Frank Wedekind
Mine-Haha
Frank Wedekind

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Ich habe das erste Jahr meines Aufenthaltes im Park etwas ausführlich behandelt, und kann jetzt um so rascher über die folgenden hinweggehen. Manchmal habe ich der Erinnerung ein wenig Zwang angetan, indem ich der Vollständigkeit wegen Dinge eingefügt, deren ich mich in der Tat erst aus der späteren Zeit entsinne. Von nun an werde ich mich möglichst auf die nackten Tatsachen beschränken. Erlebt habe ich ja so wie so nicht viel während all der Jahre. Alles sind nur Bilder und Eindrücke. Damals, das weiß ich noch sehr gut, schlich mir die Zeit wie eine Schnecke dahin. Ich hatte das Gefühl, als müsse es so bleiben das ganze Leben lang und könne niemals aufhören. Wir waren glücklich, eine wie die andere, aber das war auch alles. Und da uns nichts aus der Eintönigkeit aufschreckte, wurden wir groß und dick. Wir hatten nichts anderes zu tun, als zu wachsen. Der Tanz begünstigte unsere Körperentwicklung und die Musik nahm nicht viel Lebenskraft in Anspruch. Aber wenn ich heute an jene sieben Jahre zurückdenke, erscheinen sie mir ganz ohne Zeitausdehnung, wie ein Augenblick, beinahe wie der Traum einer einzigen Nacht. Infolge der gänzlichen Unwissenheit, in der wir lebten, war unser Verkehr auf die einfachsten Elemente beschränkt. So erinnere ich mich auch nicht, daß mir all die Mädchen im Park jemals als geistig voneinander verschieden erschienen wären. Eine dachte und fühlte wie die andere, und wenn eine den Mund auftat, wußten immer alle übrigen schon, was sie sagen wollte. So kam es, daß wir sehr wenig sprachen. Bei den Mahlzeiten sagte oft keine ein Wort. Alle aßen schweigend in sich hinein. Nur an den körperlichen Unterschieden kannte man sich gegenseitig auseinander. Wenn eine »Ich« sagte, so meinte sie sich immer ganz damit, vom Scheitel bis zur Fußspitze. Wir fühlten unser Selbst in den Beinen und Füßen beinahe noch mehr als in den Augen und Fingern. Von keinem der Mädchen ist mir im Gedächtnis geblieben, wie sie sprach. Ich weiß von jeder nur noch, wie sie ging.

Pamela ging fein, ohne Ernst und Größe in ihrer Bewegung. Ihre Knie machten sich sehr geltend; man sah sie die Knie heben. Dabei hatte sie einen Mund, dessen Winkel leicht emporgezogen waren, dessen Unterlippe ein klein wenig vorstand, wie man es sieht, wenn jemand an einer Blume riecht. Die Schultern bildeten eine gerade Linie, und von Hüften war wenig zu sehen. Dazu ein Stumpnäschen und große helle Augen mit feinen geraden Brauen darüber. Alles an ihr war schlank, vornehm, dezidiert und diskret. Wir verlebten ein glückliches Jahr unter ihrer Führung und sprachen oft über Blanka, die sie ebenso zurücksehnte wie wir anderen. Den Mittelpunkt des Hauses bildete übrigens während des Sommers noch Wera, an der wir mit Anbetung emporsahen. Ich wurde für die übrigen zum Gegenstand ihres Neides, weil Wera einmal einen langen Spaziergang mit mir unternommen, auf dem wir kaum ein Wort gewechselt. Wir kamen bis an das Ende des Parkes hinunter, wo er sich in Gestrüpp, Schilf und Morast verlor. Auf einmal standen wir vor der hohen Mauer, über die von außen ein Vogelbeerbaum herübersah. Da standen wir lange still und gingen umeinander herum. Auf dem Heimweg sahen wir ein Reh im Gebüsch. Es kehrte uns gerade seinen weißen Hintern zu. Als es uns hörte, sprang es davon. Ich erinnere mich, daß ich gerne Freundschaft mit ihm geschlossen hätte. Mir war so feierlich an Weras Seite, daß ich mich nach einem lieben guten Kameraden sehnte. Im Herbste kam es dann, wie Blanka vorausgesagt. Wera wurde ausgewählt und den ganzen Winter waren wir nur unserer sechs. Ihr herzberückender Tanz blieb uns noch lange lebhaft vor Augen. Ihre schmalen Gelenke, ihre schönen Glieder, ihre würdevollen Bewegungen hatte niemand von uns.

