Georg Weerth
Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten
Georg Weerth

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Ich erinnere mich noch lebhaft des Eindrucks, den die Rede, in welcher Sir Robert seine kommerzielle Maßregel entwickelte, auf die Engländer machte. Ich lebte damals in Yorkshire. Das Gerücht hatte sich in der Stadt verbreitet, die Zeitungen seien früher als gewöhnlich angekommen. Jeder wußte, daß sie heute die große Neuigkeit enthalten würden. Ich eilte auf die Börse, aber da war schon alles besetzt, über jedem Zeitungsblatte hingen vier oder fünf Menschen; ich lief in den Reform Club, wo man nur ein viertelstündiges Recht auf eine Zeitung hat, wenn sie von einem zweiten verlangt wird, aber da hatten sich für jedes Blatt schon drei oder vier Leute gemeldet, die mit der Uhr in der Hand dastanden, um genau die Zeit abzuwarten, wo die Reihe an sie kommen würde; ich trat in drei, vier Zeitungsläden, da war alles vergriffen, und mißmutig verfügte ich mich zuletzt in die Talbot-Bar, in die Trinkstube eines Hotels, wo man gewöhnlich am Abend ein Dutzend der eifrigsten Politiker zusammen sah.

Ich stieß die Tür mit dem Fuße offen und trat in das schlecht erleuchtete Zimmer. Ich weiß nicht, ob meinen Lesern die Einrichtung einer englischen Bar bekannt ist – in den besseren Wirtshäusern nimmt man gewöhnlich zu den Trinkstuben die erbärmlichsten Zimmer. Die steinerne Flur ist entweder mit einem alten Teppich überdeckt oder mit weißem Sande bestreut; oben unter der Decke hängt auf einigen Fäden ein matzenartiges Gebäck, was man nach Belieben herunterbrechen kann, wenn man die Lust des Essens verspürt.

Von dem Kamin aus gehen rechts und links sehr hohe Bretterwände, so daß sie einen Kreis bilden und den inwendig sitzenden Gast vor der Zugluft der Tür und der Fenster durchaus schützen. Wenn man nun durch die erste Tür in die Bar tritt, so kann man keineswegs bemerken, ob sich innerhalb der Bretterwand Gäste aufhalten oder nicht; erst bei dem Öffnen der zweiten Pforte stößt man auf die schmauchenden und trinkenden Gesellen, die im Kreise um das Feuer sitzen.

An jenem Abend in der Talbot-Bar hatte ich, ohne daran zu denken, die erste Tür heftiger aufgestoßen und zugeschlagen als gewöhnlich. Schon wollte ich durch die Öffnung der Bretterbarriere schreiten, da stürzt mir die alte Barjungfer mit einem so seltsamen Gestus entgegen, daß ich unwillkürlich wieder in den vordem Raum zurückfahre und über das Unerwartete dieser Bewillkommnung in ein lautes Lachen ausbreche. Hierüber geriet das gute Mädchen in die entschiedenste Verzweiflung – ich will sie fragen, was die ganze Geschichte bedeutet, da springt sie wie eine Furie auf mich los; ich bitte sie, ihren Zorn zu mäßigen, da sinkt sie mir schon an die Brust, und ehe ich noch an eine Verteidigung denken kann, drückt sie mich in eine Ecke des Zimmers, preßt mir ihre liebenswürdige Hand an den Mund und flüstert mir ins Ohr: »Sir Robert Peels speech!« (Sir R. P.s Rede!)

Jetzt wußte ich Bescheid; hinter der Bretterwand saß der alte Maître d'hôtel Billy Wood und las seinen Gästen die Zeitung vor, und ich hatte die Leute durch meinen Lärm in ihrer Andacht gestört. Ich tröstete meine Umarmte mit dem, womit man jedes alte Barmädchen trösten kann, und schlich dann sacht wie eine Maus in das Innere der Bar. An einen Sitz war gar nicht mehr zu denken; wenigstens zwanzig Yorkshire-Männer kauerten im Kreise um den Kamin, die irdenen Pfeifen in der Hand, hinunterstarrend in die Brandygläser, kein Glied rührend, alle im Zuhorchen versunken. Freund Billy war gerade bei der schönen Stelle, wo Sir Robert darauf anträgt, daß die Zölle auf Ochsenfleisch und Schnaps hinuntergesetzt werden sollen. Billy las mit gerührter, wehmütig-dankbarer Stimme; eine Träne drang durch seine grauen Wimpern, die Herzen pochten rings im Kreise, und als der letzte Hauch der Rede in feierlichen Klängen verhallte, da sahen sich die zwanzig Yorkshire-Männer verwundert an, und »that's a famous boy!« (das ist ein famoser Knabe!), »he is a capital fellow!« (er ist ein kapitaler Junge!) drang es aus allen Kehlen, und jeder trank auf Sir Bobby Peels Gesundheit.

