Georg Weerth
Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten
Georg Weerth

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I
Von Köln nach London

Lebe wohl, o Köln! mit deinem Dome, mit deinem Gürzenich, mit deinem Bayenturme und mit deinen tausend und aber tausend Kirchweih- und Fastnachtsspäßen!

Dein werd ich immer gedenken. Dran denken werd ich, daß ich einst in der Sternengasse gegenüber dem alten, ehrwürdigen Hause wohnte, von dem mir einst ein dienstfertiger Kommissionär erzählte, daß der Herr Peter Paul Rubens darin geboren und daß die Mediceische Venus darin gestorben sei.

Seltsam! Die Maria von Medici mit der Mediceischen Venus zu verwechseln. So etwas kann nur einem guten Kölner passieren. Aber der Mann erzählte mir die Geschichte mit der ernsthaftesten Gebärde; – wahrscheinlich hat er nur aus Instinkt einen kölnischen Witz gerissen. Ach, es sind so viele Leute in Köln auf ihren Witz angewiesen!

Lebe wohl, du alte, wunderliche Stadt! Während ich in deinen Mauern wohnte, habe ich mein Meistes und Bestes zu deinem Ruhme beigetragen.

Habe ich nicht von deinem kühlen Moselwein mehr genossen, als meinem Magen lieb war? Habe ich nicht in deiner »Ewigen Lampe«, in jener Schenke am Dom, mehr als hundertmal über die große Wahrheit des Spruches nachgedacht, daß keine Kirche auf Erden erbaut wird, ohne daß der Teufel seine Kapelle danebensetzt?

Bin ich nicht jeden Sonntag in dein Wallrafsches Museum gewandert, um vor den Bildern deiner unsterblichen Maler, vor jenen lieblichen Engeln und Heiligen mit Schwalbenflügeln und Goldkreuzen, vor jenen erstaunlichen Märtyrern mit noch erstaunlicheren langen Beinen, als ich sie selbst besitze, meine tiefste Andacht zu verrichten und in das frömmste Gelächter auszubrechen?

Habe ich nicht deinen Karneval verherrlicht, als ich einst auf dem schlechtesten Gaule der Rheinprovinz als Don Quijote durch deine Gassen ritt und mit dem Panzer vor der Brust, mit dem Barbierbecken auf dem Kopfe von 9 Uhr abends bis 7 Uhr morgens deine holdseligen Jungfrauen zum Tanze führte?

Wurdest du nicht von mir besungen in altgriechischem Versmaß, in dem heiteren Rez-de-chaussée deiner DuMontschen Zeitung, Hochstraße № 133?

Sieh, ich habe alles für dich getan, was man in seinem einundzwanzigsten Jahre für dich tun kann, in dem Alter, wo man aufgehört hat, seinen werten Namen in jeden Eichenbaum zu schneiden, wo man aber noch nicht aufgehört hat, entre-chien-et-loup eine Laterne einzuwerfen; – wo man aufgehört hat: »Morgenrot, o Morgenrot!« zu singen, wo man aber noch nicht die Marseillaise singt; – wo man den letzten schwarzen Sammetrock verschlissen hat, aber noch immer nicht zu einem Frack kam; – wo man an die Gellertschen Fabeln zwar nicht mehr denkt, wo man aber auch noch nicht bis zu den Aventüren des Chevalier Faublas fortgeschritten ist – genug, in dem Alter, wo man den schönsten Teil der Flegeljahre hinter sich hat und gerade im Begriff ist, aus dem verrückten Monat April des Lebens in den Mai des Daseins hinüberzuvoltigieren, wo man wie ein angehender Student kein Pennal, aber auch noch kein Fuchs ist, wo man eben noch zwischen Esel und Roß schwankt, wo man einstweilen nur ein jugendliches, romantisches Maultier ist.

Ach Köln, ich habe viel für dich getan! Ich schwärmte für dich. Von jedem Eckstein deiner Gassen wußte ich etwas Interessantes zu erzählen. Ich kannte jedes Marienbild in deinen Kirchen, jedes Römerglas in deinen Schenken »zum stillen Vergnügen«. Ich wußte deine Sagen, Legenden und Märchen auswendig wie der Dr. Weyden; ich wußte noch viel dümmeres Zeug als das!

Und womit hast du mich belohnt? Glaubtest du dich dadurch hinlänglich revanchiert zu haben, daß du mich durch deinen sterblichen Professor Wahlen als korrespondierendes Ehrenmitglied eines jährlichen Bockessens aufnehmen ließest?

War das dein Dank, daß alle Fenster und Türen verschlossen, daß all deine Gassen wie ausgestorben, daß all deine Plätze wie verwaist waren, als ich endlich in der heiligen Frühe um 6 Uhr wehmütig in den Omnibus stieg, um mich vielleicht auf immer von dir zu trennen?

War das dein Dank, daß du nur hin und wieder einen schlaftrunkenen Pfahlbürger, mit der Schlafmütze auf dem Kopf und mit nicht sehr saubern, umgeklappten Vatermördern, aus den Giebelfenstern gähnen ließest, als ich über den Eigelstein an jenen Häusern vorbeifuhr, wo man die länglichen, sehr mystisch-sagenhaften Brote backt, an deren obern Ende ein Mutter-Gottes-Bild und an deren untern Ende eine Flötepfeife angebracht ist?

War das dein Dank, daß du den eisernen preußischen Adler auf deinem Tore wie einen gallischen Hahn zornig erröten ließest, als der treue Sohn eines treuen Vaterlandes endlich die Festungswerke passiert hatte, um froh das Weite zu suchen?

O Köln, du große Freudenstadt, die du in deinem Banner die Farben Rot und Weiß führst, gewissermaßen als Sinnbild des vielen roten und weißen Weines, der in deinen Mauern getrunken wird; schöne Stätte, wo jeder Familienvater wie der heilige Petrus seinen Hausschlüssel bei sich führt, wo jeder junge Ehemann den ganzen geschlagenen Abend auf den harten Wirtshausbänken sitzen muß, um den kühlen Krätzer zu trinken, während die lieblichen Ehehälften im weichen Bette liegen dürfen, um sich des warmen Tees zu erfreuen; glorreicher Ort, der du nimmer müde wirst, an deinem kolossalen Dome zu bauen; ruhmwürdige Gegend, in deren Bereich die Zahl der Dombau-Vereine fast geradeso groß ist wie die Zahl der Taler, welche diese Vereine jährlich zusammenbringen; Stadt des Humors und des Enthusiasmus, die ich geliebt, verehrt, besungen und verherrlicht: weshalb ließest du mich so still aus deiner Mitte ziehn? – weshalb öffnete sich nicht noch einmal die Türe des »Freischützen« und das blaue Auge seiner schönen Kellnerin? – weshalb wurde er nicht einmal am frühen Morgen wach, der gewaltige Klütsch, welcher der Große Bär unter den Sternbildern deiner lustigen Bürger ist? – weshalb hörte ich ihn nicht noch einmal knarren, den alten Kranen dort oben auf dem Domturm, an dem sich sicher und gewiß noch ein anderer Baumeister erhängen wird wie an einem Galgen, wenn er wiederum an der Vollendung des gewaltigen Werkes verzweifelt?

Alles war still. – Nur da draußen vor den Toren sangen die Lerchen ihr Morgengebet, und die Lokomotive akkompagnierte mit hellem Gepfeif, und Regierungsräte und Kammerfrauen und Polizeidiener und Gemüseweiber und Roßkämme und Orgeldreher und alles, alles drängte sich in die offenen Wagen, nur kein einziges jener Geschöpfe, die ich vor meinem Abschiede noch einmal an die Brust zu drücken wünschte, nur kein einziges jener lieben Kinder mit Rubinlippen, mit nußbraunen Haaren und mit Augen blau wie: »Vergiß-mir-nicht«.

