nasse Ohrfeige zu erhalten, denn der stürmische Nordwind jagte den Gischt vom Bug bis über das Heck der »Krabbe« hinaus. Es fror etwas, und bald hatten sich eine Eiskruste auf Deck und lange Eiszapfen an der Takelage gebildet.

Im inneren Teil des Fjordes kam der Motor auf die Idee, zu streiken, was bei der Landnähe und dem starken Wind etwas unbehaglich war. Es gelang uns aber, mit Hilfe des vorgespannten Moses die »Krabbe« so zu bugsieren, daß wir sie hinter einem schwach angedeuteten Felsvorsprung mit der großen Trosse am Land vertäuen konnten. Gleichzeitig ließ ich den Anker fallen, obwohl wenig Aussicht auf Ankergrund war, und überraschenderweise hielt der Anker.

Nach einer Viertelstunde hatte Georgi den Motor wieder im Gang, und wir konnten nun in dem stark eisgefüllten Fjord bis zu einer kleinen Bucht dicht vor Quervains Havn vordringen, wo wir die Nacht über liegen blieben. Wir maßen an diesem Abend acht Grad Kälte und mußten das Kühlwasser aus dem Motor ablassen, um ihn nicht zu zersprengen.

Landung des Gepäcks am Quervains-Havn

Wir hatten nicht die Absicht, schon jetzt unsere Schlittenreise anzutreten. Gewisse Teile unserer Ausrüstung erforderten vielmehr noch zeitraubende Vorbereitungen, die wir im Hafen von Ata zu erledigen gedachten. Aber es war wichtig für uns zu wissen, ob Quervains Havn bereits zugänglich war; in diesem Falle wollten wir dort gleich den Hauptteil unseres Gepäcks an Land bringen. Kamen wir dann das nächste Mal weniger weit, so konnten wir den Rest im Rucksack über Land hintragen.

Am nächsten Morgen waren die Eisverhältnisse im Fjord weit günstiger, denn der Wind hatte fast alles Eis herausgefegt. Wir kamen gut vorwärts und näherten uns rasch der immer großartiger aufwachsenden Eiswand des Ekip Sermia. Nur im innersten Teil des Fjords hatten neue Kalbungen die ganze Wasseroberfläche wieder dicht mit Eisbrocken und -Bergen bedeckt, die der Frost teilweise schon verkittet hatte, so daß wir uns nur ganz langsam vorwärtszwängen konnten. Zwei Mann standen mit Bootshaken vorn am Bug und stießen die größeren Eisstücke zur Seite. Alle Augenblicke mußte die Schraube abgestellt werden, damit sie sich nicht am Eis die Flügel abschlug.

So näherten wir uns Schritt für Schritt unserem Ziel. Das Wetter war prächtig, klar und still. Da machte mich Tobias auf die Berggipfel aufmerksam, von denen eigentümliche nebelartige Fahnen ausgingen. Das war Schneesegen! Sturm auf den Höhen! Da konnte es nicht mehr lange dauern, bis er zu uns herunterkam. Aber noch war ja hier alles still. Wenige 100 m trennten uns nur noch von unserem Ziel; wenn wir uns beeilten, so mußte es doch wohl noch glücken, unser Gepäck an Land zu bringen.

Wir hatten den Gedanken noch nicht ausgedacht, da war auch schon der Föhnsturm um uns. Wie ein fester Gegenstand warf er sich auf den Fjord. Wo er Wasser fand, verwandelte er den glänzenden Spiegel in tiefdunkle, mit Schaumperlen besetzte Wellen, deren Gischt in die Luft hinaufspritzte und sie diesig machte. Wo er aber Eis fand, schob er es wie ein Riesenbesen vor sich her. Heulend traf er die »Krabbe«, die sofort Fahrt nach Lee bekam.

Zum Überfluß liefen im gleichen Augenblick große Kalbungswellen unter uns durch; neu vom Gletscher abgelöste Eismassen verstärkten durch ihre Ausbreitungstendenz die auf uns zu gerichtete Bewegung des Eises. Und auf der anderen Seite, in Lee, lag ein fataler Landvorsprung, gegen den wir offenbar trieben.

Blankes Eis in der Randzone

Es galt schnell zu handeln. Die »Krabbe« war in Gefahr, von den andrängenden Eismassen aufs Land geschoben zu werden. Wir machten Kehrt und flohen.

Mit knapper Not glückte es, an dem Landvorsprung vorbeizukommen; hinter uns schloß ein großes Eisfeld, das gegen ihn getrieben wurde, die Falle. Aber wir waren ihr entronnen und hatten wieder Bewegungsfreiheit.

Doch wohin? Irgendwo in der Nähe wollten wir den immer heftiger werdenden Föhnsturm abwettern. Zunächst versuchten wir gleich in Lee des Landvorsprunges in der großen Bucht mit der Bachmündung zu bleiben. Wir brachten beide Anker aus und gingen mit der Maschine mit halber Kraft gegen den Sturm an. Aber die Anker hielten nicht, wir gerieten auf einer Sandbank auf Grund und kamen wieder frei, und schließlich gingen wir weiter zurück in die kleine Bucht, in der wir die Nacht gelegen hatten. Hier bissen wir uns mit Trosse und Anker am Lande fest.

Dabei hatten wir noch das Unglück, daß uns der »Moses« entglitt. Sofort hatte ihn der Sturm mit reißender Geschwindigkeit entführt und zwischen die Eisberge getrieben. Wir mußten wieder loswerfen und Jagd auf ihn machen. Aber es war nicht an ihn heranzukommen im Eise; schließlich pirschten wir uns von der Leeseite an den Eisberg heran, gegen den er getrieben war, Sorge stieg aus und ging über den Eisberg hinweg in den Moses, und nun glückte es endlich – nach mehreren vergeblichen Anläufen – den Ausreißer wieder an die Leine zu bekommen. Es war spät in der Nacht, als wir wieder an die Vertäuung gehen, den Motor abstellen und – bis auf die Nachtwache – in die Kojen kriechen konnten.

Nach dieser lebhaften Nacht fanden wir am nächsten Tage auch den inneren Teil des Fjordes fast ganz von Kalbeis gereinigt vor und gelangten daher ohne weitere Abenteuer an unser Ziel, wo wir Proviant, Petroleum und anderes Gepäck für unsere Schlittenreise an Land brachten.

Auf der Rückfahrt nach Ata hatten wir erst Schneefall und dann Nebel bei Windstille, wodurch die Einfahrt nach Ata zwischen den dicht gedrängten Eisbergen hindurch ungemein stimmungsvoll war. Niemals sind ja die Farben des Eises schöner als bei diffusem Licht. Alle Höhlungen im Eise erstrahlen dann in prachtvollem Blau, der unter Wasser liegende Eisfuß leuchtet so grün, daß einem die Augen übergehen, und diese ganze Pracht spiegelt sich in einem tintenfarbigen Meer. Wir waren mit unserem unerbittlichen Töff-Töff der einzige Störenfried in dieser Welt des Friedens.

Ata hat zwei Häfen, von denen der eine nur für Ostwind, der andere nur für Südwestwind taugt. Wir liefen in den uns nächsten östlichen Hafen ein, setzten damit aber auf die falsche Karte. Denn in der Nacht kam stürmischer Südwest auf, und wir mußten anheizen und zum westlichen Hafen hinübergehen. Auf der kurzen Zwischenstrecke stand bereits eine solche See, daß wir ziemlich naß in die Schlafsäcke kamen.

Die nächsten Tage galten sorgfältigen Vorbereitungen der Handschlittenreise. Eine genaue Liste aller mitzunehmenden Gegenstände bis zum Taschenmesser herab wurde aufgestellt, photographische Platten und Filme eingelegt und Schneereifen repariert. Letztere wollten wir wegen ihres geringen Gewichtes an Stelle von kanadischen Schneeschuhen und Skiern verwenden. Leider waren zwei Paar beim Transport nach Grönland zerbrochen und mußten gelascht werden.

Loewe bei der Eisbohrung

Außerdem benutzten wir den Aufenthalt, um in unserem bisher ballastlosen Boot soviel Steine einzunehmen, wie wir im Kielraum unter den Bodenbrettern unterbringen konnten, schätzungsweise 300–400 kg. Das war zwar immer noch zu wenig, aber doch besser als gar nichts. Der nächste Föhnsturm sollte die »Krabbe« nicht so leicht wie das letzte Mal wegblasen können.

Kaltes Wiedersehen beim Schneefegen an einem zusammengeschmolzenen Schneemann am Zeltplatz Hilde

Zwischen diesen Arbeiten kam uns die Idee, schnell noch dem Torsukatak-Eisstrom Großer Strom. einen Besuch abzustatten. Er ist der zweite unter den fünf großen Schnelläufern, die vom Inlandeise kommen, und der gleichnamige Eisfjord vor ihm ist den größten Teil des Jahres fast ebenso mit Eisbergen vollgestopft, wie der Jakobshavner. Wir hätten auch bei ihm gern die heutige Lage der Gletscherfront vermessen. Die Grönländer von Ata erklärten freilich, man könne noch nicht in den Eisfjord hinein, aber es war doch besser, sich selbst davon zu überzeugen.