Man muß sich darüber wundern, daß Peel noch heute der erste Mann des Tages ist, wenn man bedenkt, daß er schon im Jahre 1819 als talentvoller Parlamentsredner bekannt war. Seitdem sind 27 Jahre verflossen! Aber die Engländer haben mitunter auch andere Sehnen und Nerven als sonstige Menschen.

In den »Random Recollections of the House of Commons« – ein Werk, in dem übrigens viele Unrichtigkeiten vorkommen sollen – findet man eine sehr interessante Skizze über Sir Robert. »Peel«, heißt es darin, »ist ein außerordentlich gut aussehender Mann, eher übergewöhnlicher Größe und hübsch proportioniert. Seine Gesichtsfarbe ist hell, sein Gesicht voll-rund, sein Haar rot. Sein gewöhnlicher Anzug besteht in einem blauen Überrock, weißer Weste und dunkeln Hosen. Meistens trägt er eine Uhrkette vor der Brust mit einem Bund goldener Siegel von ungewöhnlicher Größe. Man kann ihn kaum einen Dandy nennen; er hält aber sehr viel auf ein feines Äußere. Ich kenne fast keinen öffentlichen Mann, der sich mit mehr Geschmack kleidet; seine ganze Erscheinung verrät Gesundheit. Seine Konstitution ist ausgezeichnet, und ein mäßiger Lebenswandel hat ihm alle von der Natur erhaltenen Fähigkeiten trefflich konserviert. Er ist fähig, große physische Anstrengungen auszuhalten; ich weiß, daß er drei oder vier nacheinanderfolgende Nächte bis ein oder zwei Uhr im Hause (der Commons) blieb und nicht allein den Fortgang wichtiger Debatten mit der größesten Aufmerksamkeit verfolgte, sondern auch tätigen Anteil daran nahm und dennoch am folgenden Morgen um zehn Uhr auf seinem Bureau Sachen von der höchsten Wichtigkeit besorgte. Sir Robert ist ein Geschäftsmann ersten Ranges. Wenn es nötig ist, so steigt er bei großen Fragen zu den kleinsten Details hinunter und behandelt sie so vollständig, als ob er nie mit seinen Gedanken einen Schatten weit über solche Dinge hinausgekommen wäre. Soviel man weiß, hat er nie eine Maßregel aus Unkenntnis mit den Details verstümpert.

Sir Robert Peel ist vielleicht der beste und der wirksamste Redner im ganzen Hause; er ist immer beredt, sogar in den extemporiertesten Reden, seine Sprache ist sehr korrekt und deutlich. Es fehlt ihm nie an Worten; diese stehen ihm fortwährend in großer Menge zu Gebote, sogar dann, wenn ihm alles fehlt, was den Anschein eines Argumentes hat. Er ist außerordentlich geschickt in der Debatte. Oft habe ich seine wunderbare Fertigkeit bewundert, mit der er sich aus den Schlingen seiner Feinde herauszuwinden wußte. Seine Selbstbeherrschung, welche ihn fast nie verläßt, ist ihm von enormem Nutzen; sie setzt ihn in den Stand, zusammen mit seinem merkwürdig guten Takt immer das Beste aus einer schlechten Sache zu machen.

