Georg Weerth
Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten
Georg Weerth

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Die Zeit verging; der dritte Tag kam heran. Dafydd schlich schon um 7 Uhr zu der bewußten Eiche und kletterte oben in die dichtesten Zweige des schattigen Baumes. Es war ein herrlicher Abend. Die sinkende Sonne hatte das Meer ringsum purpurrot gefärbt; bald schaute der Mond über die Berge von Wales, und alle Blumen der Insel Anglesea fingen an zu duften nach Herzenslust. Da rauschte es leis in den Büschen und Zweigen, als kämen von allen Seiten kleine Rehfüße und trampelten dem Lilientale zu. Und nicht lange währte es, da flüsterten hin und wieder silberne Stimmen, und schwarze und blonde Locken flatterten um weiße Nacken.

Lüsterne Herzoginnen stiegen von den leichtfüßigen Zeltern, und gräfliche Augen schimmerten verliebt im Mondschein. Auch rosige Bauernmädchen schauten durch die Tannenzweige – arme Kinder in knappen, kurzen Kleidern, mit einem Gürtel von Efeuranken um das feste Mieder. Dazu blitzten goldene Ketten, nickten lustige Straußenfedern und fächerten schwermütige Augenlider – es war nicht anders, als zöge ein Heer von Elfenköniginnen zu dem Lilientale, um den nächtlichen Reigen zu tanzen. Die Nachtigallen hörten auf zu schlagen, denn sie erschraken vor all der Pracht – auch schlossen die schönsten Blumen ihre Kelche, denn nimmer sahen sie lieblichere Menschenkinder. Gegen die war all ihr Glanz nichts.

Dem Herrn Dafydd oben auf der Eiche inmitten des Wolfsfeldes wurde es plötzlich sehr sonderbar zumute. Eine einzige von den schönen Damen könnte einen andern ehrlichen Mann zeitlebens glücklich machen, und ihn liebten sie doch alle miteinander, alle vierundzwanzig, Herzoginnen, Gräfinnen, Edelmannstöchter und Bauernkinder. Sein Herz schlug ganz unbändig, und fast bereute er, die Pergamentrollen in die Welt geschickt zu haben, woraus denn zu schließen ist, daß man sich auch in der Liebe mit etwas Schriftlichem sehr in acht zu nehmen hat – unter allen Umständen.

Derweile war der Mond ganz leise von Wales herüberspaziert, es mußte schon längst 8 Uhr sein. ›Soll ich oder soll ich nicht?‹ sagte die Gräfin. ›Kommt er oder kommt er nicht?‹ flüsterte ein Edelmannskind, und andere dachten dasselbe. Als es aber mit all dem Flüstern endlich ganz unheimlich im Walde wurde, da wagte sich die erste auf den freien Platz hinaus – und von der andern Seite kam eine zweite und dann eine dritte und vierte schöne Dame, bis zuletzt alle vierundzwanzig unter der Eiche auf dem Wolfsfelde erschrocken einander gegenüberstanden. Da hätte man sonderbarliche Blicke sehen können.

›Wie, so spät an diesem Ort?‹ sagte eine Herzogin zu einer Gräfin. Und: ›Wie, meine Liebe, zu dieser Stunde?‹ erwiderte die Gräfin der Herzogin. Und: ›Gretchen, was treibst du hier?‹ flüsterte ein Bauernkind. Und: ›Ach, Mary!‹ tönte es zurück. Und ›O weh‹ und ›Mein Himmel!‹ und ›Heiliger Georg!‹, so ging es um die Wette von Mund zu Mund; und die stolzen adligen Augen fingen an zu funkeln, und manche wollten weinen, und andre wußten nicht, was sie tun sollten. – Ein böser Dämon schien aber mit allen sein Spiel zu treiben, denn keine der Damen vermochte den Fuß vom Boden zu heben und sich zu entfernen. Da rief plötzlich eines der armen Kinder den Namen ›Dafydd‹ aus.

O Herzeleid, welches Unheil richtete dies an!

Nun wußten sie gleich alle, wie es mit der Sache beschaffen war. Die Herzoginnen rissen die Straußenfedern von ihren holden Häuptern, die Gräfinnen zerdrückten ihre Perlen, die Edelmannskinder zerrauften ihre lieblichen Locken, und die Bauernkinder warfen ihre Veilchen und Vergißmeinnicht nach allen Winden. Mitten in den Kreis der Unglücklichen trat aber eine schwarzhaarige, prächtige Gräfin. Sie hob ihre rechte Hand feierlich empor und sprach: ›Er sterbe‹, und alle stimmten ein: ›Wir wollen ihn töten! Dafydd tot! Töten! Tot!‹

Ringsum wurde es still. ›In der Tat?‹ klang es da plötzlich aus der Krone des Eichbaums herunter. – Erschrocken blickten die Damen empor. Es haspelte sich jemand aus den Zweigen los – jetzt kam es: zwei lange Poetenbeine – und dann eine Hand und ein Arm – eine Brust, ein Kopf, ein ganzer Mann – Dafydd ab Gwilym!

Er lachte laut auf, schüttelte sich hin und her, und die goldgelben Locken tanzten wie toll um seine Stirn.