Natürlich fuhren wir zuerst nach Aachen – ein unbekannter Ort, der kürzlich erst durch Heinrich Heine entdeckt und in dem unvergleichlichen »Wintermärchen« nach Verdienst besungen wurde. Die Schönheiten Aachens sind erst durch Heine recht ans Licht gekommen, man hatte früher nur eine dunkle Ahnung davon, man wußte nur, daß Karl der Große, seliger, dort verstorben und vergraben sei, daß die Bauern der Umgegend alle sieben Jahre zu der Ausstellung des heiligen Hemdes und die Bonner Studenten jeden Sonntag zu dem grünen Tische der Redoute wallfahrteten; die Bauern – um mit reuigem Herzen, mit verzückten Augen und gebeugten Knien vor dem antiken Leinwandfetzen ihre Andacht zu verrichten und von Not und Fegefeuer erlöst zu werden; die Studenten – um im Schmuck der goldenen Locken lächelnd an den grünen Altar der Croupiers zu treten und – wenn auch nicht den unsterblichen Hekatomben, doch ihrem Visavis die Fülle der Zehngroschenstücke opfernd – erst recht in Not und Fegefeuer hineinzugeraten. Das war eigentlich alles, was jedem Kinde der Provinz von Aachen bekannt war. Aber jetzt? Man kennt jeden Lieutenant auf der Straße, man kennt den Adler über dem Posthause, man weiß genau, womit sich die Hunde, die armen, langweiligen Hunde, in Aachen beschäftigen und amüsieren.

Kurz, man kennt die winzigsten Kleinigkeiten, und wenn der ehrwürdigen Stadt jemals etwas Menschliches begegnete, wenn sie einmal unterginge durch Pestilenz, Brand, Hunger oder durch ein ähnliches Unglück, da wird man nur Heines »Wintermärchen« aufzuschlagen haben, um den Feuer- oder Lebensversicherungsgesellschaften die beste Anleitung zu geben, in welcher Weise sie das Zerstörte zu ersetzen haben, sei es an Häusern, Menschen oder Vieh.

Aachen ist wirklich eine liebenswürdige Stadt – alle drei Jahre einen Tag lang ist Aachen das Nonplusultra des Schönen und Interessanten. Da kommt irgendein großer Meister von Berlin, von Wien oder sonst woher und dirigiert das Musikfest; da kommt die schwedische Nachtigall und trilliert und flötet viel schöner als alle die kleinen Brüder und Schwestern im Gebüsch des Louis-Berges; da kommt das Kölner Quartett, da kommen die Liedertäfler, die Gesangvereine, die Barden-Gesellschaften, die Arion-Kränzchen, und da kommen all die lustigen Lerchen, Wachteln, Buchfinken, Kanarien- und Paradiesvögel, welche vereinzelt die Welt mit ihrem Gesange erfreuen, so daß bald in dem alten, grauen Aachen ein Trillern und Musizieren beginnt, als hätte sich, ähnlich der Sage des Siebengebirges, wo sich auf das Wort des zornigen Priors alle Nachtigallen der Abtei Heisterbach einst aus ihren Nestern erhoben, um jenseit der Berge in einem einzigen, kleinen Wäldchen zusammenzukommen und vereint ihr Konzert zu beginnen – so auch dann in Aachen die ganze musikalische Welt der Heimat wie auf den Befehl eines Zauberers eingestellt. Und ich bin fest davon überzeugt: wenn es nicht gar zu anstößig wäre, die heilige Cäcilie schwebte an einem solchen Tage gern vom Himmel nieder und setzte sich für drei Taler preußisch Kurant in das Parterre des Aachener Komödienhauses. Denn so etwas hört man nicht alle Tage. Ob Aachen außer diesem einen Tage alle drei Jahre, außer diesem Tag der Musik der Nachtigallenkehlen und der Kontrabässe noch viele Reize aufzuweisen hat, konnte ich nie in Erfahrung bringen. Ich erkundigte mich oft danach bei einem alten Brüsseler Gelehrten, natürlich einem deutschen, der zweimal jährlich von Brüssel nach Aachen reist, um sich auf dem Büchel drei lange deutsche Pfeifen zu kaufen. Er wußte mir nie etwas zu erzählen; er versicherte mir aber stets, die Aachener Pfeifen seien vortrefflich.

Lieber Leser, wenn du einundzwanzig Jahre alt bist, da glaube nur ja nicht, daß es etwas so sehr Leichtes ist, zum ersten Male dem Vaterlande Lebewohl zu sagen und den Fuß in ein fremdes Reich zu setzen. Du erkundigst dich bei den Leuten, welche dir in den Eisenbahnwagen gegenübersitzen, schon lange vor der Zeit, ob man schon auf belgischem Boden sei; schon gleich hinter Aachen schaust du in einem fort rechts und links zu den Fenstern hinaus, um ja nicht den letzten Blick auf deine Heimat zu verfehlen und um auch gleich den ersten ausländischen Tannenbaum zu begrüßen, wie es einem ehrlichen Deutschen zukommt. Seltsame Dinge gehen in deiner Seele vor. Hinter dir liegt nun gleich, so denkst du, das Land deiner Jugend, wo ich als Kind mit goldnen Blumen spielte und wo meine Perlen und Diamanten nur in dem Tau bestanden, den der Morgenwind aus den Rosenknospen schüttelte. Mit Bertha und Adelheid saß ich an langen Winterabenden neben dem knisternden Feuer und lauschte den tollen, wunderlichen Märchen, die uns die Amme mit schauerlicher Stimme vortrug. Da lernte ich zuerst die Geschichte von den Haimonskindern, von Wieland dem Schmied, von Genoveva und den Heinzelmännern; ach, wie haben unsere Herzen geklopft, wenn der Popanz die Brüder des kleinen Däumlings fressen wollte, und wie freuten wir uns, wenn der kleine Kerl den großen Riesen doch immer wieder zu überlisten wußte.

Dann ging es in die Schule, auf die harten, glattgerittnen Bänke, wo wir den Herrn Magister mehr als hundertmal zu allen Teufeln wünschten – »Mensa« ist schwer zu deklinieren; wir schnitten dem Rektor Kerbe in seinen Rietstock, ließen Maikäfer unter dem Tische fliegen, banden ihm einen Fuchsschwanz an den hinteren Rockknopf und schnitten den Namen in den Tisch – während der Religionsstunde.

Draußen aber, auf dem Spielplatz, da ging es hoch her; da machten wir Welfen und Gibellinen und Cimbern und Teutonen. Ich war Marius, und du: Teutobod. – Groß war unsre Angst, wenn wir einen ganzen Samstagnachmittag im Walde herumgelaufen waren und endlich spätabends mit zerrissener Hose nach Hause zurückkehrten. Da setzte es manche herzliche Ohrfeige ab, und mit bitteren Tränen wurde der Tag beschlossen.

Und dann die erste Ferienreise an die Weser, in den Harz, an den Rhein – mit dem Ranzen auf dem Nacken, sieben alte Krontaler im Sack und einen Stock in der Hand; an jedem Wirtshaus wird stillgehalten, man spricht mit den Mädchen, welche die Milch nach der Stadt tragen, man spielt den flotten Reisenden und setzt die Mütze etwas schief auf den Kopf, indem man eine Falkenfeder zwischen Tuch und Lederschirm schiebt.

Wie herrlich lag es sich in der Mitte des Waldes, wenn wir aus Laub und Reisig ein helles Feuer gemacht hatten; in malerischen Gruppen kauerte die kleine Reisegesellschaft um die knisternde Flamme, und »Ein freies Leben führen wir« klang es weit durch den düsteren Forst, daß die Hirsche und Rehe erstaunt emporsprangen, die Geweihe in den Nacken legten und mit vorgestreckter Brust ventre à terre durch die Zweige der Tannen setzten.