Nie gab es einen Minister, der etwas besser anschaulich machen konnte als Sir Robert Peel. Dem Anschein nach ist er die Aufrichtigkeit und Freundlichkeit selbst. Er beruft sich fortwährend auf seine Ehre als den besten Beweis, daß seine Worte wahr seien. Er bringt nicht allein die schönsten Argumente herbei, die für eine Sache, welche er verteidigt, angeführt werden können, sondern er weiß auch einen solchen Schein der Ehrlichkeit und des Wohlmeinens um sich zu verbreiten, daß sogar die größesten Feinde seiner Politik sich nur mit Mühe davor in acht nehmen können, von seinen gewinnenden Reden fortgerissen zu werden. Das Auftreten Sir Roberts ist im höchsten Grade würdig; sein Vortrag ist fast durchgängig graziös. In der Regel beginnt er seine bedeutendsten Reden damit, daß seine linke Hand an seiner Seite ruht. Seine Sprache ist bei solchen Gelegenheiten im Anfang langsam und feierlich; wenn er aber in das Herz seines Gegenstandes vorrückt, da wird er lebendig und spricht mit einiger Schnelligkeit; immer aber sehr deutlich. Seine Auseinandersetzungen sind klar, und wenige Redner besitzen eine größere Gewalt über ihre Stimme. Er kann ihre sanften und musikalischen Töne nach Belieben verändern. Manchmal ist er humoristisch, und seine Ausdrucksweise ist dann im höchsten Grade komisch. Seine Späße, wenn er ihnen freien Lauf läßt, sind fast immer gut, obgleich oft zu raffiniert, um auf andere als sehr intelligente Zuhörer wirksam zu sein. Es ist übrigens sehr selten, daß er sich bestrebt, witzig zu sein. Seine Hauptforce liegt namentlich in der feierlichen Art seiner Anrede. Er übertrifft alle Redner, die ich hörte, in tiefem Ernste. Darin ist er ganz zu Hause. Niemand kann sich vorteilhafter als er der Furcht seiner Zuhörer bedienen; er ist zu schlau, um nicht zu wissen, daß bei Leuten, welche Rang und Eigentum zu verlieren haben, viel mehr durch eine Anrede in dieser Weise zu gewinnen ist als durch kalte, argumentierende Phrasen. Der Schluß seiner Hauptreden besteht daher in einer kräftigen und gewandten Auseinandersetzung jener fürchterlichen Folgen, welche unvermeidlich aus der Annahme anderer Maßregeln als der seinigen entspringen würden. Bei solchen Gelegenheiten ist seine Gestikulation und seine ganze Ausdrucksweise so feierlich, als wenn er den Auftrag hätte, seinen Zuhörern zu erklären, daß das Ende der Welt gekommen sei. Und gewöhnlich bringt er durch solche Finten einen entsprechenden Zweck zuwege. Die tiefste Stille herrscht im Hause, wenn er spricht. Sogar in den Galerien, wo gewöhnlich durch das Aus- und Eingehen der Fremden ein großes Geräusch ist, könnte man dann eine Nadel fallen hören. Aller Augen sind auf Sir Robert gerichtet. Die Mitglieder jeder Partei sind für diese Augenblicke wie bezaubert. Ihre Vernunft ist gefangen; das Gefühl erlangt einen momentanen Sieg über ihren Verstand. Die Feier des Redners geht auf die Zuhörer über. Sogar der hartnäckigste und entschiedenste seiner Gegner wagt nicht mehr zu lächeln. Jeder ist so ernst, als ob es sich um die Entscheidung einer ihn persönlich angehenden höchst wichtigen Frage handle. Sir Robert Peel ist ein Redner, den man nie zu hören müde wird. Ich hörte ihn oft zwei oder drei Stunden hintereinander sprechen, ich habe aber nie bemerkt, daß ein Mitglied das Haus verließ, weil ihm Sir Roberts Rede zu langweilig geworden wäre. Im Gegenteil, man bedauert stets, daß er nicht länger fortfährt. Sir Roberts Manieren sind sowohl in als außer dem Parlament sehr leutselig. Er behandelt jede Person, mit der er in Berührung kommt, mit der größesten Achtung. Er hat eine wunderbare Gewalt über seine Stimmung. Ich weiß nicht, daß er je, sogar in der ärgsten Hitze der Debatte, ein einziges beleidigendes Wort gegen irgendeinen seiner Gegner ausgesprochen hätte; und dieselbe Höflichkeit und Achtung, mit der er andere behandelt, wird ihm, wie es recht ist, auch von diesen zuteil. Sir Robert hat nicht allein keine persönlichen Feinde, sondern er wird auch sogar von seinen bittersten Gegnern im höchsten Grade geschätzt. Es ist die Sache, nicht aber der ausgezeichnetste Verteidiger derselben, nicht die Person, welche man angreift. – (Seit der letzten Anti-Corn-Law-Debatte ist dies nicht mehr so; seitdem hat Sir Robert genug persönliche Feinde bekommen, wir erinnern nur an die Reden Disraelis.)

Niemand wird mit mehr Applaus begünstigt als Sir Robert; niemand ist unglücklicher als er, wenn ihm der Beifall ausbleibt oder wenn er nicht mit jener Freudigkeit gegeben wurde, wie er ihn durch seine Rede verdient zu haben glaubte. Wenn er hart von seinen Gegnern bedrängt wird, da sitzt der ehrenwerte Baronet gewöhnlich mit seinem linken Knie über dem rechten, die linke Hand in die Brustöffnung der Weste gesteckt, den Hut über der Stirn. In dieser Position hält er sich und starrt seinem Gegner ins Gesicht, indes mehr mit einem gutmütigen Blick als mit dem Ausdruck des Zornes.

Sir Robert Peel, zwar ein Mann von großem Talente und vollkommenem Takt, um sich der Stimmung und den Vorurteilen des Hauses anzupassen, kann doch nicht den geringsten Anspruch auf Genie machen. Niemand weiß, daß er je eine große philosophische Wahrheit oder einen erhabenen Gedanken aussprach. Niemals entzückt oder erregt er seine Zuhörer durch etwas von schlagender Originalität. Es gibt keine Stelle in allen seinen Reden, welche der Zuhörer als etwas hervorragend Grandioses in seinem Gedächtnis zu bewahren wünschte. Er steigt nie unter die Mittelmäßigkeit herab; gewöhnlich ist er weit über ihr, oft an der Schwelle des Genialen; aber nie überschreitet er die Linie, welche das Geniale von bloßer Geschicklichkeit, von bloßem Talent trennt.

