Frank Wedekind
Mine-Haha
Frank Wedekind

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II

Man nahm mich bei der Hand, drehte mich einige Male herum, besah mich von allen Seiten und führte mich zu einem der weißen Betten, die im Zimmer standen. Zu den niedrigen breiten Fenstern herein, über alle Betten hinweg, schien milde warme Abendsonne. Mir war schwindlig. Vor mir kniete ein Mädchen und zog mir ein Paar lange weiße Strümpfe an, die bis über die Knie reichten. Dann warf sie mir ein weißes Röckchen über, ich mußte in die Ärmel schlupfen; darauf holte sie einen Korb her und probierte mir Schuhe an, bis sich welche gefunden, die mir paßten. Über die weißen Strümpfe hinauf streifte sie mir ein Paar hellgrüne Strumpfbänder. Die Ärmel an meinem Kleid reichten bis zum Ellbogen. Die Schuhe waren gelb, bis vornhin ausgeschnitten, mit einem Streifen über dem Fußrücken zum Zuknöpfen. Als ich wieder auf den Füßen stand, nahm sie mich zwischen die Knie und kämmte mir die Haare.

»Du hast schönes Haar, Hidalla«, sagte sie.

Ich konnte nicht antworten. Ich sah in die Sonne, die drüben zwischen den Bäumen unterging und dachte, ich weiß nicht warum, daß ich dort hergekommen und daß dort Lora und Gertrud sein müßten. Ein Mädchen öffnete die Tür und fragte, ob wir bald kämen. Sie half der anderen mir mein schwarzes Haar in Zöpfe zu flechten. Darauf führten sie mich hinüber ins andere Zimmer, wo vier Mädchen um einen sehr fein gedeckten Tisch saßen. Alle waren gleich gekleidet wie ich: Weißes Röckchen bis zum Knie, am Halse nach vorn und nach hinten viereckig ausgeschnitten, mit halblangen Ärmeln, lange weiße Strümpfe und niedrige gelbe Schuhe. Das Haar trugen alle offen über den Rücken hinunter, nur ich hatte Zöpfe. Das Mädchen, das oben am Tisch saß, schien mir ernster als die übrigen. Es mochte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Da kamen auf jeder Seite drei. Die mir gegenüber war ein hübsches Ding in meinem Alter, aber blond. Die, die mich angekleidet hatte, saß oben neben der ältesten und warf mir Blicke über den Tisch zu, ich solle guten Mutes sein. Die Mädchen waren alle sehr gemessen in ihrem Benehmen. Sie sprachen wenig, aber was sie sagten, klang, als ob es nicht anders sein könne. Das Zimmer war geradeso wie das andere, mit drei Wänden aus lauter Fenstern, durch die die untergehende Sonne schien, wie durch eine Laterne. Nur die Scheidewand mit der Tür drin war undurchsichtig. Eine andere Tür mit Glasscheiben, die ins Freie führte, befand sich gegenüber und durch diese trat das häßlichste Geschöpf, das ich je gesehen, mit einem Präsentierteller herein, auf dem es die Speisen trug. Glücklicherweise ging sie immer gleich wieder hinaus. Das älteste der Mädchen schöpfte uns die Suppe heraus. Darauf gab es Gemüse, grüne Erbsen mit Rüben, aber so fein zubereitet, wie ich es vorher noch nicht gegessen hatte. Dann kam Braten, aber nur sehr kleine Stücke. Das ist alles, was mir von jenem ersten Abend im Gedächtnis geblieben. Ich muß schon bei Tisch wieder eingeschlafen sein.

