Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Sechzehntes Kapitel

Ich könnte dieses Kapitel überschreiben: der Sturz der Engel, und damit hätte ich zugleich eine Warnungstafel für jene Leser aufgestellt, die von solchen luziferischen Katastrophen nichts hören wollen. Sie mögen das Buch getrost zuklappen und etwas Vergnüglicheres unternehmen, denn hier werden sie durch ein finsteres Reich der Seele geführt, wo die Verzweiflung und die Zerstörung herrschen. Es ist ein anderer Etzel, der uns entgegentritt, nicht mehr der Freundesfreund, nicht mehr der erglühte Jünger, nicht mehr der Gerechtigkeitssucher, nicht mehr der schnurrige Vagabund mit der entwaffnenden Dreistigkeit und dem opfermutigen Sinn, ein anderes Bild ist es, ein anderer Mensch, und der Weg, den er geht, ist so finster, wie ein Menschenweg nur sein kann.

Zunächst die äußere Situation.

Die Fahrten von der Großen Querallee nach Lindow und zurück wurden zu einer regulären Einrichtung wie ein Kurierdienst, einer Lebenseinrichtung. An Sonntagen in jedem Fall, in der Woche zwei- bis dreimal. Da kam er am späten Nachmittag und fuhr am andern Morgen wieder fort. Manchmal blieb er über den Mittag draußen. Er konnte sich auch ganz plötzlich entschließen; wenn er ein paar unbesetzte Stunden vor sich hatte, erschienen sie ihm unerträglich leer, alsbald saß er auf der Maschine (nur bei sehr schlechtem Wetter benutzte er Maries kleinen Wagen) und raste die sechsthalb Dutzend Kilometer mit tollwütiger Geschwindigkeit hintereinander weg. Bald kannte er jeden Stein am Weg, jeden Strauch, jede Laterne, jedes Loch in der Straße. Er hätte die Strecke im Schlaf fahren können. Wenn er zu einer bestimmten Stunde zurücksein mußte, beschleunigte er das Tempo noch. Daß er sich bei diesen Parforcetouren nicht eines Tages das Genick brach, war ein wahres Wunder. Marie schwebte beständig in Todesängsten. Eine feste Verabredung konnte selten getroffen werden, so war sie fast jeden andern Tag zu aufregendem Warten verurteilt. Wenn er zu der Zeit nicht da war, wo er zu kommen halb und halb versprochen hatte, sah sie ihn in seinem Blut auf der Landstraße liegen. Eine Nervenfolter ohnegleichen. Sie sagte einmal, jetzt verstehe sie erst die Gemütsverfassung der Hero, wenn sie dem schwimmenden Leander das Signal mit der Fackel gibt; der Hellespont zwischen Berlin und Lindow sei ihr aber weit unheimlicher als der wirkliche. Da lachte er bloß. Seine lachende Unbekümmertheit war noch das einzige, was sie beruhigte. Körperliche Anstrengung achtete er nicht, physische Furcht kannte er nicht. Sie unterschied das Rattern seines Motors schon von weitem, wenigstens bildete sie sich ein, daß es anders klang als das aller andern Maschinen der Welt. Sie hörte es schon in ihrem Zimmer, bereit zu hören, wie sie war, zehn Stunden des Tages bereit. Sie ging zum Gartentor und schaute mit klopfendem Herzen die Chaussee entlang. Und dann stand er vor ihr wie aus der Erde heraufgeschossen; das schmal- und hohlwangig gewordene, wettergegerbte Gesicht, dazu der offene lachende Blick: es war schön. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn nicht nur, sie war auch unsinnig verliebt. Nie in ihrem Leben war sie so verliebt gewesen. Sie hätte in einem fort lachen und weinen können.

Zur »äußeren« Situation gehört die Stellung, die er sich auf dem Gut zu machen wußte. Bald hatte er sich alle Herzen erobert. Er verkehrte mit allen Leuten auf kameradschaftlichem Fuß, mit dem Verwalter, dem Gärtner, dem Stallknecht, der Köchin, der Milchmagd, der Aja und Frau Jänisch. Er kannte ihre Privatangelegenheiten, ihre politischen Ansichten, ihre Lebensweise, ihre Tugenden und ihre Fehler. Er schlichtete ihre Streitigkeiten, munterte sie auf, wenn sie verdrossen waren, hatte für jeden das richtige Wort und die richtige Art. »Du bist schrecklich populär«, sagte Marie in scherzhafter Eifersucht, »es ist unlauterer Wettbewerb.« – Er erwiderte: »Selbstverständlich, anders komm' ich gegen dich nicht auf.« Wenn er ein paar Tage fortgewesen war und sich wieder zeigte, hieß es: Der junge Herr ist wieder da (denn er galt als Familienmitglied), worauf ein eifriges Händeschütteln, Fragen und Schwatzen anhub. Er kümmerte sich um die Holz- und Kohlenvorräte, die Wintersaat, die Viehwirtschaft, die Löhne, die Wetterschäden an den verschiedenen Baulichkeiten, wollte alles wissen, überall Hand anlegen, bloßes Zuschauen und unnützes Dabeistehen ging ihm gegen die Natur. Den Kindern erzählte er Geschichten oder jagte mit ihnen im Garten herum, wobei er selber der Unbändigste war. Wenn er zu ihnen in die Stube kam, entstand ein Höllenspektakel, und es ging zu wie auf dem Jahrmarkt. Es ist klar, daß er alsbald ihr Held und Vorbild wurde. Der Etzel sagten sie, wie man sagt: Seine Majestät.

Da Marie sich standhaft weigerte, auch nur für kurze Zeit in der Stadtwohnung Aufenthalt zu nehmen, und Kerkhoven unter ihrer dauernden Abwesenheit sichtlich litt, brachte ihn Etzel dazu, einmal in der Woche hinauszufahren und draußen zu übernachten. Er war stolz darauf, daß es ihm gelungen war, den Meister hiezu zu überreden. Er fühlte sich so vollkommen zu Hause in Lindow, daß er sich Kerkhoven gegenüber als Gastgeber gebärdete. »Ich wußte nicht, daß du so wenig Städter bist«, sagte Marie; »du gehörst nicht in die Stadt. Du gehörst in die Landschaft.« – »Weiß ich nicht«, antwortete er, »im allgemeinen stimmt es nicht. Es stimmt, weil du hier bist. Ich denke, daß ich eben zu dir gehöre.« – Marie wünschte nicht, für den Augenblick daran zu zweifeln, aber jede Andeutung einer Zukunft ohne sie wies er schroff zurück. »Aus mir kann die Gelegenheit und die Not alles machen«, erklärte er, »einen Mechaniker, einen Chauffeur, einen Warenagenten, einen Buchbinder, einen horribile dictu Abgeordneten, natürlich auch einen Landwirt, was du willst. Aber nur mit dir. Ohne dich nichts.« Das sagte er mit der gebieterischen Unbedingtheit, die jeden Widerspruch zu einer Zeit- und Kraftverschwendung machte. Falls Marie Lust gehabt hätte zu widersprechen.