›Also, ihr wollt mich töten?‹ rief er spöttisch. ›Oh, das ist herrlich, hier bin ich!‹ In diesem Augenblicke wünschten sich alle Damen ein Paar Flügel, um den Eichenbaum oben in der Spitze erreichen zu können; denn jede verspürte die größeste Lust, dem verräterischen Dafydd die bläulichen Augen auszuhacken.

Dieser merkte ihre Gedanken, und galant, wie er war, stieg er bis auf den untersten Ast der Eiche hinab, so daß er von den vierundzwanzig Schönheiten nur eine Elle weit entfernt war. Sie konnten ihn deutlich sehen, und trotz Haß und Kummer wären sie fast wahnsinnig geworden, denn so schön war der liederliche Mensch.

Dafydd setzte sich aber gemächlich nieder und sprach folgendermaßen:

›Teure Herzogin, süße Gräfin, holdes Edelmannskind, und du, Gretchen, und Mary und ihr andern vom zarten, erfreulichen Pöbel, höret mich alle an! Daß ich euch liebe, das wißt ihr schon; ich hab es euch häufig gesagt! Aber, welche von euch liebe ich am meisten?‹

Die Frauen und Mädchen schauten auf Dafydd und blickten sich untereinander an. Eine jede dachte: Ich habe gewiß die schönsten Augen! Ich habe gewiß den kleinsten Fuß! Ich habe die reinste Stimme! Ich habe die kußlichsten Lippen! – Es war ein sehr peinlicher Augenblick. Dafydd fuhr fort: ›Welche ich von euch am meisten liebe, das werdet ihr schwerlich erraten! Frau Herzogin, Ihr würdet unübertrefflich sein, wenn Ihr Gretchens schlanke Taille hättet; und Gretchen, du würdest noch viel schöner sein, wenn du so geschmückt wärest wie die schwarze Gräfin. Aber, Frau Gräfin, weshalb habt Ihr auch nicht so lustige Augen wie Mary? Und Mary, wie kommt's, daß du nicht singen kannst wie mein Edelmannskind?‹

Und so nannte er sie alle bei Namen und verglich sie untereinander und lobte die eine noch mehr als die andere. Dies hatte eine erschreckliche Wirkung.

In nicht mehr als zehn Minuten entspann sich eine unvergleichliche Eifersüchtelei zwischen den vierundzwanzig weiblichen Herzen.

Bald schaute niemand mehr auf Dafydd; eine Nachbarin blickte die andre mit zornigen Augen an. ›Du hast auch gewöhnliche Kleider an‹, sagte die Gräfin zu Gretchen. – ›Und du singst auch wie eine Bachstelze‹, sagte Gretchen zu Mary. Und so warfen sie sich gegenseitig ihre Fehler vor, und immer toller wurde der Wortwechsel, und bald verloren die Bauerndirnen alle Geduld und fingen an, sich die Röcke zu zupfen und dann die Ohrläppchen und die zierlichen Nasen. Herzoginnen und Gräfinnen mischten sich in den Streit. Es war ein Schreien, ein Schelten, ein Weinen, ein Schluchzen und Verwünschen, daß der Wald rings davon widertönte und die Hirsche sich erschrocken im Traume emporrichteten. Weithin über das Wolfsfeld im Lilientale flogen zerzauste Locken, zerrissene Bänder und Schürzen.

Hier ein zerstörter Herzogsschmuck, dort ein gräflicher Schuh und die Korallenkette eines Bauernkindes. Da war jeder Rang und jede Würde vergessen, mit Kneifen und Püffen drehte sich die ganze Gesellschaft unter der Eiche herum, und wollte eine entfliehen, da setzte man ihr nach, und wollte eine davonlaufen, da wurde sie eingeholt, so daß sich bald der Kampf weit über das Wolfsfeld hinaus bis tief in den Wald erstreckte.

Derweile saß Herr Dafydd ab Gwilym ruhig in den Eichenzweigen und mußte sich schier ohnmächtig lachen. Als er aber bemerkte, daß seine vierundzwanzig Geliebten genug mit sich selbst zu schaffen und ihn durchaus vergessen hatten, da ließ er seine Beine schnell den Eichbaum hinunterbaumeln, – jetzt ein Sprung, da stand er auf dem Boden, und husch, verschwand er in dem Gebüsch. Am Ufer der Menaistraße lag ein Kahn, schnell ruderte er nach Wales hinüber und reiste dieselbe Nacht noch manche Meile durch das Gebirge, bis er in den Süden kam. Dort blieb er und hat sich viele Jahre lang nicht wieder auf der Insel Anglesea sehen lassen.«

