Frank Wedekind
Mine-Haha
Frank Wedekind

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IV

Ich weiß noch, wie es heller wurde, wie die Wände schimmerten und wir ins Freie fuhren. Wir hatten alle das beunruhigende Gefühl, daß uns etwas Außerordentliches bevorstehe. Wir waren ernst und blickten zu den Fenstern hinaus. Jede dachte im stillen darüber nach, was da kommen könne. Man kann sich leicht vorstellen, daß nicht eine einzige mit ihren Vermutungen auch nur im entferntesten an die ungeheuerlichen Überraschungen heranreichte, die unser harrten. Später vergißt man solche Empfindungen leicht und nimmt alles, was einem widerfahren, als selbstverständlich an. Keine von uns Frauen wird, wenn sie an jene Tage ihres Lebens zurückdenkt, heute noch etwas Absonderliches in der Art und Weise finden, wie man uns durch die gewaltigsten Prüfungen hindurch in eine völlig unbekannte Welt hinaus gelangen läßt, wie man uns in des Wortes grausamster Bedeutung hilflos aussetzt. Aber darin liegt eben für mich der Hauptgrund, diese Erinnerungen niederzuschreiben. Ich möchte den Mitlebenden die bangen Schauer ins Gedächtnis zurückrufen, die wir zur Belustigung einer besinnungslosen, wollusttrunkenen, rohen Menschenwelt alle einmal durchgekostet, wenn uns auch die gewaltigen nie geahnten Schicksale des Lebens sehr bald nur mit spöttischem Lächeln an jene Schrecknisse zurückdenken lassen. Vielleicht tut die menschliche Gesellschaft nicht unrecht daran, wenn sie durch ihre Erziehung die praktische Betätigung aller Kräfte in uns zurückhält, um uns dann durch ein tobendes Volksfest in wenigen Tagen zu völlig anderen Geschöpfen umzugestalten; vielleicht begehe ich ein Verbrechen, wenn ich ein Wort zugunsten der uns allen von Natur aus angebotenen zarteren Empfindungen einzulegen wage. Aber je älter und ruhiger ich werde, um so weniger kann ich mich dem Glauben verschließen, daß die Welt in der Tat weniger brutal eingerichtet sein könnte, als sie es in Wirklichkeit ist. Ich will hier keine Vorschläge zur Besserung machen; dafür möchte mein bißchen Verstand schwerlich ausreichen, und was würde es helfen! Die Dinge gingen darum doch von Generation zu Generation ihren unabänderlichen Gang, und mich träfe nur Schimpf und Spott von seiten aller derer, die nie in ihrem Leben über das, was sie selber erlebt, einen Augenblick nachdenken. Am Ende wäre ich ja auch nicht einmal davor sicher, daß man mich, um sich jede vernünftige Erwiderung zu ersparen, auf meine alten Tage noch für verrückt erklärte und in ein Irrenhaus steckte. Eine willkommene Handhabe dazu böte meinen Richtern schon die eine Tatsache, daß sich in reiferen Jahren meine Schicksale so gänzlich verschieden gestalteten von denen aller anderen mit mir erzogenen und herangewachsenen Frauen. Es wird mir vielleicht auch schwer fallen, wenn ich zur Schilderung jener Epoche meines Lebens gelangt bin, den Leser davon zu überzeugen, daß die von mir durchkämpften Konflikte in unserer Gesellschaftsordnung, unter der Herrschaft unserer straffbemessenen sozialen Gesetze, für eine Frau überhaupt nur entstehen konnten. Indessen bin ich vielleicht gerade durch jene unglaublichen Lebenslagen zu der überlegenen Weltanschauung gelangt, von der aus mir heute unsere gesamte menschliche Kultur als eine ziemlich fragwürdige Errungenschaft erscheint.

Auf dem Perron im Bahnhof stand der Stationsvorsteher mit seiner roten Mütze. Er grüßte Simba ehrfurchtsvoll und lächelte, als er uns eine nach der anderen in unseren weißen Kleidchen aus dem Wagen springen sah. Simba führte uns in den Wartesaal, der nach außen abgeschlossen war und ordnete uns dort rasch der Größe nach. Vor den Glastüren drängten sich die Menschen in dichten Haufen; eine Unmenge Augen waren auf uns gerichtet; vor der Mitteltür gab es ununterbrochen Streit, so daß es den Polizisten schwer fiel, den Zugang freizuhalten. Simba ging sinnend hinter uns auf und nieder und rauschte mit ihrem Seidenkleid. Wir starrten die bunten Plakate an den Wänden an, deren riesengroße Buchstaben uns damals noch nicht einmal ihrem Zweck nach bekannt waren. Melanie stand der Türe zunächst. Sie war die größte, aber auch die magerste von uns. Immerhin hatte ihr Körper damals noch ganz respektable Formen. Als ich sie später einmal in einem Handschuhladen wiedertraf, war nichts mehr als Haut und Knochen an ihr. Heidi, mit der ich mich als kleines Kind schon unter dem Springbrunnen gewälzt, war eine der kleinsten, dabei aber mindestens ebenso dick und rund wie ich selber. Von ihren Augen sah man nur zwei dicke pechschwarze Einschnitte. Schon im Theater war immer alles in schallendes Gelächter ausgebrochen, wenn sie nur einen Fuß über die Rampe setzte. Simba hatte sie denn auch immer nur in Rollen verwandt, in denen ihre unmäßige Korpulenz recht drastisch zur Geltung kam.

