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4. Kapitel. Die Besteigung des Umanak am 14. Juli 1929

Von Ernst Sorge

Ernst Sorge

Umanak – »Herz«, du hast es mir angetan, herrlich stolzer Berg, du Einziger, du unvergleichlicher Fels am Meer! Ehrfurcht, Liebe und Siegesrausch ergreift mich, wenn du vor meiner Seele stehst! –

Der Umanak

Bruchstückhaft fing es an. Nur wenige Worte verzeichnet mein Tagebuch:

April 1929 an Bord des Dampfers »Disko«. Wir vier betrachten Photographien von grönländischen Landschaften. Schöne Bilder! Auch Nordgrönland ist vertreten: einige Bilder zeigen die kleine Insel Umanak mit ihrer schmucken Kolonie und dem steilen Berg dahinter. Irgend jemand erzählt: »Noch war niemand auf dem Gipfel. Edward Whymper, der Erstersteiger des Matterhorns, hat ihn vergeblich bestürmt, seitdem noch andere. Allen hat der Berg getrotzt. Es sollen sogar welche abgestürzt sein.« Ich muß immer denken: eigentlich sieht der Berg gar nicht so furchtbar schlimm aus! Und es sticht leise in mir: hinauf, hinauf, hinauf! Das wäre etwas!

Mai 1929 an Bord der »Krabbe«. Meine Gedanken an den Umanak sind zurückgedrängt durch die Fülle der Expeditionsereignisse. Neben den wissenschaftlichen Arbeiten wird keine Zeit bleiben für Klettersport. Doch der Umanak schläft nur. –

Nachts 23./24. Juni an Bord der »Krabbe«. Wir umfahren die Halbinsel Nugsuak. Georgi steht an der Maschine, ich am Ruder. Große Müdigkeit. Gedanken kommen und gehen, wahllos, planlos wie der Tang und die Eisstücke im Wasser. Jetzt muß ja wohl bald der Umanak auftauchen. Müde, matte Gedanken wie das blasse Licht der Mitternachtssonne hinter den Wolken von Svartenhuk und Ubekjendt Insel. Die Küste ist so wüst, so lang, so langweilig: Ein Fels nach dem anderen, ein Schutthang nach dem anderen, nichts Besonderes, nichts Anregendes.

Und der Umanak kommt nicht. Er kommt nicht.

Wir werden abgelöst und gehen schlafen. Nichts als Müdigkeit. – –

24. Juni vormittags. Erster Blick aus der Kajüte: Donnerwetter ist das ein Berg!! Dagegen sind ja die Photos gar nichts!! Das ist ja unheimlich!! Und die Sonne strahlt liebevoll über den Umanak. Außer dem Berg und dem Meer sehe ich nichts! Doch schon kommt Post aus Deutschland und verdrängt wieder den Umanak.

Abends fahren wir schon wieder weiter zum Karajak-Fjord. Der Umanak entschwindet, doch die Sehnsucht wächst riesengroß.

12. Juli. Wir sind wieder in Umanak, nach langen, schweren Erkundungen in Fels und Eis. Heute verdecken Wolken den Berg; die Insel liegt flach und gleichgültig da. An eine Besteigung ist nicht zu denken. Desto besser eignet sich das Wetter für Expeditionsarbeiten: Kartenzeichnen, Schreibmaschineschreiben, Berechnungen, Einkäufe usw. Abends fahren Wegener und Loewe mit dem Motorboot auf zwei Tage nach Kekertarsuak. Er sorgt sich um uns, etwa mit folgender Abstufung: Georgi ist ja vernünftig, aber bei Sorge weiß man nie, was er für Unsinn in seinem Dickkopf hat. –

Wegener und Loewe sind fort. Georgi weiß längst meinen Plan, und so gehen wir am selben Abend zu einer Erkundung los. Es regnet ganz hübsch. Der Berg steckt fast ganz in Wolken. Tut nichts! Was fürchtet der Regen und Wolken, den die Begeisterung himmelwärts treibt! Über holprige Gneishöcker steigen, klettern, springen wir eine Stunde lang, immer hinauf und hinab; und dann stehen wir am östlichen Felsenbollwerk des Umanak. Der erste neugierige Blick um die Ecke zeigt vom Aufstieg keine Spur. Unten ziehen lange Schutthänge bis ans Meer. Oben verschwinden erbarmungslose glatte Steinmauern in den Wolken. Und doch fühlen wir uns unbegreiflicherweise beglückt, nur weil es um den Berg herum weitergeht, auf den Schutthängen entlang. Als ob damit irgend etwas gewonnen wäre!

