Frank Wedekind
Mine-Haha
Frank Wedekind

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I

Wenn ich mich dazu entschließe, in diesen Zeilen meine Lebensgeschichte niederzulegen, so geschieht es nicht, weil ich irgendwie den Beruf einer Schriftstellerin in mir fühle. Ich darf wohl sagen, daß mir nichts auf dieser Welt so verhaßt ist wie ein Blaustrumpf. Eine Frau, die ihren Lebensunterhalt durch die Liebe verdient, steht in meiner Achtung immer noch höher da als eine, die sich soweit erniedrigt, Feuilletons oder gar Bücher zu schreiben. Nur der Umstand, daß mein ganzes Leben so vollkommen verschieden war von demjenigen aller übrigen Frauen, kann mich dazu bewegen, das zu Papier zu bringen, was ich so manches Mal erzählt habe und was, wenn ich tot bin, niemand mehr erzählen wird. Ich werde nur dieses eine Buch schreiben; die Welt braucht meinetwegen nicht besorgt zu werden. Aber ich habe auch das bestimmte Gefühl, daß ich dieses eine nicht schlecht schreiben werde. Ob es nach meinem Tode gedruckt werden soll, darüber wird mein Sohn Edgar zu entscheiden haben. Rücksichten, die er den kleinlichen Verhältnissen, in denen er lebt, zu tragen hat, mögen ihn vielleicht davon abhalten. Diese Rücksichten können mich aber nicht davon abhalten, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen, und wenn es mir nicht vergönnt ist, für einen verständigen Leser oder eine hübsche Leserin zu schreiben, so schreibe ich für mich selber. Jetzt, wo die fürchterlichen Aufregungen des Lebens vorüber und wo auch seine Freuden für mich erloschen sind, bleibt mir doch nichts besseres mehr zu tun übrig. Der einzige Wunsch, den ich auf dieser Welt noch habe, ist der, daß mich der Tod nicht ereilt, bevor ich die Feder aus der Hand gelegt habe. Ich muß befürchten, daß ich, da ich nun einmal mit Schreiben angefangen, in diesem Falle in der Erde keine Ruhe finden würde, sondern nächtlicher Weile zu meinem unvollendeten Manuskript zurückkehren müßte.

Aus meiner frühesten Kindheit weiß ich eigentlich nicht viel Interessantes zu berichten, obschon meine Erinnerung sehr weit zurückreicht, beinahe bis in mein zweites Lebensjahr. Aus meiner ersten Jugend ist mir nicht ein einziger Regentag in Erinnerung. Ebensowenig kann ich mich darauf besinnen, daß es jemals Winter geworden wäre. Mein ganzes Leben hindurch, wenn ich an jene Jahre zurückdachte, sah ich nur Sonnenschein, der durch dichte grüne Blätter fällt. Das helle Grün der von oben beschienenen Blätter, das ist der Himmel, wie ich ihn zuerst kennen gelernt. Und noch jetzt, wenn es mir manchmal so recht kindlich munter ums Herz ist, habe ich sofort wieder jenes Grün vor den Augen. Grün ist für mich die Farbe des Glückes, nicht die der Hoffnung. Um mir die Hoffnung noch unter irgendeiner Farbe zu denken, dazu bin ich zu alt, indem ich keine Ursache habe, noch irgendwelche besonderen Hoffnungen zu hegen.

Das früheste Bild, das sich meiner Erinnerung eingeprägt hat, ist folgendes: Ich bin auf einen Stuhl geklettert und stehe am offenen Fenster, neben mir Naema, die acht gibt, daß ich nicht herunterfalle. Ich fragte sie, was das vor mir für Blumen seien und sie nannte sie mir eine nach der anderen. Die große Kalla zu meiner Linken sehe ich noch heute so deutlich, daß ich danach greifen möchte; aber dann kommt lange nichts mehr, bis ich eines Tages neben dem Weiher das dichte Laubdach der Linden entdeckte, die den ganzen Garten beschatteten. Julian, einer der älteren Knaben, hatte mich, auf der Steinbrüstung des Weihers kniend, ins Wasser hinuntergelassen und untergetaucht. Jetzt stand ich wieder draußen, heulte, was ich konnte, rieb mir die Augen und blickte aufwärts. Da füllte mir beim Anblick der sonndurchleuchteten Blätter eine Wonne das Herz, die mich den Augenblick nicht hat vergessen lassen. In demselben Augenblick erinnere ich mich auch, zum erstenmal das Haus von außen gesehen zu haben; die niedrige, einstöckige, breite weiße Front mit der langen Reihe Fenster, jedes mit grünen Jalousieläden und einem dichten Blumenflor auf der Fensterbank. Und darüber das zweimal so hohe, steile Schieferdach, das sich in den Wipfeln der Bäume verlor, stellenweise mit Moos bewachsen und mit einem großen Dachfenster, gerade über der Haustür. Unter jener Haustür habe ich nachher so manches Mal auf einem Schemel gesessen und Stroh geflochten für unsere breiten Hüte, während kleinere Knaben und Mädchen, Kinder in dem Alter, in welchem ich damals war, zu meinen Füßen mit Erde und Wasser spielten.

Zusammenhängend werden meine Erinnerungen erst von dem Tage an, wo ich zum erstenmal Schuhe an den Füßen hatte, also mit Beginn meines vierten Jahres. Wir waren unserer sieben, drei Knaben und vier Mädchen, ein ziemlich starker Jahrgang, da wir alles in allem nur unserer dreißig Kinder im Hause waren. Die Schuhe wurden uns von Ella und Aspasia, zwei der ältesten Mädchen, die im darauffolgenden Frühjahre das Haus verließen, angezogen, und wir stolzierten selbstbewußt auf dem knirschenden Kies im Garten umher. Dann mußten wir uns aber gleich dem Hause gegenüber, dicht vor der großen hölzernen Halle der Größe nach aufstellen. Ich war die drittgrößte, über mir zwei Knaben; der dritte Knabe war der Kleinste von uns. Während dieses ersten Sommers trugen wir übrigens die Schuhe nur während der Übungen, was uns nachher ganz angenehm war, da sie immer so fest geschnürt wurden, daß man die leiseste Berührung hindurch empfand. So liefen wir denn die übrige Zeit noch mit Wonne barfuß in Haus und Garten umher.