Sir Robert Peel, obgleich er stets leugnet, seines Amtes wegen unbesorgt zu sein, geizt doch sehr nach dieser Ehre. Er fühlt sich ganz unkomfortabel in der Opposition, und im Amte ist er in seinem Element. Als jüngst das Schicksal seines Ministeriums entschieden war, bemerkte ich ihn gleich nach seiner Niederlage auf dem Wege nach Hause, und in meinem Leben sah ich nicht ein vollkommeneres Bild getäuschten Ehrgeizes. Sir Roberts Gemütsbewegung war zu deutlich in seinem ganzen Gesichte ausgeprägt.

Keiner im Hause ist empfindlicher im Punkte der Ehre als Sir Robert. Beschenkt man ihn mit Titeln, die mit Tölpel und Narr synonym sind – da gibt er keinen Laut der Klage von sich; brandmarkt man ihn mit dem Namen eines Bigotten, sei es in der Politik oder in der Religion – er murmelt kein empfindliches Wort; beschuldigt man ihn aber einer Sache, sei es aus seinem öffentlichen oder Privatleben, die sich mit dem Charakter eines Ehrenmannes nicht verträgt – da wird er auf der Stelle eine Erklärung fordern und für den Fall, daß sie nicht befriedigend und von einer förmlichen Zurücknahme des Gesagten begleitet ist, seiner Forderung, auch noch ehe er das Haus verläßt, eine Einladung zu einem feindlichen Meeting für den nächsten Morgen folgen lassen.

Sir Robert Peel spricht über eine große Frage nur unmittelbar vor dem Schluß der Debatte, mag sie auch noch so oft ajourniert werden. Sein Zweck dabei ist doppelt; erstens, damit er alles hören kann, was auf der Seite der Opposition vorgebracht wird, und damit er zweitens den Vorteil des letzten Wortes hat. Niemand weiß besser als er, welchen Vorteil es einer Sache, die man verteidigt, bringt, wenn man unmittelbar vor der Abstimmung auf die vorzüglichsten Argumente der leitenden Redner der feindlichen Partei eine geschickte Erwiderung geben kann; und sicher zeigte niemand von allen, die je im Parlamente saßen, einen vollkommenern Takt in Benutzung dieses Vorteils.

Nie wußte ein Redner die schwachen Seiten seiner Gegner besser zu entdecken, und nie war einer glücklicher, um sie zu enthüllen und in das rechte Licht zu stellen als Sir Robert. Und alles das scheint er mit der größesten Leichtigkeit, ohne die geringste Anstrengung zu tun. Was der Augenblick bei ihm zuwege bringt, ist geradeso gut und wirksam, als ob es das Resultat monatelanger Überlegungen wäre.

In seinen Antworten auf Reden, welche nur vor ein paar Stunden gehalten wurden, findet man eine Eigentümlichkeit des Argumentierens, einen Glanz der Ausdrucksweise, eine Kraft und Kürze des Räsonnements, eine Reinheit und Vollkommenheit des Stils, ein Glück im Vortrag und eine Fülle in der Darstellung, die nicht schöner sein könnte, wenn sie ihm auch ganze Wochen der Vorbereitung gekostet hätte.

Sir Robert Peel ist ein merkwürdig argwöhnischer Mann; bei öffentlichen Angelegenheiten setzt er sogar in seine intimsten Freunde wenig Vertrauen. Er ist der Mann seiner eignen Ideen. Von niemandem will er Rat annehmen. Sein wahrhaft fürstliches Vermögen setzt ihn in den Stand, mit vollkommener Unabhängigkeit zu handeln, und niemand ist seiner Oberherrschaft, welche ihm dieser Reichtum verbunden mit seinen großen Talenten über seine Partei sichert, mehr bewußt als er. Er weiß sehr gut, daß die Existenz seiner Partei in ihm wurzelt und daß auch der Partei dies bekannt ist. Sir Robert Peels politischer Charakter ist noch nicht durchaus verstanden, selbst nicht von seinen intimsten Freunden usw.«

Man muß bedenken, daß dies vor einigen Jahren geschrieben wurde. Seitdem sind so viele Sachen in England vorgegangen, daß es gar nicht mehr so schwierig ist, ein genaueres Urteil über Sir Roberts politischen Charakter abzugeben. Sir Robert Peel war lange Zeit der Leiter der Torys im Hause der Commons, während der Herzog von Wellington der Repräsentant derselben Partei im Hause der Lords war.