Für heute genügt uns diese nicht gerade ergebnisreiche Erkundung. Daher kehren wir auf einem bequemen Jägerpfad zur Kolonie zurück. Vom Berge selbst hatten wir nichts gesehen. Wie wird nun das Wetter morgen? Eine peinliche Frage! Und obendrein trotz aller Meteorologie nicht zu beantworten! Während ich einschlafe, erwacht mein Trotz: Der Berg will nicht? Er muß wollen!!

13. Juli. Vorläufig haben wir noch wichtigere Arbeiten zu tun. Georgi diktiert mir Wegeners Expeditionsbericht in die Maschine. Leider ist sie nicht recht in Ordnung. Wir arbeiten lange dran herum, bis das Farbband und der Transport gut laufen. Draußen klart es auf. Am Umanak bleiben die Wolken noch lange hängen; aber an Storö und Nugsuat erscheinen die Berge bald in voller Schärfe und Klarheit. Die Spannung steigt ins Ungeheure, denn jetzt hängt es nicht mehr vom Wetter ab, sondern nur noch von uns, ob wir den Umanak zwingen. Durch die Störung an der Maschine verzögert sich die Fertigstellung des Berichts. Und ich wollte doch heute schon losgehen! Georgi diktiert mir immer noch. Ich komme mir vor wie ein Schuljunge, der zuerst seine Schularbeiten machen muß, ehe er zum Spiel hinauslaufen darf.

Nachmittags um 17,30 ist die letzte Seite des Berichts getippt. Nun kommen die »vernünftigen Überlegungen«: Also zunächst mal ordentlich essen! Wir sind abends beim Kolonieleiter eingeladen und legen beim Essen eine sehr solide Grundlage für alle weiteren Unternehmungen. Die Abendunterhaltung fließt leicht dahin: »Wir wollen erkunden, von welcher Seite man am besten auf den Umanak hinaufkommen kann. Wenn es sehr leicht geht, wollen wir etwas höher steigen.« An das »sehr leicht« glaubt natürlich niemand, aber sagen kann man es immerhin.

Wir verabschieden uns und wühlen in unseren Zimmern herum. Das Zusammenpacken geht nicht ohne genaue Verabredungen.

»Skistiefel ziehen wir gleich an und gehen damit bis zur ersten Kletterstelle; Kletterschuhe später; denn wir müssen ja erst die langen Schutthänge queren.«

»Es ist wohl am besten, wir legen am Fuß des Umanak ein Depot an, wo wir bei Kälte oder Regen bleiben können. Wir brauchen also Rucksäcke, Wolldecken, Windjacken und Lebensmittel für 3 Tage. Das Zelt ist aber unnötig.«

»Wie denken Sie über die Photoausrüstung? Ich nehme meine schwere Plattenkamera und die kleine Leika mit und deponiere sie dann irgendwo, wenn sie beim Klettern hindert.«

»Gut; und ich nehme meine Flachkamera mit. Die paßt gut in die Windjackentasche, und die Packfilme wiegen fast nichts. Übrigens bleiben die Rucksäcke unten im Depot. Es muß also beim Klettern alles in den Windjackentaschen und Hosentaschen Platz haben. Wir werden knapp alles unterbringen: Lebensmittel, Photoapparat, ein zweites Filmpack, ein Fernglas, ein Aneroid-Barometer und das Sitometer (Peilkompaß). Das Tagebuch lasse ich unten. Ein kleiner Notizblock mit Bleistift genügt.« –

»Das Seil kann zunächst in den Rucksack.« –

»Zur Wegmarkierung ist, glaub' ich, das weiße Toilettenpapier sehr geeignet. Es hebt sich sicherlich gut von den roten Felsen ab.«

»Hoffentlich haben wir unterwegs Wasser. Der Berg sieht nicht danach aus.«

»Nach dem Regen von gestern werden wir wohl kleine Bäche treffen.«

»Nun müssen wir wohl einen kurzen Brief an Wegener und Loewe hinterlassen, damit sie wissen, wo wir stecken.« »Ja natürlich. Wir wollen ihn gleich zusammen aufsetzen!«

»An Wegener und Loewe.

