Frank Wedekind
Der Marquis von Keith
Frank Wedekind

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v. Keith Du siehst etwas verlebt aus; aber das Dasein ist wirklich auch keine Spielerei!

Scholz Für mich am allerwenigsten; deshalb bin ich nämlich hier. Und ich komme nur deinetwegen nach München.

v. Keith Dafür danke ich dir; was die Geschäfte von mir übriglassen, gehört dir.

Scholz Ich weiß, daß du schwer mit dem Leben zu kämpfen hast. Nun ist es mir aber ganz speziell um deinen persönlichen Verkehr zu tun. Ich möchte mich gern auf einige Zeit deiner geistigen Führung überlassen, aber nur unter der einen Bedingung, daß du mir dafür erlaubst, dir mit meinen Geldmitteln zu Hilfe zu kommen, soweit du es brauchen kannst.

v. Keith Aber wozu denn das? Ich bin eben im Begriff, Direktor eines ungeheuren Aktienunternehmens zu werden. Und dir geht es also auch ganz gut? Wir haben uns, wenn mir recht ist, vor vier Jahren zum letztenmal gesehen.

Scholz Auf dem Juristenkongreß in Brüssel.

v. Keith Du hattest kurz vorher dein Staatsexamen absolviert.

Scholz Du schriebst damals schon für alle erdenklichen Tagesblätter. Erinnerst du dich vielleicht zufällig noch der Vorwürfe, die ich dir deines Zynismus wegen auf dem Balle im Justizpalais in Brüssel machte?

v. Keith Du hattest dich in die Tochter des dänischen Gesandten verliebt und gerietst in Wut über meine Behauptung, daß die Frauen von Natur aus viel materieller veranlagt sind, als wir Männer es durch den reichlichsten Genuß jemals werden können.

Scholz Du bist mir auch heute noch, wie während unserer ganzen Jugendzeit, geradezu ein Ungeheuer an Gewissenlosigkeit; aber – du hattest vollkommen recht.

v. Keith Ein schmeichelhafteres Kompliment hat man mir in diesem Leben noch nicht gemacht.

Scholz Ich bin mürbe. Obschon ich deine ganze Lebensauffassung aus tiefster Seele verabscheue, vertraue ich dir heute das für mich unlösbare Rätsel meines Daseins an.

v. Keith Gott sei gelobt, daß du dich aus deinem Trübsinn endlich der Sonne zuwendest!

Scholz Ich schließe damit nicht etwa eine feige Kapitulation. Das letzte Mittel, das einem selbst zur Lösung des Rätsels freistellt, habe ich umsonst versucht.

v. Keith Um so besser für dich, wenn du das hinter dir hast. Ich sollte während der Kubanischen Revolution mit zwölf Verschwörern erschossen werden. Ich falle natürlich auf den ersten Schuß und bleibe tot, bis man mich beerdigen will. Seit jenem Tage fühle ich mich erst wirklich als den Herrn meines Lebens. Aufspringend Verpflichtungen gehen wir bei unserer Geburt nicht ein, und mehr als dieses Leben wegwerfen kann man nicht. Wer nach seinem Tode noch weiterlebt, der steht über den Gesetzen. – Du trugst dich damals in Brüssel mit der Absicht, dich dem Staatsdienst zu widmen?

Scholz Ich trat bei uns ins Eisenbahnministerium ein.

v. Keith Ich wunderte mich noch, daß du es bei deinem enormen Vermögen nicht vorzogst, als Grandseigneur deinen Neigungen zu leben.

Scholz Ich hatte den Vorsatz gefaßt, vor allem erst ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Wäre ich als der Sohn eines Tagelöhners geboren, dann ergäbe sich das ja auch als etwas ganz Selbstverständliches.

v. Keith Man kann seinen Mitmenschen nicht mehr in dieser Welt nützen, als wenn man in der umfassendsten Weise auf seinen eigenen Vorteil ausgeht. Je weiter meine Interessen reichen, einer desto größeren Anzahl von Menschen biete ich den nötigen Lebensunterhalt. Wer sich aber darauf, daß er seinen Posten ausfüllt und seine Kinder ernährt, etwas einbildet, der macht sich blauen Dunst vor. Die Kinder danken ihrem Schöpfer, wenn man sie nicht in die Welt setzt, und nach dem Posten recken hundert arme Teufel die Hälse!