»Pfui über diesen treulosen Dafydd ab Gwilym!« rief Maria und ballte ihre lieblichen kleinen Fäuste. Da entfernten sich die Mädchen, denn es war schon sehr spät. Ich blieb allein mit dem Lord zurück. Der gute Mann war selig entschlafen. Er hielt die Hände über der »Times« gefaltet, sein Kopf war rückwärts auf die Lehne des großen Stuhles gesunken, und die Beine, kurz und kräftig, wie sie einem Lancashire-Mann zukommen, ruhten weit voneinander auf dem dunkelroten Teppich. Seliger Mann, glücklicher Handelslord, wie sanft ist dein Schlummer! Welch reizende Träume mögen deiner ewigen Seele jetzt vorüberschweben! Du denkst vielleicht zurück an die Tage deiner Kindheit, deiner stürmischen Jugend – wo du zuerst auf deiner Bleiche ein Stückchen Garn begossest. Die goldgelben Butterblumen nickten dir weissagend aus dem Grase entgegen. Es wurde dir ganz goldgelb vor den Augen, und kühn entwarf dein rastloser Geist die verwegensten Pläne. »Ich will der Industrie einen Tempel bauen!« So klang es von deinen kirschroten Lippen; du gingst in die nächste Taverne, trankst ein Glas Brandy mit Wasser und wurdest deiner Sache noch viel gewisser und wurdest deiner Sache so gewiß, daß, als wieder die goldgelben Butterblumen im folgenden Jahre auf der Wiese blühten, schon eine milchweiß angestrichene Fabrik ins Land hinausschaute und der gewaltige Schornstein gleich einem einsamen Zeigefinger dem Vorübergehenden zu gebieten schien: »Wanderer, wer du auch seist, stehe still! Hier wohne ich!«

Gutmütige Ochsen bewegten anfangs deine Maschinen. Aber du schlachtetest deine Ochsen und spanntest den Dampf vor die schnurrenden Räder, und die Räder schnurrten und die Maschinen stöhnten, während deine Seele jauchzte über die stets wachsende Zahlenkolonne deines riesigen Hauptbuches. Ein wahres Weltbewußtsein bemeisterte sich deiner; mit dem Glanz deiner Stoffe schmücktest du den alten Erbfeind, den Türken – Mitleid ist eine schöne Tugend! – und den langen Irokesen und den Buschmann, und in hundert Meetings schwärmtest du für Befreiung der Sklaven und vergaßest schier aus Sorge für die entlegensten Völker, daß deine eignen Arbeiter, die Gründer deines Glücks, lumpiger einhergingen als Türk, Irokese und Buschmann und geknechteter waren als die geknechteten Schwarzen. – Wie sanft ist dein Schlummer! Blankgemünzte, goldgelbe Butterblumen, freundliche Baumwollballen und zärtliche Dampfmaschinen nicken erheiternd in deine Träume hinein – o gewaltiger Lord!

Aber da erwachte der Lord und fragte mich mit schlaftrunkener, lallender Stimme: »Sagen Sie mir doch, haben Sie in Wales Geschäfte?«

Ich hatte wenigstens erwartet, der gute Mann würde mich, wie Hunderte seinesgleichen, fragen, ob ich nicht seinen speziellen Freund, den Herrn William Shakespeare kennte. Aber nun gar Geschäfte! »Ich reise einige Meilen weiter«, erwiderte ich ihm, »um einen Herrn Merlin aufzusuchen; ein sonderbarer Gesell, Zauberer!«

»So? Merlin, Zauberer? Don't know him! Also nicht in Geschäften?« – »Nein!« – »Sehr sonderbar! Die Deutschen kommen doch gewöhnlich in Geschäften nach England. Ich weiß das aus Erfahrung und habe es noch neulich in einem Buch des Herrn Howitt über Deutschland gelesen! Die Deutschen haben noch nie Geld in unser Land hereingebracht – sie wollen nur immer etwas hinausnehmen.«

»Was jedenfalls sehr schlau von den Deutschen ist!«

»Nun ja! Wir Engländer treiben es aber doch ganz anders. Wir verdienen daheim und verzehren auswärts, und, nehmen Sie mir's nicht übel, das ist eigentlich viel ehrenvoller, viel höflicher!«

»Ohne Zweifel, aber freuen Sie sich doch, daß es noch ein Land in der Welt gibt, wo mitleidige Gastwirte die fahrenden Fräuleins, die zerrütteten Bankiers und die zweifelhaften Geldheroen Alt-Englands für ein Billiges an ihr Herz drücken! Ich kann Ihnen versichern, daß mich einst ein reisender Brite in das Estaminet eines rheinischen Dampfschiffes zog und mich mit flüsternder Stimme fragte, ob es denn wirklich nötig sei, daß man in Mainz zu Mittag speise!«

»Eine Ausnahme, mein Herr!« rief der Lord etwas zornig. – »Aber eine edle!« erwiderte ich ihm. »Senden Sie uns nur viele arme Engländer! Wir lieben die Armen in Deutschland – und sie finden Gesellschaft! Ach, die Armen! Sie säen nicht, sie ernten nicht, und unser himmlischer Vater...«

»Wie, Sie sind religiös?« fragte der Lord verwundert. »Das ist seltsam! Herr Howitt sagt, man kenne das Christentum in Deutschland fast nicht mehr. Und die Universitäten – das muß ja erschrecklich sein! Unter zwölf Studenten sollen immer zehn sein, welche Deisten sind. Schrecklich!«

»Das ist Verleumdung! Wenn Herr Howitt das gesagt hat, so ist es Verleumdung! Aber vielleicht weiß Herr Howitt nicht, daß die Studenten, seit er Umgang mit ihnen hatte, schon wieder viel gescheiter geworden sind. Übrigens will ich Ihnen nur gestehen, ich habe das Buch des Herrn Howitt ebenfalls gelesen – es ist ein vortreffliches Werkchen, ganz gut für einen religiösen Engländer, und jedenfalls kann noch etwas aus ihm werden, wenn er bei dem ersten besten Sozialisten Schneider in England Privatunterricht nimmt!«

Bei diesen Worten drehte sich der erschrockene Lord dreimal auf seinem Stuhle herum.