Wir sind am Sonnabend nach Beendigung des Berichts um 20 Uhr zu einer Erkundung üblichen Ausmaßes aufgebrochen. Falls wir nachts etwas ruhen, ist es möglich, daß wir erst Sonntag Abend hier sind. Auf Wiedersehen!

Sorge, Georgi.«

Das waren die Vorbereitungen. Und nun zogen wir los, am 13. Juli abends um 20 Uhr, heimlich, unauffällig, als ob nichts im Gange wäre. Unsere Rucksäcke wogen ziemlich viel; uns wurde heiß. Bald zogen wir die Hosen aus. Hemd, Strümpfe, Stiefel, das war von den großen heißen Erkundungsmärschen her unsere Lieblingskleidung geworden. Sie war leicht, gesund und bequem. Schwerlich würden wir hier einen Menschen treffen. Und wenn schon! Schwerlich würde er sich darüber aufregen!

Wie gut, daß wir gestern den Jägerpfad gefunden hatten! Heute ging es nun flott vorwärts, geradezu »fabelhaft«, dicht am Meer auf das südöstliche Ende des Umanak zu. Selbstverständlich stellten wir uns vor, daß wir »irgendwie« von hinten her in die große tiefe Scharte zwischen den zwei Gipfeln kommen würden. Von dort würden wir dann in steiler Kletterei, wieder »irgendwie«, den Gipfel erreichen.

Nach ¾ Stunden kamen wir an das gewaltige Felsenbollwerk und umgingen es tief unten auf gangbaren Grasbändern zwischen gestuften Gneisbuckeln. Gletscher hatten vor Zeiten die Felsen wunderbar rund und glatt geschliffen und poliert. Beim Weiterweg verlor sich nach und nach das Gras. Schon blickten wir um die Felsecke herum, zu den Nordostwänden empor. Bald kamen wir in den Bereich der Schuttmassen, die aus diesen ungeheuren Wänden als Folge der Verwitterung herausgestürzt waren. Blöcke von Zimmergröße lagen da, frisch in Stücke geschlagen vom furchtbaren Prall von Stein auf Stein. Deutlich, allzudeutlich sahen wir die zu Staub zermalmten Flächen und die herumgespritzten Splitter. Hier war es entschieden ungemütlich. Und uns stand eine mehrstündige Wanderung zwischen diesen Blockmassen bevor! Schnell weiter zu gehen, erschien uns »sicherer«.

Die nächsten Schutthänge bestanden aus kleineren Steinen von Faust- bis Kopfgröße. Sie stellten nicht gerade einen bequemen Weg dar. Der gestrige Regen hatte die Felsunterlage schlüpfrig gemacht; bald rutschten die Steine unter unseren Tritten und versetzten die ganze Gegend in Aufruhr. »Auf leisen Sohlen« schlichen wir drüber hinweg und kamen glücklich in festeren Schutt. Das Gelände zwang uns unerbittlich, auf diesem Wege weiter zu gehen. Denn rechts von uns fielen die Schutthänge zum Meer ab, links standen Felswände von mindestens 400 m Höhe, glatt, ungegliedert, unangreifbar, ja an manchen Stellen überhängend. An den Sturzbahnen der Steine und an Wasserstreifen konnten wir erkennen, welche Wandstellen von Steinschlag oder rinnendem Wasser unberührt waren, also überhängen mußten. Über diesen Wänden sahen wir nichts, was einem Gipfel auch nur entfernt geglichen hätte. Die eigentlichen Gipfel des Umanak mußten weit dahinter liegen. Wir wußten nicht einmal, wie lange die Schuttwanderung dauern würde. Es war ja möglich, daß wir so einen ergötzlichen Rundgang um den ganzen Berg ausführten, ohne ein einziges Mal die Spitzen oder einen Zugang zu sehen!

In solchen Fällen wendet sich der Mensch ganz gern dem leiblichen Wohl zu! Da die nächtliche Sonne im Nordwesten hinter unserem Berge stand, wurde es im Schatten bald kühl. Wir kleideten uns wärmer an und ruhten um 23 Uhr an einer kleinen Quelle. Hier fühlten wir uns geborgen. Festes anstehendes Gestein mit hohen Vorsprüngen schützte vor Steinschlägen. Weiches Moospolster verführte zum Liegen. Das Quellwasser schmeckte wie eine Erlösung. Auf der »Krabbe« war das Wasser zuletzt knapp gewesen, und in der Kolonie Umanak gibt es kein Quellwasser (man gewinnt Wasser durch Einschmelzen von Eisbergen). – Ein Blick auf das Aneroid ergab 250 m Höhe über dem Meeresspiegel. Bis zum Gipfel mußten wir also auf irgend eine Weise noch 1000 m höher gelangen, wie, war allerdings rätselhaft.