Scholz Ich konnte aber in der Tatsache, daß ich ein reicher Mann bin, keinen zwingenden Grund sehen, als Tagedieb in der Welt herumzuschlendern. Künstlerische Veranlagungen besitze ich nicht, und um meine einzige Lebensbestimmung im Heiraten und Kinderzeugen zu erblicken, dazu schien ich mir nicht unbedeutend genug.

v. Keith Du hast aber den Staatsdienst quittiert?

Scholz läßt den Kopf sinken Weil ich in meinem Amt ein entsetzliches Unglück verschuldet habe.

v. Keith – Als ich von Amerika zurückkam, erzählte mir jemand, der dich ein Jahr vorher in Konstantinopel getroffen hatte, du habest zwei Jahre auf Reisen zugebracht, lebest jetzt aber wieder zu Haus und stehest eben im Begriff, dich zu verheiraten.

Scholz Meine Verlobung habe ich vor drei Tagen aufgelöst. Ich war bis jetzt nur ein halber Mensch. Seit dem Tage, an dem ich mein eigner Herr wurde, ließ ich mich lediglich von der Überzeugung leiten, ich könne mich meines Daseins nicht eher erfreuen, als bis ich meine Existenz durch ehrliche Arbeit gerechtfertigt hätte. Diese einseitige Anschauung hat mich dahin geführt, daß ich heute aus reinem Pflichtgefühl, nicht anders, als gälte es eine Strafe abzubüßen, den rein materiellen Genuß aufsuche. Sobald ich aber dem Leben die Arme öffnen will, dann lähmt mich die Erinnerung an jene unglücklichen Menschen, die nur durch meine übertriebene Gewissenhaftigkeit in der entsetzlichsten Weise ums Leben gekommen sind.

v. Keith Was war denn das für eine Geschichte?

Scholz Ich hatte ein Bahnreglement geändert. Es lag eine beständige Gefahr darin, daß dieses Bahnreglement unmöglich genau respektiert werden konnte. Meine Befürchtungen waren natürlich übertrieben, aber mit jedem Tage sah ich das Unglück näherkommen. Mir fehlte eben das seelische Gleichgewicht, das dem Menschen aus einem menschenwürdigen Familienheim erwächst. – Am ersten Tage nach Einführung meines neuen Reglements erfolgte ein Zusammenstoß von zwei Schnellzügen, der neun Männern, drei Frauen und zwei Kindern das Leben kostete. Ich inspizierte die Unglücksstätte noch. Es ist nicht meine Schuld, daß ich den Anblick überlebte.

v. Keith Dann gingst du auf Reisen?

Scholz Ich ging nach England, nach Italien, fühle mich nun aber erst recht von allem lebendigen Treiben ausgeschlossen. In lachender, scherzender Umgebung, bei ohrbetäubender Musik, entringt sich mir plötzlich ein geller Schrei, weil ich mir unversehens wieder jenes Unglücks bewußt worden bin. Ich habe auch im Orient nur wie eine verscheuchte Eule gelebt. Aufrichtig gesagt, bin ich auch seit jenem Unglückstag erst recht davon überzeugt, daß ich mir meine Lebensfreude nur durch Selbstaufopferung zurückkaufen kann. Aber dazu brauche ich Zutritt zum Leben. Diesen Zutritt zum Leben hoffte ich vor einem Jahr dadurch zu finden, daß ich mich mit dem ersten besten Mädchen allerniedrigster Herkunft verlobte, um mit ihr in den Ehestand zu treten.

v. Keith Wolltest du das Geschöpf wirklich zur Gräfin Trautenau machen?

