Frank Wedekind
Mine-Haha
Frank Wedekind

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Simba erteilte Tanzunterricht. Alle vierzehn Tage mußten wir uns im Weißen Hause dazu zusammenfinden, immer nur die jüngsten aus dem ganzen Park, ein Mädchen aus jedem der dreißig Häuser. Unsere Begleiterinnen kamen nur das erstemal mit. Der Unterricht begann mit den pathetischen Tänzen, bei denen wir die Glieder nicht langsam genug bewegen konnten. Erst im zweiten Jahre kamen die rascheren Tänze daran, für die wir schwere Holzschuhe trugen, in deren Sohlen noch Blei eingelegt war. Das löste die Gelenke so rasch, daß bald jede von uns die Füße mit Leichtigkeit der andern über den Kopf schwingen konnte. Unten waren die Sohlen mit Filz belegt, um den Lärm auf den bunten Steinfliesen zu dämpfen. Zu Hause, während der Morgenstunden, übte dann Blanka immer mit mir, was ich neues bei Simba gelernt hatte. Ebenso machte sie es mit den übrigen fünf Mädchen, die der Reihe nach an den anderen Nachmittagen hingingen und bei Simba mit ihren Altersgenossinnen aus dem ganzen Park zusammentrafen. Ebenso wie im Tanz war es dann auch in der Musik. Am siebenten Tag nach der Tanzübung hatte ich immer einen Nachmittag Musikübung im Weißen Haus. Dann kamen die übrigen Mädchen, Filissa, Melusine, Wera, Irene, Pamela, Blanka, in der Musik daran, bis die vierzehn Tage um waren und ich wieder zum Tanzen hinging. So ging es während all der sieben Jahre, die ich im Park verlebte, ohne daß ein einziges Mal eine Unterhaltung stattgehabt hätte.

Den Musikunterricht erteilte Kairula. Sie spielte alle Instrumente meisterhaft. Auch bei ihr kam ich immer mit meinen neunundzwanzig Altersgenossinnen aus dem ganzen Park zusammen. Unsere Geigen brauchten wir nicht mitzubringen, da im Weißen Haus alle Instrumente in reicher Auswahl vorhanden waren. Weil kein Mädchen denselben Weg hatte wie das andere, trennten wir uns nach Schluß des Unterrichts immer sofort, höchstens, daß zwei ein paar Schritte zusammengehen konnten. Lora wohnte am entgegengesetzten Ende des Parkes, so daß wir, wiewohl wir uns jeden siebenten Tag trafen, doch nur selten mehr dazu kamen, miteinander zu sprechen. Überhaupt blieben die Altersgenossinnen einander fast völlig fremd. Sein Heim und seine Freundinnen hatte jedes im eigenen Hause; ich die kleine Wera, die ich abgöttisch liebte. Ob Lora auch eine derartige Schwärmerei zu Hause gehabt, weiß ich nicht. Ich glaube es kaum, da sie mehr dazu gemacht war, sich selber anschwärmen zu lassen. Simba war ihr vom ersten Tage an sehr gewogen. Lora war tadellos gebaut, groß für ihr Alter, sehr gelenkig und ernster, gemessener in ihrem Wesen als wir übrigen. Sie lernte leicht. Auf den Händen ging sie wie keine von uns. Im Weißen Haus war eine große Kugel, ähnlich derjenigen, die wir zu Hause in der hölzernen Halle gehabt. Wir waren noch kein halbes Jahr im Park, als Lora auf dieser Kugel schon auf den Händen ging, die Beine nach vorn gestreckt, den Kopf erhoben, und einen womöglich ganz munter zwischen ihren eigenen Fußspitzen hindurch anlächelte. Auf ihrer Geige hingegen leistete sie nichts Besonderes. Da war ich ihr weit überlegen.