Der Weitermarsch spannte unsere Erwartungen aufs neue. Der Schuttweg verlief nämlich nicht ganz eben und auch nicht ganz gerade, sondern stieg sanft an und beschrieb einen weiten Bogen um die Felswände herum. Wir mußten daher hinter der Biegung etwas Neues sehen. Und dort lag unser Schicksal! Zum Glück hörte der Schutt mehr und mehr auf. Leicht gangbare Gneiswülste mit etwas Moos erfetzten ihn in dankenswerter Weise. Nach Überschreitung kleiner Schneereste näherten wir uns einem breiten runden Felsbuckel, der sich aus den Wänden herausschob. Mühelos gingen wir an seiner Flanke entlang. Die ganze Bergseite lag noch im Schatten. Nur hoch oben, über den Wänden wurde eine unerhört kühn aufgebaute Felsenkanzel von den Strahlen der Mitternachtssonne getroffen und leuchtete uns als gutes Zeichen voraus. Wir folgten ihm willig. Der Sonntag begann.

Fast vier Stunden liefen wir schon um den Berg herum. Nach unserer Schätzung mußte es nun Zeit sein, zur großen tiefen Scharte (Umanaker Scharte) emporzusteigen. Bisher hatten wir keine Höhe gewinnen wollen. Jetzt mußten wir es. So stiegen wir denn den Felsbuckel empor. Sogleich merkten wir, wieviel schwerer das war als alles bisherige. Steilstufen zwangen uns zum Klettern in einer Rinne, deren Gestein aus losen Platten und brüchigen Splittern bestand. Und zwischen verkeilten Blöcken lag feuchte Erde und schlüpfriges Moos. Die Rucksäcke störten beim Klettern so, daß wir beschlossen, sie auf der nächsten Stufe liegen zu lassen. Wir fanden bald (1 Uhr) in 500 m Seehöhe eine breite Plattform, die sich vorzüglich zur Niederlegung unserer Sachen eignete. Ein wagerechtes Steinfeld, dicht mit Moos bedeckt, könnte Platz für einige Häuser bieten. Steinschläge werden schon weiter oben durch einen Felsvorsprung abgelenkt. – Wir gingen auf der Plattform entlang. Die Sonne schien uns in die Augen und blendete. Endlich erschien unser langersehntes Ziel: eine Scharte, und rechts daneben tatsächlich ein Gipfel, wie ein Zuckerhut. Seine Nordabstürze übertrafen an Großartigkeit noch die Wände, unter denen wir gestern abend entlang gegangen waren.

Es entspann sich nun eine längere Unterhaltung, wie die Scharte und der Gipfel zu deuten wären. Sahen wir dort oben die Umanaker Scharte? War der sichtbare Gipfel der höchste? Vieles sprach dafür und dagegen. Glücklicherweise gab es für uns nur eine Möglichkeit, weiter und höher zu kommen, nämlich zur Scharte aufzusteigen. Schon konnten wir in eine ziemlich breite Schlucht hineinblicken, die im oberen Teil mit Schnee erfüllt war und bis zur Scharte offenbar steinschlagfrei emporreichte. Einmal an der Scharte angelangt – so überlegten wir – hatten wir immer noch die Wahl, nach rechts oder links weiterzuklettern. Schwer schien ja beides. Mit dem Fernglas konnten wir schon hübsche Kletterstellen erkennen!

Den Anstieg schräg hinauf über Felsbuckel und Schluchten bis zum Schneefeld in der großen Schlucht schätzten wir leider zu schwierig ein, so schwierig, daß wir beschlossen, Kletterschuhe anzuziehen. Alle »nicht kletterfähigen« Sachen packten wir dann in die Rucksäcke und ließen sie zurück. Ein Steinmann und ein Stück weißes Papier bezeichneten den Platz.

Von nun an bestand unsere Ausrüstung aus Folgendem: Jeder trug Skihemd und Hose, Windjacke mit Kapuze, Segelleinwandschuhe mit Gummisohlen, drei Stück Knäckebrot, eine Tafel Schokolade, 10 Stück Zucker. Außerdem verteilten wir auf uns beide meinen Photoapparat, das Sitometer, das Fernglas, das Aneroid, ein Filmpack, einen Schreibblock mit Bleistift, ein Taschenmesser, ein Seil von 20 m Länge. Georgi trug Handschuhe, ich keine.