Peel ist ein praktischer, intelligenter Mann, der sehr gut einsieht, daß von Zeit zu Zeit immer neue Reformen gemacht werden müssen, der aber eine solche Furcht vor allen gewaltsamen Umwälzungen hat, daß er nur dann die Hand zu größeren Neuerungen bietet, wenn er merkt, daß der Sache nicht länger zu widerstehen ist.

Einstweilen sucht er daher alles stets im Gleichgewicht zu halten – droht ihm aber die Volksagitation für irgendeine Maßregel über den Kopf zu wachsen, da verläßt er seine bisherige Stellung, schlägt sich zu der Partei des Fortschritts und weiß bei seiner großen Gewandtheit die Sache stets so einzurichten, daß die Reform, welche durchgesetzt werden soll und welche nun einmal nicht zu vermeiden ist, dann nicht nur überhaupt ins Leben tritt, sondern daß dies auch durch seine Vermittlung geschieht, daß ihm zu guter Letzt sogar noch der Ruhm bleibt, eine Umwälzung vollendet zu haben, der er vor kurzem noch am gewaltigsten widerstrebte. Es gehört alle Schlauheit eines Sir Robert zu solchen Manövern; er kommt immer spät, aber er kommt nie zu spät, und prächtig ist es, wie er auch jedesmal den alten Wellington herumzukriegen weiß; denn kaum hat Peel kehrtum gemacht, da schlägt auch der alte Herzog seinen Purzelbaum und verteidigt die Sache des Fortschritts im Hause der Lords. Peel und Wellington gehen immer Hand in Hand, und da sie beide enormen Einfluß auf ihre Partei haben, so gelingt es ihnen auch gewöhnlich, die meisten Kollegen mit fortzureißen, und am Gelingen ihres Unternehmens ist dann nicht mehr zu zweifeln.

Peel und Wellington sind wirklich die willigsten und folgsamsten Kinder der Zeit. Sie zeigten dies schon im Jahre 1829, und sie zeigten es im Jahre 1846. Am 6. März 1829 brachte nämlich Peel seine Bill zur Emanzipation der Katholiken mit der Bemerkung ins Haus der Commons, daß er sich zu dieser Motion veranlaßt sehe, »weil dem Verlangen des Volkes nicht länger zu widerstehen sei«, und in demselben Hause, welches früher eine ähnliche Motion mit einer Majorität von 2 Stimmen verworfen hatte, passierte sie jetzt mit einer Majorität von 188 Stimmen und schließlich mit 320 gegen 142. Wellington brachte die Bill dann mit derselben Bemerkung wie Peel vor die Lords und siegte mit einer Majorität von 104 Stimmen.

Bei der Abschaffung der Korngesetze ging es ebenso. Peel und Wellington waren von jeher gegen diese Maßregel. Da gewinnt aber die Anti-Corn-Law-League unter Cobdens und Brights Leitung immer mehr an Bedeutung; bald ist das ganze Land für die Sache der Freetraders, und Lord John Russell, das Haupt der Whigs, erklärt sich zuletzt ebenfalls dafür.

Jetzt war es wieder Zeit, daß die Torys zu Kreuze krochen, und ehe man sich's versieht, macht sich Sir Robert die famose Kartoffelgeschichte von 1845 zunutze, erklärt, daß er lange Zeit in Irrtum und Unwissenheit gewandelt habe, daß ihm aber endlich ein Licht aufgegangen sei, daß man den Zorn Gottes, der sich in dieser Kartoffelgeschichte offenbare, nicht durch das Aufrechthalten veralteter Institutionen verschlimmern müsse usw.; er bringt dann, freilich mit einiger Mühe, auch den alten Herzog auf seine Seite; der alte Mann erklärt seinen edlen Kollegen in einer höchst naiven, kindlichen Rede, daß die Sache nun einmal nicht anders zu machen sei, daß man der Stimme des Volkes gehorchen müsse usw.; und Peel im Hause der Commons und Wellington im Hause der Lords, gerade die beiden Leute, welche noch einige Monate vorher durchaus gegen die von Cobden und Bright betriebene Agitation gewesen waren, treten jetzt dafür auf und tragen den Sieg davon, indem sie den guten Lord John, der sich doch viel früher frei und offen dafür erklärt hatte, total überflügeln und in den Hintergrund drängen.

Die ganze Politik Sir Robert Peels besteht daher in nichts weiter als darin, das Althergebrachte so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, aber nachzugeben, sobald es die Zeitumstände gebieterisch fordern.