Die Liebe zu ihm bezog sich auf ihr ganzes Verhältnis zur Existenz, ihr brennendes Interesse an allem, wovon sie ausgeschlossen war oder sich ausgeschlossen erschien, teils aus sozialen Gründen, teils durch einen angeborenen Aristokratismus der Führung und Gesinnung, mit dem sie sich von Jahr zu Jahr empfindlicher isoliert gesehen hatte. Da half kein Wissen und inneres Schauen, kein Mitschwingen und Mitzittern, da halfen auch die Bücher nicht, man war nicht dabei, man zählte nicht mit in der gewandelten Welt, die ihr vielleicht deshalb ein so feindseliges Gesicht zeigte, weil sie sich freiwillig von ihr abgekehrt hatte. Gar oft wunderte sie sich, daß die Gemeinschaft mit einem Mann wie Kerkhoven sie nicht in die Mitte des Lebens, sondern ganz im Gegenteil an seinen äußersten Rand gestellt hatte. Es ließ sich erklären, alles läßt sich erklären; der kämpfende Partner suchte den Ruhepunkt, nur zu ihr konnte er zeitweilig flüchten, bei ihr war er geborgen, von ihr verlangte er, daß sie ihn vor der nachdrängenden und an allen Türen rüttelnden Welt für eine kleine Weile schütze. So hatte sie sich begnügen müssen, die Türen zu bewachen, wenn er da war, um niemand einzulassen, und der verworrene Lärm draußen, die vielen Stimmen, deren Klage und Begehr er doch nicht überhören konnte, hatten ihre Phantasie je mehr beunruhigt, je mehr sie sich zur Untätigkeit verdammt sah. Endlich, da es auf die Dauer zum fruchtlosen Opfer wurde, hatte sie auf das ständige Zusammenleben verzichtet und sich auf dem Land lebendig begraben. Da besaß man wenigstens sich selbst. Der Sturm vor den Türen war nicht mehr zu ertragen gewesen. Und da, als sie schon völlig resigniert hatte, kam durch eine der verschlossenen Türen, unbegreiflich wie, dieser Etzel Andergast. Kam mit der gewandelten Welt, der jung gewordenen, stürmisch bewegten. Seine Jugend hatte in ihren Augen einen repräsentativen Charakter. Er war der Mittler des Neuen, der gegenwärtige Mensch, durch den sie teilhatte an der gegenwärtigen Stunde, der Freitag, der Robinsons tödliche Einsamkeit aufhebt und darum noch mehr ist als der brüderliche Gefährte, so wunderbar Gefährtenschaft auch ist. Es gab keine erotische Bindung für sie, die nicht zugleich eine geistige war. Was er ihr aus der Welt zutrug, war lang entbehrte Nahrung. Er hatte viel erlebt, jeder Tag bereicherte ihn, und während er erzählte, hing sie an seinen Lippen. Wie Menschen sich führen und geben, Gesicht, Gebärde, Rede und Antwort, alles war dramatischer Vorgang. Dazu sein Presto, die Überfülle kleiner Beobachtung, die Mischung von Drolerie und Trockenheit, der leuchtende Eifer, der aus dem Bewußtsein brach, daß er ihr diente, daß ihr Blick auf ihm ruhte, daß es was für sie bedeutete, wenn er ihr sein kleines Erleben zum Geschenk machte und sie es annahm, als wäre es ein großes und kostbares Geschenk. Er findet kein Ende, er ist voll bis an den Rand, er hat ihr noch so viel zu sagen, bis morgen früh sind hundert Jahre, wozu ruhen, wozu schlafen, laß mich noch bei dir sein, liebe, liebe, liebe Marie. Da wurde es drei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr morgens, bis sie auseinanderfanden. Eines Abends kam er in bedrückter Stimmung und erzählte, Emma Sperling sei tot. Er hatte ihren Namen schon öfter genannt, immer mit einem Ton sarkastischer Verachtung und so, als wolle er nicht verhehlen, daß er etwas mit ihr gehabt habe, als sei aber diese Beziehung der Tiefpunkt, auf den er in seiner Prä-Existenz, als es noch keine Marie gegeben, heruntergesunken war. Er berichtete also, Emma sei verbrannt. Während sie sich die Haare mit einer ätherischen Essenz gewaschen, habe sie sich eine Zigarette angezündet, Haare und Frisiermantel hätten Feuer gefangen, schreiend, eine lebende Fackel, sei sie aus dem Zimmer gerannt und im Stiegenhaus zusammengebrochen. Heute vormittag um zehn sei es passiert, zwei Stunden später sei sie unter gräßlichen Qualen gestorben. »Neil hat mich anrufen lassen, um es mir mitzuteilen«, fuhr er fort und schnitt eine Grimasse; »ich vermute, sie wollte feurige Kohlen auf meinem Haupt sammeln, damit ich auch was abbekäme von den Flammen, die den armen Spatz verzehrt haben. Du weißt ja, warum. Hab's dir ja erzählt. Aber wie ich das Unglück erfuhr, gab's mir doch einen Stich. Ich ging hin in die Klinik, da lag sie, eingewickelt von oben bis unten, ein Stück Gesicht war frei, lauter verkohltes Fleisch. Grauenhaft.« Er blickte Marie unsicher an, als sei das Bild zu kraß für sie. Sie sah es aber mit seinen Augen und wollte nicht geschont werden wie eine, die für die Wirklichkeit zu schwache Nerven hat. »War eine tolle Person«, begann er wieder, »ein schlechtes, verlogenes Frauenzimmer, aber eins muß man ihr lassen, lachen konnte die ... das kannst du dir nicht vorstellen, wie die lachen konnte. Mal waren wir zusammen im Kino bei einem Chaplinfilm, und bei einer Szene, es war gar nicht sonderlich komisch, eher wehmütig-komisch, du kennst ja die Art, begann sie auf einmal dermaßen zu lachen, daß der ganze Saal angesteckt wurde, alles kreischte und brüllte, sogar die Musiker und das Personal. Das ist doch immerhin, wie soll man sagen, ein Stück Natur, nicht?«