Der weitere Aufstieg bis zum Schneefeld war bald getan. Anzuseilen brauchten wir uns noch nicht. Schöne leichte Kletterstellen in den Gneisstufen wechselten mit schrägen Rinnen und kleinen Schluchten ab. Natürlich kletterten wir wegen der größeren Sicherheit möglichst auf den Rippen und querten die Rinnen wagerecht möglichst schnell. Den tiefsten Punkt der Scharte konnten wir noch nicht sehen. Die Hauptschlucht mit dem Schneefeld wuchs immer gewaltiger heraus. Bald standen wir an ihrem Rand und betrachteten die ungeheuerlichen Felsbildungen auf der anderen Seite. Wunderlich war das Gestein der Riefenwände gefaltet; ein Felsblock von vielfacher Häusergröße hing oben tollkühn weit über die Wand hinaus. Alles, was hier oben abbricht, muß in eine schmale dunkle Rinne, eine wahre Höllenschlucht, hineinstürzen, alles wird hier zerschmettert. Der riesige Schuttfächer unterhalb der Schlucht sammelt die Reste.

Wir stiegen an unserer Seite neben der Schlucht empor und erreichten das Schneefeld etwa 50–100 m über seinem unteren Ende. Hier hätten wir nun gern noch die Skistiefel gehabt. Denn mit Halbschuhen im Schnee herumzutapfen, ist ein kaltes und nasses Vergnügen. Aber gerade das trieb uns mächtig vorwärts. Das Schneefeld war sehr steil, etwa 45° geneigt. Der Schnee war reichlich weich, backte aber ausgezeichnet, so daß wir durch die abwechselnde Arbeit von Händen und Füßen gute Griffe und Tritte gewannen und schnell höher kamen. Im Schnee steckten einige kleine Steine, die erst vor kurzem hineingefallen sein konnten. Wir hörten aber im ganzen nur zweimal leichte Steinschläge. Das beunruhigte uns nicht; denn wir überlegten so: die meisten Steine fallen sicherlich am Rande nieder, und außerdem bleiben sie sogleich im Schnee stecken, können also nicht abprallen, zerspringen und weiterfliegen. Ein großer Steinblock, der vor kurzem der Länge nach durch das ganze Schneefeld gerutscht und gekullert war, erleichterte uns sogar noch wesentlich den Aufstieg. Durch sein Gewicht hatte er den Schnee gerade so zusammengedrückt, daß wir seine Bahn als Leiter benutzen konnten. Dennoch waren wir froh, als wir um 4½ Uhr morgens die sehr schmale Scharte erreicht hatten und eine Seehöhe von etwa 880 m feststellen konnten. Es war dunkel um uns; die Felsen schienen über uns zusammenzustürzen, so steil waren sie. Unsere Schuhe waren voll Schnee und Wasser, unsere Hände und Füße von der Steigarbeit glühend heiß.

Durch die Scharte blickten wir nach Süden in eine von Steinen glatt gefegte Steilrinne hinein und sahen tief unten ein Stück der Insel, das Meer und die Halbinsel Nugsuak, aber nicht die Kolonie. Also konnte unsere Scharte jedenfalls nicht die Umanaker Scharte sein. Nun musterten wir die Felsen bei der Scharte. Der Gipfel, den wir schon von der Rucksackstelle gesehen hatten, war im unteren Stück sicherlich äußerst schwierig. Eckige, genau senkrechte Felssporne türmten sich etwa 50 m hoch aufeinander, lange Strecken schienen ohne Griffe und Tritte zu sein. Oberhalb der Steilstelle führten dann schräge Plattenschüsse leicht zum Gipfel. Die andere Seite der Scharte war unten ebenfalls sehr steil, aber offenbar leichter zu erklettern. In 20 m Höhe über der Scharte erkannten wir eine mäßig geneigte Plattform, und noch höher oben standen lange, durch Säulen gegliederte Wände von etwa 80° Neigung. Mehr konnten wir nicht sehen Aber jedenfalls mußte über den Säulen noch mehr kommen. Auf welcher Seite der höchste Gipfel stand, war nicht zu entscheiden. Diese Frage löste sich auf überraschende Weise durch eine schöne Beobachtung von Georgi. Er sah nämlich den Schatten des Umanak auf dem Meer. Die Sonne stand gerade so günstig, daß sie alle Gipfel abzeichnete. Daraus konnten wir entnehmen, wo wir uns befanden. Es war so gut wie sicher, daß die große Bergmasse links (südlich) der Scharte den höchsten Gipfel enthielt; und wir beschlossen daher, hier den Aufstieg zu erzwingen. Das Gipfelfieber hatte mich so ergriffen, daß ich noch zu Georgi sagte: »Wenn wir aber auf diesem Weg nicht auf den höchsten Gipfel kommen, dann versuche ich nachher den Aufstieg auf der anderen Seite der Scharte.«