Und kam der Abend, da suchte man irgendeine romantische Schenke unter Erlen und Lindenbäumen, und frecher wie die Landsknechte unter Georg von Frundsberg gebärdeten wir uns, wenn der Wirt die Unvorsichtigkeit beging, uns schon für Studenten zu halten. Kamen wir aber in eine neue Stadt, da interessierten wir uns namentlich für Malerei und Architektur, machten Notizen in das Reisebuch, was mehr weiße Blätter enthielt, als man zur Beschreibung einer Reise in den Orient nötig gehabt hätte. – Damals war es auch gewiß, daß wir zuerst rauchten; unter Gottes freiem Himmel war die Gefahr nicht so groß; der rote Tabaksbeutel, der daheim noch hinter Büchern und Papieren verborgen wurde, er baumelte jetzt frei an der Seite des Ranzens; die Pfeife wurde gestopft, man nahm Stahl und Stein und einen Lappen Zunder, mit dem ein friesischer Bauer sein halbes Leben ausgekommen wäre; und keine Minute dauerte es, da genoß man auch schon mit wahrer Todesverachtung den Rauch des beizenden Knasters, indem man keine Gelegenheit vorübergehen ließ, um hin und wieder bei einem kühlen Quell niederzusitzen, damit man durch einen gewaltigen Trunk das Gleichgewicht der fünf Sinne wiederherstellen könne. – Schrecklich war es indes, wenn man nach einigen kostspieligem Genüssen bemerkte, daß die Reisekasse bald ihrem Ende entgegengehe. Da hielt man an der Seite der Landstraße ein ernstes Konsil, zählte die vorrätige Barschaft und suchte bis auf Heller und Pfennig auszurechnen, wieviel man wohl zur Rückkehr in die Heimat nötig habe. Fand es sich, daß man zu kurz kommen werde, da brach der eine in Verwünschungen über die vielen unnötigen Ausgaben aus, zu denen er nicht seine Zustimmung gegeben hatte, da lärmte der andere über die Not der Menschen im allgemeinen, und da erinnerte sich plötzlich ein dritter, daß auf einem Dorfe in der Umgegend irgendein alter Pastor wohne, der die lieben Eltern daheim von Zeit zu Zeit besuche, und im Nu wurde natürlich beschlossen, daß man den würdigen Mann aufsuchen wolle, um sich zuerst häuslich bei ihm niederzulassen und ruhiger das Weitere zu überlegen oder hintereinander eine kleine Staatsanleihe zu kontrahieren.

Hatte man endlich vieler Menschen Städte gesehn und Sitten gelernet, da kehrte man zurück in das Land seiner Väter, freute sich, wenn man zuerst den Rauch aus den heimischen Schornsteinen aufsteigen sah, und fiel seinen Geliebten um den Hals, als hätte man sie in einem halben Menschenleben nicht gesehen.

Den Kopf voll von Wundern der Fremde, setzte man sich dann gleich nieder, um noch vor Anfang des Wintersemesters das Erlebte in Form eines phantastischen Aufsatzes zu Papier zu bringen. »Eine Ferienreise zu sechsen« – »Abenteuer im Harz« – »Über das Reisen im allgemeinen« – »Phantasien und Betrachtungen auf den Fluren der Fremde« – und wie alle die schönen Titel lauteten, welche man seiner Arbeit auf einem schneeweißen Blatte Propatria vorhergehen ließ.

O herrliche Zeit, wo man zuerst die Märchen »Tausendundeine Nacht« liest, wo man zuerst an seinem Geburtstage ein Nüremberger Ei trägt, wo man zuerst eine Zigarre rauchen kann, ohne eines frühen Todes zu sterben!

Der Cäsar und der Cicero lagen aufgeschlagen auf meinem Tische, und gegenüber schauten die Monatsrosen zum Fenster hinaus, und zwei blitzende Augen blickten durch das Grün des Laubes forschend auf den fleißigen Jungen hinab; und ach, es geschah dann nur gar zu oft, daß das Exerzitium nicht zur rechten Zeit fertig wurde und in der Zwischenzeit, stehenden Fußes, von einem barmherzigen Nachbarn abgeschrieben werden mußte.

»Homers Odüßee, übersezt von Johann Heinrich Voß, Hamburg, auf Kosten des Verfassers. 1781« hatte ich schon von meinem älteren Bruder geerbt; ich konnte jedoch auch fast den ersten Gesang in der Ursprache auswendig; aber wie schnell wurde alles das vergessen, als ich »Des Knaben Wunderhorn« und den alten Uhland und den »Taugenichts« des lustigen Eichendorff in die Hände bekam.

Die Nächte wurden mir da zum Tage, und ich schrieb mehr Verse als Calderon und verdarb mehr gutes, geduldiges Papier, als ich vielleicht vom zwanzigsten bis zum achtzigsten Jahr zu Fidibus verbrauchen werde, mehr Papier, als alle alten Jungfern seit Erfindung des Papyros in ihre spärlichen Haare gewickelt haben.

O schönes Land meiner Jugend, dich muß ich jetzt verlassen! – Verlassen die Stätte, wo ich zuerst gespielt, gelesen, geraucht, gereist, gelernt, geliebt und gedichtet habe! Lebe wohl! Lebe wohl! – und, lieber Leser, unwillkürlich dringt eine heiße Träne durch deine Wimpern, und deine jugendliche, romantische Maultierseele flutet über von Wehmut und kindlicher Andacht.

Zwischen all den nüchternen Gesellen, welche dir das Schicksal zu Reisegefährten gab, zwischen all den rechnenden Kaufleuten, den spekulierenden Ökonomen, den verständigen Polizeidienern und Grenzjägern, den trostlosen Handlungsreisenden, den alternden Kammerfrauen und gestrengen Regierungsräten sitzest du in deiner Ecke des Eisenbahnwagens »sô lilium undern dornen, sancta Maria«.

Da legt ein alter Herr freundlich seine Hand auf deinen Arm und spricht, indem er zurück nach der durchzogenen Gegend winkt: »Sehen Sie, lieber Freund, so sieht Deutschland von hinten aus!«

Eben hat man die Grenze passiert. Am Horizonte wehen die letzten deutschen Eichen und Linden, die letzte deutsche Lerche steigt mit langweiligem Getriller in die blaue Luft empor, der letzte deutsche Hase flüchtet, erschreckt von der vorübersausenden Lokomotive, in wilden Sätzen über das letzte deutsche Kohlfeld, und, da es nun einmal nicht anders sein kann, so zerdrückst du die letzte Träne in deinen schönen deutschen Augen und blickst dann verwundert in die neue, fremde Welt, welche eben mit all ihren Wundern vor deinen Blicken emporsteigt.

In Verviers merkt man schon, daß man in der süßen Fremde ist. Die Menschen fangen an, Kognak mit Zucker zu trinken und Wasser mit Fleur d'orange. Jeder Gamin will dir das tägliche Brot in Gestalt einer zweiblätterigen Zeitung verkaufen. »L'Émancipation, quinze Centimes!« – »L'Observateur, édition du matin!« – »Le Politique est très interessant ce matin!« – »La Constitution – très beau feuilleton!« – Da blasen die Eisenbahnführer ihr liebliches: »Partez donc!«, und im Nu verschwindet der Zug in dem Tunnel des nächsten Berges. Leider verfinsterte sich bei meiner damaligen Reise bald der Himmel, und aus Regen und Nebelwolken tauchten nur bisweilen die Türme der altehrwürdigen Städte Lüttich, Löwen und Mecheln empor, als wollten sie sagen: »Nun – wir sind auch noch da und freuen uns unsres Lebens ebensogut wie ein paar hundert Jahre vorher!«

Mecheln, in der Sprache des Landes Malines, gibt dem guten Deutschen schon gleich Gelegenheit, seine französischen Sprachkenntnisse anzuwenden. Statt »Malihn« spricht er den Namen dieses Ortes »Malän« aus und durchstreicht mit dem Bleistift den Ort auf seiner Karte, zum Zeichen, daß er ihn passiert hat, daß er ihn gesehen, daß er nun nicht weiter für ihn existiert.