Mit dem »eisernen Herzog« ist es geradeso. Die »Times« hatte ganz recht, wenn sie sagt: »Er ist ein alter Krieger; wenn er sieht, daß er eine Schanze nicht länger halten kann, da läßt er Retraite blasen.«

Einen sonderbaren Eindruck machte es auf die Gemüter, daß Sir Robert Peel unmittelbar nach jenem großen Siege in der Kornfrage gezwungen war, sein Amt niederzulegen. Überall hörte man die Leute sagen: »poor Sir Robert!« (der arme Sir Robert!), und es hatte auch etwas Erschreckendes, diesen Mann gerade in der Fülle seines Glückes, seines Ruhmes zusammenbrechen zu sehen.

Das war aber ganz natürlich. Sir Robert Peel hatte seinen Sieg nicht mit Hilfe der eignen Partei, sondern mit den Waffen seiner bisherigen Gegner errungen. Die aristokratischen Grundbesitzer der Tory-Partei, welche durch die Abschaffung der Korngesetze in ihrem Einkommen sehr verlieren müssen, wurden Sir Roberts bitterste Feinde, als sie ihn aus ihrem bisherigen Repräsentanten im Hause der Commons zu einem Verteidiger ganz entgegengesetzter Interessen werden sahen; auf der andern Seite blieben die Whigs, welche zwar bei der Korndebatte der Sache wegen für ihn stimmen mußten, trotzdem nach wie vor seine Gegner in allen andern Punkten, und als daher kaum die Kornbill passiert war, vereinigte sich der frisch entstandene Haß der Torys mit den alten feindseligen Gesinnungen der Whigs, und beide Parteien benutzten mit Freuden die Gelegenheit, den eben noch so gewaltigen Sir Robert bei der unpopulären irischen Zwangsbill durchfallen zu lassen.

Tot war der Riese, und der kleine Lord John hüpfte ins Amt. –

 

Die vielen Paläste Londons, die schönen Parks und die tausend und aber tausend Seltsamkeiten dieser kolossalen Stadt sind so oft in Reisebüchern erwähnt, daß ich keinen Versuch machen will, meine Vorgänger in trefflichen Schilderungen zu überbieten.

Aus dem Zeigen des Kirchenplunders macht die englische Geistlichkeit ein einträgliches Geschäft. Es ist wirklich komisch, daß man beim Eintritt in eine Kirche 4 Pence bezahlen muß. In der St.-Pauls-Kathedrale ist es aber so. Als der Franzose Thiers diese Kirche vor kurzem besuchte, um die Marmorstatuen der berühmtesten Krieger Englands zu sehen, da verlangte man ebenfalls die vorgeschriebenen 4 Pfennige. Mit etwas spöttischer Miene soll Thiers dem Dechanten bemerkt haben, daß die Engländer wenig große Männer zu haben schienen, weil man sie noch für Geld besehen lasse.

Die Geistlichkeit der Westminsterabtei fordert 6 Pfennige, wenn man an den Gräbern der Könige seine Andacht verrichten will. Die alte Abtei ist jedenfalls das schönste und merkwürdigste Gebäude, was man in England sehen kann. Von außen hat sie freilich dasselbe plumpe Ansehen, was den meisten englischen Kirchen eigen ist. Schreitet man aber durch die westliche Pforte in das Innere, welche Pracht entfaltet sich da vor den erstaunten Augen! Wie schön werden die Spitzbogen, welche das Hauptschiff von den Seitenschiffen trennen, von den 48 graumarmornen Säulen getragen! Und wie zauberisch fällt das Licht durch die bemalten Scheiben herab auf die Marmorstatuen der düstern Kapellen, in denen sie alle begraben sind, an die das Volk mit Schrecken, mit Liebe oder Bewunderung zurückdenkt. Berüchtigte Könige, unvergeßliche Dichter, geniale Künstler und gewaltige Redner – alle haben sie hier ihr Plätzchen gefunden, und es kostet nur 6 Pfennige, wenn man sich von einem geschwätzigen Kaplan an den einzelnen Gräbern vorüberführen lassen will. 6 Pfennige! Wie billig ist das für so viele antiquarische Genüsse! –

Es war im November, als ich nach meinem ersten Londoner Aufenthalt den Wanderstab wieder erhob, um in das Innere des Landes weiterzureisen.

Wir fuhren nach der Eisenbahn, ich und mein Mantelsack – in einem Einspänner, Nummer 111. Es ging im vollen Galopp: Ich wollte das große Babylon noch einmal besehen und lehnte mich aus dem Wagenfenster. »Wo bist du, London, schöne Stadt von zwei Millionen Einwohnern? Wo bist du?« Aber London war total verschwunden. Goldgelber Nebel durchwogte die Gassen, und der Kutscher konnte kaum mehr den Weg finden.