– »Sicher. Da hast du sicher recht.« – »Und wenn so ein Geschöpf, das bloß zum Spielen geschaffen ist, zum Überhaupt-nicht-Ernstnehmen, nichts hat sie ernst genommen, die Menschen nicht, die Welt nicht, sich selber nicht, wenn einem solchen Irrwisch auf eine so verdammt ernste Manier der Garaus gemacht wird, mitten im schönsten Spiel, das gibt zu denken, da könnte man beinah an eine Vergeltung glauben, und eine mit sehr finsterer Logik.« – »Du brauchst dich nicht zu genieren, wenn du es glaubst«, sagte Marie; »allerdings bezweifle ich, daß die Vergeltungen von dorther so prompt funktionieren. Die Mächte lassen sich gewöhnlich Zeit.« – »Die Mächte«, gab er skeptisch zurück, »was ist das, die Mächte? Wer ist es? Wo sind sie?« – »Da drin«, sagte Marie und heftete den Zeigefinger auf seine Brust. – Er packte sie an beiden Armen. Mit unbeschreiblicher Wildheit im Blick beugte er sich über sie und murmelte, halb lachend, halb böse: »Da drin? Da drin bist du. Nur du. Nur du.« – »Du tust mir weh«, stammelte Marie bang. – Er umklammerte sie, daß ihr der Atem verging, drückte sie zu Boden, näherte sein Gesicht dem ihren, so daß Stirn an Stirn lag und wiederholte außer sich: »Nur du ... nur du ... glaubst du mir? Glaubst du mir?« – »Ja«, hauchte Marie.

– »Und bei dir drinnen«, er riß ihr das Kleid auf, daß der Stoff förmlich klirrte, »da drin soll nur ich sein, nur ich ...« – »Ja«, hauchte Marie. – »Noch einmal, sag's noch einmal: nur ich!« – »Nur du«, flüsterte Marie, von der wütenden Gewalt entseelt. Inbrünstig preßte er den Mund auf ihre entblößte Brust. Und stieß einen Jubelschrei aus, der wie helles Knabenlachen klang. Marie hing bebend an seinem Hals.

Ihre Zärtlichkeit war oftmals die der Mutter gegen den Sohn, das ertrug er nicht und warf es ihr als Liebesmangel vor. Dem ließ sich schwer abhelfen, da Zärtlichkeit das ursprüngliche Bedürfnis ihrer Natur war und ihre Sinne sich jeder Entflammung weigerten, wenn sie nicht durch Zärtlichkeit, empfangene und gegebene, geweckt wurden. Als sei es ein verschwiegenes Entgelt für ihn und die innere Rechtfertigung für sie, weil sie seine Jugend an sich fesselte, übernahm sie mit der Rolle der Geliebten wissend und in einem mystischen Trieb die der Mutter und trat damit in eine telepathische Beziehung zu der fernen, fremden Frau, die seine wirkliche Mutter war und als solche fremd und fern auch ihm. Nur mit äußerster Vorsicht durfte sie wagen, mit ihm darüber zu sprechen, jede Hindeutung auf den mütterlichen Teil ihrer Liebe erfüllte ihn geradezu mit Entsetzen. »Wie kannst du nur«, rief er aus, die Fäuste an den Ohren, »das ist ja unmenschlich. Es scheint, Frauen sind imstande, ein Gefühl so zu sublimieren, daß es unmenschlich wird.« Da verstummte Marie. Mit schaurigem Entzücken erkannte sie den Grund seiner leidenschaftlichen Abwehr; er wollte die Ausschließlichkeit dessen, was ihn mit ihr verband, nicht einmal durch ein Gleichnis angetastet wissen, schon dieses erschien ihm als Blasphemie. Aber tiefer lag vielleicht der Schrecken vor dem blutschänderischen Bild, das eine derartige Grenzverschiebung in ihm beschwor, mochte es auch in der allertiefsten Schicht der Seele als eine (freilich nur ahnbare) Wahrheit ruhen.

Es war eben alles zuwenig, was ihm Marie war und gab. Der schrankenlos erfüllte Traum, den er lebte, war eine Armseligkeit gegen den, den er noch erfüllt haben wollte. Unnachgiebig fordernd stand er vor ihr, vor seinem Schicksal, vor seinem Leben und streckte die offenen Hände hin nach mehr, nach dem Übermaß, nach dem Unmöglichen.

Es war zwischen ihnen eine stillschweigende Übereinkunft von vornherein gewesen, daß Marie sich ihrem Gatten nicht entziehen werde. Warum auch, was hatte das mit ihrer Liebe zu schaffen? Nicht als hätte sie nur ihre Pflicht erfüllen wollen. Sie hätte sich geschämt, von Pflicht zu reden, wo allein das Herz ihr ein Verhalten vorschrieb, das von der innigsten Freundschaft eingegeben war. Jetzt verspürte sie am eigenen Leib und in den eigenen Sinnen die Abgestorbenheit jener moralischen Begriffe, die dem lebendigen Menschen seine Entscheidungen vorwegnehmen und mißverstandene Treue zu einem Schild der Feigheit machen. Oder belog sie sich damit? Wollte sie sich in die »gewandelte Welt« einschmeicheln und deren Beifall durch das Opfer von Grundsätzen erkaufen, die ein Erbe waren wie das Blut in ihren Adern? Man gerät in Verwirrung. Befreist du dich von der Fessel des Herkommens, so taumelst du in den Sumpf der Selbstgerechtigkeit. Doch war es ihre Art nicht, hingehen und mit dem Wahrheitsmut als Vorwand das heilig Gefesselte brutal zerschlagen. Sie glaubte zu wissen, daß ihr Mut der höhere war und mehr Takt, mehr Verschwiegenheit, mehr Rücksicht, mehr Geistesgegenwart und mehr Selbstverleugnung von ihr verlangte als der triebhaft bekennende, der Mut der Schwäche. Dies schien Etzel vollkommen zu begreifen und zu würdigen. Und darin, daß sie an der Beziehung zu ihrem Mann nicht rütteln wollte, versuchte er sie niemals zu beeinflussen. Eher hätte er sich die Zunge abgebissen. Es war ja kein beliebiger Mann, um den es sich da handelte. Es war ja der Meister. Und doch... Sonderbares ging in ihm vor.