Wir dampften also am Abend des 9. Mai aus dem Hafen von Ata heraus, und zwar diesmal nach Norden. Natürlich kamen wir nicht in den Eisfjord hinein, aber als wir gegen Morgen zurückkehrten, waren wir doch hochbefriedigt von diesem nächtlichen Husarenritt gegen den Torsukatak. Denn die Fahrt war herrlich und spannend gewesen. Wir fuhren an wundervollen Eisbergen vorbei bis zu den vier kleinen Inseln, die etwas südlich der großen Insel Kekertakasak Nutzlose Insel. liegen. Da der gewöhnliche Weg, der östlich um letztere herum geht, durch Eisberge blockiert war, probierten wir den westlichen. Da bekamen wir Interessantes zu sehen! Durch die flachen Durchlässe zwischen den kleinen Inseln setzt ein reißender Strom mit Wirbeln und Neerströmungen. Dabei loteten wir nur 8 m Tiefe. Aber etwas weiter, wo der Sund zwischen Kekertakasak und Arveprinsens Eiland sich verengt, mußten wir Halt machen. Große solide Eisfelder versperrten den Weg.

Wir hielten auf das Ostende von Kekertakasak zu; vielleicht konnte man diese Insel besteigen und einen Überblick bekommen. Aber wir endeten vor einem riesigen Wirbel, der die dichtgepackten Eismassen, darunter auch einen großen Eisberg, in schneller Fahrt im Kreise herumführte. Es war ein Anblick, der Staunen und Entzücken hervorrief. Auf der höchsten Spitze des Eisberges saß eine Möve und machte die Karussellfahrt kostenlos mit. Wir zogen es doch vor, diesem Wirbel, dessen Außenrand wir gerade berührten, aus dem Wege zu gehen, kehrten daher auf die andere Seite der kleinen Inseln zurück und bestiegen die eine derselben mit Namen Igdlutalik (= die Stelle, wo es Häuser gibt). Was wir von dort sahen, genügte, um uns für diesmal zum Aufgeben unseres Versuches zu veranlassen. In den Eisfjord war um diese Jahreszeit noch auf keine Weise hineinzukommen.

Daß wir, wie vorher beim Jakobshavner Eisstrom, nun auch beim Torsukatak »abgeblitzt« waren, bedrückte uns nicht. Noch war nicht aller Tage Abend, und man weiß ja, daß man bei hohen Herren meist antichambrieren muß. Vorläufig hatten wir einen prächtigen Himmelfahrts-Ausflug gehabt!

Am 11. Mai fuhren wir nun endgiltig nach Quervains Havn und erreichten diesmal unser Depot so gut wie ohne Hinderungen durch das Eis. Wir schafften den Rest unserer Sachen an Land und nahmen zum erstenmal Abschied von der »Krabbe«.

Von Ata hatten wir noch einen Grönländer mit an Bord, der Tobias helfen sollte, die »Krabbe« wieder dorthin zurückzubringen. Tobias selbst hatte sich inzwischen leidlich in die Bedienung des Motors eingearbeitet. Wir konnten vom Land aus zwar beobachten, wie ihm bei der Rückfahrt der Motor mehrmals stehen blieb, aber bei dem stillen Wetter brachte das keine Gefahr mit sich, und es gelang ihm auch bald, ihn wieder in Gang zu setzen. Er sollte vier Wochen bei Ata liegen bleiben und uns am 14. Juni wieder abholen.

Wir anderen waren nun wieder Landratten und wohnten in zwei kleinen Zelten, Georgi und Sorge in dem einen, Loewe und ich im anderen.

Unser Zeltplatz lag in einer prachtvollen Umgebung. Dicht vor uns stand die imponierende Eismauer des Ekip Sermia und bot im Laufe des Tages etwa fünfmal Gelegenheit, größere Kalbungen zu beobachten. Es war ein herrliches Schauspiel, wenn ein größerer Turm sich ablöste und nach vorn herüber fiel, beim Aufprall auf das Wasser, oft auch schon in der Luft in zahllose Brocken zerschellend. In einem Fall sahen wir das Fjordwasser bis über die Höhe der festen Eismauer hinaus aufspritzen, und wir eilten zum Ufer hinab, um unseren dort liegenden »Moses« vor den anstürmenden Kalbungswellen zu bergen. Wir waren froh, daß die »Krabbe« fort war; es wäre ihr wohl nicht gut bekommen. Jede neue Kalbungsstelle wurde von zahllosen Möven umkreist, die die aus dem Schlamm aufgewühlten Fische herauspickten. Die Brocken und Eisberge, die sich gebildet hatten, breiteten sich, die Wasseroberfläche ziemlich lückenlos bedeckend, halbkreisförmig aus, zum Teil mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Georgi hätte gar zu gern Kino-Aufnahmen von diesen Kalbungen gemacht. Aber wir konnten dieser Aufgabe nicht genügend Zeit opfern, und der Gletscher war nicht so freundlich, in den relativ kurzen Zeiträumen, in denen die Kamera zur Aufnahme bereit stand, uns eine Vorführung zu geben.

Unsere erste Aufgabe bestand darin, unser ganzes Gepäck die 8-10 km über Land bis zum Rande des Inlandeises hinaufzutragen, der in dieser Gegend in 500-600 m Seehöhe liegt.

Unsere Vorgänger pflegten bei diesem Anmarsch Grönländer als Träger zu benutzen. Aber unsere Ausrüstung war so leicht, daß wir ohne diese Hilfe auskamen, wenn wir uns Mühe gaben. Unsere Daunenschlafsäcke wogen z.B. mitsamt dem abnehmbaren wasserdichten Bezug nur je 2,4 kg, die Zweimannszelte mit Stöcken und wasserdichter Unterlage je 2,6 kg, die beiden norwegischen Skischlitten je 8 und unsere beiden in Berlin gebauten Korbschlitten – mit Zugleine, Gepäcknetz und Zurr-Riemen – sogar nur je 4,5 kg. Ich glaube, das sind Gewichte, die schwer zu unterbieten sind! Das Hauptgewicht bildete freilich unser auf vier Wochen berechneter Proviant. Und davon ließ sich leider nichts abzwacken.

Zum Graben im Schnee hatten wir die aus Dural gefertigte sogenannte Bernina-Schaufel, die neuerdings im alpinen Skisport eingeführt ist. Als Steigeisen hatten wir die kleinen Grödeln. Die Schneereifen waren schon erwähnt. Wir führten weder Küchenkiste noch Proviantkiste mit und brauchten sie auch nicht, da wir Primus, Kochtopf, Becher und Konservenbüchsen einfach in das Gepäcknetz legen konnten, das an den Korbschlitten fest angebracht war.

Auch bei unseren Instrumenten hatten wir auf größte Leichtigkeit gesehen. Ein winziger Taschensextant englischer Herkunft diente zu den astronomischen Ortsbestimmungen; der künstliche Horizont wurde improvisiert, indem wir etwas Petroleum auf eine Konservenbüchse gossen. Für Peilungen hatten wir das Sitometer von Büchi in Bern, ein richtiges Westentaschen-Instrument, das sogar auch Neigungen zu messen gestattete. Das kleine Prismenglas, achtmal vergrößernd, von J. D. Möller-Wedel (Holstein), zeichnete sich ebenfalls durch geringes Gewicht aus, ebenso die bekannte kleine Leica-Kamera von Leitz-Wetzlar.

Im übrigen hatten wir vor, noch manche anderen Dinge, deren Brauchbarkeit nicht ohne weiteres feststand, auf dieser Schlittenreise zu erproben, wie z.B. Benzin-Primus, Amundsen-Pemmikan u.a. Ich glaube, die Eisaxt war so ziemlich das einzige Ausrüstungsstück, das wir als erprobt betrachten konnten.

Das Hinauftragen des Gepäcks war schwere Arbeit. Durch zwei Erkundungsgänge legten wir zuerst den kürzesten Weg fest, der geradlinig nach Osten zum Inlandeis führte. Dann schafften wir durch viermaliges Hin- und Hergehen unser Gepäck bis zu einem See hinauf, der in 430 in Höhe lag. Ich trug am wenigsten, nämlich anfangs 18, zuletzt 22 kg auf dem Rücken, Sorge, unser stärkster Mann, trug bis zu 30 kg. Bei der untersten Steilstufe des Landes waren auch einige unangenehme Kletterstellen zu bewältigen. Wir brauchten bis zu diesem Depot hinauf meist 4½, zurück 1½ Stunden.