»Wie, Herr Howitt bei einem Sozialisten Unterricht nehmen? Bei einem Menschen, wie ich sie dutzendweise aus meiner Fabrik gejagt habe? Bei einem Sozialisten, der schlimmer ist als ein deutscher Student?« – Der Lord stand auf und schlich zu Bette.

Draußen entfaltete indes die Nacht ihre lieblichsten Reize. Ich ging die Meerenge entlang und spazierte über die ungeheure Brücke nach Anglesea. Von dort aus sieht man am besten die wilden Berge von Nordwales. Ihre schroffen, zackigen Umrisse stachen prächtig gegen den mondhellen Himmel ab. Alles war still, nur die Wellen schlugen leise rauschend an die felsigen Ufer. Weshalb reisen die Engländer lieber in der ganzen Welt umher, um kolossale Berge, blaue Seen und alte Wälder zu schauen? In Wales haben sie alles und besuchen es nur wenig, wie man mir versicherte. Ist es ihnen um die historischen Erinnerungen so sehr zu tun? Die haben sie in Wales auch – rings auf den Hügeln zerstörte Schlösser – ein tröstlicher Anblick! – Aber in andern Ländern ist ja alles billiger! O über die Engländer! Es ist einerlei, was für Berge sie sehen, nur billig, billig! – so schreit der größeste Haufen! Wenn John Bull eine Reise machen will, da geht er bei guten Freunden herum und fragt, ob es wohl 10 Pfund weniger koste, wenn er nach Algier reise statt nach Petersburg, und ist dies der Fall, da pilgert er nach Algier, so sicher wie zwei mal zwei vier ist.

Am folgenden Morgen wiegten wir uns in einem Kahne nach dem alten Carnarvon hinunter. Maria schöpfte mit den kleinen Händen etwas Seewasser und schnitt die lieblichsten Grimassen, als ihre rosigen Lippen mit der salzigen Brühe Bekanntschaft machten. Der Lord schlürfte Politik aus einem Tory-Blatt, während die erhabene Tochter Clara sittsam in den Morgen hinausstierte.

»Carnarvon, meine verehrten Freundinnen, ist eine Stadt wie andre mehr; alt, engpässig und finster. Am westlichen Ende des Ortes steht die grandiose Ruine des Schlosses, welches Eduard I. für Geld und gute Worte weiland aufführen ließ. Sehen Sie dort die fürchterlichen Trümmer! Wünschen Sie einen Quaderstein als Andenken? Ich hole ihn gern herunter. – Die Chronik von Carnarvon ist sehr interessant und hat namentlich eine rührende Geschichte aufzuweisen, die den Beweis liefert, daß unser deutsches Weinsberg nicht die einzige Stadt ist, welche sich der Weibertreue rühmen kann. Ein Fürst von Nordwales zog nämlich einst von Schottland in den Krieg und hatte in seinem Heere viele Arvon-Männer. Man wollte nur ein halbes Jahr ausbleiben; die Unternehmung zog sich aber sehr in die Länge, und weil damals die Postverbindungen noch nicht recht geregelt waren (denn der Feldzug geschah in einer Zeit, wo man noch keine Zeitungen las und auch kein Piano spielte), so konnte niemand von allen Helden nach Hause schreiben, ob er gesund geblieben. Dies verdroß die zurückgebliebenen Ehefrauen, und als wiederum das dritte Frühjahr ins Land kam, da hielten sie eine feierliche Ratsversammlung, fingen an zu weinen und erklärten vor allem Volke, ihre teuern Ehemänner müßten wohl sämtlich erschlagen sein, und das sei höchst traurig!

›Aber weshalb sollen wir den süßen Rest unseres Lebens ehelos vertrauern?‹ riefen sie, trockneten ihre Tränen und heirateten, ihrer dreihundert liebenswürdige Frauen an der Zahl, die dreihundert liebenswürdigsten Diener ihrer geschiedenen Herren – worunter sehr stattliche Burschen gewesen sein sollen. Man kann sich den Jubel in Carnarvon denken. Dreihundert Hochzeiten auf einmal! Es waren nicht genug Eier aufzutreiben, um alle die hübschen Festkuchen zu backen. Aber ein altes Sprichwort sagt:

›Heute Küssen und Lecken,
Morgen Prügel und Stecken!‹

Und so geschah es auch in Carnarvon, denn plötzlich zogen am Abend die dreihundert Arvon-Männer gesund und wohl wieder in ihre Vaterstadt ein. O großes Herzeleid! Die alten Ehemänner liebte man, denn alte Liebe rostet nicht; aber die jungen hatten sich auch bewährt – was sollte man tun? Manche der sittsamsten und versöhnlichsten Frauen schlugen vor, man solle beide Männer behalten, denn was dem einen recht sei, das dem andern billig. Damit waren aber weder die alten noch die jungen Gesellen einverstanden, indem sie den Frauen begreiflich machten, daß keine von ihnen zween Herren dienen könne. Sehr verwickelt war dieser Streit.

Da legte sich der großmütige Fürst von Nordwales, der sich als treuer Landesvater auf Liebeshändel vorzüglich verstand, ins Mittel; er wußte seine Krieger so zu beschwatzen, daß sie ihren frühern Ehehälften entsagten und mit einem Schlage dreihundert freundliche Bauerndirnen unter die Haube brachten. Er entschädigte sie außerdem noch durch vierzehn Privilegien, welche teilweise bis auf den heutigen Tag bestehen.