Wir seilten uns an und erkletterten die erste Steilstelle. Unangenehm waren nur die vielen losen Steine, die uns zur vorsichtigen Prüfung jedes Griffes zwangen. Bald war die Plattform erreicht. Von hier hatten wir einen weit besseren Überblick als von der Scharte. Wir konnten einige Meter hin- und hergehen und durch die wechselnden Überschneidungen der Felslinien die Tiefengliederung der riesigen Säulenwand erfassen. Dadurch war es möglich, eine Aufstiegslinie ausfindig zu machen. Auf eine Felsrippe setzte ich große Hoffnungen. Darauf mußten wir zustreben. Dort gab es sicherlich auch einen Kamin oder tiefe Risse im Gneis.

Wir gingen die Plattform aus, bis sie sich in der Wand verlor, fanden bei einem Schneefleck rinnendes Wasser, stiegen die Steilwand einige Meter empor und wandten uns dann nach links in einem sehr unangenehmen Quergang. Wir hingen mit den Fingern in Rissen und mußten große Spreizschritte machen, um von einem Tritt den nächsten zu erreichen. Glücklicherweise war das Gestein hier sehr fest, die Griffe haltbar und gut. So erreichten wir die rötliche Felsrippe, die sich von dem grauen, lang gestuften Hauptgrat deutlich durch die Farbe abhob. Eine Steilschlucht öffnete sich; sie wurde nach oben immer steiler und lief in eine lange Reihe aufeinandergesetzter Kamine mit Säulen und Rippen aus. Die Rippen hätten als Modell für gotische Bündelpfeiler dienen können. Hier trieb nun der Klettersport seine schönsten Blüten. »Aus Leibeskräften« konnten wir all unsere Kletterlust austoben. Je tiefer hinter uns der Nordgipfel versank, desto größer wurde unsere Zuversicht, daß wir auf dem richtigen Wege waren. Die Verbindung von Griffen und Tritten bei dieser stets schwierigen und spannenden Kletterei war so mannigfaltig und reizvoll, daß wir uns oft im Scherz zuriefen: »Wolln doch noch einiges für den Abstieg übrig lassen!« Manche Felssäulen waren allerdings aus lauter losen Steinen aufgebaut und vertrugen daher nur eine zarte Behandlung. Aber daneben gab es auch stets festes Gestein.

Nach 100 m Kletterei (sechs Seillängen) erreichten wir einen winzigen Wasserfall. Zwei dünne Wasserstrahlen fielen von einem 2 m hohen Überhang leise herab. Das fehlte uns gerade! Nachdem Georgi die letzte Seillänge nachgekommen war, legten wir uns auf die Steine und ließen uns das Wasser in den Mund laufen. Es ließ sich dabei freilich nicht vermeiden, daß auch ein Tropfen nach dem andern gerade ins Ohr tropfte. Aber das erhöhte nur die abkühlende Wirkung. – Gleich neben dem Wasserfall lag eine der schönsten Kletterstellen: ein Überhang mit zwei prächtigen festen Gneisblöcken. Man mußte die Fingerspitzen auf den obersten Block legen, Klimmzug machen, bis die Unterarme Stütz boten, und sich dann mit wuchtigem Stemmen hochheben. Dann konnte man wieder in die Rinne hinüberkriechen und sich an den schlüpfrigen Felsen oberhalb des Wasserfalls erfreuen. Aus der Rinne stiegen wir schließlich weiter oben nach rechts heraus und standen vor einem senkrechten, gespaltenen Block von beinahe einer ganzen Seillänge. In der 1 m breiten Spalte kletterten wir auf »fabelhaften« Griffen und Tritten bis zum oberen Ende, stiegen durch ein stilvolles Felsentor und standen auf einer schrägen, gefahrlosen Felsfläche. Nach diesem geschmackvollen Ausstieg hörten alle Schwierigkeiten auf (1150 m Seehöhe). Wir legten das Seil ab und gewannen in schönem leichtem Anstieg über den gestuften Gneishang den breiten Gipfel (1200 m, wenige Minuten vor 8 Uhr morgens).