Von der kleinen Betty weiß ich nichts aus jener Zeit, als daß Pamela sie Mandoline spielen lehrte. Pamela ging bis in den Frühling hinein jede Nacht ins Theater. Dann meldete sich bei ihr die Reife und sie wurde von Irene abgelöst. Vierzehn Tage später verließ sie uns.

Während meines dritten Jahres war Irene unser Oberhaupt. Nach Pamelas Austritt hatten wir zwei neue Kinder bekommen, Amalie und Moilena, so daß wir jetzt wieder sieben waren. Amalie spielte mit Irene zusammen Gitarre. Moilena lernte die Harfe. Aber welch ein Unterschied zwischen ihren Stümpereien und Weras vollendetem Spiel.

In diesem Sommer war es, als eines Abends beim Baden ein etwa zehnjähriges Mädchen ertrank. Sie wurde mit vereinten Kräften herausgeholt und ans Ufer gelegt, rührte aber kein Glied mehr. Ihr Kopf war geschwollen und die Wange blutig gerissen. Nachdem man sie mehrmals beim Namen gerufen, hielten sich alle von ihr fern. Jedes Mädchen, auch die jüngsten, machte einen großen Bogen um sie herum und sahen nach der anderen Seite. Die älteste aus ihrem Hause meldeten den Vorfall, als sie abends zum Tanzen ins Theater ging, im Weißen Hause. Als wir am nächsten Abend wieder auf den Badeplatz kamen, war sie verschwunden.

Als Irene dann im nächsten Winter nicht mehr tanzen durfte, kam Melusine an die Reihe. Sie war erst elf Jahr alt, ein Jahr jünger als alle übrigen im Theater. Sie blieb während zweier Jahre unser Oberhaupt. Nach Irenens Austritt hatte man uns ein Mädchen Namens Barbara ins Haus gebracht. Wir waren jetzt, von oben an gezählt: Melusine, Filissa, ich, Betty, Amalie, Moilena und Barbara. Melusine unterrichtete Barbara auf der Schalmei. Filissa, Betty und ich hielten sehr zusammen. Wir tanzten des Abends zu dritt und erzählten uns nachts, bevor Melusine aus dem Theater kam, unsere Erlebnisse bei Simba und Kairula. Einmal, an einem hellen Winterabend, gelangten wir durch tiefen Schnee an den Ausgang des Parkes. Es war ein hohes eisernes Gitter, oben herum vergoldet. Durch das Gitter sah man die Straße zwischen zwei hohen Mauern durch, bis sie umbog. Dort saß ein Rabe auf der Mauer und krächzte. Betty wollte das Tor öffnen, aber es war zugeschlossen. Ein schwerer Riegel lag davor.

Im zweiten Jahre von Melusines Oberhoheit kam dann im Herbst für mich und meine Altersgenossinnen im Weißen Hause der große Moment der Auswahl. Ich gab mich von vornherein keinen Hoffnungen hin, das ist sicher. Dagegen aspirierte Lora sichtlich und entschieden auf die Ehre. Wenn sie schon von Natur alle Vorzüge besaß, volle, feste Formen, eine makellose, weiße Haut, ausdrucksvolle Gesichtszüge, feine Extremitäten, so tat sie überdies noch alles, was in ihrer Macht stand, um ihren Wert zu erhöhen. Es gab keinen Moment, wo sie sich selbst außer acht ließ, mochte man sie von vorne oder von hinten sehen. Im Laufe der vier Jahre hatte sie ihrem Körper eine solche Gelenkigkeit abgerungen, daß ihr keine Stellung, die sich denken ließ, unmöglich war. Dabei blieb sie heiter, gleichmäßig und bescheiden gegenüber einem jeden von uns. Es waren dann allerdings noch wenigstens drei Mädchen da, Iris, Diotima und Selma, die in allem mit ihr wetteiferten.

Wir hatten bei Simba Unterricht, als die beiden Damen, gefolgt von Kairula, hereintreten. Kairula wollte vor Freundlichkeit und Unterwürfigkeit aus den Fugen gehen, während Simba ganz ruhig blieb. Wir mußten uns entkleiden; welch ein sonderbares Gefühl! So sehr wir es unter uns gewohnt waren, einander nackt zu sehen, so hatte sich doch keine, seitdem sie im Park war, je vor Erwachsenen ohne Kleidung gezeigt. Viel machte es ja nicht aus, da beim Tanzen immer die Röcke in die Höhe flogen, und wir, ohne uns zu genieren, auf den Händen gingen. Aber das sah man selber nicht, und es blieb immer das Empfinden der Kleidung zurück. Jetzt sah ich bei einer wie der anderen, während wir uns mitten im Saal entkleideten, wie sie rot im Gesicht wurde, mit den Augen zwinkerte und sich auf die Lippen biß. Auch der Schuhe und Strümpfe mußten wir uns so entledigen und jedes seine Habe dann auf den Diwan tragen.