Es war noch in der ersten Zeit, als ich einmal mitten in der Nacht jäh emporschreckte. Ich hatte etwas gehört. Draußen begann es schon hell zu werden. Der Mond schien nicht und eine kühle Luft wehte zum offenen Fenster herein. Am anderen Ende des Schlafzimmers bewegte sich eine weiße Gestalt. Es war Blanka, die sich entkleidete. Sie mochte mein Erwachen beobachtet haben; sie kam an den übrigen Betten vorbei zu dem meinigen, küßte mich und sagte, ich solle ruhig weiterschlafen, sie sei eben nach Hause gekommen. Sie richtete sich empor und seufzte dabei, als wenn sie sehr ermüdet wäre. Auf meinem Bettchen sitzend, flocht sie sich das Haar in Zöpfe. Sie hatte nur noch Schuhe und Strümpfe an. Im Halbdunkel der Morgendämmerung betrachtete ich ihren rundlichen Leib, der noch fast ohne Taille, so fleischig war, daß es einen tiefen Einschnitt über den Hüften gab, wenn sie sich nur ein wenig zur Seite beugte.

»Wo warst du so lange?« fragte ich.

»Ich habe getanzt.«

»Bis jetzt?«

»Ja.«

»Wo hast du getanzt?«

»Im Theater.« Sie küßte mich wieder, schlich zu ihrem Bett zurück, schlupfte unter die Decke und schlief ein. Ich konnte noch lange nicht schlafen.

Am Morgen war es immer Blanka, die uns anderen fünf weckte. Übrigens hatte sie, ganz wie wir, auch ihre Nachmittage, an denen sie ins Weiße Haus ging. Es war immer der Tag vor dem, an welchem ich gehen mußte. Wenn Simba oder Kairula etwas über eins von uns zu klagen hatten, so erfuhr sie es dort und richtete sich dann zu Hause darnach, wenn wir mit ihr übten. An meinem Geigenspiel hatte sie große Freude. Schon während des Sommers spielten wir oft den ganzen Nachmittag Duette, bis Wera oder wer gerade ausgewesen, nach Hause kam, und es Zeit war, zum Baden zu gehen. Während der Abende vermißten wir sie sehr. Sie war streng mit uns und ließ keine Ungezogenheiten durchgehen. Und doch fühlten sich alle wohler, wenn sie da war.

Kairula hatte viel für mich übrig, aber ich mochte sie nicht. Weit lieber hätte ich Simba gefallen, aber im Tanzen waren mir beinahe alle überlegen. Kairula war plump und dick und benahm sich unnatürlich, indem sie jedes Wort dreimal stärker betonte als nötig gewesen wäre. Sie hatte ein dickes rotes Gesicht und kurzgeschnittenes schwarzes Lockenhaar, kleine überaus liebenswürdige Augen, statt der Nase eine Kirsche im Gesicht und ein breites Maul ohne Lippen. Ihr Körper war wie ein Sack. Glücklicherweise trug sie immer einen weiten Schlafrock, in Grell kariert, der alles gnädig bedeckte. Sie trug Filzpantoffeln, damit ihr während der Übungen kein Ton entging. Strümpfe trug sie prinzipiell nicht, aber dafür ein Augenglas auf ihre Kirsche geklemmt. Ihre Hände waren gemein. Ein Hals existierte nicht, was sie jedoch nicht hinderte, eine goldene Kette darum zu tragen. An dieser Kette hing ihre Stimmgabel, die sie sich gegen den Kopf schlug, um sie tönen zu lassen, und dann an die Zähne setzte, um den Ton besser hören zu können.

Kairula war mir widerwärtig, unangenehm. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne schon halb und halb den tödlichen Schrecken zu empfinden, den ich gewiß empfunden hätte, wenn es ihr einmal eingefallen wäre, sich zu entkleiden. Aber häßlicher als Kairula, das Häßlichste entschieden, was ich während jener sieben Jahre überhaupt zu Gesicht bekommen, waren die beiden alten Weiber, die im Souterrain unseres Hauses lebten und uns bedienten. Freilich muß ich dabei bemerken, daß es die ersten alten Frauen waren, die ich in meinem Leben sah. Diese beiden Weiber machten des Morgens unsere Betten, hielten das Haus rein, kochten und wuschen für uns, und die jüngere und weniger Häßliche bediente bei Tisch. Niemand von uns sprach ein Wort mit ihnen, aber sie wußten recht gut, weshalb sie pünktlich ihre Pflicht taten und sich nicht das Geringste zuschulden kommen ließen. Ich bin sicher, wenn sich jemals jemand über sie zu beklagen gehabt hätte, man hätte sie ohne weiteres erwürgt. Einmal ging ich mit Wera abends nach dem Nachtessen noch ums Haus herum spazieren. Wir schwärmten einander gegenseitig von Simba vor. »Möchtest du, wenn du groß bist, nicht auch Tanzlehrerin sein?« fragte ich sie.