Unter den vierzehn Privilegien ist aber das nicht mit einbegriffen, daß die dreihundert Krieger ihre jungen Weiber nach Herzenslust küssen konnten. Die Chronik bemerkt dies ausdrücklich und versichert, solches verstehe sich von selbst.

Und so geschah's.«

»So scheint denn in diesem Lande nie Treue existiert zuhaben!« rief Maria. »Der goldlockige Dafydd ab Gwilym verläßt seine vierundzwanzig Geliebten, und die dreihundert Frauen in Carnarvon geben ihre Ehemänner auf! Aber die Geschichte des Barden Dafydd ist jedenfalls am abscheulichsten.«

»Ich bitte Sie, Fräulein, erzürnen Sie sich nicht. Die welschen Barden sind mitunter auch sehr treu gewesen. Da hat es einen gegeben, der kam in seinen jungen Jahren einst an einer Hütte vorüber und sah vor der Tür auf einem bemoosten Steine das lieblichste Mädchen sitzen. Er küßte es dreimal auf den roten Mund, und das gefiel beiden so sehr, daß sie sich ewige Treue schwuren. Der junge Mann mußte aber in den Krieg, wurde vom Feinde gefangen und weit in der Welt umhergeschleudert. Erst als sein braunes Haar silberweiß geworden, kehrte er in die Heimat zurück. Da hatte sich alles verändert; er konnte schier sein väterliches Dorf nicht wiederfinden, und wenn er die Leute danach fragte, da verstanden sie ihn nicht, denn er redete beinahe in fremden Zungen. Nur die Berge standen noch an der alten Stelle; sie zeigten ihm den Weg, und glücklich erreichte er das Tal und die verfallene Hütte, wo er vor fünfzig Jahren zuerst geliebt und geküßt hatte.

Die Sonne funkelte eben in den schwarzen Eichenwald hinunter. Der alte Mann schlich um die Hütte herum, durch den kleinen Garten, und siehe, als er vor die Tür kam, da saß gerade wie vor fünfzig Jahren ein weibliches Wesen auf dem bemoosten Steine. Es war eine alte, alte Frau; sie hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen, denn sie schlief. Der Greis hätte sie gern angeredet und nach seiner Geliebten gefragt, denn er dachte nicht anders, als daß sie noch geradeso jung und schön wie früher wäre. Als er aber sprechen wollte, da konnte er die Worte gar nicht zusammenfinden; es wurde ihm so traurig ums Herz; er näherte sich der alten Frau, und es war ihm nicht anders, als müsse er sie dreimal auf die Lippen küssen. Das tat er denn auch, und die Frau erwachte. Die guten Leute schauten sich lange Zeit mit ihren alten Augen recht ernsthaft an. Als sie aber inne wurden, daß eins das andere vor fünfzig Jahren recht herzlich umschlungen hatte und daß sie sich noch liebten wie ehedem, da flossen ihnen die hellen Tränen die Wangen hinunter. ›Ach, könnte ich dir doch sagen, daß ich es wirklich bin!‹ dachte der Greis und besann sich hin und her, ob er denn gar kein Wort mehr von dem wüßte, was er einst in der Geliebten Ohr geflüstert. Da tauchte eine alte Melodie in seiner Seele auf:

›O gib mir Milch und gib mir Brot!‹

Er sang es mit zitternder Stimme. Die alte Frau setzte sich auf den bemoosten Stein und summte den Refrain:

›Ja, süße Milch und Weizenbrot!‹

Und da schlummerte sie ein und ist nie wieder erwacht.

Der Greis aber stieg auf den Felsen, der über der Hütte hing, und seine schneeweißen Haare flatterten im Abendwinde. Lange Jahre hat er dort noch unverständliche Lieder gesungen, bis ihn die Bauern in Wales begruben. Um den Felsen und die alte Hütte sind aber so viele Rosen gewachsen, daß man nichts mehr davon sieht. –«

»Das ist wieder etwas von dem fatalen Unsinn!« rief der Lord und faltete seine Zeitung. Unser Kahn stieß eben ans Land; die beiden Mädchen sprangen in die Blumen; der Lord rollte hinter ihnen her. Auf der Gasse in Carnarvon hielten uns aber einige Kinder an:

»O gib mir Milch und gib mir Brot!
Ja, süße Milch und Weizenbrot!«

Eine kleine zerlumpte Schönheit flehte so heiß mit ihren düstern Augen.