Als Kerkhoven am Samstag vor Weihnachten in Etzels Begleitung (er bestand jedesmal darauf, daß er ihn begleite) nach Lindow fuhr, kamen sie in der Gegend von Karwe an einer frischen Brandruine vorbei, einer kleinen Fabrik. Kerkhoven deutete auf die noch rauchenden Trümmer und sagte: »Das kann noch keinen Tag her sein.« – »Vorgestern war's«, berichtigte Etzel, »wie ich vorgestern vorbeikam, hat's grade angefangen zu brennen.« – Kerkhoven wunderte sich. »Vorgestern? Waren Sie denn vorgestern in Lindow? Sie sagten mir doch, Sie seien abends in der Universität gewesen?« Etzels Gesicht bedeckte sich mit flammender Röte. »Vielleicht war's Mittwoch«, stotterte er und tat, als denke er angestrengt nach; »ja... Mittwoch, es muß Mittwoch gewesen sein.« – »Ich nehme es an«, erwiderte Kerkhoven arglos, doch noch immer ein wenig verwundert, und da sich Etzel dann in Schweigen hüllte, warf es ihm bisweilen einen forschenden Blick zu. Bei der Ankunft wurde Etzel plötzlich überbeweglich, überlebhaft; er half Kerkhoven aus dem Mantel, ging mit ihm in sein Schlafzimmer, das neben dem Maries lag, äußerte sich ungehalten über die dort herrschende Kälte, rief Frau Jänisch, damit sie im Ofen nachlege, fragte, ob er die Kinder holen solle, auch bei Tisch zeigte er denselben Übereifer, der leicht unangenehm hätte wirken können, wenn nicht seine Liebenswürdigkeit das Krampfhafte ausgeglichen hätte. Gegen Ende der Mahlzeit fiel Kerkhoven ein Glastellerchen aus der Hand und zerbrach auf dem Teppich. Etzel sprang hinzu, kauerte neben Kerkhovens Stuhl nieder und scharrte die Scherben mit bloßen Händen zusammen. »Macht nichts, Meister«, rief er von unten herauf, »die alten Weiber behaupten, es ist ein gutes Omen. Ein reiner Trost, wenn der Meister mal was zerbricht.« Kerkhoven lachte gutmütig. Marie sagte: »Er ist heute verdreht.« – Nach dem Essen waren sie ein paar Minuten allein, Marie und Etzel. Sie fragte hastig, mehr mit den Augen als mit den Lippen: »Was ist mit dir?« – Er nahm ihre Hand, preßte sie wie im Schraubstock in seinen beiden und entgegnete, scheu zur Tür spähend: »Ich hab' ihn angelogen, Marie.« – Marie strich mit der Hand über seine heiße Stirn. Ungeduldig wandte er sich weg, ging um den Tisch herum, die Finger im Nacken verschränkt und stöhnte vor sich hin: »Ich hab' ihn angelogen, ich hab' ihn angelogen...« – »Nicht, Etzel«, beschwor ihn Marie, »bitte nicht, Lieber...« – Er machte eine häßliche Bewegung mit den Schultern, und mit einem zwischen den Zähnen gemurmelten »gute Nacht« verließ er das Zimmer. Marie liegt in der Nacht wach und überlegt. Ihr Herz ist voll Unruhe. Die kleinen Nachtgeräusche dünken ihr wie Hammerschläge und Wagengerumpel. Das Ticken der Armbanduhr ist ein metallenes Dröhnen. Sie glaubt das Fallen des Schnees zu hören. Sie steht auf, schiebt den Vorhang vom Fenster zurück und sieht die Umrisse der Bäume im dunkelverfließenden Weiß. Sie dünkt sich auf den Meeresboden versetzt. Indes sie angestrengt lauscht, vernimmt sie Schritte im Haus. Sie ist fast sicher, daß es Etzels Schritte sind. Er kommt von draußen und geht die Treppen hinauf. Sie steht noch eine Weile regungslos, das Gesicht in den Händen. Am Morgen tritt er ins Zimmer, während Kerkhoven mit Doktor Römer telefoniert. Er nickt ihr zu und setzt sich in die Ecke. Sie braucht ihn nur anzuschauen, um zu wissen, daß er so wenig geschlafen hat wie sie. Sie weiß auch, daß er in der Tat nachts im Garten war, Frau Jänisch hat ihn gesehen. Aus umschatteten Höhlen lodern sie seine Augen grün an. Ihr wird angst und bang. Es ist die eifersüchtige Rache für die vergangene Nacht, denkt sie, und während aus dem Nebenzimmer Kerkhovens Stimme dringt, heftet sie einen beredten Blick auf Etzel und macht eine verneinende Bewegung mit dem Kopf. Er versteht. Wie rasend springt er vom Sessel auf, stampft mit dem Fuß und faucht tonlos: »Das will ich nicht. Das soll nicht sein.« Und stürzt aus dem Zimmer. Wenn die Kalten glühend werden, dann weh denen, die sie lieben.

Abends. Kerkhoven ist um sechs weggefahren. Er hat morgen sehr früh zu tun. Marie macht sich Sorgen um ihn. Er sieht schlecht aus. Er sieht aus wie ein Mann, der einen abseitigen Weg geht und um jeden Preis verhindern will, daß ihm jemand folgt. Wenn ihn Marie fragend anschaut, mit stummer Frage bis in die Nähe der Mitteilung dringt, schüttelt er in einer Weise den Kopf, die bedeutet: Es ist besser, du bleibst verschont. Dazu eine Gebärde, die bedeutet: Ich komm schon zu dir, wenn's Zeit ist. So schleppt er die Last weiter. Es schmerzt sie. Männer sind keine richtigen Menschen, denkt sie, irgend etwas hat die Natur vergessen ihnen zu geben. Beim Abschied ist er besonders lieb mit ihr gewesen. Während der Wagen schon im Fahren war, hat er sich aus dem Fenster gebeugt und ihr zugerufen, er sei froh, daß Etzel bis morgen bleibe, sie solle ihn grüßen. Denn Etzel war nicht da. Er treibt sich Gott weiß wo herum. Erst um neun Uhr kommt er. Marie fragt ihn, ob er gegessen hat. Ja, er hat gegessen. Drüben in Treskow im Wirtshaus Zum Kurfürst. Dann ist er am Ruppiner See entlang nach Hause gegangen. Marie bessert eine Spitze aus. Feine Näharbeit, die viel Aufmerksamkeit erfordert. Etzel sieht ihr mit zerstreuter Neugier zu und beginnt vom Meister zu sprechen. Was er sagt, ist eine Fortsetzung von Maries Gedanken. Aber wenn er von gewissen Dingen mehr weiß als Marie, so hält er doch damit zurück. Es ist die Männersolidarität. In ihrer Interessenverbundenheit betrachten sie die Frauen als feindliche Partei, die nicht verhandlungsfähig ist. Im Grunde sind sie lauter kleine Buben, ob zweiundzwanzigjährig oder in Ämtern und Würden. Langsam steigert sich Etzel in einen Hymnus hinein, der etwas Gereiztes, ja Fanatisches hat, ein Eindruck, den das böse Glitzern seiner Augen verstärkt. Kleine giftige Stacheln kehren sich unmerklich gegen Marie. Sie horcht auf. Um ihren Schrecken zu verbergen, hält sie das zarte Spitzenband gegen das Licht und prüft ihre Arbeit. Und plötzlich rückt er heraus. Schluß mit den Umschweifen. Er hat sich's überlegt, es hat all die Zeit her in ihm gewühlt, er muß es ihr sagen: Sie darf den Meister nicht länger hintergehen. Marie wird so furchtbar bleich, daß ihn die Reue packt. Er möchte das niederträchtige Wort nicht gesagt haben, er stammelt und will sie an sich ziehen, sie stößt seine Hände zurück und flüstert: »Du bist wahnsinnig, Etzel.« Er nickt eifrig, er gibt es zu, er sagt: »Ja, ich bin wahnsinnig. Schick mich fort«, sagt er. »Jag mich auf und davon.« Und bemächtigt sich ihrer Hand und schlägt seine Zähne in den Daumenballen, daß sie vor Schmerz aufschreit. Weh denen, die den Kalten zum Glühen gebracht haben, sie müssen in seinen Armen verbrennen.