Wera schüttelte leise den Kopf und ein kaum merkliches Lächeln überflog für einen Moment ihre Lippen, gleich als dächte oder ahnte sie etwas, das sie sich scheute auszusprechen.

»Wera«, sagte ich, »bitte sag mir, weißt du, was dann kommt, wenn wir hier fort sind?«

»Wie sollte ich das wissen?« entgegnete sie ruhig.

Ich sann ein wenig nach. »Hast du Blanka nicht gefragt?«

»Nein. Wie sollte Blanka das wissen?«

»Sie ist jeden Abend fort.«

»Sie ist nicht fort. Sie ist nur im Theater und tanzt. Das müssen wir auch, wenn wir so alt sind. Dazu lernen wir es ja.«

»Wera«, sagte ich, »bist du nicht auch mit Knaben zusammen gewesen?«

»Doch.«

»Wo sind sie.«

»Ich weiß es nicht.«

Sie sagte das so ruhig, als lebte sie in einer andern Welt. Der Mond schien ihr ins Gesicht und ließ ihre feine Haut noch durchsichtiger, ihre zarten Lippen noch schwellender erscheinen. Ich stand neben ihr und sah an ihrem Hals die Blutwellen. Mir wurde, ich weiß nicht wie.

»Wera«, sagte ich leise, »aber du darfst nicht böse sein...«

»Nun? Was?«

»Diese Nacht, wenn Blanka nach Haus gekommen, willst du dann nicht zu mir herüberkommen...«

»Hidalla!« Jetzt war Wera erregt. Sie sah mir entsetzt in die Augen. Ich wußte nicht, was ich begangen hatte.

In demselben Moment starrte Margareta, die ältere und häßlichere der beiden alten Ungeheuer, durchs Kellerfenster nach uns herauf.

»Siehst du die da?« sagte Wera. »Siehst du die?«

»Ja. Was?«

»Die ist zu einem andern Mädchen gegangen, als sie als Kind hier war. Deshalb ist sie noch hier.«

Das Scheusal hatte sich zurückgezogen.

»Ist denn das nicht erlaubt?« fragte ich bebend.

»Wo denkst du hin! Wenn man mich bei dir träfe, würde man mich von euch trennen. Dann müßte ich arbeiten mein ganzes Leben lang und käme mein ganzes Leben lang nicht aus dem Park hinaus.«

Wir gingen schweigend dreimal ums Haus herum.

»Und die andere?« fragt' ich endlich beklommen.

»Die andere? die hat fliehen wollen. Sie habe über die Mauer klettern wollen, um hinauszukommen. Bestimmt weiß ich es nicht. So viel ist gewiß, daß weder Irma noch Margareta jemals in ihrem Leben aus dem Park hinausgekommen sind und daß sie auch niemals hinauskommen werden. Das ist auch der Grund, warum sie so häßlich sind.«

Die Nacht nach diesem Gespräch konnte ich nicht schlafen. Als Blanka nach Hause kam, schloß ich die Augen und rührte mich nicht. Aber ich mußte ununterbrochen an Irma und Margareta denken. Während der folgenden Tage drängte es mich, eine von beiden im geheimen anzusprechen. Das dauerte aber nur kurze Zeit, dann waren sie mir wieder ebenso grauenhaft wie vorher. Sie boten auch in der Tat einen fürchterlichen Anblick; Gesichter wie Eichenrinde, aus der man die Äste losgebrochen. Man kam nicht mehr dazu, sie für Menschen zu nehmen. Wenn ich mir bei Kairula noch vorstellen konnte, daß sie sich vielleicht mal entkleidete, so schnürte mir hier der bloße Gedanke schon die Kehle zu und ich glaubte vor Ekel vergehen zu müssen. In jedem der dreißig Häuser waren zwei Exemplare dieser Art. Alle fristeten das gleiche trostlose verachtete Sklavendasein. Keine von ihnen hatte je die Welt gekannt. Alle hatten sich während ihrer Kinderjahre im Park in dieser oder jener Weise vergangen.


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