 

Von der Küste fuhren wir ins Land hinein. »Liebe Maria! Das ist manchem deutschen Poeten schon so gegangen, daß er den Shakespeare zwei- und dreimal las und endlich zu der Überzeugung kam, er werde nie ein Shakespeare.« – »Aber das ist auch gar nicht nötig, mein Freund, mache er Frühlingslieder und hänge sich auf – da ist er mit Ehren aus der Welt! Wollen Sie indes ein Drama aufführen lassen – wohlan, mein Herr, es sei Ihnen vergönnt! Nur seien Sie versichert, die Geister der Unweisen werden auf der Galerie sitzen und über Sie lachen!«

»Ach, daß doch nichts auf Erden vergänglich ist! Alles ist ewig – sogar die Narretei! Nicht so dachte jüngst ein rheinischer Gelehrter, als er den gräßlichen Plan faßte, die schlechtesten Gedichte des Jahrhunderts zu sammeln und durch einen Folianten des Unflats der Welt zu beweisen, daß sie nichts Besseres tun könne, als ihre Poeten samt und sonders zu verbrennen. Der treffliche Mann ging rüstig ans Werk. Ein Jahr und drei Monate wühlte er mit unverwüstlicher Ausdauer im poetischen Schmutz umher; Nacht und Tag tanzte seine Feder über das Papier, und groß und klein erwartete etwas Ungeheures, denn niemand wußte, was der Gelehrte schaffe. Und siehe, eines Morgens trat er freudestrahlend aus seinem Gemache, Meister und Jünger sammelten sich um den Würdigen – er war blaß und mager geworden durch die große Anstrengung. ›So habe ich vollbracht die herkulische Arbeit!‹ rief er und legte ein riesiges Manuskript auf den Tisch. Auf dem Umschlage des Manuskripts aber las man: ›Saubohnen deutscher Dichter!‹

Unendlicher Jubel erfüllte die Hallen. Man sandte den Pedell in das nächste Wirtshaus und forderte des rötlichen Weines, denn die Geburt des Folianten mußte und sollte gefeiert werden. ›Wird er nicht Schätze erobern durch dieses Werk?‹ raunte man sich in die Ohren. ›Nicht per Bogen, nein, per Pfund Gedicht wird man ihn honorieren.‹ Da schwand der Tag – die schwärzliche Nacht kam. Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern emporstieg, wandelte der Gelehrte aufs neue die Gassen hinunter.

›Perser nennen's Bidamagbuden,
Deutsche sagen Katzenjammer.‹

So klang es durch seine träumerische Seele! Nur schwankend trat er in das Comptoir eines Verlegers. ›Sind Ihnen Saubohnen deutscher Dichter gefällig?‹ fragte der Gelehrte den Buchhändler. Der Buchhändler schnitt ein Gesicht, als würde er gekreuzigt. – Das Wort ›Gedichte‹ ist allein schon hinreichend, um einen Verleger ohnmächtig zu machen; aber nun gar noch ›Saubohnen‹! – ›Auf Ehre und Seligkeit, nein, Herr, ich verlege alles, nur gerade diese Saubohnen nicht!‹

›O der Tor!‹ murmelte der Gelehrte und verfügte sich in den zweiten Buchladen. Die Sage meldet, daß es ihm dort nicht besser erging, und die Chronik fügt hinzu, daß er beim dritten Verleger nicht mehr Glück gehabt, und das Wochenblatt versichert, im vierten Buchladen hätte sich auf Till Eulenspiegels Porträt, das an der Wand hing, bei dem Antrage des Gelehrten das Haar steif emporgerichtet. Wie dem auch sei – die Saubohnen wanderten vom Herrn Habicht zum Herrn Sperber, wanderten von Marcus zu Matthäus, und niemand wollte sie verlegen. Da sollen dem Gelehrten die hellen Tränen im Auge gestanden haben. Er hat die Saubohnen in den Rhein versenkt – dort liegt nun der Foliant und wartet der Auferstehung.«

Maria sah mich ernsthaft an. »Also war der Gelehrte, der die schlechten Gedichte sammelte, eigentlich ein größerer Narr als all die Poeten, welche...« – »Sie sind scharfsinnig, liebe Maria. O unsterbliche Narrheit! Es ist nur gut, daß sich jeder Narr mit großer Gesellschaft trösten kann. Herr Dafydd ab Gwilym, den Sie so sehr liebgewonnen, war auch bei weitem gescheiter, als er, noch jugendlich, vierundzwanzig Geliebte küßte, denn später, wo er mit einem andern Barden in einen zehnjährigen poetischen Streit geriet. Die alten Knaben stachen sich mit den spitzesten Reimen und prickelten sich dermaßen, daß ihren Freunden die Geschichte endlich zu toll wurde. Der ganze Streit war ohnehin nicht wichtiger, als wenn zwei Affen sich um einen Zwieback balgen. Man beschloß also, die Unglücklichen zu versöhnen, es koste, was es wolle.

Der eine Barde wohnte in Nordwales, der andere in Südwales. Da reiste ein lustiger Gesell, der beide Dichter kannte, zuerst in den Norden und verbreitete dort die Nachricht, Herr Dafydd im Süden sei plötzlich gestorben. Dies betrübte den nördlichen Barden so sehr, daß er sich gleich hinsetzte, allen Haß überwand und seinem toten Feinde das rührendste Leichencarmen dichtete. Als dies in vielen Abschriften verbreitet war, eilte der Vermittler schnell vom Norden in den Süden und log dem Barden Dafydd vor, soeben sei der alte Feind im Norden mit Tode abgegangen. Herr Dafydd schüttelte sein greises Haupt. ›Wir haben uns zehn Jahre lang befehdet‹, sprach er, ›es tut mir aber doch leid, daß der Mann tot ist!‹ Und wunderbarerweise dichtete auch er dem totgeglaubten Feinde den herrlichsten Grabgesang.

Da hatten die Freunde der beiden Barden genug – sie lasen dem einen des andern Gedicht vor, und als man ihnen dann den Betrug entdeckte, da wurden sie ganz wehmütig, kamen auf der Grenze von Nord- und Südwales zusammen, machten Frieden, umarmten sich, und ihre wallenden schneeweißen Haare flossen ineinander.