Dann wurde eine nach der anderen bei Namen aufgerufen. Als die Reihe an mich kam, sauste es mir vor den Ohren und vor den Augen sah ich rote Flammen. Nachdem ich, die Hände eingestützt, die Ellbogen nach hinten, mit langsamen Schritten durch den Saal gegangen, mußte ich einen Augenblick tanzen, nur solange, bis ich recht ins Feuer gekommen, und dann etwas Beliebiges spielen. Ich hatte kaum den Bogen abgesetzt, als ich schon nicht mehr wußte, was ich gespielt hatte. Nachdem wir alle Revue passiert, riefen die Damen Diotima, Fanny, Olympia und Selma vor sich. Sie besahen die Mädchen noch einmal von vorne, von hinten, von beiden Seiten, betasteten die Muskeln, die Weichen, prüften Hände und Füße, untersuchten die Zähne, die Haare, die Augen, die Fingernägel, und als das alles geschehen war, schickten sie Selma an ihren Platz zurück und ließen Iris vortreten. Iris wurde ebenso sorgfältig untersucht und dann mit Olympia verglichen. Olympia, das sah ich jetzt erst, war wirklich ein schönes Mädchen. Überdies war sie die Jüngste und eine der größten von uns. Aber auch Iris wurde wieder zurückgeschickt und die Damen riefen Lora vor. Lora hatte keinen Tropfen Blut im Gesicht, aber sie hielt sich heldenmütig aufrecht und bot ihren Körper mit wahrer Lust der Untersuchung dar. Als sie die Zähne zeigen mußte, zog sie die Lippen zurück, zugleich mit einem flammenden Blick aus ihren tiefblauen Augen, die sie bis dahin gesenkt gehalten, so zwar, daß die Dame, die sie dazu aufgefordert, den Blick nicht auszuhalten vermochte und sich mit einer Bemerkung an ihre Begleiterin wandte. Loras Körper erschien mir so strotzend in diesem Augenblicke, gleichsam als bäume er sich in verletztem Stolz, und wolle sich in seiner ganzen Herrlichkeit präsentieren.

Die Damen nahmen Diotima, Olympia, Fanny und Lora, wie sie waren, mit sich; wir übrigen kleideten uns wieder an und tanzten unsere alltäglichen Sprünge weiter.

In der folgenden Nacht träumte ich von Lora. Sie kam in einem weiten roten Mantel daher. Wir Mädchen, hunderte und hunderte, bildeten Spalier, zwei endlose Reihen, zwischen denen sie durchschnitt. Sie war vollkommen ausgewachsen, sehr groß und noch um vieles schöner. Ihr Haar war mit weißen Blumen bekränzt, und an ihrer Seite hatte sie einen kleinen Knaben, den sie herzlich an sich drückte. Als sie bei mir vorbeikam, verneigte ich mich und sah dem Knaben unter die Augen. Es war Morni. Wie ich dann wieder nach Lora sah, war sie fort und Morni allein blieb zurück. Aber wir vertrugen uns schlecht. Wir stritten lange miteinander über irgend etwas und gingen traurig auseinander.

Es war mitten im Winter, als Melusine endlich, nachdem sie zwei Jahre jeden Abend im Theater gewesen, mit der Nachricht nach Hause kam, sie dürfe nicht mehr tanzen. Filissa löste sie ab. Filissa war ein sehr gemütliches, munteres, elastisches Geschöpf. Schade, daß sie blond war. Das war das einzige, was mir an ihr mißfiel. In der dritten Nacht kam sie mit Striemen um die Beine heim. Sie erzählte, Simba habe ihr die beigebracht. Sie führten ein Stück auf, in dem Simba jeden Abend eine durchprügle, und da sie die jüngste sei, habe man ihr die Rolle zuerteilt. Das Stück werde noch bis zum Frühling gegeben, aber es mache ihr nichts. Man tanze nachher nur um so besser. Das Theater sei jeden Abend bis auf den letzten Platz besetzt, und wenn die betreffende Stelle komme, höre man die Leute immer schon im voraus jauchzen. Nachher werde sie dann zur Königin gekrönt, und in den kostbarsten Gewändern auf einem goldenen Throne herumgetragen.