Sie soll seine Frau werden, das steckt dahinter. Er hat es lange unterdrückt, seit jenem ersten Mal, wo er davon gesprochen, jenem ersten Tag in Lindow, wir erinnern uns. Jetzt rückt er mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit heraus, herrisch fordernd, bittend und bohrend. Er will sie mürbe machen. Die aufreibenden Debatten dehnen sich über Abende und Abende, Nächte und Nächte aus. Er beugt sich keinem ihrer Argumente, nicht dem Hinweis auf ihre Jahre, der ihn um die Besinnung bringt, nicht dem auf ihre Bindung, der ihn demütigt. Es ist ein bauernhafter Trieb zur Ordnung in ihm, der so tief in seiner Natur wurzelt wie der polare der Rebellion. Er hat fürs erste genug von der Rebellion und will mit dem Aufräumen beginnen. Einer Frau wie Marie muß man etwas anderes bieten können als den Schutt der Vergangenheit. Wenn sie ihn heiratet, kommt man aus der Schiefheit, Verworrenheit und Winkelzügigkeit heraus, und es wird Ordnung. Dazu würde das bloße Zusammenleben, Flucht, Lossage und dergleichen nicht genügen, er verlangt die Verbriefung, die Sicherheit, das »Wirkliche«. Er schert sich den Teufel drum, daß man heutzutage so was nicht mehr macht und nicht mehr braucht, er will es und er braucht es, alles übrige läßt ihn kalt. Sie muß seine Frau werden. Angetraut. Marie Andergast. Einen andern Namen zu tragen hat sie kein Recht mehr. Marie weiß bald nicht mehr, was sie ihm antworten soll. Er ist über die Maßen töricht. Sie versucht, ihn mit Güte und Spott, mit Bitte und Beschwörung zur Einsicht zu bringen, alles scheitert an seinem steinernen Starrsinn. Sie soll ihm so gehören, wie sie dem Meister gehört hat. Sie soll ihm genau dasselbe sein, was sie einmal dem Meister gewesen ist. Das heißt, falls er sich in der Annahme nicht irrt, daß sie dem Meister wirklich gewesen ist, was eine Frau dem Mann sein kann. Er ist sich weder der Anstößigkeit noch der Unheimlichkeit dieser Gleichstellung bewußt. Kaum dies ist ihm bewußt, daß er sich als der Erbe fühlt, der sich beeilen muß, seine Rechte geltend zu machen. Und nicht bloß als der Erbe, auch als der Sieger. Er hat den Meister aus dem Feld geschlagen. Es gibt einen Punkt, wo er, Etzel Andergast, der Stärkere und wo der bewunderte Führer, der »Meister der Transmutation«, wie er ihn bei sich manchmal nennt, ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist. Doch liegt noch ein anderes Geheimnis darin, ein schmerzliches, minder männchenhaftes: Im Augenblick, wo er aufhört, sich auf solche Art mit dem Meister zu identifizieren, hat er ihn auf der Stelle verraten. Das durchschaut Marie, es ist Selbstschutz, sie fühlt es tief, aber es kann sie nicht wankend machen. Da er sie immer hartnäckiger in die Enge treibt, muß sie wahrheitsgemäß sagen, daß sie die Grundlagen ihrer Existenz nicht zerstören kann. – »So. Was für Grundlagen sind denn das?« fragt er erbittert. Und da sie nicht antwortet: »Die Kinder vielleicht? Ein Mann wie der Meister wird dich nicht deiner Kinder berauben.« – Es sind nicht die Kinder, versetzt sie, wenn es ums Entweder-Oder ginge, würde sie auch dieses Opfer auf sich nehmen, doch ums Entweder-Oder geht's nicht. – »Für dich nicht, das ist es eben. Für mich ja.« – »Soll ich mich in ein Abenteuer stürzen?« – »Hast du allerdings nicht nötig«, höhnt er, »da ich dir das Abenteuer ins Haus liefere.« – »O!« ruft sie und steht auf. – Er ist bestürzt. »Nein. Nein. Vergiß es wieder, liebe, liebe Marie.« Sie will nichts mehr hören. Sie flüchtet von ihm weg. »Wohin soll das führen«, spricht sie erregt, die Hände an den Schläfen, »man kann doch nicht die Säule umstürzen, die einen trägt; man kann doch nicht einen gewachsenen Baum ausreißen wie ein Büschel Unkraut.« – Er geht finster auf und ab. »Du tust, als wär's das Ende der Welt«, grollt er, »du bist doch schon einmal von einem Mann weggegangen.« – »Es ist kaum zu ertragen«, murmelt Marie, von Kummer erstickt, »darauf kann ich nicht antworten. Es geht gegen Ehre und Vernunft.« – Obgleich er verstockt bleibt, sieht er ein, auf dem Weg ist kein Weiterkommen. Sie begreift das Wesentliche nicht: daß er ohne sie nicht leben kann und, so wie es jetzt ist, auch mit ihr nicht. Er kann nicht ihr heimlicher Gespons sein. Er will nicht der Liebhaber im Schrank sein. Er will sie mit keinem Menschen auf Erden teilen, nicht einmal mit dem Meister, auch nicht, wenn er neunundneunzig Teile kriegt und der Meister nur einen. Er will sie ganz und ohne Abzug, mit Haut und Haar. Alles. Wenn er nicht alles haben kann, will er gar nichts. Sie muß sich zu ihm bekennen. Tut sie es nicht, so beweist sie damit, daß er ihr nichts gilt. Und was für eine Situation dem Meister gegenüber, er der Besitzende, der Meister der Verzichtenmüssende, es ist würdelos, es macht ihn schamrot, wenn er daran denkt; er kann ihm nicht mehr unter die Augen treten. – »Du siehst, du siehst«, ruft ihm Marie zu, »ich hab' dir's vorausgesagt, ich nehm' ihn dir weg, ich hab's gewußt, du wirst es bereuen.« – Er verschließt ihre Lippen mit der Hand. Das soll sie nie mehr sagen. Bereuen? Ebensogut könnte er bereuen, daß ihn seine Mutter geboren hat. Er kann es ihr nur vorwerfen. Wie er es Marie vorwerfen muß, wenn sie aus seinem Leben einen Trümmerhaufen macht. – »Ach, Etzel«, stöhnt Marie gequält, »ach, Etzel.« – Er kennt keine Schonung. Die Worte werden zu Peitschenhieben. Er sieht nicht, wie sie leidet. Ihr urbaner Geist ist seiner schneidenden Logik nicht gewachsen. Erst als sie vor Erschöpfung zusammenbricht, macht er ein Ende. Zwei Tage später kommt er mit vierundzwanzig ausgesucht herrlichen Rivierarosen und einem neuen Plan. Er will zu Kerkhoven gehen und ihm alles offen darlegen. Es ist ja Brauch und Regel zwischen ihnen, daß sie jede Sache miteinander besprechen, jedes Lebensproblem; so wird er auch dieses mit ihm friedlich bereden und seine Entscheidung aufrufen. Marie erstarrt. Wenn ihr das nicht zusagt, fährt er unbeirrt fort, oder ihr als taktischer Fehler erscheint, so soll sie ihrerseits es tun, sie ist auf alle Fälle befugter als er zu einem solchen Schritt. Kann sie sich auch dazu nicht entschließen, die Hemmung wäre begreiflich, so gibt es eine dritte Möglichkeit, nämlich, daß sie beide vor ihn hintreten, was den Vorteil hätte, daß er sich gewissermaßen vor der vollzogenen Tatsache sähe und man sich nur über das Mittel zur Lösung des Konflikts einigen müßte. – »Ach so, beide«, sagt Marie ironisch, »Arm in Arm vielleicht?« – Er schaut sie düster an, und sie kann sich nicht enthalten zu bemerken: »Deine These ist doch, daß er es weiß. Wenn er es also ohnehin weiß und billigt, wozu die Bemühung?« – »Natürlich weiß er«, belehrt Etzel sie mit einer Art Nachsicht, »daran ist kein Zweifel. Es gibt aber zwei Wissen, ein oberes, das zum Handeln zwingt, und ein unteres, das man in sich verschließt, teils aus Großmut, teils aus Schuldgefühl. Dieser gewaltige Mensch... überleg dir's doch einen Augenblick, Marie. Er ist doch ein Seher. Der Herr der Schicksale. Wir, wir sind nur Statisten in seinen Augen... wohlgelittene Statisten, für die er sorgt und die er liebt, aber Statisten. Wenn das eigentliche Stück anfängt, schickt er uns in die Kulissen. Ist's nicht wahr? Du kennst ihn nicht, Marie. Nicht wie ich ihn kenne. Er würde alles verstehen.« – »Ja, und daran zerbrechen!« schreit Marie auf. – Er starrt sie sprachlos an, mit offenem Mund. – »So gut kennst du ihn, daß du das nicht einmal weißt. Es würde ihn zerbrechen.« Sie kehrt sich ab, legt beide Arme über die Augen und fügt aufschluchzend hinzu: »Und mich auch.« – Da sagt er nichts mehr. Er stiert eine Weile zu Boden, dann geht er ans Klavier, öffnet den Deckel und schlägt auf eine Taste. Es ist das dreigestrichene hohe D. Unablässig, zwanzigmal derselbe blecherne schrille Ton. Es klingt wie das Gekläff eines kleinen Köters. Es füllt das ganze Zimmer. Es füllt das Haus. Es füllt den Weltraum. Es nimmt kein Ende. Um Marie drehn sich die Mauern. Ein Satan, denkt sie vernichtet, ein Satan, der mitunter Rosen bringt. Fast ohne Bewußtsein wankt sie zur Tür und wirft ihm beim Vorübergehen über die Schulter zu: »Die Kinder schlafen.« Als er allein ist, schaut er auf die Uhr. Dreiviertel zwölf. Zehn Minuten später sitzt er auf dem Motorrad. Wie er das nächste Dorf erreicht hat, kehrt er um. Er sucht Marie in allen Zimmern des Erdgeschosses. Schließlich findet er sie im Eßzimmer, wo sie im Finstern, in der Kälte, auf dem Sofa liegt, das Gesicht in Kissen vergraben. Er trägt sie auf seinen Armen hinaus, als war' sie ein Kind. Ineinander verklammert und verkrampft stürzen sie ins Bodenlose. Eros ist kein gemütlicher, kein geheurer Gott. Er ist ein ungeheurer, erbarmungsloser Gott.