An der St.-Pauls-Kirche mußten wir haltmachen; ich pfiff eine Arie aus dem »Freischütz«, der Kutscher stieß sehr englisch-teuflische Flüche aus, und unser Roß ließ den Kopf hängen, als ob es über sein Pferdeschicksal nachdächte. Um uns herum entwickelte sich aber bald ein nebelhaft schönes Schauspiel. Nachmittags um 4 Uhr, wo in Deutschland die Kinder aus der Schule kommen, wo die alte Tante ihre zehnte Tasse Kaffee trinkt – nachmittags um 4 Uhr ging in London plötzlich die Sonne auf! Der Nebel hatte sich verzogen. Dies kam sehr unerwartet; man dachte gar nicht mehr daran, daß die gute Frau Sonne heute noch erscheinen würde. Ein Schrei der Verwunderung fuhr daher aus allen Kehlen, und erschrocken hob ich mich von meinem Sitz empor, drückte den Wagenschlag hinunter und sah mich nach allen Seiten um.

Anfangs bemerkte ich keineswegs den Grund dieses plötzlichen Entzückens. Auf dem Platze vor uns brannten noch zwei große Laternen, zwei trüben Talglichtern ähnlich; und ringsherum lagen die finstern Häuser wie lauter alte Stammgäste, die auf den Schenktischen einschliefen; die Kuppel der Paulskirche leuchtete dazwischen durch wie die kahle Glatze eines verschollenen Spießbürgers. Da teilten sich aber mit einem Male die Wolkenmassen, und herein schaute mit ihrem Flammenauge die schöne, die ewig schöne Sonne.

Wie nach der alten Sage von dem Kuß des jungen Ritters plötzlich die Bewohner des verzauberten Schlosses erwachten, wie die grauen Heldengestalten sich in den Nischen emporhoben, die Streitrosse wieherten, die Vögel sangen und der Koch dem Küchenjungen die seit Jahrhunderten zugedachte Ohrfeige endlich im Erwachen mit aller Vehemenz verabreichte – so traten auch jetzt von dem Kuß der Sonne alle Gestalten der ungeheuren Stadt in reißender Schnelligkeit aus dem Dunkel hervor in ein frisches, fröhliches Leben; und waren es auch keine geharnischten Helden, welche rasch die Szene belebten, so sah man doch wenigstens ein paar Hundert spitznasige Engländer in Frackröcken und Filzhüten mit einem Male über die Gasse springen; Kerzen und Gaslichter erloschen, hier und dort öffneten sich die Fenster, blaue Mädchenaugen blickten in die Straße hinunter, Orgeldreher sangen, Mohrenjungen bettelten, und eine zephirleicht wandelnde Lady stahl aus lauter treuer Schwesterliebe einem dicken Lord den indischen Foulard.

Über Alt-England war die Sonne aufgegangen; mein Kutscher ließ sich noch ein Glas Brandy reichen und trank auf die Gesundheit des anbrechenden Tages; unsere Rosinante hob sich auf die Hinterbeine, und fort ging es, fort durch die entnebelte Weltstadt. Nach einer halben Stunde waren wir auf dem Birminghamer Bahnhof, wo ich das Vergnügen hatte, die Lokomotive eben mit einem Gefolge von sechzehn Wagen abreisen zu sehen. Mein Kutscher tröstete mich mit der Bemerkung, daß ich ihm zwei halbe Kronen für seinen Einspänner schulde, und überließ mich dann meinem Kummer. Wehmütig blickte ich ihm nach. Die Nummer seines Wagens schimmerte noch einige Male durch die Dämmerung; die Zahl 111 nahm sich aus wie die Gesellschaft von drei Ausrufungszeichen !!!.

Mein einziger Trost in jenem schrecklichen Augenblicke war eine alte Dame in grasgrünem Kleide, die mein Schicksal teilte. Sie setzte ihren Nachtsack auf das Steinpflaster, steckte ihre Hände in den Pelzmuff und erklärte mir, daß es heute abend sehr kalt sei. »Ohne Zweifel!« erwiderte ich ihr, »übrigens nur für den, der keinen Muff hat, wie Sie ihn besitzen, oder der kein Mittel gegen die Kälte erfunden hat wie ich.« – »Ein Mittel gegen die Kälte?« fragte die grasgrüne Dame. – »Jawohl, ein Mittel radikal und vollkommen! Sehen Sie, ich bilde mir in diesem Augenblick ein, ich hätte 2000 Stück Pistolen auf der Bank in Wiesbaden verloren und gerate darüber in eine völlige Verzweiflung. Ich denke mir, die Männer mit den langen Stöcken, welche das Geld hin und her schieben, lachten mich höhnisch an, die übrigen Spieler spöttelten, die Aufwärter grinsten, und blaß, mit fliegenden Haaren, verließe ich den Saal. Draußen, denke ich mir, wäre alles heiter, alles froh, die Vögel zwitscherten in den duftigen Zweigen, die Grillen hüpften im Grase herum, die schönen Menschen spazierten die Lindenalleen hinauf, nur ich wäre erschrecklich unglücklich, von der ganzen Welt verlassen und liefe, wie von Furien gepeitscht, in den Taunus hinein – usw. Sehen Sie, verehrte Reisegefährtin, dies alles stelle ich mir so lebhaft vor, daß mein Blut in Wallung gerät, ich zittre vor Wut und Verdruß, und trotzdem, daß ich weder Muff, Pelzstiefel noch Bärenfelle habe, gerate ich bei dieser kühlen Novemberluft dennoch in vollkommene Hitze und befinde mich, wie Sie sehen, in einer höchst angenehmen Temperatur!«