Recht hinderlich waren bei diesen Gängen die fast unausgesetzten Föhnstürme, durch die die Kletterstellen manchmal geradezu gefährlich wurden. Es scheint wirklich, als ob Quervains Havn hinsichtlich der Windstärke etwas übernormal ausgestattet ist. Besonders beschwerlich war der letzte Gang, bei dem wir unsere Schlafsäcke und Zelte mitnahmen. Es war nicht leicht, die hochgetürmten Lasten gegen den wütenden Föhnsturm vorwärts zu bringen. Hatten wir zwei Schritte vorwärts gemacht, so packte uns der Sturm und warf uns wieder einen Schritt zurück. Diesmal dauerte der Aufstieg zum Depot doppelt solange wie sonst.

Vom Depot aus ging es leichter. Schneereste und die noch teilweise zugefrorenen Seen auf der weiten, schwach modellierten Hochebene gestatteten, von hier ab Schlitten zu benutzen. Freilich war die Schlittenbahn verschiedentlich durch lange schneefreie Landstrecken unterbrochen. Aber da zeigten sich die Vorzüge der kleinen Schlitten; wir konnten sie, ohne abzuladen, einfach hinübertragen. Zwei Mann waren stets ausreichend, um einen Schlitten zu tragen, ja meine Kameraden nahmen schließlich einfach jeder seinen Schlitten auf den Rücken und gingen mit ihm spazieren.

Obwohl diese Strecke viel länger war, konnten wir so unser gesamtes Gepäck, etwa 350 kg, in zwei Fahrten mit je vier Schlitten vom Depot bis zum Rande des Inlandeises schaffen. Am 18. Mai abends hatten wir alles oben.

Der Anmarsch war beendet; nun konnte die eigentliche Schlittenreise beginnen.

Wir errichteten ein Depot am Eisrande und dann ging es – am Abend des Pfingstsonntags – mit halber Last auf den Schlitten und Steigeisen unter den Füßen auf das Inlandeis. Die steile Schneewehe bis zum Eisrande hinauf überwanden wir kriechend auf allen Vieren. Das ging glänzend und zeigte so recht, wie benachteiligt der Mensch als Zugtier gegenüber den Vierfüßlern ist. Und dann kamen wir auf das Inlandeis.

Wem sich zum erstenmal der Blick über die weiße Eisfläche erschließt, der fühlt etwas Weihevolles. Es ist ein feierlicher Augenblick. Vielleicht ist es der restlose Sieg einer einzigen Naturkraft über alles andere, die Überwältigung des Erdbodenreliefs durch die Eisüberschwemmung, die uns packt; vielleicht ist es auch nur das, daß der Blick, bisher gehemmt durch schroffe Felswände, plötzlich haltlos in die Ferne irrt wie beim Meere. Man fühlt sich Aug in Auge mit der Unendlichkeit und wird stumm und klein.

Das Inlandeis steigt hier wie überall mit nach innen allmählich sanfter werdender Neigung an; aber der Anstieg ist nicht gleichmäßig, sondern vollzieht sich in Wellen, so daß etwas steilere Zonen mit ungefähr horizontalen abwechseln. Aus dem bloßen Anblick kann man nicht entscheiden, ob dieser stufenähnliche Aufbau noch durch das darunterliegende Bodenrelief bedingt ist oder einen eigenen Charakterzug des Inlandeises darstellt. Die etwa 30 km breite Randzone besteht aus Eis, das bei genauerer Betrachtung mit zahllosen, aber unzusammenhängenden Luftblasen erfüllt ist. Hier gibt es Spalten, Schmelzknollen, Mittagslöcher, Oberflächenbäche und -Seen, hier herrscht kein Mangel an photographischen Motiven. Obwohl auch dies Eis sehr weiß ist, sieht es doch gegen den Schnee nur grau, oft bläulichgrau oder auch grünlichgrau aus. Zur jetzigen Jahreszeit fanden wir schon nahe dem Rande größere zusammenhängende Flächen von Winterschneeresten, und je weiter wir ins Innere vordrangen, umso kleiner und seltener wurden die dunkleren Stellen mit aperem Eis. Im Laufe des Sommers verschwinden aber auf diesem Gebiet alle Schneereste, denn in der Randzone überwiegt die Abschmelzung.

Hat man aber die Firngrenze überschritten, so gibt es nur noch Schnee und wieder Schnee, auf viele Hunderttausende von Quadratkilometern. Hier ist der Wind Alleinherrscher, der stets vom Innern der riesigen Schneekappe nach außen weht. Er versieht die Schneeoberfläche mit der zarten moiréartigen Modellierung der Schneewehen, den sogenannten Sastrugi, in unendlicher Mannigfaltigkeit und doch Einförmigkeit.

Und doch kann diese Schneewüste dem Auge des Beschauers je nach der Beleuchtung die verschiedenartigsten Eindrücke gewähren. Wenn der Fegeschnee mit leisem Zischen über die endlose Fläche dahinzieht, – meist bei wolkenlosem Himmel und ungehinderter Sonne, – so erglänzt die niedrige fließende Schicht in einem eigenartig weichen Seidenglanz. Bei halb bedecktem Himmel liegen tiefblaue scharfe Wolkenschatten auf der weißen Fläche und täuschen Höhenzüge oder gar Land vor. Bedeckt eine gleichmäßige verwaschene Wolkenschicht den Himmel, so verschwindet in dem diffusen Licht das ganze Windmuster auf dem Schnee, und seine Oberfläche gleicht zum Verwechseln der grauen Himmelsfläche, nur die Horizontlinie bildet noch eine Grenze zwischen oben und unten. Senkt sich aber die Wolke zum Boden herab, so verschwindet im Nebel auch der Horizont, und man ist allseitig von grauer Unendlichkeit umgeben. Und im Schneesturm existieren nur noch die nächsten fünf Meter um den Beobachter, alles übrige ist eine fremde Welt, von der er nichts weiß und die ihn nichts angeht.

Solange man noch nicht zu weit von der Küste entfernt ist, bringen auch die Küstengebirge noch Abwechslung in die Bilder. So, wenn elegante Föhnwolken in Form von Hinderniswogen über ihnen stehen, oder wenn die neckische Luftspiegelung nach oben sie wie im Vexierspiegel verzerrt, auf den Kopf stellt und vervielfältigt.

Erst ganz im Innern, in mindestens 250 km Abstand vom Rande, ändert sich nochmals der Charakter der Landschaft. Mit dem Wind verschwinden hier die Sastrugi, und die Schneeoberfläche wird so eben wie ein Tischtuch; leichter Nebel umgibt ständig den Beobachter, erzeugt einen Moosteppich von Reif auf der Schneeoberfläche und in der Luft Nebensonnen, die Temperatur sinkt auf unerhörte Tiefen, und der Reisende wird erschreckt durch das ruckartige Zusammensinken ausgedehnter Schichten des hier sehr lockeren Schnees, den »Firnstoß«. Vor 16 Jahren hatte ich dies zentrale Gebiet mit J. P. Koch durchquert. Diesmal wollten und konnten wir nicht so weit vordringen.

Mit unserem ersten Marsch hatten wir Glück: rechts Brüche, links Brüche, aber da, wo wir hin wollten, war immer alles glatt. Wir gingen erst nach Osten, um vom Rande frei zu kommen, und dann nach Nordosten, wohin unser Vorstoß überhaupt gehen sollte. Nach 7-½ stündigem Marsch legten wir unsere Last in 12 km Abstand vom Eisrande nieder und kehrten sofort zum Ausgangspunkt zurück, so daß wir im ganzen 24 km zu gehen hatten.

Während des Marsches sahen wir zum erstenmal die Sonne auch um Mitternacht noch über dem Horizont. Wir benutzten nach Möglichkeit die Nachtstunden zum Marsch, weil dann die Bahn besser war als bei der stärkeren Sonnenstrahlung am Tage.

Bevor wir die zweite Hälfte unseres Gepäcks nachzogen, führten wir noch auf dem Eisrande eine Bohrung zur Messung der jährlichen Abschmelzung aus. Professor Martienssen in Kiel hatte uns für diesen Zweck mit einem besonders leichten Bohrgerät ausgerüstet, das für Bohrungen bis vier oder fünf Meter Tiefe berechnet war und sich vortrefflich bewährt hat. In diese Bohrlöcher wurden dann als Maßstäbe Metallröhren von 1 m Länge übereinander gestellt, die im Lauf der Zeit herausschmelzen und umfallen sollten; teilweise wurden statt dessen auch Bambusstangen in die Bohrlöcher gesteckt, an denen dann die augenblickliche Lage der Eisoberfläche markiert wurde. Solche Abschmelzstationen sind natürlich ein Wechsel auf die Zukunft. Denn die Ablesung kann erst übers Jahr vorgenommen werden!