So vergeht der Januar, der Februar, das alles ist erst der Anfang. Am zweiten März hielt Kerkhoven den Vortrag über die Jugendneurosen, der schon im September hätte stattfinden sollen und dann verschoben wurde. Marie saß mit Etzel in einer der vordersten Reihen. Sie hatte ihren Mann noch nie öffentlich sprechen hören und hatte lächerliches Lampenfieber. Der Saal war zum Bersten voll, die Wirkung auf die lautlose Zuhörerschaft höchst eigentümlich, nicht, als wohne sie einer wissenschaftlichen Ausführung bei, sondern einer unerwarteten Offenbarung. In der Tat hatten die Erläuterungen und Schlüsse Kerkhovens mit Wissenschaft nicht mehr viel zu tun. Es war ein Zeitbild. Aufriß einer Generationsverfassung. Keine populäre Verdünnung, keine Verschleierung durch fachliche Terminologie. Wohlgeordnetes Material und klare Schlußfolgerung: so stehen die Dinge, so stehen wir, seht selbst, was an diesem kritischen Wendepunkt zu geschehen hat, ob die Verantwortungen, die auf euch, auf uns allen lasten, kategorisch genug sind, um uns zu einer Reform des brüchigen Systems, einer Neuordnung unseres Lebenszustands zu bewegen. Keine bloß nationale, politische, soziale Forderung. Sie betrifft die Gesamtsituation der gegenwärtigen Menschheit. Alles örtliche, indizierte Leiden der Gruppen und Schichten, der Wirtschaft, der Justiz, des Staates ist Folge. Der Ursache gegenüber verhält sich die Gesellschaft, verhalten sich die Völker und Regierungen wie der Hehler, der den Dieb nicht zu kennen vorgibt, während er mit ihm unter einer Decke spielt. Der Einzelkörper kann als erkrankt gelten, wenn ein Organ seine Bestimmung nicht mehr erfüllt. Der Menschheitskörper lebt oder siecht unter denselben Bedingungen. Es gibt ein kollektives Fieber. Es gibt eine kollektive Störung der Sinnesfunktionen. Es gibt eine Pandemie des Irreseins und eine noch weit bedrohlichere des Irrefühlens. Das Individuum gleicht dann einer Zelle, die ihren Erneuerungswillen einbüßt. Und wie das Leben der Zelle gründet sich das des Individuums auf ein Gesetz der gegenseitigen Anleihe, der Teilhaberschaft, der Mitwirksamkeit. Wenn eine ganze Generation oder doch ihr menschheitswichtigster Teil dem Ruf der Krankheit folgt (er hat es einmal den Gehorsam gegen die Krankheit genannt), so nimmt sie quasi ihre Zuflucht zu einem Moratorium, und man muß einräumen, daß sie damit das kleinere Übel wählt, das größere würde zur Selbstzerfleischung führen und hat auch da und dort dazu geführt. Die Generation, die er im Auge hat, ist historisch und soziologisch angesehen, verwaist, das heißt, es fehlt ihr die Stützung und Führung der Vorgeneration, Hunderttausende, Blüte der Völker, weggemäht in einem zu kurzen Zeitraum, als daß die Natur hätte Ersatz schaffen können. Es ist wie ein missing link. Wenn man ein Glied amputiert, muß sich notwendigerweise der Blutkreislauf verändern. Damit der Aufruhr der Säfte sich wieder beruhigt, braucht es Geduld, bedarf es der »Mitwirksamkeit« des Gesamtwesens. Für alle Lebensvorgänge im weitesten Sinn ist der menschliche Körper das Symbol schlechthin. Der Zellenstaat unterliegt denselben Gesetzen wie der soziale. Das Geheimnis des Körpers ist das Schlüsselgeheimnis der Welt; es ist von geistiger, von göttlicher Beschaffenheit, und obwohl wir noch nicht den tausendsten Teil eines Tons von dem ungeheuren Konzert der Natur zu hören gelernt haben, ist uns doch die Ahnung von den großen Zusammenhängen aufgegangen, erstes Zeichen des dämmernden Tages. Dies Begreifen des Zusammenhangs, vom Biologischen ins Seelische übertragen, enthält zugleich das Heilmittel gegen seelische Selbstvergiftung und Selbstverbrennung, ja sogar, von einem höheren Blickpunkt aus betrachtet, ein Mittel gegen den Tod.