Gertrud trat zu uns mit einer feinen Rute unter dem Arm. Sie war mit ihrem glattanliegenden schwarzen Haar, ihren funkelnden Augen, ihrem schmalen Gesicht und ihrer schlanken Figur für mich, bis ich jenes Haus verließ, der Inbegriff der Schönheit. Noch in meinem letzten Jahr stieg ich ihr oft bis unter den Dachboden hinauf nach, nur um das Vergnügen zu haben, sie die Treppe herunter kommen sehen. Jetzt mochte sie achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein. Sie sowohl wie Naema, die etwas älter war, blieben alle vier Tage einen ganzen Tag über fort. Dann waren wir dreißig mit einer allein und mußten meistens waschen, das heißt die älteren, während die jüngeren die weißen Kleidchen um den Weiher herum zum Trocknen aufhängten.

Gertrud zog die Weidenrute, die sie in der Rechten hielt, durch die linke Hand und sah uns eines nach dem andern lächelnd an. Dann nahm sie ihr Kleid mit beiden Händen soweit hinauf, daß man ihre Beine bis über die Knie sehen konnte und zeigte uns, wie man gehen müsse. Sie trug außer den hohen gelben Schnürstiefeln auch noch weiße Socken, die ihr aber nicht einmal bis zur Mitte der Wade reichten. Sie hob die Knie ein wenig und setzte den Fuß mit der Fußspitze auf; dann ließ sie langsam die Ferse nieder, aber nicht bevor nicht der Fußrücken bis zur großen Zehe mit dem Schienbein eine gerade Linie gebildet hatte. Ihr volles, rundes, aber zart geformtes Knie streckte sich in demselben Moment, wo die Ferse die Erde berührte.

Wir alle mußten unsere Kleidchen hinaufraffen und mit den eingestützten Händen über den Hüften festhalten. Dann ging das Marschieren los, so langsam, daß man zwischen jedem Schritt einmal ums Haus hätte laufen können. Dabei hatte sie ihre Rute fortwährend auf unseren Fußspitzen, unter unseren Knien oder unter den Waden, wenn eins den Fuß zu rasch sinken lassen wollte. Lora, die kleinste von uns Mädchen, übrigens ein ausnehmend hübsches Kind, von der ich später noch viel erzählen werde, hätte beinahe angefangen zu weinen. Wenigstens rollten ihr schon die dicken Tränen über die Wangen hinunter. Aber Gertrud warf ihr einen so unheimlichen Blick zu, daß sie sich von dem Augenblick an mehr zusammennahm als alle übrigen.

So ging es dreimal im ganzen Garten herum. Dann humpelten wir ins Haus, zogen die Schuhe aus, warfen unsere Kleidchen ab und liefen, so rasch wir konnten, zum Weiher. Die Knaben waren jenseits und wir diesseits des Springbrunnens. So spritzten wir aufeinander ein und zogen uns in den Regen der Fontäne. Die Fische strichen uns zwischen den Beinen durch. Es war streng verboten, sie zu fangen und über das Wasser zu halten oder sie sonst auf irgendeine Weise zu quälen. Manchmal glitt eins auf den Steinfliesen aus und geriet unter Wasser. Dann war großes Hallo. Ertrinken konnte man nicht leicht, da der Weiher nirgends tiefer war als etwa anderthalb Fuß. Als wir gebadet, setzten wir uns in einer Reihe nebeneinander auf die Brüstung, die Füße noch im Wasser und ließen uns trocknen.

Bei den weiteren Übungen sah Gertrud vor allen Dingen darauf, daß wir beim Gehen die Hüften straff gespannt hielten. Wenn eins sich in den Hüften gehen ließ oder gar einknickte, bekam es eins hinten auf. Sie sagte, man dürfe beim Gehen keinen Boden mehr unter den Füßen fühlen, man dürfe seine Beine überhaupt nicht mehr spüren, man dürfe nur noch fühlen, daß man Hüften habe. Die Hüften, das sei der Mittelpunkt; der müsse unbeweglich und ruhig bleiben. Aber alle anderen Bewegungen im Oberkörper sowohl wie in den Beinen bis in die Zehenspitzen müßten von den Hüften ausgehen und von ihnen aus gewollt und dirigiert werden. Sie selber war in dieser Beziehung ein wahres Muster. Wenn man sie auf sich zukommen sah, hatte man gar nicht mehr die Empfindung, daß sie einen Körper von einer gewissen Schwere hatte. Man sah nur Formen. Und auch die Formen vergaß man beinahe über der Schönheit der Bewegung. Anderen Menschen gegenüber erschien sie mir immer wie etwas, was ich mir nur in meiner Phantasie gedacht und was in Wirklichkeit gar nicht existierte. Manchmal zwinkerte ich mit den Augen, um zu sehen, ob sie nachher noch da war. Übrigens merkte ich schon damals, daß alle diese Übungen uns Mädchen viel leichter wurden als den Knaben, die nie über ihre Extremitäten wegkamen. Und wenn einige von uns Mädchen so sehr breite Hüften bekamen, so bin ich fest überzeugt, daß das nur daher rührt, daß wir gewissermaßen mit den Hüften denken lernten.


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