Mit unserem ersten Bohrloch hatten wir kein Glück. Wir waren sehr befriedigt, als wir am Vormittag des 20. Mai eine Tiefe von 3,50 m erreicht hatten und die Bohrung für beendet erklären konnten. Aber wir versäumten leider, sofort die Maßstäbe zu versenken. Als wir dies abends besorgen wollten, hatte sich das Loch über Mittag mit Wasser gefüllt und war dann bis zum Boden gefroren. Da war nichts zu machen, wir mußten es aufgeben, und um nicht die Nacht als Marschzeit zu verlieren, beschlossen wir, die Wiederholung bis zur Rückkehr Anfang Juni zu verschieben.

Sorge in der Gletscherspalte

In dieser Nacht brachten wir den Rest unseres Gepäcks bis zu unserem Depot. Wir nannten den neuen Zeltplatz »Konkordia«, weil wir hier probeweise versuchten, unsere beiden Zelte Wand an Wand zusammenzubinden.

Auch hier führten wir eine Abschmelz-Bohrung aus, und diesmal glückte sie. Loewe war Bohrmeister. Das Bohrloch wurde 3,90 m tief, und es wurde eine unten beschwerte Bambusstange versenkt, deren oberes Ende noch gerade 40 cm herausragte.

Das Bohren dauerte etwa vier Stunden. Unser Schneckenbohrer schnitt vorzüglich. Schwierig war es nur, die Bohrspäne herauszubekommen. Im obersten Teil, wo das Eis durchfeuchtet war, hafteten die Späne genügend zusammen, um mit dem Schneckenbohrer, in dessen Windungen haftend, herauszukommen. Aber von etwa 1 m Tiefe ab wurde das Bohrmehl ganz trocken und fiel beim Hochziehen des Bohrers in das Loch zurück. Wir halfen uns durch Anfeuchten des Bohrmehls, indem wir von Zeit zu Zeit etwas Wasser in das Loch hineingossen. Nur mußte man achtgeben, daß der Bohrer nicht im Loch zur Ruhe kam, sonst fror er fest.

Die Schneemauer wird errichte

Außer der Bohrung hatten wir noch eine andere zeitraubende Arbeit beim Zeltplatz zu leisten: wir bauten einen möglichst hohen Schneemann, der uns bei der Rückreise die Wiederauffindung dieser Stelle erleichtern sollte.

Diese Arbeiten nahmen allerdings soviel Zeit in Anspruch, daß wir mehr als 24 Stunden zur Erledigung unseres Tagesprogramms brauchten, und wir kamen daher von »Konkordia« nicht zur gleichen Zeit fort wie am Tage vorher. Unglücklicherweise wurde auch noch beim Loseisen der am Boden angefrorenen Zelte das eine so beschädigt, daß wir es erst nähen mußten. Es war schon gegen Morgen, als wir endlich abmarschieren konnten.

»Konkordia« lag nach Angabe unseres Barometers schon in 860 in Seehöhe. Wir hatten die größte Steigung und die größten Schwierigkeiten bereits hinter uns. Von hier ab mußten wir daher mit voller Last weitergehen können. Und es ging! Ja es ging ausgezeichnet! Denn da wir noch einiges Entbehrliche bei »Konkordia« zurücklassen konnten, hatte schließlich jeder von uns nur noch 45 kg auf dem Schlitten. Mit diesem Gepäck legten wir in 7-1/2 Stunden 12 km zurück, alles noch auf Steigeisen.

Die Handschlitten-Karawane

Unterwegs mußten wir nun auch die Marschlinie markieren. Wir errichteten deshalb alle 2000 Schritte, die etwa einem Kilometer entsprachen, einen kleinen Schneemann, nur aus wenigen übereinander geschichteten Blöcken bestehend, die eins, zwei, drei mit der Bernina-Schaufel aus dem Boden gestochen wurden. Wir hatten Markierungspapier von Schuster mit und legten in jeden Schneemann einen solchen roten Zettel, auf dem wir Nummer und Abstand vom letzten Zeltplatz notierten. Ob wir beim Rückweg hiervon Nutzen haben konnten, war zwar zweifelhaft, aber jedenfalls war das ein Mittel, um uns bei der Zählung der Kilometer nicht zu verheddern. Das Bauen dieser kleinen Schneemänner dauerte nur fünf Minuten, und eine Pause mußte man ohnehin von Zeit zu Zeit machen.

Steil hinauf mit halber Last

Zur Schrittzählung hatten wir, ohne große Erwartungen, das bekannte taschenuhrartige Instrument mitgenommen, und wie so viele andere vor uns stellten auch wir fest, daß man besser tut, auf seine Angaben zu verzichten. Durch hartnäckige Fortsetzung der Ablesungen glaubten wir schließlich zu erkennen, daß das Instrument selber sozusagen unschuldig war, aber daß man infolge der eigentümlichen Körperbewegung beim Ziehen der Schlitten keine brauchbare Stelle am Körper finden kann, an der man das Instrument anbringen kann. Entweder spricht es gar nicht an oder es registriert für jeden Schritt zwei.

Also was tun? Selbst zählen? Die Aussicht, drei Wochen lang ununterbrochen zu zählen, erschien mir wahnwitzig. Selbst wenn wir uns einteilten, ging es nicht. Ich hätte nicht bis 500 zählen können, zumal während meiner Tätigkeit als Zugtier. Unser Itinerar war im Begriff, zusammenzubrechen. Wir schienen ohne Besteckrechnung in der Wüste herumirren zu müssen. Was uns allein retten konnte, war ein Zählgenie. Und siehe da, es zeigte sich, daß ein solches vorhanden war. Loewe zählte schon längst, bevor es nötig war. Wir merkten gar nichts davon, denn er unterhielt sich lebhaft mit uns über alles mögliche, und dabei zählte er innerlich weiter – oder es zählte in ihm. Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche. Loewe zählte, Essen- und Schlafpausen abgerechnet, praktisch fast ununterbrochen drei Wochen lang, immer von Null bis Zweitausend in unendlicher Wiederholung. Beim Umkehrpunkt war er insgesamt bis auf 294000 gekommen, und dazu kam dann noch der Rückweg, bei dem wieder auf weite Strecken Schritte gezählt werden mußten. Es wurde mancher Scherz darüber gemacht, und Loewe war so freundlich, niemals einen solchen übelzunehmen. In Wirklichkeit habe ich ihn außerordentlich bewundert wegen dieser Fähigkeit, die natürlich in erster Linie auf Anlage zurückgeht, aber auch bewußt von ihm gefördert worden ist durch automatisches Schrittzählen im Laufsport.

Auf dem heutigen Marsch machten wir zum erstenmal Bekanntschaft mit verdeckten Spalten. Freilich waren es nur etwa fußbreite, so daß wir ihnen kaum Beachtung schenkten. Wir hatten auch eine breite Schmelzhöckerzone zu durchqueren.

Den neuen Zeltplatz nannten wir »Hilde«. Wir kamen nämlich auf den Gedanken, an Stelle der trockenen Zahlen Namen für unsere Zeltplätze einzuführen, und zwar die unserer Kinder und Frauen. Das hätte zwar leicht zu Verwicklungen führen können, aber glücklicherweise erwies sich die Anzahl unserer Zeltplätze als ausreichend. »Hilde« lag 1050 m über dem Meere. Auch hier wurde natürlich ein großer Schneemann gebaut und eine Abschmelzungsbohrung gemacht.

Bei der Bohrung gab es einen Schreckschuß. Der Bohrer war plötzlich festgefroren. Nur wenige Augenblicke hatten wir ihn unbewegt im Loch stehen lassen, und schon war das Unglück geschehen. Zum Überstuß brach bei den gewaltsamen Versuchen, ihn herauszubringen, ein aus Holz improvisierter Bolzen, durch den das Gestänge an den Bohrer angeschlossen war, so daß wir nun überhaupt die Verbindung mit dem Bohrer verloren hatten. Glücklicherweise lag das obere Ende des Bohrers erst etwa einen Meter unter der Eisoberfläche. Wir streuten Salz hinein, hackten das Eis mit der Axt soweit auf, daß wir wieder an das Ende des Bohrers herankonnten, setzten wieder das Gestänge auf, diesmal mit dem zugehörigen Eisenstift, und atmeten auf, als es schließlich gelang, den Bohrer wieder zu drehen. Wir konnten sogar das Bohrloch weiter benutzen. Nur den Pemmikan mußten wir diese Woche ungesalzen essen.

Ich hatte Sorge, als wir weiter zogen, die Führung unseres Itinerars übertragen, und er arbeitete, als erster gehend, jetzt ständig mit dem hierzu vorzüglich geeigneten Sitometer. Es war auch heute ohne Kompaß schlecht auszukommen, denn die Sonne war nicht oft zu sehen. Es schneite während des ganzen 9½ stündigen Marsches, es schneite, als wir nach Zurücklegung von 12 km an unserem neuen Zeltplatz »Käte« unser Lager aufschlugen, und es schneite noch immer, als wir wieder von hier aufbrachen. Bei der hohen Temperatur wurde in unseren kleinen Zelten alles naß. Das war unangenehm, aber es gehört nun einmal mit zum Polarfahren. In anderer Hinsicht war uns das Grauwetter freilich willkommen. Denn vom gestrigen Sonnenbrand fingen unsere Gesichter trotz Schusters Gletschersalbe bedenklich zu brennen an.