Nach Schluß des Vortrags gingen Etzel und Marie in das hinter dem Podium gelegene Zimmer, wo Kerkhoven von einer Unmenge von Leuten umlagert war, die ihn mit Fragen und Anliegen bestürmten oder nur ihrer Begeisterung Ausdruck geben wollten. Sie hatten ihn in eine Ecke gedrängt, wo er mit Doktor Römer, Doktor Marlowski, einigen Professoren der Universität und Neil Marschall sprach. Etzel zog Marie nach der andern Seite, er wollte Neil hier nicht begegnen. Als sie zu dreien nach Hause fuhren, Marie hatte natürlich beschlossen, in der Stadt zu übernachten, erzählte Kerkhoven, Miß Marschall habe ihn stürmisch umarmt, sie sei ganz außer sich gewesen, und er habe ihr versprechen müssen, morgen in die Siedlung zu kommen, sie wolle ihm alles zeigen und wegen verschiedener Einrichtungen seinen Rat erbitten. Er habe es ihr nicht abschlagen können. »Sie kommen doch mit, Etzel«, wandte er sich an diesen, »in dem Fach sind Sie ja Spezialist.« – »Wenn Sie befehlen, Meister, komm' ich mit, sonst... Sie wissen, Nell und ich haben wenig füreinander übrig.« – »Na, schön, so befehl' ich's.« Beim Gutennachtsagen beugte sich Etzel rasch über Kerkhovens Hand und küßte sie. Das hatte er noch nie getan. »Aber Lieber, aber Mensch«, sagte Kerkhoven bestürzt und tätschelte ihm den Kopf. Marie war dabeigestanden. Als sie mit Kerkhoven allein war, ging sie auf ihn zu, legte ihm beide Hände auf die Schultern, sah ihm ernst in die Augen und sagte: »Ich dank' dir für den heutigen Abend. Er nennt dich einen Seher, unser Adoptivsohn, und ich finde, er hat recht.« – »Ach wo«, wehrte Kerkhoven ab, »Kinder, Kinder. Ein armer Teufel bin ich. Gar nicht auszumessen wie arm.« Er sah Marie aufmerksam an. »Sag mal Marie«, begann er stockend, »du kommst mir seit einiger Zeit verändert vor ... ich ... nicht wahr, du nimmst mir eine offene Frage nicht übel ...« – Ihr wurde bang. »Nein, Joseph, warum denn? Was ...« – »Nämlich«, er stockte noch mehr, »ich wollte dich fragen, ob du dich innerlich von mir abgewandt hast. Du verstehst, was ich meine ...« – »Abgewandt? Von dir? Aber Joseph!« – Hätte er tiefer geschaut oder schauen wollen (denn es gibt etwas im Menschen, das sich gegen die Erkenntnis der Wahrheit mit allen Kräften wehrt), so hätte er, gerade er, alles gesehen, alles gewußt. »Es ist etwas in deinem Wesen«, entschuldigte er sich, »ich weiß nicht recht, was es ist. Als wenn ein Schatten zwischen uns stünde.« – Marie schüttelte verwundert den Kopf. »Aber Joseph«, wiederholte sie mit einem kleinen Lachen, das ihr nicht ganz gelang. – Er nahm ihre Hand und betrachtete sie, und das war ihr nicht behaglich, sie entzog sie ihm. Er wollte noch etwas sagen, schien aber die rechten Worte nicht zu finden. »Wäre das überhaupt möglich, Marie?« Er heftete einen gespannten Blick auf sie. – »Wie kommst du denn darauf?« stammelte Marie mit blassen Lippen. – »Ich weiß nicht. In den letzten Tagen hatt' ich manchmal eine Apprehension. Ich will so fragen: Habe ich etwas zu befürchten?« – Eine Sekunde lang schloß sie die Augen und antwortete in festem Ton: »Nein, Joseph.« – »Unvermindertes Vertrauen?« – »Ja, unvermindertes Vertrauen.« – »Ich dank' dir, Marie. Jetzt dank' ich dir.« Er sah nicht, sah nicht ...