Am anderen Morgen beim Aufstehen fragte ich, wie man mir später erzählte, ob Lora nicht hier sei. Niemand wußte etwas von ihr. Sehr deutlich ist es mir noch in Erinnerung, wie wir am Abend dieses ersten Tages zusammen zum Baden gingen. Der Weg führte zwischen hohen alten Baumgruppen und Wiesengründen durch, manchmal im kühlen Schatten, dann wieder im hellen Sonnenschein. Die Straße war so breit, daß wir alle sieben Arm in Arm nebeneinander gehen konnten. Rechts und links sah man zuweilen, soweit das Auge reichte, über Wiesen hinweg. Plötzlich entdeckte ich in einiger Entfernung ein Haus, das sich in nichts von dem unsrigen unterschied. Es war auch nur zwei Stockwerk hoch, aus rotem Backstein gebaut, mit zwei Reihen niedriger breiter Fenster übereinander, bis zum Dache hinauf mit wildem Wein bewachsen. Unten lief eine hölzerne Galerie herum. Das Dach war fast flach und ein feiner Streifen Rauch stieg aus dem Kamin in die Luft hinauf. Bald wurde der Weg schmäler und wir gelangten in einen Wald, der keinen Sonnenstrahl durchließ, dann in ein niedriges, undurchsichtiges Dickicht, in dem wir eine hinter der andern gehen mußten, bis wir unversehens ins Freie traten. Den Anblick werde ich nie vergessen. Zwischen schmalen grünen Ufern floß ein breiter Bach. Hüben und drüben dichtes Gebüsch dem Ufer entlang, daß man von aller Welt abgeschlossen schien, und zu beiden Seiten des Baches, soweit ich sehen konnte, hunderte von Mädchen, die sich zum Baden entkleideten. Viele waren schon im Wasser und kamen den Bach heraufgeschwommen, gegen die Strömung an. Wir waren am oberen Ende. Uns gegenüber war eine Schar Mädchen bereits wieder mit Ankleiden beschäftigt. Wir hängten unsere Röckchen und Strümpfe an den Weiden auf, Blanka und Pamela, die beiden ältesten, sprangen hinein und die übrigen warfen mich ihnen zu. Sie hatten mich an Händen und Füßen genommen und hoch in die Luft geschwungen. Platsch! Blanka hielt mir die Hand unter den Bauch und ließ mich zappeln. Das Wasser reichte mir bis unters Kinn, aber alle, selbst die kleine blonde Filissa, konnten perfekt schwimmen. Blanka und Pamela nahmen mich zwischen sich und so schwammen wir weit hinunter, immer zwischen Mädchen durch, die ihre Köpfe aus der Flut streckten und mit den Armen aufs Wasser schlugen. Schließlich kamen wir an eine Schleuse, über die wir hinüberkletterten. Wir setzten uns auf die breiten Steine darunter und ließen das Wasser über uns herabströmen. Darauf schwammen die anderen, alle sechs in einer Reihe nebeneinander, den Bach wieder hinauf, während ich dem Ufer entlang nebenher lief. Als wir uns ankleideten, lag der ganze Badeplatz schon im Schatten. Aus den Büschen zu beiden Seiten drang ein feiner Nebel über das Gras hin, durch den man die Mädchen am unteren Ende kaum mehr sehen konnte.

Vom ersten Tag an hatte man mich hergenommen und auf den Händen gehen lassen. Zwei der Mädchen hielten mir dabei die Beine hinauf. Das Haar hing mir auf den Fußboden, das Kleid fiel mir vom Gürtel her in den Nacken. So ging ich mit den Beinen hoch in der Luft auf den Steinfliesen durchs Zimmer. Am Nachmittag, bis es Zeit zum Baden war, wurde musiziert. Ich lernte die Geige. Des Abends saßen wir immer gemütlich beisammen, mit Ausnahme von Blanka, die jeden Abend gleich vom Nachtessen weg ausging. Blanka war ein dickes, rundes Ding mit schwarzem Haar, schwarzen Augen und Lippen wie eine zerteilte Kirsche, aber hellrot und saftig. Sie hatte die etwas plumpe Figur, wie sie Mädchen mit dreizehn Jahren zu haben pflegen. Um so auffallender war ihre Geschmeidigkeit. Sie machte den anderen alles vor. Wenn sie auf den Händen ging, bog sich ihre Taille trotz ihrer Dicke soweit zurück, daß die Beine waagerecht über den Kopf vorragten. Dabei hielt sie trotz ihrer kräftigen Knöchel die Fußspitzen wie zwei Pfeile gestreckt, und sie ging, ohne daß sich die Füße um eine Idee nach rechts und links bewegt hätten. Vor allem aber war sie eine ausgezeichnete Tänzerin. Während des Vormittags erteilte sie den übrigen fünf Mädchen Unterricht, indem sie sich eine nach der andern zum vis-à-vis nahm und sie alle ihre Schritte und Bewegungen aufs genaueste nachahmen ließ. Alle diese Übungen fanden im oberen Stock unseres Hauses statt, wo wir uns überhaupt den ganzen Tag aufhielten und ebenso auch des Abends, wenn Blanka fort war und wir anderen gemütlich plauderten. Es war ein einziges großes Zimmer mit niedrigen breiten Fenstern ringsum, zu denen der wilde Wein hereinwuchs. Nur in der Mitte der einen Wand war die Fensterreihe durch einen mächtigen Kamin unterbrochen, der weit ins Zimmer herein und bis zur Decke reichte. Der ganze Fußboden war mit roten Backsteinfliesen belegt. Zwischen je zwei Fenstern war eine Lampe angebracht. Ich erinnere mich, nachher unser Haus öfter vom Park aus gesehen zu haben, wenn die Lampen alle angezündet waren. Einen festlicheren Anblick hätte man sich kaum denken können, besonders, wenn die Mädchen in ihren weißen Kleidern unter den offenen Fenstern erschienen. Stelle man sich nun vor, daß dreißig solche Häuser in dem Park zerstreut lagen, so mag man sich einen Begriff davon machen, wie märchenhaft schön es des Abends dort aussah. Um in das obere Zimmer zu gelangen, gingen wir außen am Hause hinauf, auf einer hölzernen Treppe; dann trat man durch eine Glastür ein, hatte den Kamin sich gerade gegenüber und zur Rechten und Linken, rings an den Wänden umher, ledergepolsterte Bänke, auf denen wir Mädchen saßen.