Wenn das Wetter nicht für Abwechslung gesorgt hätte, so wären diese Marschtage wohl sehr einförmig verlaufen. Von dem Hochdruckwetter der Inlandeis-Antizyklone merkten wir auf dieser Reise sonderbarerweise nur wenig. Fast jeder Tag brachte Niederschlag.

Schneemann am Zeltplatz »Lotte«. Eine Bambusstange wird in das Bohrloch versenkt

Der nächste Tag führte uns in 12 Stunden 15 km weiter bis zum Zeltplatz »Lotte«. Wegen des weichen Neuschnees benutzten wir diesmal alle mit bestem Erfolg Schneereifen, die also heute sozusagen ihre Einführung in die Grönlandforschung feiern konnten. Denn wenn ich nicht irre, sind sie noch niemals früher auf dem Inlandeis benutzt worden. Während des Marsches klarte der Himmel auf; anfangs hatten wir noch Schneefall, dann bei sinkender Temperatur Schneefegen. Bei Lotte, in 1330 m Seehöhe, machten wir unsere letzte Abschmelzbohrung. Aus der lockeren Struktur des Eises ging hervor, daß wir hier sehr nahe an der Grenze des randlichen Abschmelzgebietes waren, in dem die Abschmelzung über den Zuwachs überwiegt. Der nächste Zeltplatz mußte schon im Firngebiet liegen, wo Zuwachs herrscht.

Infolge der übergroßen Länge unserer Tagesarbeit waren wir allmählich mit den Tageszeiten in Unordnung gekommen. Der Marsch von »Käte« nach »Lotte« fand bereits am Tage statt. Um wieder die Nacht als Marschzeit zu gewinnen, mußten wir bei »Lotte« einen halben Ruhetag einlegen.

Außerdem legten wir hier ein Depot an, weil wir nun das Bohrgerät nicht weiter brauchten. Wir hinterließen hier auch einige Lebensmittel und einen Photographieapparat. Nun waren wir freilich genötigt, diesen Platz unter allen Umständen beim Rückweg wieder aufzusuchen; das Wiederfinden konnte aber hier, in 51 km Abstand von unserem Aufstiegspunkt und ohne Sicht der Küstenberge, bei ungünstigem Wetter wohl Schwierigkeiten machen. Es hing alles von den Schneemännern ab.

Unsere Zelte machten uns Sorge. Die kleinen Zweimannszelte gehörten zu den Dingen, die wir mit Rücksicht auf unsere Pläne für das nächste Jahr erproben wollten. Ihre Form war nahezu die gleiche wie die von Schusters Hochtouren-Zelt. Aber es zeigte sich, daß diese Bauart für Reisen auf dem Inlandeis, wo man mit ständigem Schneefegen rechnen muß, nicht die richtige ist. Die Luvwand ist zu niedrig; die Schneewehe, die sich vor jedem Hindernis in Luv bildet, wächst infolgedessen in kurzer Zeit aufs Dach hinauf und droht es einzudrücken. Auch waren die Zelte überhaupt etwas zu zart, um den Tag für Tag wiederkehrenden Vereisungen standzuhalten, und namentlich der gummierte Dachstoff wurde stark angegriffen.

Am 25. Mai abends brachen wir wieder auf. Die Schlittenbahn war bei 5 cm Neuschnee die denkbar schlechteste, aber wir hatten die Schlittenkufen gewachst und dank der Leichtigkeit unseres Gepäcks kamen wir doch gut vorwärts.

Anfangs hatten wir Schneefall, und als dieser aufhörte, kam Nebel. Da war das Einhalten des Kurses schwierig. Es glückte schließlich durch den leichten Südostwind, der uns beim Gehen die Himmelsrichtung festhalten half.

Einmal trat ich mit dem linken Schneereifen in eine verdeckte Spalte, die hierfür gerade groß genug war, und Georgi, der seine Anlage zum Berufsphotographen jetzt ungehemmt entwickelte, bekam mich auf die Platte, noch ehe ich heraus war. Auch Sorge trat einmal durch. Wir gingen aber trotzdem ohne Seil, weil die Schneereifen doch schon eine gute Sicherung boten und die Schneedecke über dem Eise jetzt auch dicker wurde.

Nachdem wir in 11 Stunden 15 km zurückgelegt hatten, schlugen wir unsere Zelte beim Lager »Hans« in 1520 m Seehöhe auf. Bei einer Aufgrabung fanden wir hier unter 1 m Jungschnee, der offenbar vom letzten Winter stammte, eine alte, vereiste Firnoberfläche. Das Korn war aber auch in diesem Firn noch sehr fein, der Firn konnte also erst ein Jahr oder höchstens einige wenige Jahre alt sein. Daraus ging hervor, daß wir uns hier, wie zu erwarten, bereits im Firngebiet befanden, wo jährlicher Zuwachs die Regel ist.

Als wir am 26. abends wieder aufbrachen, war es bitter kalt. Wir schätzten die Temperatur auf unter – 20°C. Messen konnten wir sie zu unserem Schmerz nicht, denn das einzige Thermometer, das wir mitgenommen hatten, war ausgerechnet am Tage, bevor wir aufs Inlandeis kamen, zerbrochen. Natürlich hatten wir beabsichtigt, noch ein Reservethermometer mitzunehmen, aber unglücklicherweise hatte sich dies in den unergründlichen Verstecken auf der »Krabbe« so verkrochen, daß wir es nicht hatten auftreiben können. Solange die Temperatur hoch war, bot das Beithermometer unseres Aneroids einen leidlichen Anhalt. Aber leider gestattete dies nur Messungen bis – 5°. Dies war ausreichend für die barometrische Höhenbestimmung, aber auf Kälterekorde mußten wir also verzichten.

Infolge der tiefen Temperatur war der Schnee hart, wir konnten ohne Schneereifen gehen und kamen schnell vorwärts. Bald setzte allerdings Schneefegen ein, dann begann es noch zu schneien, und gegen Ende des Marsches hatten wir richtigen Schneesturm. Die Temperatur war wieder auf etwa – 4° gestiegen.

Unsere empfindlichen Zelte dem Sturm und Schneefegen auszusetzen, erschien uns bedenklich. Wir machten eine Probe, indem wir das eine Zelt aufschlugen und darin unseren Pemmikan kochten. Aber es war fürchterlich! Mit unglaublicher Schnelligkeit wuchs auf der Luvseite die Schneewehe aufs Dach hinauf und drückte das Zelt mehr und mehr zusammen. Es war klar, so ging es nicht. Wir hatten aber schon auf dem Marsch unseren Beschluß gefaßt. Auf Georgis Vorschlag führten wir eine Mauer aus Schneeblöcken von gleicher Höhe wie die Zelte auf, und hinter diese Mauer stellten wir dann beide Zelte, den Eingang gegen den Wind, d. h. also gegen die Mauer gerichtet.

Bei der Gleichförmigkeit, die der Wind auf der glatten Inlandeisfläche zeigt, standen die Zelte hinter dieser Mauer vollkommen ruhig; durch den Sog wurde ihr Dach sogar etwas angehoben, so daß der Innenraum vergrößert wurde. Der ständige Fluß des Fegeschnees wurde durch die Mauer gespalten und fast völlig von den Zelten ferngehalten. Wir befolgten daher diese Methode auch bei allen künftigen Zeltplätzen, nur veränderten wir jedesmal die Form der Mauer und die Stellung der Zelte dahinter, um das Günstigste herauszufinden.

Diesen Zeltplatz nannten wir »Sturm«. Er lag 1710 m über dem Meere.

Infolge des Schneesturmes kamen wir von diesem Lager erst am 28. Mai mittags fort. Auch diesmal hatten wir wieder das Unglück, beim Loseisen der eingefrorenen Zelte in das eine einen mehrfachen Riß von einem halben Meter Länge zu reißen. Und wir gingen doch so vorsichtig zu Werke! Das gab wieder stundenlange Näharbeit vor dem Abmarsch, natürlich im Freien und bei – 5°!

Am Nachmittag hörte das Schneefegen auf. Der Wind pflegte überhaupt gegen Morgen am stärksten und nachmittags am schwächsten zu sein. Diese tägliche Periode hängt in einfacher Weise mit der Entstehung des Windes zusammen: die auf dem Inlandeise abgekühlte Luft fließt, der Schwere folgend, zur Küste hinab, und die Bewegung ist deshalb in der Regel am stärksten zur Zeit des täglichen Minimums und am schwächsten zur Zeit des Maximums der Temperatur.

In dieser Zeit, wo der Wind nur gerade nicht mehr ausreichte, um Schneefegen zu erzeugen, bot sich uns ein fesselndes Schauspiel. Im Grunde fehlte es dem Wind ja nur an genügend leicht beweglichem Material auf der etwas verharschten Schneeoberfläche. Solches lieferte ihm aber unsere Karawane durch Zertreten der Schneekruste. Und die Folge war ein langer, langer Streifen Fegeschnee, der von uns ausging und in der Sonne glitzernd leewärts bis in endlose Fernen zu verfolgen war.