War bei dem nebligen Wetter draußen wenig zu sehn, so schweifte das Auge im Innern des rasch fortschnurrenden Wagens desto mehr herum und suchte nach einem erbaulichen Gegenstande, nach einer blühenden Flamländerin etwa, mit Brüsseler Spitzen behangen und lächelnd wie ein heiterer Sonntag im Monat Mai. – Aber leider schienen auch die an jenem Tage in stiller Zurückgezogenheit zu leben, denn kein schönes Augenpaar wollte am Horizonte aufsteigen, keine Locke wollte entzückend eine schneeweiße Stirn umflattern; nur Männer rings auf den Bänken, Männer mit Bärten, mit sehr schönen Bärten!

Auf späteren Reisen in Holland und Belgien ist es mir oft aufgefallen, wie sehr in letzterem Lande das »schöne Geschlecht« von der Natur vernachlässigt ist und wie man dagegen unter den Männern die ausdrucksvollsten Gesichter und die kräftigsten und schön geformtesten Gestalten findet. In Holland ist dies gerade umgekehrt, wenigstens in dem eigentlichen Holland, dem klassischen Ort des Kaffee- und Zuckerschachers. Die Männer sind dort entweder infolge eines wüsten Lebens der Hafenstädte zu wahren Skeletten, zu windhundartigen Figuren abgemagert oder in reiferem Alter zu so enormen Wänsten aufgeschwemmt, daß man erst einige Zeit suchen muß, ehe man in jenen Fleischkolossen ein menschliches Wesen findet.

Die holländischen Frauen sind dagegen fast durchgängig hübsch; sie haben blondes Haar, himmelblaue Augen, sehr weißen Teint, nur leider durch den Gebrauch der unterirdischen Kohlenpfannen und Feuerstübchen bisweilen entsetzlich große Füße – aber eine Holländerin kann sehr schön und liebenswürdig sein, und wenn sie mit ihren roten Lippen jene fürchterliche Sprache lispelt, welche in dem Munde der Männer wie das Grunzen und Brummen einer Walkemühle klingt, da bleibt man verwundert stehen und sieht aufs neue, daß von schönen Lippen alles schön klingt, sei es, was es wolle, sogar Holländisch.

Wir kamen nach Antwerpen, einem Orte, von welchem mancher Junggeselle zu erzählen weiß.

Und die frommen Kirchtürme spielen so flott
Mit den Glockenspielen und preisen
Schier viertelstündlich den lieben Gott
In Walzer- und Polkaweisen.

Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Jedesmal, wenn man soweit gekommen ist, um in aller Ruhe sein Nachtgebet zu verrichten, über sein bisheriges Leben ernstlich nachzudenken und die besten Pläne für die Zukunft zu fassen, da fängt auch jenseit der Place Verte der alte Turm der Kathedrale sein voriges Gejubel an. Es ist entsetzlich, es stört jedes friedliche Verhältnis der Nacht, es ist nicht anders, als wäre man unter Orgeldrehern und Dudelsackpfeifern gebettet. Und der alte Turm spielt nicht einmal schön. Durch die Länge der Zeit sind ihm in seinem liederreichen Munde einige Zähne ausgefallen, so daß nicht selten in den verschiedenen Arien sehr beunruhigende Lücken vorkommen. Sehr beunruhigende Lücken, sage ich. Denn wenn man sich durch die ersten fünf, sechs Töne aus dem kaum begonnenen Schlummer wieder aufschrecken ließ und mit einem gewissen heroischen Gleichmut ebenfalls das »O du lieber Augustin« oder »Liebe, Liebe ist mein Leben« angestimmt hat, da bemerkt man plötzlich zu seinem Schreck, daß die obligate Begleitung der heitern Kathedrale soeben mitten im besten Zuge verstummte. Man richtet sich im Bette empor, man lauscht, eine höchst peinliche Minute erfolgt, und wie ein Blitz fährt einem der Gedanke durch den Kopf, daß die kaum begonnene Arie vielleicht die letzte sein möchte, welche der fromme Turm in seinem Leben spielen wird, daß er eben vielleicht nur sein Schwanenlied gesungen und, von Kolik, Rheumatismus und Migräne bis zum Tode verwundet, möglicherweise im Begriff sei, noch am späten Abende das Zeitliche zu segnen. Je länger diese unglückselige Pause dauert, desto wahrscheinlicher wird unsere Vermutung; und schon will man mit gleichen Füßen aus dem Bett auf den Teppich springen, um den erhabenen Anblick einer sinkenden Kirche in seiner ganzen tragischen Wirkung der Seele einzudrücken, da hat der alte Musikant sich wieder ermannt, und als wenn nichts vorgefallen wäre, jubelt er das Ende seiner Melodie mit soviel Gleichmut und mit so verzweifelter Akkuratesse, daß einem die Haare vor Ärger zu Berge stehn und daß man mit mürrischer Seele und eiskalten Füßen aufs neue in sein teueres, innig geliebtes Gasthausbett zurücksinkt.

Nein, ich lasse mir vieles gefallen; ich habe mit unverwüstlicher Ruhe dem Gesange meiner sentimentalsten Freunde zuhören können, ich habe das Gebrüll deutscher Universitätskneipen ertragen, und ich ertrug das Säuseln eines Barmer Pietisten, wenn er mich an Seele und Ewigkeit erinnerte; aber daß ich mich von jedem beliebigen Kirchturm ennuyieren lassen soll, daß ich gelassen bleiben soll, wenn man meine teuer erkaufte Nachtruhe durch lückenhafte Arienpfuschereien verhöhnt, wenn man meiner wahrlich großen Höflichkeit jeder ergrauten und verwitterten Kathedrale gegenüber durch die trivialste Bänkelsängerei spottet – nein, das ist zuviel verlangt, das geht über die Berge, das ist beleidigend und verletzend!

Übrigens verweilte ich in Antwerpen wider alles Erwarten mehrere Tage. Waren es Rubens' herrliche Schöpfungen, waren es de Keysers und Wappers' reizende Bilder, war es das bunte Treiben auf den Straßen, an der Scheide, an den Bassins, welches mit seiner ganzen Fremdartigkeit »den Sinn gefangenhielt«, oder was sonst? Ich weiß es nicht – genug: ein Tag verstrich nach dem andern, das prächtige Hotel St. Antoine sah mich jeden Abend in seinen roten Saal zurückkehren, und erst als mir eines Morgens mit Schrecken einfiel, daß jenseit des Kanals England liege, daß ich dort London und wer weiß was sonst besuchen sollte, daß ein sonniger Tag zur schönsten Seefahrt einlade – da wurde zum Abschied der Hut geschwenkt, ich sprang auf den Dampfer »Wilberforce«, und hinunter ging es die Schelde, hinein in die dicke, blaue Meerflut!

Der »Wilberforce« war das erste Seeschiff, was ich in meinem Leben bestieg, und ich mußte mich natürlich über das schöne Gebäude freuen, wie man sich über alles freuen kann, was schön und vollendet ist. Seitdem fuhr ich auf belgischen, holländischen und französischen Schiffen, aber ich muß gestehen, daß es mir jedesmal ein zehnmal größerer Genuß ist, wenn ich ein großbritannisches wiedersehe. Das Propere, das Solide, das Einfache und in seinem kolossalen Umfange doch so herrlich Abgerundete und Geschlossene eines englischen Seeschiffes machte einen Eindruck auf mich wie ein schönes Goethisches Gedicht.