Nun muß ich einige Augenblicke aufhören zu erzählen und muß schweigen. Wir waren im Himmel!

   

Das Gipfelgefühl läßt sich nicht den Menschen mitteilen, die selbst noch nicht oben gewesen sind. Eine Schilderung kommt immer nur auf Siegesrausch und Himmelsjubel, Augenleuchten, Lebensschwung und Kraftgefühl hinaus. Und dazwischen mischen sich in zartem Klang Frömmigkeit und Dankbarkeit für das schöne, schöne Geschenk dieses Tages. Der Mensch fühlt erst dann sein Leben, wenn er es eingesetzt hat. Darin liegt das tiefe Geheimnis. Lange standen wir dort oben und schauten; schauten in den sonnigen Morgen hinein, über glühend rote Felsen hinab zum frischblauen Meer und weiter zum hellen Himmel.

Georgi neben dem Steinmann auf dem Gipfel des Umanak

Wir standen auf dem höchsten Gipfel; aber die Kolonie war nicht zu sehen. Statt dessen hatten Georgis scharfe Augen im Norden etwas anderes erspäht. Weit draußen im Meer glitzerten seine Silberstreifen in der Form eines V, die Wellen der »Krabbe«! Das war geradezu unglaublich, aber es stimmte. Nach einer Weile konnten wir im Fernglas auch das Boot selbst erkennen. Es kam schon von Kekertarsuak zurück. Oh, wenn Wegener, Loewe und Tobias wüßten, daß wir von hier oben die »Krabbe« sehen! Wir winkten und winkten, aber wurden nicht bemerkt und wären doch – ehrlich gestanden – so gern bemerkt worden. Wir sahen die Nutzlosigkeit unseres Winkens ein und wandten uns praktischen Arbeiten auf dem Gipfel zu. Der höchste Gipfel hatte drei Buckel, die in wenigen Minuten erreichbar waren. Wir bauten auf jedem einen Steinmann, photographierten und peilten einige Richtungen. Und dann begaben wir uns auf die Suche nach der Kolonie. Wenn wir auf dem breiten Grat immer weiter südwärts kletterten, mußten wir sie doch schließlich einmal sehen. Und tatsächlich erblickten wir sie nach ¾ Stunden, als wir den nächsten etwas niedrigeren Gipfel erreicht hatten, den Gipfel, der von der Kolonie aus gesehen als höchster erscheint. Neben dem kleinen Hafen am Ende der Insel lagen – winzige kleine Pünktchen – die Häuser der Kolonie. Nur mit dem Fernglas konnten wir dort unten ab und zu Menschen zwischen den Häusern gehen sehen. Es war gerade Gottesdienst, und daher erschien die Kolonie wie ausgestorben. Wir ließen die Kolonie Kolonie sein und kümmerten uns um den Gipfel, auf dem wir standen. Der Regen von vorgestern hatte uns frisches Trinkwasser in steinernen Becken beschert. Nach dem Frühstück bauten wir einen stolzen Steinmann, peilten, photographierten und zeichneten, wie wir es gewohnt waren. Weit herumgehen konnten wir dabei freilich nicht; denn fast überall führten furchtbare Steilabstürze in die Tiefe.

Um 11½ Uhr füllte sich unten in der Kolonie der Platz mit Menschen. Vielleicht kam jetzt einer auf den schlauen Gedanken, zu uns herauszuschauen. Die Grönländer haben ja scharfe Augen. Wir machten uns so bemerkbar wie nur möglich; einer winkte mit der Windjacke, der andere beobachtete mit dem Fernglas. Nach einer Weile wechselten wir damit ab. Endlich, zur Mittagszeit, wurden wir gesehen! Die dänische Flagge der Kolonie ging dreimal auf und nieder. Kleine schwarze Menschen fuchtelten mit den Armen herum. Wir waren so begeistert, daß wir immer weiter winkten, bis unsere Arme matt wurden. 16 Stunden waren wir schon unterwegs, hatten uns die letzte Nacht um die Ohren geschlagen und mußten noch einen langen und schweren Abstieg ausführen. Dabei durfte unter keinen Umstanden ein Unfall vorkommen! So war unser Bedürfnis nach Ruhe groß. Zwei Stunden haben wir dann dort oben auf den glatten Steinen gelegen und selig, glücklich geschlafen. Mild wehte der Wind, und liebevoll wärmte uns die Sonne: Von Prometheus zu Ganymed ist nur ein Schritt! –