Plötzlich erschollen Rufe draußen unter der Halle; die Flügeltüren wurden aufgerissen, und in langem Zuge, wie wir der Größe nach geordnet, kamen die Knaben herein. Ich wollte darauf schwören, daß keine von uns sich denjenigen, der sich vor ihr verneigte und dem sie die Hand gab, bis zum nächsten Morgen überhaupt genauer angesehen hat. Simba wechselte einige Worte mit dem Herrn in schwarzem Gehrock, der die Schar hereingeführt hatte; darauf kehrte sie auf den Perron zurück, ohne sich noch einmal nach uns umzuwenden. Ich habe sie ein einziges Mal wiedergesehen, an jenem Abend, als ich mit Fabian im Parktheater war. Der Leser wird sich über die kuriosen Gefühle wundern, die ihr Anblick damals in mir, der angehenden Lebenskünstlerin, hervorrief. Sie erschien bis auf die Füße in schwarzen Perlen. Wenige Jahre später muß sie gestorben sein; wenigstens habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.

Die Knaben führten uns an der Hand durch die Menschenmengen, die sich zu beiden Seiten auf dem Trottoir hindrängten. Wir gingen nach dem Takt der Musik; anfangs hielt ich den Kopf gesenkt und vermied es ängstlich, auf die Blumen zu treten, die den Weg bedeckten. Erst als ich aus den Fenstern herab mehrmals mit Blumen überschüttet worden war, wagte ich hinaufzublicken, aber das endlose Meer von Fahnen und Wimpeln erschreckte mich förmlich. So oft wir an einer Straßenkreuzung unter einem Triumphbogen durchkamen, suchte mein Begleiter wieder eine Unterhaltung anzuknüpfen. Natürlich verstand ich kein Wort; mir schien es ganz so, als spräche er eine andere Sprache als wir. Vor allem aber hinderte uns das tosende Bravogebrüll auf dem Trottoir, auf den Dächern und unter den tausend Fenstern an jeder Verständigung. Da es in der Frühe stark geregnet hatte, war das Holzpflaster noch glitschig; jedenfalls wäre ich mehrmals gefallen, wenn mich mein Begleiter nicht rasch gestützt hätte. Vor mir ging Iris, das schöne stattliche Geschöpf, das vor zwei Jahren mit Lora um die Ehre gestritten hatte, auserlesen zu werden. Sie hielt das Gesicht während des ganzen Weges scheu von ihrem Begleiter abgewandt und sah den Leuten, die auf dem Trottoir standen, über die Köpfe weg. Meine Blicke hafteten an ihren weißen Strümpfen, die schon bis in die Kniekehlen von Kot bespritzt waren, und irrten nur momentweise zu den weißen Pluderhosen, nackten Waden und glatten hohen Schnürstiefeln des Knaben hinüber, der sie an der Hand führte. Plötzlich zeichnete sich vor uns das gewaltige Frontespice des Kapitols vom grauen Himmel ab. Die Menschen drängten sich jetzt so dicht, daß wir kaum weiter konnten; wir drückten uns zwischen den Gardesoldaten durch, indem uns die Knaben hinter sich herzogen. Dabei erstickten wir beinahe unter den Blumen, die vom ganzen Platz auf uns hereinregneten und uns oft empfindlich ins Gesicht trafen. Alles atmete auf, als wir endlich das Gittertor hinter uns hatten. Während wir wieder in geordnetem Zuge die hohe Säulenhalle durchschritten, drückte mein Begleiter mehrmals meine Hand; ich sah ihn an, senkte vor seinen Blicken aber sofort die Augen. Himmelangst wurde mir angesichts des dichten Menschengewimmels, das den hinteren Hof bis zum äußersten Winkel füllte; aber wir gelangten jetzt ungehindert zwischen den steinernen Tribünen hindurch zum Bassin...

Nachschrift

Mit diesen Worten schließt das Manuskript, das mir die alte Dame an jenem Abend einhändigte. Trotz eifrigsten Suchens war in ihrem schriftlichen Nachlaß, dessen Durchsicht mir von einer hohen Behörde auf das liebenswürdigste gestattet wurde, keine Zeile zu finden, die auf vorerzählte Dinge Bezug gehabt hätte. Übrigens hat mir inzwischen ein junger Amerikaner die Bedeutung des Titels »Mine-Haha« erklärt. Es ist indianisch und heißt:

Lachendes Wasser.


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