Da ist kein Tau auf dem ganzen Schiffe, keine Luke, keine Planke, die nicht eine wohlberechnete Bestimmung hätte; jede Einrichtung des Inneren und des Verdeckes zeugt von der Energie und dem Verstand der Erbauer, jede kleine Zutat, jeder kleine Luxus, um das Nützliche zu verschönen und das Auge auch bei dem gewöhnlichsten Gegenstande nicht unbefriedigt zu lassen, von dem großartigen Geschmack jenes gewaltigen Volkes.

Der englische Luxus in der Einrichtung eines Seeschiffes ist nicht eklatant wie der bei französischen Fahrzeugen; aber eine einfache Verzierung ist ja oft auch tausendmal schöner. Wie das Papier, in welchem der Engländer seine Waren versendet, fester, dauerhafter und glänzender ist als dasjenige aller andern handeltreibenden Nationen; wie die Bindfäden, mit dem seine Ballen genäht sind, jene rot und weißen Fäden der Flotte oder jene blau und weißen des Handels, fester und egaler gedreht sind als alle andern Bindfäden der Welt; wie er den wenigen Dessins seiner Kleiderstoffe, jenen immer wiederkehrenden Carrés oder jenen ewig bestehenden Streifen, stets ein gefälligeres und mehr sauberes Ansehen zu geben weiß als alle übrigen Fabrikanten der Erde – wie er, mit einem Worte, in dem Kleinsten und Gewöhnlichsten, sobald es nur einen Zweck hat, sobald es nur von Nutzen ist, seinen ganzen Verstand, seine meisterhafte Überlegung zu erkennen gibt, ebenso entfaltet er diese seine Tugenden auch in jener großartigen Marine, die ihn herrlich vor allen Völkern machte.

Und welche Matrosen findet man auf seinen Schiffen! Männer aus Stahl und Eisen, aus Knochen und Sehnen, aus Energie und Gewandtheit zusammengesetzt! Wenn das Schiff auf der Reise ist und der eine hier und der andere da beschäftigt ist, einige im unteren Raum des Schiffes, andere im Segelwerk, die übrigen auf dem Verdecke, da hat man freilich Gelegenheit, ihre Tätigkeit, ihre Ausdauer im Detail zu bewundern; aber es fehlt der Totalüberblick, du hast nicht das ganze Personal vor dir, du kannst sie nicht betrachten, herab von dem ergrauten Steuermann bis hinunter zu dem blondhaarigen Schiffsjungen; dein Genuß an diesem verwegenen Volke ist unterbrochen, zersplittert.

Tritt daher an den Rand des Bassins, in dem ein Seeschiff vor Anker liegt, in einem Augenblick, wo die Mannschaft mit ihren Arbeiten fertig ist, wo sie von den Masten herab- und aus den Luken heraufsteigt, um auf freiem Verdeck in ganzer Gesellschaft den Moment der Ruhe und der Erholung zu genießen. Das ist die Zeit, wo du begreifen lernst, wie das stolze Britannien die Herrscherin der Meere wurde!

In malerischen Gruppen sah ich sie manchmal liegen, jene riesigen Gesellen, die so wild wie die Möwen der See sind, unerschrocken wie die Panther der Wüste und rauh und barsch wie Bären des Nordens.

Ihr kennt jenes Bild des unglücklichen Robert, jene Gruppe italienischer Fischer, jenes Meisterstück eines poetischen, tief melancholischen Malers, das unwillkürlich den Beschauenden zur Wehmut stimmt, was das Herz zusammenschnürt, wenn man in die düstern Augen jener famosen, schwarzumlockten Köpfe blickt. Ist es nur die Stimmung des Malers, die sich in seinem Bilde widerspiegelt und die so frappant aus jeder Miene, aus jedem Blick, aus jedem Mundwinkel hervordämmert, daß du in einer Sekunde davon getroffen und durchdrungen bist? Oder steigt auch noch der Gedanke an ein edles, unglückliches Volk in deiner Seele auf? Sollte der Maler außer seinem eigenen Schmerz auch noch die geheime Trauer einer ganzen Nation hier auf die Leinwand gebannt haben? Wer weiß es!

Genug, wie ich mich bei der wahrhaft großartigen Wehmut, welche über dem ganzen Bilde liegt, nie eines allgemeinern Gedankens erwehren konnte, ebenso glaubte ich auch, in der lebendigen Gruppe jener stolzen englischen Matrosen die ganze riesige Energie, die ganze unermüdliche Tätigkeit des lebendigen Englands wiederzufinden.

Und gerade im Augenblick der Ruhe, der Erholung wehte mich dies immer an, wenn ich die ergrauten Seeleute, die von Wind und Wetter gebräunten Gesichter der jüngeren Matrosen und die blonden Köpfe der Schiffsjungen in jenem Momente überraschte, wo sie in stummer Gelassenheit, aber in dem vollen Bewußtsein ihrer Kraft, ja, wenn sie in wahrer antiker Ruhe im Kreise auf dem glatten Verdeck kauerten oder nachlässig auf den Planken lehnten, um die Scharlachjacken und die bunten Halstücher lose im Winde flattern zu lassen.

Das sind die Leute, mit denen Nelson, der schönste Held Englands, seine Feinde niederboxte, das waren die Heroen, welche ihm seine Schlachten schlugen – Schlachten, welche er nicht ausführlicher seinem Vaterlande meldete als: »Gott hat uns einen großen Sieg über unsre Feinde gegeben«.

Ich habe die englischen Matrosen im fürchterlichsten Sturm auf offener See gesehen; ich sah sie im Hafen, ruhend auf glattem Verdeck; ich schlich ihnen nach, wenn sie am Abend mit einem Boote ans Land ruderten, um sich nach allen Gefahren und Stürmen ihres oft nur zu trostlosen Lebens in den engen Gassen einer Hafenstadt, in düstern Schenken und auf hellerleuchteten Tanzböden für ein paar Stunden der Lust und der Freude in die Arme zu werfen.

Mit lautem Juchhei durchbrachen sie die Reihen müßiger Männer, Weiber und Kinder und stürzten durch die offenen Türen hinein in den festlichen Saal. Da erklang die Geige, und im Nu hatte jeder eine Dirne erfaßt, und die grandiosen Schenkel, umflattert von weiter Hose, und die Füße, in schneeweißen Strümpfen und zierlichen, feinen Schuhen, dieselben Beine, von denen man nie erwartet hatte, daß sie eine andere Bewegung als die für ihren Dienst bestimmte machen könnten – diese Schenkel und Füße drehten sich bald in so keckem, gewandtem Tanze, daß man vor Entzücken laut auflachen mußte. »They are good, simple men!« – »Sie sind gute, simple Leute!« raunte mir einst ein armes Frauenzimmer ins Ohr, als einige Matrosen, durch den Wein und den Tanz erhitzt, zuletzt gar keine Umstände mehr machten und den Lohn vieler Wochen und Monate in einem Haufen Gold und Silber auf den Tisch warfen, damit der ganze Tanzboden sich bei dem diebischen Wirt dafür traktieren lasse.

Ich kann jene Szene nicht vergessen. Das liederlich Großartige, was darin lag, daß diese armen Teufel ihren ganzen Reichtum auf den Tisch warfen, um sich selbst und hundert andern für eine kurze halbe Stunde Genuß und Freude zu bereiten, zeigte, daß sie wilde, natürliche Seelen waren. »Was nutzt uns das lausige Gold? – Unser ist die unendliche See!« Das leuchtete aus ihren verwegenen Blicken, und jene braven Kerle waren in jenem Augenblicke größer als der ganze Haufen ihrer sittsamen, ehrenwerten Herren.