Auf Schneereifen mit 45 Kilo Maximallast

Kurz darauf näherten wir uns einer eigentümlichen verwaschenen Fläche, die unter den Strahlen der Mitternachtssonne einen wundervollen rotgoldenen Glanz zurückwarf. Was war das? Prachtvoll sah es aus! Nach wenigen Schritten kamen wir hinein. Es war Schneefegen, eine nur ½ m hohe Schicht mitfließenden Schnees, die für den Anblick aus der Ferne wie eine dünne Watteschicht über der festen Schneeoberfläche lag und sie verhüllte. Nach kurzer Zeit gesellte sich zu dem fegenden auch noch fallender Schnee, und es entwickelte sich ein neuer Schneesturm.

Aber wir hielten durch, bis wir in 14 Marschstunden 21 km zurückgelegt hatten. Dann erst schlugen wir unsere Zelte hinter einer schützenden Schneemauer auf. Hier, beim Zeltplatz »Gerda«, waren wir nach unserer Besteckrechnung schon 103 km vom Aufstiegspunkt entfernt und befanden uns 1820 m über dem Meere. Hier bekam Sorge auch die ersten brauchbaren astronomischen Ortsbestimmungen mit unserem Taschensextanten.

Sorge geht mit seinem Schlitten spazieren

Immer dringender meldete sich die Frage, ob ein weiteres Vorgehen nicht mit zu großem Risiko verbunden sein würde. Wir hielten deshalb einen Kriegsrat ab und besprachen die Lage.

Die Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, war ja erfüllt. Wir hatten die Randzone, das Gebiet vorherrschender Abschmelzung, ganz durchstoßen und befanden uns längst im Firngebiet. Und andererseits mahnte manches zur Vorsicht. Sorge, Loewe und jetzt auch Georgi hatten sich durch den Druck der Schneereifengurte Blasen gelaufen. Loewe hatte infolge nasser Handschuhe alle Fingerspitzen der einen Hand, wenn auch nur sehr leicht, erfroren. Alle unsere Sachen waren bei dem dauernd schlechten Wetter naß geworden, und wir sahen auch keine Möglichkeit, sie zu trocknen. Ein ebenso schmerzhaftes wie hinderliches Übel hatte sich bei uns allen eingestellt, indem die Haut auf den Fingerspitzen tiefe, bis ins Fleisch gehende Risse bekommen hatte. Ferner befanden sich unsere Schneereifen in trauriger Verfassung und erforderten fortwährende Reparaturen während des Marsches und auch auf den Zeltplätzen. Besonders bedenklich waren wir natürlich wegen der Zelte. Die Bauart erwies sich zwar bei der jetzigen Anordnung hinter der Mauer als ausreichend, aber der Stoff war offenbar zu zart, um den täglichen Vereisungen standzuhalten. Wir mußten wohl darauf gefaßt sein, daß unsere Zelte noch während der Reise ganz unbrauchbar werden konnten. Über diese Schwierigkeit half uns wieder Georgi, indem er kurzerhand zur Probe ein Schneehaus nach Eskimo-Art baute. Es war zwar sehr klein, aber wir gewannen doch die Überzeugung, daß es uns im Notfall gelingen würde, auch ohne Zelte auszukommen. Und allen übrigen Bedenken stand die Tatsache gegenüber, daß wir noch Zeit und Lebensmittel für weitere 2 ½ Tage Vormarsch besaßen, allerdings unter der Voraussetzung, daß der Rückmarsch schneller gehen würde als der Vormarsch und daß wir also unsere Depots ohne langes Suchen finden würden.

Das Ergebnis dieser Beratung war, daß wir noch zwei Tagemärsche weiter vorstoßen wollten. Um diese recht ergiebig zu machen, sollte aller Rückreiseproviant hinterlegt werden und nur Amundsen-Pemmikan als einziges Nahrungsmittel mitgenommen werden, abgesehen von einer kleinen Reserve von Schokolade und gewöhnlichem Pemmikan für Krankheitsfälle. Auf diese Weise wollten wir zugleich die Brauchbarkeit des von Amundsen gelegentlich seiner Flugzeug-Unternehmung benutzten höchst konzentrierten Nahrungsmittels erproben.

Das Ende des Kangerdlugsuak

Endlich am 30. Mai abends hörte der Schneefall auf, es wurde klar und sogar das Schneefegen setzte aus. Sofort brachen wir auf.

Die Besserung hielt allerdings nur wenige Stunden an, und dann kam es schlimmer als je. Aber wir waren froh, wieder in Gang gekommen zu sein, und führten den Tagesmarsch bis zu Ende durch.

Es war ein Glück, daß wir die Kufen neu gewachst hatten und daß wir nur noch die lächerliche Last von 12–15 kg auf jedem Schlitten hatten. Auch so ging es noch schwer genug. Die Bahn war geradezu furchtbar. In den neufallenden Schnee mischte sich Regen, und bald waren die obersten 30 cm der Schneedecke vollkommen durchweicht. Unter den Schneereifen, die tief einsanken, backte der Schnee. Durch die starke Beanspruchung riß alle Augenblicke das Flechtwerk der Schneereifen, und es verging kaum eine Viertelstunde ohne Reparaturen.

Ich war den ganzen Marsch über schlapp. Der Amundsen-Pemmikan, den wir vor dem Aufbruch gegessen hatten, lag mir wie Blei im Magen, und das Waten in dem nassen Schnee wurde mir sauer. Bisweilen irrte ein Gedanke zurück zu unseren Schneemännern hinter uns. Wie mochte es ihnen bei diesem schrecklichen Tauwetter gehen? Hier waren wir doch schon bald in 2000 m über dem Meere. Und wenn es hier regnete, dann mußte es in 1000 m Höhe ungefähr kochen! Wiederfinden mußten wir aber unsere Depots, sonst ging es ans Leben.

Wir hatten vorgehabt, heute einen Rekordmarsch zu machen. Nach 14 Stunden mußten wir es aber aufgeben. Wir hatten erst 18 km zurückgelegt. Bei feinem Sprühregen schlugen wir unsere Zelte auf. Die Schutzmauer fiel erst zweimal um, so weich war der Schnee. Das war Zeltplatz »Frieda« in 1950 m Seehöhe.

Am 1. Juni abends brachen wir zum letzten Vorstoß auf. Wir nahmen alle Kraft zusammen. Was noch herauszuholen war an sportlicher Verschönerung unseres Reiseergebnisses, das mußte heute geleistet werden. Wir ließen noch einen Zeugsack und zwei Schlitten bei »Frieda« zurück, denn es lohnte jetzt nicht, für unser bißchen Gepäck vier Schlitten im Gesamtgewicht von 25 kg mitzuschleppen. Wir begnügten uns mit zweien, nämlich den beiden leichten Korbschlitten, und wechselten mit Ziehen ab. Da auch das Wetter und die Bahn heute besser waren – wir waren ja bescheiden geworden! – so machten wir rasche Fortschritte. Bei der Mittelrast, wo wir Zelt schlugen, abkochten und noch eine Stunde rasteten, hatten wir schon 17 km zurückgelegt. Die zweite Marschhälfte war freilich eine arge Tretmühle. Nie vorher hatte ich einen so starken Eindruck ertötender Gleichförmigkeit. Wie ersehnte man immer Loewes Ruf: Zweitausend! Den letzten »Ehren«-Kilometer mußte er auch die vollen Hunderter ausrufen, um uns am Leben zu erhalten.

Als wir endlich nach 15 stündiger reiner Marschzeit unser Lager aufschlugen, mußten wir nach unserer Schätzung gut 150 km vom Aufstiegpunkt entfernt sein. Und die barometrische Höhenmessung ergab – Hurra! – 2090 m. Wir waren glücklich. So hängt der Mensch an den runden Zahlen!

Hier, am Zeltplatz »Else«, kam unsere Fahne zum Vorschein, die ich bisher im Zeugsack versteckt durchgeschmuggelt hatte. Das Umkehrfest aber mußten wir verschieben, bis wir bei »Gerda« wieder zu unseren richtigen Lebensmitteln kamen. Hier hätten wir es nur – pfui Teufel! – mit Amundsen-Pemmikan feiern können.

Dieser Amundsen-Pemmikan! Er machte uns wahrhaftig einen Strich durch die Rechnung. Heute war es Loewe so ergangen wie mir gestern. Aber ich war schon bedeutend weiter entkräftet. Das Abwechseln mit dem Schlittenziehen hatte für meine Person nur im Anfang noch geklappt. Dann ließen mich meine Kameraden mit immer größeren Pausen ziehen und schließlich wurde ich gar nicht mehr herangelassen. Leider war es nötig, ich konnte mich zuletzt kaum mehr selber mitschleppen. Es war mir von Anfang an klar, daß dieser rasche Kräfteverfall jedenfalls in erster Linie durch die ausschließliche Ernährung mit Amundsen-Pemmikan verursacht war. Mein Körper war offenbar nicht imstande, die allzu stark konzentrierte Nahrung zu verwerten. Sie füllte den Magen, war aber unverdaulich.