Scholz Ich bin kein Graf Trautenau mehr. Das entzieht sich deinem Verständnis. Die Presse hatte meinen Rang und Namen zu dem Unglück, das ich heraufbeschworen, in wirkungsvollen Kontrast gesetzt. Ich hielt mich deshalb meiner Familie gegenüber für verpflichtet, einen anderen Namen anzunehmen. Ich heiße seit zwei Jahren Ernst Scholz. Daher konnte auch meine Verlobung niemanden mehr überraschen; aber es wäre auch daraus nur wieder Unglück erwachsen. In ihrem Herzen keinen Funken Liebe, in meinem nur das Bedürfnis, mich aufzuopfern, der Verkehr eine endlose Kette der trivialsten Mißverständnisse... Ich habe das Mädchen jetzt derart dotiert, daß sie für jeden ihres Standes eine begehrenswerte Partie ist. Sie konnte sich vor Freude über ihre wiedergewonnene Freiheit gar nicht fassen. Und ich muß nun endlich die schwere Kunst erlernen, mich selbst zu vergessen. Dem Tod sieht man mit klarem Bewußtsein ins Auge; aber niemand lebt, der sich nicht selbst vergessen kann.

v. Keith wirft sich in einen Sessel – Mein Vater würde sich vor Schreck im Grabe umkehren bei dem Gedanken, daß du – mich um meinen Rat bittest.

Scholz So schlägt das Leben die Schulweisheit auf den Mund. Dein Vater hat redlich sein Teil zu meiner einseitigen geistigen Entwicklung beigetragen.

v. Keith Mein Vater war so selbstlos und gewissenhaft, wie es der Hauslehrer und Erzieher eines Grafen Trautenau nun einmal sein muß. Du warst sein Musterknabe, und ich war sein Prügeljunge.

Scholz Erinnerst du dich nicht mehr, wie zärtlich du bei uns auf dem Schloß von unseren Kammerjungfrauen abgeküßt wurdest, und zwar mit Vorliebe dann, wenn ich zufällig gerade daneben stand?! – Sich erhebend Ich werde die nächsten zwei bis drei Jahre einzig und allein darauf verwenden, unter Tränen um mich zu einem Genußmenschen auszubilden.

v. Keith aufspringend Gehen wir heute abend erst einmal nach Nymphenburg auf den Tanzboden! Das ist unser so unwürdig, wie nur irgendwie möglich. Aber bei all dem Regenwetter und Gletscherwasser, das sich über meinen Kopf ergießt, reizt es mich selbst, wieder einmal im Schlamm zu baden.

Scholz Mich dürstet nicht nach Marktgeschrei.

v. Keith Du hörst kein lautes Wort, nur das dumpfe Brausen des aus seinen Tiefen aufgewühlten Ozeans. München ist ein Arkadien zugleich und ein Babylon. Der stumme saturnalische Taumel, der sich hier bei jeder Gelegenheit der Seelen bemächtigt, behält auch für den Verwöhntesten seinen Reiz.

Scholz Woher sollte ich denn verwöhnt sein! Ich habe von meinem Leben bis heute buchstäblich noch nichts genossen.

v. Keith Der Gesellschaft werden wir uns auf dem Tanzboden erwehren müssen! An solchen Orten wirkt mein Erscheinen wie das Aas auf die Fliegen. Aber dafür, daß du dich selbst vergißt, stehe ich dir gut. Du wirst dich noch in drei Monaten selbst vergessen, wenn du an unseren heutigen Abend zurückdenkst.

Scholz Ich habe mich schon allen Ernstes gefragt, ob nicht mein ungeheurer Reichtum vielleicht der einzige Grund meines Unglücks ist.

v. Keith empört Das ist Gotteslästerung!

Scholz Ich habe tatsächlich schon erwogen, ob ich nicht wie auf meinen Adel auch auf mein Vermögen verzichten soll. Solang ich lebe, wäre mir dieser Verzicht aber nur zugunsten meiner Familie möglich. Eine nützliche Verfügung über mein Eigentum kann ich allenfalls, nachdem mein Leben an ihm zuschanden geworden, auf dem Sterbebette treffen. Hätte ich von Jugend auf um meinen Unterhalt kämpfen müssen, dann stände ich bei meinem sittlichen Ernst und meinem Fleiß, statt ein Ausgestoßener zu sein, heute wahrscheinlich mitten in der glänzendsten Karriere.

v. Keith Oder du schwelgtest mit deinem Mädchen aus niedrigstem Stande im allergewöhnlichsten Liebesquark und putztest dabei deiner Mitwelt die Stiefel.