Ach, jene guten, simplen Leute! Es geschieht nur zu häufig, daß ihre niederträchtige Umgebung sie in solchen Augenblicken so exploitiert, daß sie am folgenden Morgen höchstens mit Hose und Hemd auf bloßen Füßen in den Raum des Schiffes zurückgelangen, um sich dann aufs neue ein paar tausend Meilen weit fort durch den Schaum der Wogen schleudern zu lassen.

Dieses Unglück auf dem Lande macht aber gewissermaßen das Glück des Matrosen zur See; und wenn man bedenkt, daß erst jetzt in Liverpool eine Anstalt zur Aufnahme heimkehrender Matrosen errichtet wird, so kommt man nur zu leicht auf den Gedanken, daß es bisher sowohl dem Gouvernement als den einzelnen Handelsreedern vielleicht nur recht eigentlich darum zu tun war, ihren Matrosen am Strande freies Spiel zu lassen, um sie durch die üblen Folgen ihrer Unerfahrenheit und eines leicht zu entschuldigenden Ausschreitens desto rascher und williger wieder zurück in die Schiffe zu locken, wo sie, einmal an ihrem Posten, auch gleich wieder die gewohnte Tätigkeit entwickeln.

Wenn ich den Eindruck, den ein größeres englisches Seeschiff auf mich machte, mit der Wirkung eines Goethischen Gedichtes zusammenstellte, so hatte ich gewiß nicht ganz unrecht. Es ist das Reinliche, das Harmonische, das Großartige eines Meerkolosses und eines Goethischen Gedichtes, was zur Bewunderung hinreißt. In derselben eisernen Ordnung, mit der sich bei einem Seeschiffe Planke in Planke fügt, und wie in dem Gewirr unzähliger Taue doch jeder Faden seine Bestimmung und seine vorgeschriebene Wirkung verfolgt, ebenso meisterhaft ordentlich fügt sich bei einem Goethischen Gedichte Reim in Reim, und ebenso klar steigt aus den Wogen seiner tönenden Worte der alles beseelende Gedanke. – Die energische Ordnung ist es, welche nach den heutigen Begriffen nicht nur die englische Marine, sondern alles das, womit sich England vor der Welt rühmen kann, aus den winzigsten Keimen bis zu der vollen Pracht des Kolossalen entwickelt hat; die eiserne Ordnung in dieser scheinbaren Verwirrung ist es, die dem Engländer Erfolge sicherte, wo nun die Sonne über seinem Werke aufging.

»Grabet euer Feld ins zierlich Reine,
Daß die Sonne gern den Fleiß bescheine;
Wenn ihr Bäume pflanzt, so sei's in Reihen,
Denn sie läßt Geordnetes gedeihen

Auf dem Verdeck unseres »Wilberforce« bewegte sich ein munteres Völkchen, nur Engländer, Herren und Damen, und von allen Seiten tönten einem ein »yes«, ein »beautiful«, ein »indeed« und andere häufig vorkommende Worte entgegen. Was mich aber sehr wunderte, war, daß sämtliche Leute einen ganz anderen Anstrich hatten als den, an welchem man in Deutschland gewöhnlich schon auf sechzig Schritt weit einen Engländer erkennt; das waren nicht mehr jene steifen, verschlossenen, mißtrauisch blickenden Gesellen, die stundenlang auf einem Rheindampfschiff hin und her laufen, ohne ein Wort zu sprechen, ohne durch irgendein Zeichen Unwillen oder Zufriedenheit, Verdruß oder Entzücken anzudeuten, die höchstens einen Kellner in barschem Tone kommandieren und an allem, was um sie vorgeht, so wenig Anteil nehmen wie möglich; nein, sie waren lebhaft und zuvorkommend wie Franzosen, und aus der Art, wie sie miteinander sprachen, ging deutlich hervor, daß etwas von deutscher Herzlichkeit hinter dieser lebendigen Annäherung lag. Mein Erstaunen wurde aber noch bedeutend dadurch vermehrt, daß ein älterer Gentleman, als wir eben an einem prächtigen Ostindienfahrer vorbeirauschten, ganz vertraulich die Hand auf meinen Arm legte und mich in gebrochenem Deutsch fragte, ob ich nicht ein Deutscher sei und schon ein so herrliches Schiff gesehen habe, worauf er dann, als ich letzteres verneinte, auf der Stelle begann, mir die einzelnen Teile des Schiffes auseinanderzusetzen, und mich darauf seiner Frau und den beiden Töchtern mit der Bemerkung vorstellte, dieser Herr reise zum ersten Male nach England, sie sollten mich auf alles aufmerksam machen und, wenn ich es wünschte, über jeden unbekannten Gegenstand belehren! – Mensch, wie kamst du zu dieser Liebenswürdigkeit? – Ich zögerte nicht und setzte mich zu der blaß interessanten jüngsten Tochter, die einen Blumenstrauß in den Händen hielt, der noch in Deutschland gepflückt war und den sie als Andenken mit ins Vaterland hinübernehmen wollte.

Wurde mir auf diese Weise der Beginn meiner Wasserfahrt schon angenehm gemacht, so hatte ich doch noch mehr Ursache, den Fortgang derselben zu loben; denn als sich gegen drei Uhr die ganze Gesellschaft in der großen Kajüte zum Diner zusammenfand, jede Person das vor ihr stehende Gericht zerlegte und den Nachbarn davon mitteilte, als Sherry und Portwein in den geschliffenen Gläsern schimmerten und meine freundliche Engländerin gar nicht aufhörte, mich zum Versuch dieser oder jener mir ungewohnt zubereiteten Speise einzuladen, da mußte ich freilich vergessen, daß ich unter dem kalt und unfreundlich gescholtenen Inselvolke saß, und gestand mir später gern, daß meine Landsleute sich sehr irren, wenn sie dies meinen, und es wohl nur manchem ungeschlachten Wirt und sonstigen prellenden Subjekten zuzuschreiben haben, wenn die reisenden Briten sich wirklich stolz und mißtrauisch benehmen. Was ich auf dem Schiffe an wenigen Personen bemerkte, fand ich nachher in London bestätigt; auf ihrem eigenen Grund und Boden sind die Engländer, namentlich die Londoner, eine ganz andere Nation, als sie auf dem Kontinent erscheinen.

Als das Abendlicht durch die Kajütenfenster leuchtete, eilten wir wieder aufs Verdeck. Wir waren schon bis nach Vlissingen gelangt; die Schelde hatte eine enorme Breite, und an den höheren Wellen, welche am Vorderteil des Schiffes aufschäumten, konnte man bemerken, daß wir bei Anbruch der Nacht in See sein würden. Das Schiff begann auch schon mehr zu schwanken, so daß mein Spaziergang mit dem englischen Kinde unterbrochen werden mußte; denn ohne es zu wollen, geschahen gegenseitig so trauliche Annäherungen und berührten sich unsere Arme und Schultern auf so nachdrückliche Weise, wenn der Dampfer plötzlich von der einen zur anderen Seite hinüberneigte, daß die Nachsicht und Liebenswürdigkeit des hinter uns wandelnden oder vielmehr wankenden Vaters gewiß bald ihre Grenzen gefunden hätte. Etwas ungern führte ich daher die junge Dame in den untern Schiffsraum zurück, wo ein mächtiger Teekessel auf dem Tische den Augenblick verkündete, wo der Engländer in der höchsten Gemütlichkeit zu schwelgen pflegt.

Aus dem »Landprediger von Wakefield« wußte ich schon, mit welcher Sorgfalt Olivia und Sophia den köstlichen Trank zu bereiten pflegten, und ich hatte bisher auch immer gedacht, daß Uhland ganz recht haben müßte, wenn er in seinem »Teeliede« nur den Frauen die holde Bestimmung zuerkennt, den Tee in mütterlicher Hut zu halten, und daß es den Männern nie gelingen wolle, des Tees tiefe Kraft und seines Zaubers Eigenschaft zu empfinden.