Aber der Henker hole alte und neue Barden! Schweigen wir davon. Sehen Sie, teure Maria, wie dort die zackigen Felsen so wild übereinandergeworfen sind. Wie ein Haufen Fastnachtsnasen. Es ist der Paß von Llanberis, der sie in schmächtigen, schwindsüchtigen Windungen durchschneidet.«

Unser Pony, ein wahrer Tom Thumb unter den Gäulen, trabte lustig vorwärts. Bald über die Brücke eines schäumenden Waldbachs, bald über Hügel und Steingeröll, – durch Moor und Wiesen ging die Fahrt, bis wir, plötzlich stillhaltend, uns in der tiefblauen Flut eines Sees spiegelten.

Die Natur, die größeste Künstlerin unsrer Zeit, malt hier mit drei Farben das grandioseste Gemälde. In der Tiefe das blaue Wasser, ringsum schwarze Felsen und in langen Streifen, in dem Schacht der Gesteine, das zarte Rot blühenden Heidekrautes. Wir machten halt und warteten eben nicht sehnsüchtig auf den Lord und Clara, die in einem andern kleinen Wagen den Weg von Carnarvon bis ins Gebirge nicht so schnell zurückgelegt hatten.

Als die kleine Gesellschaft zu unserm Leidwesen wieder beieinander war, trieben wir die Pferde am Ufer des Sees entlang und erreichten bald das Dorf Llanberis. Hier versahen wir uns gehörig mit menschenstärkenden Flüssigkeiten; eine Schaffnerin tischte das Brot auf und der Gerichte einige aus dem erträglichen Haushalt; wir packten alles zusammen, bestiegen jetzt ein jeder einen Pony und setzten die Tour unverzüglich fort.

Von der See aus gesehen nehmen sich die Berge von Nordwales nur wie mäßige Hügel aus. Mehrere Male war es mir, als führen wir auf dem Rheine, von Andernach hinunter, und die Höhen des Siebengebirges, wo unser Simrock sein unvergleichliches Eschenblut keltert, stiegen aus der Flut empor.

Die vordere Kette der Berge in Wales hat wirklich viele Ähnlichkeit mit den rheinischen Gebirgsformen. Alles nahm aber eine andre Gestalt an, als wir das Land selbst durcheilten; da gab es keine sanftmütigen Täler, voll von blühenden Obstbäumen und betrunkenen Studenten, wie zu Honnef und Heisterbach, – nur rechts und links finstere Schluchten, Karzern ähnlich, mit einem See in der Tiefe, und emporsteigend immer gewaltigere Massen, kahl, dunkel und unheimlich, die sich hin und wieder schroff zerteilen, um stets neue, phantastische Felsengruppen erscheinen zu lassen. Kein Baum, kein Strauch schmückt bald die Gegend mehr; nur silberhelle Bäche springen überall keck aus den Steinen, rieseln erst einzeln und brausen dann vereinigt in prächtigen Kaskaden der Tiefe entgegen. Diese Bäche sind eine sehr nützliche Erfindung, denn Mensch und Tier, welche die Berge hinankeuchen, können sich alle zehn Minuten einmal erfrischen; auch wir benutzten sie häufig, indem wir das klare, eiskalte Wasser mit Brandy und Zitronensaft vermischten und auf diese Weise den erfreulichsten Grog americain bereiteten. An jedem Quell machten wir halt und beschauten, was ringsumher von neuen Landschaften sichtbar wurde. Zuerst das Dorf Llanberis mit dem See, dann auf mehreren Hügeln die Trümmer zerstörter Kastelle, die Menaistraße dann und die Insel Anglesea, welche bald in ihrem ganzen Umfange vor uns lag. Die Aussicht nach der offenen See versperrte uns noch ein kolossaler, unhöflicher Bergrücken.

Während unsere Pferde munter vorwärts kletterten, zog plötzlich ein sehr beunruhigender Nebel aus den Schluchten empor, die Gipfel waren bald schwarz verhängt, die Gegend unten zwar noch sichtbar, oben aber totale Finsternis.

Wir hatten dies nicht zu bereuen; denn wie der junge Held im »Titan« sich selbst die Binde vor die Augen band, um sie erst auf dem höchsten Punkte der Insel im Lago Maggiore zu zerreißen und die Alpen und die Seen mit einem Male zu überschauen, so wand uns die Natur ihre Wolkenschleier um die Köpfe, damit wir nur von dem Gipfel des ehrwürdigen Snowdon plötzlich das Wundervollste erblicken möchten.

Das war wieder sehr liebenswürdig von der Natur! – Der Snowdon ist der höchste Punkt der Gebirge in Wales. Wir erreichten ihn, ohne es zu wissen, und wunderten uns, als wir mit einem Male vor dem kleinen, hölzernen Hause des bekannten William Williams standen. Dieser gute Mann hielt es für seine Bestimmung, auf dem erhabensten Orte Großbritanniens, der, nebenbei gesagt, nur etwa zehn Fuß breit und fünfzehn Fuß lang ist, jahraus, jahrein den vorzüglichsten Mokka zu brauen. William war früher ein Gärtner und sehr glücklich unter seinen Rosen und Veilchen. Eine zornige Ehefrau verbitterte ihm aber endlich das Leben. Da hing William eines Morgens ein Schaffell um die lieben Glieder, stieg den Berg hinan, zimmerte aus Tannenbrettern eine Hütte und weilt nun dort, bibellesend, kaffeekochend und schlafend – ein einsamer Mann, der höchste Mann Englands.