Scholz Das nehme ich jeden Augenblick mit Freuden gegen mein Los in Tausch.

v. Keith Bilde dir doch nicht ein, daß dieses Eisenbahnunglück zwischen dir und dem Leben steht. Du sättigst dich nur deshalb an diesen scheußlichen Erinnerungen, weil du zu schwerfällig bist, um dir irgendwelche delikatere Nahrung zu verschaffen.

Scholz Darin magst du recht haben. Deswegen möchte ich mich deiner geistigen Führung anvertrauen.

v. Keith Wir finden heute abend schon was zu beißen. – Ich kann dich jetzt leider nicht bitten, mit mir zu frühstücken. Ich habe um zwölf Uhr ein geschäftliches Rendezvous mit einer hiesigen Finanzgröße. Aber ich gebe dir ein paar Zeilen mit an meinen Freund Raspe. Verbring den Nachmittag mit ihm; um sechs Uhr treffen wir uns im Hofgarten-Café. Er ist an den Schreibtisch gegangen und schreibt ein Billett.

Scholz Womit beschäftigst du dich denn?

v. Keith Ich treibe Kunsthandel, ich habe eine Zeitungskorrespondenz, eine Konzertagentur – alles nicht der Rede wert. Du kommst eben recht, um das Entstehen eines großangelegten Konzerthauses zu erleben, das ausschließlich für meine Künstler gebaut wird.

Scholz nimmt das Bild vom Tisch und betrachtet es Du hast eine hübsche Bildergalerie.

v. Keith aufspringend Das gebe ich nicht um zehntausend Mark. Ein Saranieff. – Dreht es ihm in den Händen um. Du mußt es anders herum nehmen.

Scholz Ich verstehe nichts von Kunst. Ich bin auf meinen Reisen nicht in einem einzigen Museum gewesen.

v. Keith gibt ihm das Billett Der Mann ist internationaler Kriminalbeamter; sei deshalb nicht gleich zu offenherzig. Ein entzückender Mensch. Aber die Leute wissen nie, ob sie mich beobachten sollen oder ob ich da bin, um sie zu beobachten.

Scholz Ich danke dir für dein liebenswürdiges Entgegenkommen. Also heute abend um sechs im Hofgarten-Café.

v. Keith Dann fahren wir nach Nymphenburg. Ich danke dir, daß auch du schließlich Vertrauen zu mir gewonnen hast.

v. Keith geleitet Scholz hinaus. Die Szene bleibt einen Moment leer. Dann kommt Molly Griesinger aus dem Wohnzimmer und nimmt das Teegeschirr vom Tisch. Gleich darauf kommt v. Keith zurück.

v. Keith ruft Sascha! – Geht ans Telefon und läutet Siebzehn, fünfunddreißig – Kommissär Raspe!

Sascha kommt aus dem Wartezimmer Herr Baron!

v. Keith Meinen Hut! Meinen Paletot!

Sascha eilt nach dem Vorplatz.

Molly Ich beschwöre dich, laß dich doch mit diesem Patron nicht ein! Der käme doch nicht zu uns, wenn er uns nicht ausbeuten wollte.

v. Keith spricht ins Telefon Gott sei Dank sind Sie da! Warten Sie zehn Minuten. – – Das werden Sie merken. – Zu Molly, während ihm Sascha in den Paletot hilft Ich fahre rasch auf die Redaktionen.

Molly Was soll ich Mama antworten?

v. Keith zu Sascha Einen Wagen!

Sascha Jawohl, Herr Baron. Ab.

v. Keith Leg ihr meine Ehrerbietung zu Füßen. Geht zum Schreibtisch Die Pläne – der Brief von Ostermeier – morgen früh muß München wissen, daß der Feenpalast gebaut wird!

Molly Dann kommst du nicht nach Bückeburg?

v. Keith nimmt, die zusammengerollten Pläne unter dem Arm, seinen Hut vom Mitteltisch und stülpt ihn auf Nimmt mich wunder, wie sich der zum Genußmenschen ausbildet! Rasch ab.


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