Auch Loewe bekam der Amundsen-Pemmikan nicht gut. Er lag ihm schwer im Magen, hinterließ einen eigentümlichen Nachgeschmack im Munde und brachte die Verdauung allmählich in Unordnung. Doch kam es bei Loewe nicht zu einem so raschen Kräfteverfall wie bei mir. Am besten kamen Georgi und Sorge mit dieser Nahrung zurecht, doch ging auch ihr Urteil dahin, daß die ausschließliche Verwendung von Amundsen-Pemmikan nicht zu empfehlen und der gewöhnliche Pemmikan überhaupt vorzuziehen sei.

Für den Rückweg bis zum Eisrand standen uns nur 10 Tage zur Verfügung, während wir 13 für den Hinweg gebraucht hatten, und im Augenblick hatten wir nur für zwei Tage Proviant und mußten in diesen beiden Tagen die 47 km bis zum Depot »Gerda« zurücklegen. Es war also keine Zeit zu verlieren.

Am Nachmittag des 3. Juni traten wir den Rückmarsch an. Es hielt schwer, die Beine in Gang zu bringen, und die ersten Kilometer hatten wir Schneckentempo. Ich war trotz reichlichen Schlafes kurzatmig und so entkräftet, daß ich bei einer Ausgrabung zum Studium des Firns, die ich mit Loewe zusammen vor dem Abmarsch vornahm, mit einem Ohnmachtsanfall zu kämpfen hatte. Das Schlittenziehen mußte ich meinen Kameraden überlassen. Bei der Mittelrast, wo wir 14 km zurückgelegt hatten, mußte ich für meine Person dem Amundsen-Pemmikan entsagen und zu unserer Krankenreserve greifen. Auf der zweiten Marschhälfte gab mir Loewe schließlich aus unserer Apotheke eine Koffeintablette, und die wirkte Wunder. Ich wurde frisch und gesprächig und konnte den Rest des Marsches ohne besondere Anstrengung mitmachen.

Wir legten im ganzen 26 km zurück und schlugen unsere Zelte 3 km nordöstlich von »Frieda« auf.

Im allgemeinen hatten wir auf diesem Marsch unserer Spur folgen können, auch waren die Schneemänner natürlich auf dieser letzten Strecke noch gut erhalten. Schwierigkeiten entstanden nur dann, wenn der Himmel mit einer überall gleich hellen Wolkendecke bezogen war. Wenn nämlich dies diffuse Licht von allen Seiten in gleicher Stärke kam, so verschwanden alle Unebenheiten des Bodens vollkommen für das Auge. Es war dann unmöglich, überhaupt den Boden wahrzunehmen, auf dem man ging.

Das verursachte eigenartige Gefühle und Täuschungen, ganz besonders beim Vorangehenden, der in ein großes Nichts hineinmarschierte. Aus dem Bestreben, den Boden, von dessen Existenz er ja doch überzeugt war, zu erkennen, entsprangen Halluzinationen: Bald glaubte er sich einer Wand gegenüber und erwartete im nächsten Augenblick mit der Stirn dagegenzurennen; bald hatte er die Vorstellung, auf einer stark von rechts nach links oder umgekehrt geneigten Fläche zu balancieren. Ein andermal wieder glaubte er zu bemerken, daß es bergauf oder bergab ginge und stolperte, weil der Boden horizontal blieb. Dann kam wirklich einmal eine kleine erhöhte Schneewehe, und schon lag er auf der Nase.

Innerhalb der Karawane ging man weniger unsicher; die vorangehenden Schlitten boten immerhin einen Anhalt. Aber auch hier hatte man den Eindruck, als schwebten Menschen und Schlitten frei im Weltall und als bewege man ganz sinn- und zwecklos die Beine so, als ob man ginge.

Leider verschwand zu solchen Zeiten natürlich auch die Spur für unser Auge. Wir lernten es aber, die Natur zu betrügen. Rechts und links neben den Schlitten waren nämlich die Spuren auch in solchen Fällen schwach zu erkennen, weil hier der Schlitten die eine Hälfte des Himmels abdeckte, sodaß das Licht vorzugsweise nur von der anderen Seite kam. Der Hintermann konnte also dem vorangehenden zurufen, ob die Spur rechts oder links von ihm lag.

Zeitweise hatten wir auch Nebel und natürlich auch Schneefall, aber wir fanden den Weg doch ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Schwieriger wurde der nächste Tagemarsch.

Als wir abmarschierten, war es klar und hundekalt. Loewe hatte den großen Zeh erfroren und konnte, auch nachdem er die Skistiefel mit den Kamikkern vertauscht hatte, auf dem Marsch kein Leben in ihn hineinbekommen. Um einer ernsten Erfrierung vorzubeugen, die sonst wohl unvermeidlich gewesen wäre, griff ich schließlich zu der bewährten Methode der Eskimos: Loewe mußte Kamik und Strumpf ausziehen und mir den bloßen Fuß unter meiner Kleidung unmittelbar auf den Bauch setzen. Das half; nachdem der Fuß erst wieder durchgewärmt war, genügten die Kamikker. Das sind so die kleinen Kniffe der polaren Reisetechnik!

Loewe war übrigens heute überhaupt nicht auf der Höhe; seine Fußverletzung begann zu eitern und schmerzhaft zu werden. Außerdem habe ich den Verdacht, daß auch ihn der Amundsen-Pemmikan ruiniert hatte. Aber davon wollte er selbst nichts wissen. Gleich nach unserem Abmarsch erklärte ich übrigens unser Experiment mit dem Amundsen-Pemmikan für die ganze Expedition für beendet, und wir verzehrten daher bei der Mittelrast unsere gesamte Krankenreserve.

Unterwegs nahmen wir vom Zeltplatz »Frieda« wieder unsere beiden norwegischen Schlitten mit. An sich wäre es wohl am günstigsten gewesen, beim Rückweg die Zahl der Schlitten systematisch zu verringern. Es tat uns aber leid, sie fortzuwerfen. Sie konnten doch vielleicht im nächsten Jahr noch verwendbar sein, wenn wir sie bis zum Eisrand zurückbrachten.

Das Wetter wurde sehr bald wieder schlechter, und es dauerte nicht lange, so peitschte uns der fast von vorn kommende Wind dichte Massen fallenden Schnees ins Gesicht. Nun konnten wir uns nicht mehr über Einförmigkeit des Marsches beklagen. Jetzt war die Frage brennend: ob wir zum Depot »Gerda« durchfanden!

Von der Spur war bald nichts mehr zu sehen. Wir gingen wieder nach dem Kompaß, zählten bis 2000 und suchten dann systematisch die Umgebung nach dem nächsten Schneemann ab. Manchmal dauerte es lange, bis er sich finden ließ; oft stand er auch ganz wo anders, als wir ihn erwartet hatten. Aber wir tasteten uns doch auf diese Weise trotz Nebel und Schneegestöber immer weiter vorwärts. Und schließlich war die Freude groß, als vor uns die Schneebauten des Depots »Gerda« auftauchten. Überrascht waren wir allerdings, denn nach unserer Rechnung sollten noch 2 Kilometer fehlen. Wir waren also an zwei Schneemännern vorbeigegangen, ohne es zu merken.

Uns wurde leicht zu Mute, als wir bei »Gerda« einzogen. Wir waren uns klar darüber, daß unser letzter Vorstoß infolge des Versagens des Amundsen-Pemmikans mit einem ziemlichen Risiko verbunden gewesen war. Das war nun überstanden. Für den Rest des Rückmarsches konnte man kaum noch von einer Gefahr sprechen.

Am Lager »Gerda« blieben wir 27 Stunden. Das Umkehrfest wurde mit Hilfe eines Blutpuddings nachgeholt.

Durch den vollständigen Übergang zu unserer normalen Reisekost wurden die Schäden, die der Amundsen-Pemmikan angerichtet hatte, bei allen Betroffenen schnell beseitigt. Wir lebten von Stunde zu Stunde mehr auf. Allerdings aßen wir auch ungeheure Portionen, sogar Loewe, der sonst so enthaltsame.

Das kleine Schneehaus, in das wir beim Vormarsch unsere Lebensmittel gestellt hatten, stand noch unversehrt. Georgi und Sorge waren so begeistert davon, daß sie darin ihre Wohnung aufschlugen und auf das Zelt verzichteten. Es war eine enge, aber sonst gute Behausung, und sie hatten auf diese Weise Gelegenheit, ihr Zelt einer gründlichen Reparatur zu unterziehen.