Pamela spielte die Mandoline; Irene, die drittälteste, ein Mädchen mit starkem Knochenbau, vorspringenden Mundteilen und kaltem verschlossenen Wesen, spielte Gitarre. Dann kam Wera, kaum zehn Jahre, aber von so fein gebildetem Körper, von einer solchen Ruhe in den Zügen, daß ich mich ihr schon nach den ersten paar Tagen am liebsten zu Füßen geworfen hätte. Den andern schienen ihre Vorzüge weniger aufzufallen, aber ebenso wie sie jene an Körperschönheit übertraf, so tanzte sie auch graziöser, und wenn sie Blanka noch nicht vollkommen gleichkam, so war es jedenfalls nur deshalb, weil sie es erst kürzere Zeit übte. Einmal schrie ich laut auf. Wera stand vor mir und glitt, während sie ruhig mit mir sprach, mit ihren elastischen Füßchen auf den glatten Fliesen langsam auseinander, bis sie mit dem Leib den Erdboden berührte. Ich fühlte mich selbst mitten entzweigerissen. Aber ebenso ruhig, ohne mit den Schultern zu zucken, ohne die Knie zu beugen, wie sie sich niedergelassen hatte, richtete sie sich wieder empor. Welch eine Kraft mußte schon in den jungen Gliedern sein.

In unseren Musikstunden spielte sie die Harfe. Auch ihre Musik schien mir inhaltsschwerer, reifer als die der übrigen. Die fünfälteste, Melusine, schmächtig und fleischlos, mit großen blauen Augen, ein Geschöpf, das mir während der fünf Jahre, die wir beisammen waren, nicht das mindeste Interesse einflößte, blies die Schalmei, und die kleine, dicke, blonde Filissa hämmerte ein vierbeiniges Cymbal, mit der sie unser ganzes Orchester übertönte. Ich selbst mußte, wie gesagt, die Geige lernen, da Blanka, die die Geige spielte, nur noch ein Jahr dablieb.

Es war an einem der ersten Tage, als mich Blanka nach dem Mittagessen mit sich nahm. Auf einer breiten, staubigen Straße gingen wir eine ziemliche Strecke durch den Park, kamen an mehreren der anderen Häuser vorbei und traten schließlich in ein von himmelhohen Eichen umrauschtes einstöckiges, breites weißes Haus, das einen Vorbau von vier schlanken Säulen hatte. Durch ein von oben erleuchtetes feierliches Vestibül führte mich Blanka in einen großen weißen Saal mit hohen Fenstern auf den Garten hinaus. Das erste, was ich erblickte, war Lora. Wir sanken uns in die Arme, küßten uns und weinten. Gleich darauf wurde auch Heidi von einem anderen Mädchen hereingeführt. Es waren im ganzen dreißig Mädchen in unserem Alter und dreißig im Alter Blankas anwesend, alle gleich gekleidet, alle mit offenem Haar, gelben Schuhen und weißen Strümpfen und Röckchen. Die älteren nahmen auf den samtenen Divans den Wänden entlang Platz, legten würdevoll die gestreckten Füße übereinander und flüsterten leise, während wir mitten im Saal standen und den Atem anhielten.