Die grasgrüne Engländerin beschaute mich mit ein Paar Augen, welche grenzenloses Mitleid ausdrückten; aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie faßte mit der einen Hand ihren Reisesack, mit der andern den Regenschirm, und fort schwebte die grüne Dame, gleich einem Grashalm, davongetragen vom Nordwind. An der Tür des Bahnhofes stand ein Mann in blauen Kleidern, mit einer Nummer am Halse, in weißen waschledernen Handschuhen – wahrscheinlich ein ehrenwertes Mitglied der heiligen Scharwache, dessen Bildung bereits so große Fortschritte gemacht hatte, daß er die Vagabunden wenigstens in Handschuhen arretierte. »Das ist ein deutscher Gentleman!« sagte er zu der Dame und zeigte mit seinen unsaubern behandschuhten Fingern nach mir. Dann schüttelten beide mit den Köpfen.

Bei einem Teller Schildkrötensuppe wartete ich in dem Stationssaale auf die Abfahrt des nächsten Eisenbahnzuges. Kalt wandelten die Menschen an mir vorüber und fragten nicht nach meinem Schmerz – ich auch nicht nach dem ihrigen. Übrigens wäre es sehr hübsch, wenn man auf den Eisenbahnstationen einen großen Folianten mit weißem Papier aufschlüge. Die Reisenden, welche auf die Abfahrt der Lokomotive warten, hätten dann Gelegenheit, ihre Abschiedsempfindungen in Prosa und Versen niederzuschreiben. Welche Blicke in das menschliche Leben würde ein solcher Foliant eröffnen!

Da würde man eine rührende Hymne auf ein Wirtshaus finden, wo man niederträchtig geprellt wurde. Da sähe man einen liebenden Nachruf an ein paar Dutzend unbefriedigte Gläubiger. Ein Dritter würde das schöne Fräulein zu schildern suchen, das gern sich seiner angenommen, als er in London fremd spazierenging; und so würde ein jeder etwas zu erzählen haben, was der Welt zu Nutz und Frommen gereichen könnte.

Heutzutage ist das Leben auf einer Station gar zu trostlos; hier bekommt jemand durch die Kälte seiner Umgebung einen Schnupfen; dort verbrennt sich ein anderer in der Eile des Abschieds an den Fluten einer Teetasse den Mund, und jauchzt endlich die Lokomotive ihr Abfahrtslied, da wälzt sich die Lawine von Menschen, Koffern, Regenschirmen und Nachtsäcken mit einer solchen Hast in die Wagen, daß ein »Goddam!« und ein Rippenstoß das einzige ist, was man von seinen geliebten Nebenmenschen genossen hat.

Aber die herrlichen Zeiten sind vorüber, wo man noch sein Testament machte, wenn man von Köln nach Frankfurt reiste; wo man unterwegs jeden Kieselstein auf der Landstraße, jedes Kalb auf dem Felde und jeden Hahn auf dem Kirchturm mit Muße betrachten und dem Gedächtnis einprägen konnte; wo man nach einer Nacht im schaukelnden Wagen frühmorgens am Busen einer goldlockigen Schönen oder auch mit dem Kopf im Schoße einer alten Matrone erwachte; wo die Nachbarn sich nickend mit den Nasen begrüßten und, mit den Stirnen aneinanderstoßend, plötzlich mit Schrecken erwachten und die werteste Bekanntschaft schlossen; wo man sich beim Füttern der Pferde eine halbe Ewigkeit zu Schnaps und Wurst setzen konnte; wo der Postillion in das melodische Horn stieß, wenn er an dem Fenster einer Viehmagd vorüberfuhr; wo man oft so gemütlich im Kot steckenblieb und nur die Hälse brach, wenn es, wie bei jeder andern Gelegenheit, im Rate der Unsterblichen beschlossen war.

Ich phantasierte noch, da warf man meinen Teller Schildkrötensuppe über den Haufen.

»All right!« riefen die Zugführer, und hinter uns lag der Themse fabelhafte Stadt.


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