Aber wie hatte ich mich geirrt! Hier nahten Mann und Weib in trauter Gemeinschaft dem übersprudelnden Wasserkessel, und ein jeder zapfte in seinen silbernen Topf, soviel das Herz verlangte. Dann spähten sie mit sorgsamem Auge, ob die dampfende Flüssigkeit sich nicht bald mystisch dunkler färbe, und siehe da, hatte sie den Grad der Vollkommenheit erreicht, mit welchem Entzücken ließen sie den duftenden Schwall auf den Zucker hinabrieseln! Alle Gesichter hatten den Ausdruck unbegrenzter Glückseligkeit, die Unterhaltung wurde sparsamer geführt, jeder schien mit sich selbst zufrieden zu sein und zu fürchten, daß ihn eine Frage, nur ein Laut seines Nachbarn in der stillen Teeschwärmerei stören möchte.

Nachdem eine geraume Zeit auf diese Weise verstrichen war, zogen sich zuerst die Damen und später auch allmählich sämtliche Herren in die Räume zurück, wo jedesmal zwei Betten übereinander die ermüdete Gesellschaft zur Ruhe einluden.

Obgleich die sehr ruhige See alle Furcht vor jener Unpäßlichkeit, welche eine Seereise gewöhnlich mit sich bringt, entfernen mußte, so folgte ich doch dem Rate meiner Freunde und verkroch mich, um alles Unheil zu verhüten, gleichfalls beizeiten in die zwar sehr kleine, aber äußerst saubere Schlafstelle. Von da aus, weil sie zu der obern Reihe gehörte, ließen sich denn freilich manche interessante Beobachtungen anstellen: mit welchen Gefahren z. B. ein ziemlich wohlbeleibter Herr zu kämpfen hatte, ehe er seinen erhabenen Ruheort neben mir eingenommen, wie jener seine Börse vorsichtig unter dem Kopfkissen verbarg und ein anderer in der größesten Verzweiflung zu sein schien, da er seine unerhört langen Beine gar nicht in die rechte Lage zu bringen wußte.

Nach und nach machte sich aber alles, es herrschte ringsum tiefe Stille, und von außen herein tönte nur das Brausen der Wellen, die in fast regelmäßigen Zwischenräumen an die Wände des Schiffes schlugen. Lange lauschte ich diesem seltsamen Geräusche, bis auch mich endlich der Schlaf in seine Arme drückte.

Mehrere Stunden mochten vorübergegangen sein, da wurde ich plötzlich wach, denn mein dicker Nachbar richtete sich halb in die Höhe und rief mit tiefer Stimme: »Waiter (Kellner), what o'clock is it?« Der Kellner regte sich gleichfalls aus den Federn, sah nach der Uhr und antwortete: »Twelve o'clock, Sir!« Damit war der Dicke aber keineswegs zufrieden, sondern rief aufs neue: »Waiter, what o'clock is it?« Der Kellner sah nochmals auf und erwiderte: »It is twelve o'clock, Sir!« Mochte mein Freund dies verstanden haben oder nicht – genug, er fragte den Kellner zum dritten Male, und der arme Geselle mußte nochmals wiederholen: »It is exactly twelve o'clock, Sir!« Jetzt hoffte ich die Sache abgemacht, aber mein Schlafgenosse fuhr fort: »Waiter, that's midnight (Mitternacht), is it not?« – »Yes Sir, it is!« antwortete der Kellner, und da legten sich beide wieder auf die Seite, als wenn nichts vorgefallen wäre; der dicke Herr wußte, daß »zwölf Uhr« Mitternacht ist und kümmerte sich wenig darum, daß durch seine vielen lauten Fragen ein Dutzend Menschen aus dem Schlaf aufgestört waren, die sich nun fluchend und schimpfend, daß man durch seine einfältigen Unterredungen so inkommodiert werde, wieder in ihre Bettdecken einwickelten und, teilweise wohl vergebens, einzuschlummern suchten.

Mir war es wenigstens nicht möglich; ich zog daher meine Kleider an und stieg auf das Verdeck. Da hatte ich denn zum ersten Male das Meer in seiner ganzen Größe vor mir; kein Land mehr zu sehen, nur oben der dunkelblaue Himmel und unten die wogende Flut! Sie erschien mir wie eine unermeßliche grüne Wiese, deren hohe Graswellen sanft vom Nachtwinde gebogen wurden, und als der Mond jetzt langsam aus einem fernen Gewölk hervorwandelte und rings sein bleiches Licht ergoß, den duftigen Horizont erhellte und den Schaum der Wellen mit seinen Strahlen schmückte, da kam es mir vor, als blühten plötzlich tausend schöne Blumen am Saume dieser gewaltigen Wiese auf und schlängen sich selbst zu Kränzen für die Geister der alten ewigen Nacht! Ich werde diese stille Stunde, wo ich zuerst das Meer in seiner ganzen Schönheit, in seinem ergreifenden Ernste sah, nicht vergessen und möchte wünschen, daß bei der Leichtigkeit, mit welcher man jetzt zu diesem Genusse gelangt, keiner meiner Landsleute sich ferner abhalten ließe, einmal für acht Tage der Heimat Lebewohl zu sagen und seine unsterbliche Seele einem Seeschiffe anzuvertrauen.

Am Morgen erblickten wir bei aufgehender Sonne zuerst die englische Küste. Der alte Steuermann reckte sich höher empor, seine Augen blitzten, und mit einem stillfeierlichen Gesang begrüßte er die Heimat. Die Matrosen, welche an den Segeln beschäftigt waren, fielen wohl in die Melodie ein, endeten aber mit jenem eigentümlichen Johlen, womit sie alle anstrengenden Beschäftigungen zu begleiten pflegen. Nach und nach fanden sich sämtliche Passagiere auf dem Verdeck ein, und ich hatte nun wieder Gelegenheit, meiner schönen Reisegefährtin zu nahen, die fröhlich über die Wellen schaute und großes Vergnügen daran zu haben schien, als die Ufer sich bald höher erhoben und ihre waldigen Gipfel zeigten. Die immer größer werdende Anzahl von Schiffen ließ es auch merken, daß wir das Meer im Rücken hatten und bereits die Themse hinauffuhren.

Eine Stunde vor Ankunft des Schiffes entsteht gewöhnlich eine seltsame Bewegung unter den Passagieren. Die Bekanntschaften, welche während der Reise geschlossen wurden, werden mit jedem Augenblicke loser. Der eine kümmert sich nicht soviel mehr um den andern wie bisher. Jeder scheint mit sich selbst beschäftigt zu sein, der eine durchstöbert seinen Reisesack, der zweite seine Hutschachtel, der dritte macht sich entsetzlich viel mit einer Flasche Eau de Cologne zu schaffen, der vierte sucht mit aller Gewalt ein Paket Zigarren in seine Rocktasche zu stopfen, der fünfte verbirgt eine verdächtige Rolle in seiner Manteltasche, der sechste steckt einige Bücher an einen Ort, wo man sonst gewöhnlich nie Bücher mit sich führt – genug, jeder hat etwas Besonderes zu schaffen und zu besorgen; hin und wieder blicken sich zwei Reisegefährten, die eben noch die besten Freunde schienen, mit argwöhnischen Augen an, als hätten sie beide etwas Böses getan, als fürchteten sie beide, daß der eine den andern beobachte. Es ist ein verzweifelter Augenblick; das freundlichste Damengesicht wird seriös, das unbefangenste Auge bekommt momentan einen dubiösen Ausdruck. Man weiß nicht, ob man sich über diese plötzliche Verwandlung ärgern soll oder ob sie mehr des Lachens wert ist. So viel ist aber gewiß, daß die erste Freude, die Heimat wiederzusehen, vorüber ist und daß plötzlich die Furcht vor der Douane in den meisten Seelen emporsteigt.