Dann öffnete sich zur Rechten eine Flügeltür und Simba trat in den Saal. Ich war wie betäubt. Im nächsten Moment stand sie mitten zwischen uns.

Es wird mir nicht leicht, jetzt in meinem dreiundsechzigsten Jahr den Eindruck, den ich damals empfand, in seiner ganzen Lebhaftigkeit wiederzugeben. Simba war groß und dabei schlank wie ein Faden, aber weder Rippen noch Sehnen waren an ihrem Körper bemerkbar. Ich starrte sie an und hatte ein ähnliches Gefühl wie damals in jener Nacht, als ich von Morni träumte. Die Art und Weise, wie sie ihren Körper dehnte, wie sie sich in den Weichen hob und senkte, das wonnige Behagen, mit dem sie ihre Achseln zurücksinken ließ, die süßliche Trägheit ihrer schlaffen Glieder, die Geschmeidigkeit ihres Leibes, die Lust, mit der sie selbst sich ihres Körpers bewußt zu werden schien und die in jeder leisen Bewegung wieder zum Ausdruck gelangte, alles das berauschte, betörte, übermannte mich derart, daß ich zwei Tage wie im Halbschlummer umherging und, wohin ich sehen mochte, nur ihr Bild vor mir hatte.

Und dann das Kostüm. Das sehe ich heute noch und kann es nicht fassen, daß ich das wirklich mit Augen gesehen habe. Und das mit sieben Jahren, wo die Welt noch so gut wie unbemerkt an einem vorübergeht. Wie war das möglich. Übrigens habe ich derartige Wunderwerke von Schönheit und Sinnenreiz aus meinen reiferen Lebensjahren nicht mehr zu notieren. Sie hören auf in meiner Erinnerung mit dem Augenblick, wo ich aufhörte, Kind zu sein. Hatte ich die Augen dafür verloren, oder waren es die Aufregungen, Not und Leidenschaft, die mir die zu derartigem Genuß notwendige Ruhe raubten; oder habe ich mir schließlich die menschliche Schönheit in so hohem Maße zum Genuß werden lassen, daß sie aufhörte, mir noch als etwas besonders Begehrenswertes aufzufallen? Ich weiß es nicht.

Ihr üppiges, weniges, rabenschwarzes Haar trug Simba tief über die Schläfen herab und im Nacken in einen dichten Knoten geknüpft. Sie hatte langgezogene, schlangenförmige Brauen, eine feine, feine Nase und das schmerzlichste und zugleich süßeste Lächeln auf den Lippen, das ich je gesehen habe. Dann erinnere ich mich auch noch ihrer Zungenspitze, die manchmal wie ein Feuersalamander herauszuckte.

Um die schmale, schlanke Brust und die feinen Schultern trug sie ein enganliegendes Netzwerk aus dicken dunkelgrünen Glasperlen, in der Art eines Mieders, das aber ihre zarten Brüste vollkommen frei ließ, indem es beide mit großen Ringen einfaßte, deren Perlen um einiges dicker waren als die des übrigen Netzes. An den Beinen trug sie weißseidene Trikots und darüber ein Beinkleid, nur von den Hüften bis zur Mitte der Schenkel reichend, aus buntem türkischen Seidenstoff in hellen Farben; gelbe, rote und weiße senkrechte Streifen nebeneinander, oben zu einem bauschigen, schräggestreiften Gürtel umgelegt, um den Leib anschließend, aber nach unten gerade geschnitten und reichlich weit, so daß die schlanken, weißen Beine frei heraustreten. Ihre Füße steckten in weichen, niedrigen, weitausgeschnittenen schwarzen Schuhen. Und über alles das trug sie einen Mantel aus hellgelbem Wollstoff, rot verbrämt, vorn von oben bis unten offen, nur in der Taille, die er eng umschloß, von einer Agraffe zusammengehalten, im Nacken ein schmaler spitzer Ausschnitt bis auf den Gürtel hinab, die Ärmel bis über die Achseln hinauf geschlitzt, schmal und nach unten spitz zugeschnitten, rot ausgeschlagen, als Hintergrund für die brünetten, feinen Arme. Nicht wenig überrascht war ich, unter ihren Achseln, als sie die Arme hob, zwei dichte Büschel braunschwarzer Haare zu sehen. Es war mir das weder bei Naema noch bei Gertrud jemals aufgefallen.


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