Vom Abstieg ist nicht viel zu sagen. Er dauerte bis zum Meer sieben Stunden und folgte bis zur Rucksackstelle (500 m Seehöhe) genau dem Aufstieg. Die Steilstellen des Gipfelaufbaues durchkletterten, wir abwärts wiederum am Seil mit größter Vorsicht, Georgi voran. Das weiße Markierungspapier leistete die besten Dienste beim Wiederauffinden des Weges. Als wir das Schneefeld hinter uns hatten, sahen wir schon die »Krabbe« kommen, um uns gleich an der Nordseite des Berges abzuholen. Daher blieb uns erspart, nochmals die schrecklichen Schutthänge unter den Nordwänden zu queren und den langen Landweg zur Kolonie zu gehen. Von der Rucksackstelle stiegen wir auf kürzestem Wege über Gneisstufen und Moos zum Meer ab (am Ufer um 21 Uhr) und riefen, bis Wegener uns fand. Sobald er uns bemerkte, hielt er mit dem Beiboot aus uns zu und beglückwünschte uns aus das herzlichste. Bald waren wir an Bord der »Krabbe«, und damit hatten alle Schwierigkeiten ein Ende. Die Erstbesteigung des Umanak war geglückt!

Schnell fuhr die gute »Krabbe« unter dem vertrauten tack, tack, tack des Motors am Felsenufer des Umanak entlang. Wir waren diesmal mehr als sonst; denn der Kolonieleiter Dan Möller mit seiner Gattin und unser neuer Hundekutscher Johann Davidson waren auch an Bord. Das gab ein Lachen und Fragen und Erzählen! Ob der Berg schwer wäre, ob das Klettern anstrengend gewesen wäre und ob wir keinen Steinschlag bekommen hätten? Und es wäre doch wohl sehr gefährlich gewesen? – Ja, nein, teilweise, gewiß doch; aber es war ganz herrlich, ganz unglaublich schön! – Ob wir wüßten, daß Edward Whymper am selben Tage, auch am 14. Juli, als erster das Matterhorn bestiegen hätte? – Nein, natürlich nicht. Aber das ist ja ein ganz merkwürdiger Zufall! – Wir müßten doch furchtbar müde sein? – Ach wer denkt daran, wo noch jeder Nerv im Körper vor Aufregung und Freude zittert! –

Um 23 Uhr abends fuhr die »Krabbe« in den Hafen von Umanak ein. Nun folgte eine Überraschung der anderen. Die gesamte Einwohnerschaft der Kolonie war am Ufer versammelt. Festlich gekleidet standen vor dem Speicher die Frauen, rechts und links davon die Männer. Plötzlich knatterten Gewehrsalven übers Wasser dahin, Hurra-Rufe ertönten, Jubelgeschrei erscholl. Und dann donnerten die drei Böller der Kolonie los, eine ganz besondere Ehrung; denn selten nur, bei hohen Feiern, werden sie abgefeuert.

Die drei Böller der Kolonie

Die »Krabbe« ankerte. Ein Boot stieß vom Lande ab, legte sich längsseits neben uns; wir mußten einsteigen, durften keinen Finger rühren, wurden an Land gerudert. Kaum setzten wir den Fuß auf die Landungsbrücke, so ergriffen uns die Grönländer, hoben uns auf die Schultern und trugen uns unter den begeisterten Zurufen der Menge auf den Felsenhügel hinauf, wo die Flagge der Kolonie wehte. Da standen wir zwei nun, im Halbkreis von Grönländern und Dänen umgeben, die uns aus freiem Antrieb so herzlich und freudig begrüßt hatten. Nie im Leben sind wir mit solcher Natürlichkeit und Begeisterung gefeiert worden wie von diesen Menschen, die ein so feines Naturgefühl haben und daher wohl empfanden, was unsere Bergbesteigung bedeutete.

Auf all diesen Jubel, auf die geschmückte Volksmenge, auf die wehende Flagge, auf die »Krabbe« im Hafen, auf Wegener, Loewe, Georgi und mich schaute ruhig herab der von einem Steinmann gekrönte Umanak, unser Berg!


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