Im Frühjahr kam Melusine fort und Lydia wurde ins Haus gebracht. Filissa hatte die Oberherrschaft. Alles ging behaglich unter ihrem Regiment. Vom ersten Tag an studierte sie der kleinen Lydia das Cymbal ein, und die beiden vollführten manchmal einen Lärm, daß man es auf eine halbe Meile weit im Park draußen hörte. Sie war heftig und grob gegen die Kleine, aber immer so, daß sich das Mädchen dabei amüsierte. Da Filissa ihre Gunst und Aufmerksamkeit jetzt auf alle verteilen mußte, hielt ich mich speziell an Betty, die ihrerseits jemanden brauchte, dem sie alles erzählen konnte. Sie hatte Erlebnisse mit Kairula, die sie einer anderen hintansetzte, die die Mandoline schlechter spielte als sie. Ferner hatte sie sich in eine ihrer Altersgenossinnen vergafft, die die Füße hinter dem Kopf zusammenlegen, mit den Armen ihre Schenkel umfassen und mit den Händen vor dem Leib Mandoline spielen konnte. Außerdem konnte jenes Mädchen noch mit hinter dem Kopf zusammengelegten Füßen auf den Händen gehen, so daß das Ganze aussah wie ein wandelnder Stern. Im Herbst kam Betty eines Abends von der Auswahl nach Hause, wütend, da man sie nicht ausgewählt, auch nicht einmal den wandelnden Stern, sondern ein hochnäsiges unverschämtes Geschöpf, einen Fleischklumpen mit Bollaugen, an dem nichts menschlich war, als die Füße.

Dann kam der Winter mit sehr viel Schnee und bodenlosen Wegen, und eines Abends beim Nachtessen sagte mir Filissa, ich müßte heute mit ihr gehen.

Mir schlug das Herz. Wir hüllten uns in unsere Mäntel und verließen das Haus. Da es stockfinster war, nahm mich Filissa bei der Hand und zog mich hinter sich her. Sie wußte bei jedem Schritt, wo den Fuß hinsetzen, und half mir über die Pfützen hinüber. Trotzdem war ich bis an die Knie von Schmutz bedeckt, als wir im Weißen Haus anlangten. Das Vestibül war hell erleuchtet. Wir stiegen rechts die Treppe hinunter und gelangten in die Garderobe. Dort zog ich mir Schuhe und Strümpfe aus, und ein altes Weib reinigte mir die Füße. Ringsumher saßen Mädchen, die Filissa begrüßten und beglückwünschten. Mir warfen sie Seitenblicke zu und sprachen über meine Beine.

Filissa hatte mir gesagt, ich müsse als Bäuerin tanzen. Sie führte mich zu den Mädchen, die die nämliche Rolle hatten wie ich, und überließ mich meinem Schicksal. Wir waren unserer fünf Bäuerinnen, darunter eine Solistin, die als solche auf dem Programm aufgeführt war. Nachdem wir uns entkleidet, nahmen wir aus einem Schrank an der Wand unsere Kostüme, die sehr einfach waren, ein Röckchen, blau oder rot, das von der Taille bis auf die Knie reichte. Dazu schwere Holzschuhe, mit denen wir auf dem Boden klapperten. Das Haar flochten wir uns gegenseitig in Zöpfe.

Das Stück, welches an jenem Abend aufgeführt wurde, hieß »Der Mückenprinz«. Es war von Ademar, den ich zehn Jahre später, mit zweiundzwanzig Jahren, persönlich kennen lernte und dem ich, was meinen Lebensberuf betrifft, viel Anregung und Unterstützung zu verdanken habe. Die Personen waren folgende:

Hächi-Bümbüm, ein alter Zauberer.
Ada, seine Tochter.
Prinz Leonor.
Tremor, dessen Leibarzt.
Kammerherr von Heidebod.
Winnyfred, eine Hofdame.
Lina, eine Bäuerin.
Tutos, eine männliche Mücke.
Aretusa, eine weibliche Mücke.

Kammerherren, Hofdamen, Bäuerinnen und Mücken.

Allmählich füllte sich die ganze Garderobe mit Mädchen, die sich kostümierten. Simba stand mitten unter uns und beaufsichtigte alles, was vorging. Ich hätte sie kaum wiedererkannt. Sie spielte den alten Zauberer. Sie steckte in einem langen faltigen, weiß und gelben Gewand, über und über mit Hieroglyphen bedeckt. Auf dem Kopf trug sie einen spitzen, hohen, weißen Hut, ihre Augenbrauen waren weiß geschminkt, und vom Kinn herab wallte ihr ein langer weißer Bart. Sie rauchte eine dunkle Habana und hielt in der Hand einen Zauberstab.


 << zurück weiter >>