Ach Gott, die Douane! Wo alle die kleinen, allerliebsten Geheimnisse einer Damenschatulle ans Licht kommen, wo mit unerbittlicher Strenge das Verborgene hervorgezerrt wird, wo es keine Gnade und kein Mitleid gibt, wo die treusten Kinder des Vaterlandes wie Diebe behandelt werden und wo es sich gewöhnlich auch herausstellt, daß keiner dem süßen Gelüst des Defraudierens widerstehen konnte!

Nun, die englischen Freetraders sind ja aber im besten Zuge, ihren lieblichen Töchtern in Zukunft manchen kleinen Reisekummer zu ersparen.

Was indes die Furcht vor der Douane schon jetzt reichlich versüßt, ist der Umstand, daß wenigstens in England kein Gendarm am Ufer steht, der sich nach einem Paß erkundigt. Diese barbarische Sitte gehört in England der Vergangenheit an und wurde in Belgien vor kurzem ebenfalls abgeschafft. Die Geheimnisse deines Koffers mußt du erschließen, aber sonst läßt man dich ungeschoren. Sowie du den Fuß auf englischen Boden gesetzt hast, da stehst du unter englischem Gesetz, und das ist die beste Kontrolle.

Ich freute mich wie ein Kind, als ich die Themse hinauffuhr und daran dachte, wie manchem schon das Herz im Leibe gelacht hat, wenn er eben diesen Weg zurücklegte und das Land seiner Sehnsucht vor sich sah.

Denn hat nicht mancher, dem der Schnee Sibiriens, dem die Bergwerke des Ural, dem die Bleidächer des Südens, dem die Kerker, ach, meiner eigenen Heimat zur Wohnung bestimmt waren, den das Vaterland ausstieß wie einen verlorenen Sohn, der wie ein gehetztes Wild von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt gejagt wurde, dessen Jugend daheim in wenigen Jahren untergraben, dessen Stolz in wenigen Monaten geknickt, dessen Liebe in Haß, dessen Begeisterung in dumpfes Trauern, dessen Energie in Verzweiflung verwandelt werden sollte – hat er nicht hier, hat er nicht an dem Strande jener kalt und unfreundlich gescholtenen Briten eine neue Stätte gefunden, wo er durch Fleiß, durch Ausdauer, durch Kraft und Verstand fast zu jeder Stellung in der Gesellschaft gelangen kann, die dem in diesem Lande Geborenen nur unter gleichen Bedingungen offensteht? Eröffnete England ihm nicht ein Feld, auf dem er alles treiben kann, was die Jugend bewegt, was des Mannes Alter erntet, was den Greis erfreut? Stand ihm nicht dies ganze kolossale Reich mit all seinen unerschöpflichen Quellen alles dessen offen, was man heute noch Ruhm und Glückseligkeit nennt? Gewiß, mit allen den Voraussetzungen, welche in England und in aller Welt dieselben sind, konnte er hier noch zu allem gelangen, was den Schmerz einer verlorenen Heimat zu lindern imstande ist.

Wer für politische Vergehen der Strenge seines heimatlichen Gesetzes unterlegen hätte – England gab ihm Raum und Freiheit, um der Überzeugung seines Herzens zu leben.

Wen der Leichtsinn ins Verderben zu stürzen drohte – England gab ihm die Zeit, um sich zu bessern.

Wer daheim an jedem Orte nur einen Abgrund vor seinen Füßen sah – England gestattete ihm den Einzug in seine Felder und eröffnete ihm eine neue Welt!

Sagt, was ihr wollt – der Brite hat euch exploitiert durch seinen Handel, durch seine Industrie – das ist wahr! Aber weshalb habt ihr euch exploitieren lassen? Der Brite hat vollkommenes Recht dazu! Er droht, eure Städte ineinanderschießen zu wollen, wenn ihr ihn auf undiplomatischem Wege in seinen Unternehmungen stört – das ist wahr! Aber der Brite hat ein Recht dazu. Denn wir leben in einem Kampf aller gegen alle; wir leben in dem Jahrhundert der freien Konkurrenz, wo jeder sich so gut hilft, wie er kann, wo jeder nach seiner Façon, wo jeder auf die vorteilhafteste Weise selig zu werden sucht und wo nur Titanen einen anderen Weg zu bahnen suchen als den, welcher heute für den Weg des Rechtes und der Vernunft gilt. Und wenn es den Engländern nun gelungen ist, vor allen Völkern selig zu werden, da zeigt es sich eben, daß sie unsre Zeit am besten begriffen haben, daß sie eben die Matadore des Jahrhunderts sind, daß sie weniger zu verdammen als zu bewundern, daß sie weniger zu bedauern als zu beneiden sind.

Es ist daher lächerlich, wenn man den Briten nur einen Krämer, einen Egoisten schilt. Er ist Krämer und Egoist, weil er ein echter Sohn unsres Jahrhunderts ist, er ist es nicht mehr und nicht weniger wie jeder andere auch, nur bisweilen etwas mehr in großbritannischem Stile als andere Leute. Kann man daher aus diesem Grunde auch nicht den geringsten Stein auf ihn werfen, so muß man doppelt anerkennen, daß er neben seinem eisernen, eingefleischten Egoismus noch human und großartig genug geblieben ist, um allen armen Sündern der Welt seine Arme zu öffnen.

Um Mittag stiegen wir ans Land. Einem guten Deutschen, der an seine schöne Gemütlichkeit und, wenn er nicht gerade in den größern Städten des Landes gebürtig, meistens an eine ziemlich ruhige Straße vor seinem Hause gewöhnt ist, der Wunders meint, was es ist, wenn jede Stunde ein Dampfschiff über den Rhein fährt, dem wird es wahrhaftig etwas sonderbar zumute, sieht er plötzlich das Städteungeheuer London vor sich liegen, das sich am Ufer des breiten Stromes aus Dampf und Nebel geisterhaft hervorhebt, sieht er immer andere Kirchen und Paläste heraufsteigen, die Schiffe immer dichter geschart und namentlich ganze Haufen von Dampfbooten im bunten Gemisch durcheinanderfahren, sieht er am Strand dies Gewühl von Menschen und fährt nun endlich gar auf einer Eisenbahn weit über die Dächer der Häuser hinweg, mitten in das Gebrause dieses unheimlich großen Chaos, in dem beinahe zwei Millionen glückliche und unglückliche Seelen ihr Wesen treiben.

Ich war betäubt genug, um meine Reisegesellschaft bald aus den Augen zu verlieren. Vergebens sah ich mich nach meiner schönen Gefährtin um, verschwunden war sie, verloren! Für mich wenigstens – denn sie mochte ruhig daheim sitzen im Kreise ihrer Lieben, mit dem blassen interessanten Gesichte, mit dem edlen Profil, mit dem kleinen Fuße, der so reizend über das Verdeck tanzte! Ein jüngerer Bruder, der die schöne Schwester so lange nicht gesehen, sprang ihr vielleicht an den Hals und – Gott sei bei mir – küßte sie, und sie lief dann im ganzen Hause herum und nahm ein hohes Kristallglas und setzte die Blumen hinein, die Blumen, die sie auf dem Schiff in der Hand hielt, und sprach: »Lieber Junge, my dear boy, die habe ich gepflückt, wo die Studenten mit langen Pfeifen über die Straße gehen, wo das Siebengebirge am Rhein liegt, in Deutschland, wo die Menschen so schwärmerisch sind und oft so –« dumm, dumm! tönten die Glocken von der St.-Pauls-Kirche herunter, und ein rotnasiger Kerl schob mich in seinen Omnibus, »allright«, rief er, und in wildem Galopp ging es durch die Straßen.


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