Erschöpft war Lord John in Williams Arme gesunken.

»Seit der Geldkrisis von 1825 habe ich nicht ein solches Zittern in den Beinen gehabt!« stöhnte der wohlhabende Mann.

Clara, die gleich einem Leuchtturm die Spitze des Snowdon überragte, tröstete ihren Vater mit der Bemerkung, daß nur der Brandy schuld daran sei.

»Heiliger Gott, wie kann man in Gegenwart der unendlichen herrlichen Natur eine so triviale Äußerung machen!« fuhr der Alte fort. »Nicht der Brandy, nein, die Freude ist es, die mich zittern und wanken läßt; die Freude, daß ich, Mosen gleich, von der Spitze dieses Berges endlich mein Kanaan, mein teures England überschauen und begrüßen kann!«

Die Aussicht nach dem Lande Kanaan verhinderte indes, wie gesagt, einstweilen noch ein sehr beunruhigender Nebel. Wir traten deswegen in Williams Hütte und ließen uns auf einigen schlechten Schemeln nieder, die im Kreise um den Herd standen.

»Fürsten und Könige haben schon auf diesen Stühlen gesessen!« versicherte William. Der Cotton-Lord faltete andächtig die Hände, Clara hätte fast vor Freuden geweint.

»Hamlet, der Dänen König, hat noch neulich mit mir gefrühstückt«, fuhr William fort.

»Heiliger Gott, wie interessant!« bemerkte der Cotton-Lord.

»Ist das derselbe Hamlet –«, begann Clara.

»Der uns das Theaterstück gemacht hat«, versicherte William.

Wilder kochte der Teekessel, es wurde mir ganz teekesselig zumute.

»Ferner besuchte mich der Prinz von Preußen«, fuhr William fort. »Er hatte lange blonde Haare, er ging in Reitstiefeln und rauchte aus einer Meerschaumpfeife.«

»Entsetzlich!« seufzte Clara.

»›Schwerenot, Donnerwetter‹, sagte Se. Königl. Hoheit, als sie mich verließ, ›Kerl, hier hast du zwanzig Schilling Sterling!‹«

»Aber was heißt das: Schwerenot, Donnerwetter«, erkundigte sich Clara.

»Pomeranzen, Lilien und Zitronenblüten!« erwiderte ich ihr.

»Oh, wie freundlich sich doch ein Prinz auszudrücken weiß –«, bemerkte der Cotton-Lord.

»Auch der König von Sachsen hat einmal bei mir logiert«, erzählte William weiter. »Er trank Kaffee mit mir –«

»Kaffee?« rief die lange Clara verwundert.

»Allerdings! Aus dieser zerbrochenen Tasse –«, versetzte William.

»Schwerenot, Donnerwetter«, jubelte der Cotton-Lord, »die Tasse ist mein! Die Tasse behalte ich als Andenken –«, und schmunzelnd schob er zwei Kronen in die Hände des lächelnden William.

Während die guten Leute sich auf diese Weise von allen möglichen und unmöglichen Potentaten der Welt unterhielten, schaukelte sich Marie auf dem einzigen Sessel, den die Hütte aufzuweisen hatte, indem sie das Köpfchen senkte, die Arme übereinanderschlug und die kleinen Füße der Glut des Feuers entgegenstreckte – die kleinen, himmlischen Füße!

»Ach! aber ach! das Mädchen kam
Und nicht in acht das Veilchen nahm,
Ertrat das arme Veilchen.
Es sank und starb und freut' sich noch:
Und sterb ich denn, so sterb ich doch
Durch sie, durch sie,
Zu ihren Füßen doch.«

»Goddam!« klang es da draußen vor der Tür. Es war unser Führer, der aus Herzensgrunde so rief. Der Mann hatte recht, daß er so freudig andächtig fluchte, denn eben blies der Wind von Irland herüber – noch zwei, drei Stöße, und zusammen stürzten die verräterischen Wolkenmassen.

In wildem Strudel wälzte sich der Nebel vom Haupt des Gebirges, und in den Schluchten, wo kein Entrinnen war, zerstob er an den Zacken der Felsen, und höhnisch pfiff der Sturm hinter ihm her und pfiff so lange, bis aus dem Pfeifen ein Heulen und Donnern wurde und die ganze Natur aufzuschreien schien in einem einzigen, in einem zerschmetternden »Goddam!«

Prächtig aber wandelte die ewige Sonne durch den reinen, heitern Himmel, und die Wogen des Meeres leuchteten in ihren Strahlen! Rechts in blauer Ferne die Spitzen der schottischen Berge, links England und Wales, und vor uns die See, die unendliche – mit dem Lande des unendlich verachteten, geknechteten Volkes – einen Gruß dir, Irland!

Es war schon Abend, als wir den Rückweg antraten. Der Lord und Clara reisten in die Bäder von Beaumaris. Ich begleitete Marie bis an die Menaistraße – lustig rollte unser Wagen das Ufer des Sees entlang, und zwei Mädchenhände ruhten in den meinigen.


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