Als wir am 6. Juni abends von »Gerda« wieder aufbrachen, waren wir alle soweit wieder hergestellt, daß jeder seinen Schlitten ziehen konnte.

Hafen von Umanak. Blick auf Storö

Es war windig und kalt, jedenfalls zwischen – 15° und – 25° C, denn es hielt schwer, die Hände in den Pelzhandschuhen warm zu halten. Die Bahn war infolgedessen prachtvoll fest, so daß wir keine Schneereifen brauchten. Die Schlittenkufen waren neu gewachst, und wir gingen rasch, um uns warm zu halten. Es wurde unser Rekordmarsch. Wir legten in 13 Stunden 30 Kilometer zurück.

Auch die Orientierung machte bei dem klaren Wetter keine Schwierigkeiten. Die Mitternachtssonne beschien unsere Schneemänner und machte sie aus großer Entfernung sichtbar. Freilich waren sie stark zusammengesintert und vielfach umgefallen, und nicht in allen fanden wir die hineingelegten roten Zettel wieder, die jetzt ganz verblaßt waren. Der Schneemann bei 7 km nordöstlich von Hans, bei dem wir den Tagemarsch beendeten und Zelt schlugen, wurde sogar als solcher angezweifelt. Wir sahen jetzt, daß wir unsere Schneemänner nicht nach dem richtigen Grundsatz gebaut hatten. Die schlanken Säulen, die aus sauber übereinander geschichteten regelmäßigen Blöcken errichtet waren, waren sämtlich umgefallen infolge stärkeren Zusammensinkens auf der Sonnenseite. Viel besser erhalten waren gerade die kunstlosen konischen Schneehaufen. Sie waren zwar auch kleiner geworden, bildeten aber noch immer auffallende Objekte in der Schneewüste.

Unterwegs kamen wir an unserem alten Zeltplatz »Sturm« vorbei. Die damals errichtete Schutzmauer war aus gleichem Grunde umgesunken und bot nur noch wenig Schutz gegen den kalten Wind. Immerhin benutzten wir sie zu einem kalten oder besser gesagt »geeisten« Frühstück. Die Sülze war wie ein Stein gefroren.

Ende des Ingneritfjordes. Von rechts nach links: Der südliche (große) Gletscher, der Nunatak, dahinter der Einschnitt mit dem nördlichen (kleinen) Gletscher, hinter diesem die Breite Kuppe (1100 m hoch), links von ihr das Aufstiegstal zum Inlandeis.

Bei dem klaren Wetter konnten wir auch eine Reihe sonderbarer Buckel näher untersuchen, an welchen wir beim Hinmarsch wegen schlechten Wetters ohne Gewissensbisse vorbeigegangen waren. Sie sahen aus wie kleine, verschneite Nunatakker, waren aber nichts als perennierende Schneewehen. Sie waren etwa 20 m hoch und 100 m lang, steil auf der Luv- und sanft auf der Leeseite, und schienen in regelmäßigen Abständen von etwa 300 m zu stehen, aber in mehreren parallelen Reihen.

Wir konnten leicht feststellen, daß immer eine Reihe solcher Schneewehen auf einer Firnspalte von etwa 10 m Breite saß. Die Spalte war sonst überall mit einem soliden Schneepfropfen gefüllt, auf dem man ohne Gefahr gehen konnte, nur unmittelbar in Luv jeder Schneewehe befand sich stets ein 5–10 m tiefes, vom Wind freigeblasenes Loch, an dessen Seiten man die eigentliche Spaltenwand mit ihrer Firnschichtung sehen konnte. Wir haben später noch viele solche reihenförmig angeordnete Schneewehen gesehen, und stets saßen sie auf schneegefüllten breiten Firnspalten. Sie stellen also offenbar eine typische Naturerscheinung am Rande des Firngebietes dar.

Am folgenden Marschtag, der uns in 13 Stunden die 22 km bis zum Zeltplatz Lotte vorwärts brachte, versagten unsere Schneemänner. Bis 6 km südwestlich von Hans konnten wir noch die stark zusammengesunkenen Reste auffinden und aus einigen auch noch das hineingelegte Papier herausziehen. Aber dann war es vorbei. An dieser Stelle bildet die Oberfläche des Inlandeises gerade eine Stufe, und unterhalb des Abfalls war jede Spur von unseren Schneemännern vollkommen ausgelöscht. Das starke Tauwetter vom 31. Mai und 1. Juni mußte hier verheerend gewirkt haben.

Glücklicherweise war das Wetter schön und die Sicht gut. Wir gingen wieder nach dem Kompaß und zählten Schritte, und Sorge verglich seine sorgfältigen Aufzeichnungen über die schwach ausgeprägten Stufen, Höhenzüge und Talsenkungen mit dem, was wir sahen. So stießen wir mit fast mathematischer Genauigkeit auf unseren Zeltplatz »Lotte«, wo von dem größeren Schneemann doch noch ein leidlich erkennbarer Rest erhalten war. Und ganz ebenso ging es auf den nächsten beiden Tagemärschen, die nach 27 und 24 km über Zeltplatz »Hilde« bis zum Depot am Eisrand führten. Sorge, der stets vorausging, traf alle Zeltplätze mit einer geradezu nachtwandlerischen Sicherheit.

Seit unserer Hinreise waren in diesem Gebiet wesentliche Veränderungen vor sich gegangen. Wo wir früher über flache, schneeerfüllte Niederungen gezogen waren, lagen nun herrlich blaue Seen, im oberen Teil der Route gefroren, im unteren mit offenem Wasser. Wir sahen die Spuren starker Oberflächenbäche, die – vermutlich bei dem großen Tauwetter – in diese Seen hinabgegangen waren und dabei die mehrere Meter mächtige Schneedecke der Senken in phantastischer, an alpine Lawinen erinnernder Weise zerrissen hatten. Auch auf dem Rückweg brachen wir einige Male in verdeckte Spalten ein, doch waren sie niemals so breit, daß wir ganz darin versanken. Wir schenkten ihnen nur wenig Beachtung, denn wir gingen der Einfachheit halber ständig angeseilt.

Am Morgen des 11. Juni erreichten wir wohlbehalten unser Randdepot. Wie entzückend waren die ersten Frühlingsblumen nach all diesem Schnee! Mit welchem Behagen schlugen wir unsere Zelte zum erstenmal wieder auf grünem Rasen auf! Was für ein Genuß, nach reichlichem Mahl in der warmen Sonne auf schwellenden Moospolstern am Ufer des Sees, dessen Eisdecke jetzt schon Zeichen der Auflösung zeigte, eine gemütliche Pfeife zu rauchen und innerlich die Bilanz unserer ersten Schlittenreise zu ziehen.

Unsere Ausrüstung war eigentlich eine Zusammenstellung gewagter Versuche gewesen. Aber bis auf die Zeltform und den Amundsen-Pemmikan hatte sich alles Neue gut bewährt: die Daunen-Schlafsäcke, die Bernina-Schaufel, die Grödeln, die Schneereifen, Meta-Brennstoff zum Anzünden des Primus, unser Bohrgerät, die leichten Korbschlitten und, mit gewissen Einschränkungen, auch der Benzinprimus, den Georgi und Sorge benutzten. Unter meinen Kameraden herrschte eine frohe, zufriedene Stimmung. Wir fühlten alle, daß wir uns mit dieser Schlittenreise sehen lasten konnten, wenn wir auch erst später feststellten, daß es die zweitlängste Handschlittenreise auf dem grönländischen Eise war. Und dabei hatte uns doch das Wetter nicht gerade begünstigt. Von den 23 Tagen, die wir uns auf dem Inlandeise aufhielten, waren nur 5 ohne Niederschlag!

Hier am Eisrande wiederholte noch Loewe die seinerzeit mißglückte Abschmelzbohrung, Sorge nahm zur Ergänzung seiner Routenaufnahme noch Peilungen von benachbarten Höhen aus vor, und am 13. trugen wir unser Gepäck wieder zum Quervains-Hafen hinab. Es war eine üble Schlepperei, und wir hätten besser getan, zweimal zu gehen. Wir trugen zusammen 130–140 kg, Sorge allein 41! Aber schließlich kamen wir ja alle unten an.

Unsere Freude war groß, als am 14. Juni zur verabredeten Zeit die »Krabbe« auftauchte. Die leisen Befürchtungen, daß sie vielleicht längst auf dem Meeresgrunde läge, – wieviel Stürme waren über uns weggezogen! – hatten sich als grundlos erwiesen, Tobias hatte seine Sache gut gemacht. Und wie herrlich war es, wieder an Bord zu kommen! Wie geräumig und sauber kam uns die kleine Kajüte jetzt nach dem Leben in den engen Zelten vor!

Als wir am nächsten Morgen nach stürmischer Fahrt bei dichtem Schneegestöber in den kleinen Hafen von Jakobshavn einliefen, waren wir in gehobener Stimmung. Die erste Schlacht war geschlagen und gewonnen. Vivant sequentes!


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