Am zweitfolgenden Tag, einem regnerischen Vorfrühlingstag, kam Etzel zu ungewöhnlich früher Stunde, schon um drei, ziemlich verstört nach Lindow. Er sagte, er habe noch nichts gegessen, und bat um eine Kleinigkeit; Marie ging selbst in die Küche und brachte Brot, Schinken, Eier, Tee. Gierig schlang er alles hinunter, dann berichtete er, was geschehen war. Kein Unglück; sie braucht sich nicht zu ängstigen, es hat Bedeutung nur für ihn. Gestern also war er mit dem Meister in der Siedlung. Großer Empfang. Nell mit ihrem ganzen Hofstaat begrüßte den Meister. Sie führte ihn herum und erklärte ihm die ganze Organisation. Sie sagte, als sie von dem Vortrag nach Hause gekommen, habe sie ihre Freunde und Freundinnen zusammengerufen, sie habe geradezu Reveille blasen lassen, mehr denn hundert seien trotz der späten Stunde erschienen, und da ihre, Nells, Erinnerung noch frisch gewesen, habe sie ihnen die Rede Kerkhovens rekapitulieren können. Woran nicht zu zweifeln war, sie hatte schon mannigfache Proben ihres staunenswerten Gedächtnisses abgelegt, war sie doch zum Beispiel imstande, den Inhalt eines Buches, das sie vor Wochen gelesen, mit einer Genauigkeit wiederzugeben, die sich bis auf unscheinbare Einzelheiten erstreckte. Begreiflicherweise habe sie in diesem Fall auf wörtliche Treue verzichten müssen, fügte sie mit der gewinnenden Bescheidenheit hinzu, die, dem Meister gegenüber, durchaus ehrlich war, immerhin habe der schwache Abklatsch noch einen so tiefen Eindruck auf die Zuhörer gemacht, daß sie keinen innigeren Wunsch hätten, als ihn zu sehen; sie seien im großen Saal des Hauptgebäudes versammelt, und wenn er ihnen ein paar freundliche Worte sagen wolle, wären sie überglücklich. Der Meister willigte ein. Es interessierte ihn. Es war eine echt amerikanische Veranstaltung, ein richtiges shake-hand-meeting, und hier nicht fehl am Ort, nicht das schlechteste, was sie von drüben importiert hatte. Der Meister umgeben von hundertzwanzig jungen Menschen, die voll Vertrauen zu ihm aufblickten, während er ungezwungen mit ihnen plauderte, es war eine geistig bewegte Szene, die nur gestört wurde durch Neils hektische Ruhlosigkeit, ihr Gelächter, ihre entzückten Aufschreie, ihre Sucht, lebende Bilder zu stellen, etwa Arm in Arm mit zweien ihrer Schützlinge, besonders gut aussehenden, in die Mitte der Gruppen zu treten und so eine allgemeine Akklamation hervorzurufen. Man konnte es dem Meister vom Gesicht ablesen, daß er sich seine stillen Gedanken darüber machte. (In der Tat war Kerkhoven nicht angenehm berührt von einem Schauspiel, das wie eine einstudierte Parade auf ihn wirkte, darauf berechnet, die Segnungen des Gemeinschaftsgeistes zu veranschaulichen. Die fröhlich aufgeschlossenen Mienen täuschten ihn nicht, sie waren zumeist das Ergebnis einer raffinierten Dressur, die auf listigstem Protektionismus beruhte. Unter einem dünnen Firnis von jugendlicher Sorglosigkeit lag Kritik, Argwohn, Neid auf Bevorzugte und vor allem, Stigma dieser Jugend, Zukunftsangst. Nell wußte es nicht, das heißt, sie nahm es nicht wahr und nicht an; sie war in jenem verhängnisvollen Sinn unschuldig, wie es viele aktive Naturen sind, deren äußere Leistungsfähigkeit die seelische weit übertrifft, so daß das Getriebe leer geht und sich abnützt. Daher der Krampf, die Verstiegenheit, daher die Selbstvergewaltigung, die in Nells Fall freilich noch eine andere Ursache hatte: ein unbefruchtetes Herz. Sie war wohl nur physiologisch ein Weib. Das waren Kerkhovens Gedanken, die er einige Zeit später auch Etzel anvertraute.)

Aber nicht dieses hatte Etzel zu berichten. Es war nur die Umrahmung. Man hatte ihn dort boykottiert, man hatte getan, als kenne man ihn nicht, das war es. Daß Neil ihn einfach übersehen, ihn nicht einmal gegrüßt hatte, darauf war er einigermaßen vorbereitet gewesen. Sie hatte es fabelhaft geschickt gemacht. Obwohl er sich immer dicht beim Meister gehalten hatte und sich dadurch ihrer Beachtung beinahe aufdrängte, hatte sie nicht die geringste Notiz von ihm genommen, als sei er Luft für sie. Dem Meister fiel es nicht auf, er hatte genug zu tun, ihre Fragen zu beantworten und ihre Erzählungen anzuhören. Etzel hätte sich's nicht nahegehn lassen, wenn nur das andere nicht gewesen wäre. Er hatte unter den jungen Leuten eine Menge Freunde und Bekannte von früher her, es waren noch viele da, die schon in der Siedlung gewohnt hatten, als er täglich dort ein- und ausgegangen war. Und die zeigten ihm die kalte Schulter. Sie erwiderten kaum seinen Gruß. Sie reichten ihm nicht die Hand. Wenn er einen anreden wollte, verschwand er alsbald unter den übrigen. Ihre Mienen und Blicke gaben ihm zu verstehen, daß sie nichts mit ihm zu tun haben wollten. Als ihm die Geschichte zu bunt wurde, hielt er nach Max Mewer Umschau. Er machte ihn ausfindig und stellte ihn. Mewer wand sich und wollte nicht mit der Sprache heraus. Etzel sagte: »Entweder bekennst du Farbe, oder ich erkläre dich öffentlich für einen Schuft.« Mewer erwiderte hämisch: »Tu das nicht, Andergast, es könnte deiner Stellung schaden.« Doch dann erinnerte er sich seiner Verpflichtung gegen Etzel, die alte Anhänglichkeit brach durch, er nahm ihn vertraulich unter den Arm, zog ihn beiseite und sagte, es sei natürlich alles Mumpitz, was die sich in den Kopf gesetzt hätten, er seinerseits betrachte es keineswegs als Verrat, wenn man eines Tages Schluß mache mit dem ... na, wie solle er's nennen, mit dem Altruismus. »Du bist mir sicher nicht böse, Andergast, wenn ich dir das sage, aber für uns alle warst du mal so was wie ein geistiger Verwaltungsrat, du verstehst, wir hatten immer das Gefühl, bei dem sind unsere Sachen gut aufgehoben, wenn auf keinen sonst Verlaß ist und alles schiefgeht, der Andergast hält durch, der bleibt uns. So ein richtiger Pfadfinder warst du für uns, in der wahrhaftigen Bedeutung des Wortes. Na, und da bist du dann ???untergeschlossen. Hast dich in Sicherheit gebracht. So fassen die es wenigstens auf. War eine große Enttäuschung. Sie können's nicht verwinden.«

»Und was hast du ihm geantwortet?« fragte Marie, als er schwieg. – »Geantwortet? Nichts. Darauf gibt's keine Antwort. Aber ich will dir gestehen, was ich am Abend getan hab'. Ich hab' mir ein Taxi genommen und bin dreieinhalb Stunden herumgefahren, um die Dedekens-Zwillinge zu suchen. Ich hab' dir ja von ihnen erzählt.« – »Und warum das?« – »Ja ... es ist ein bißchen komisch ... Um sie zu fragen, ob es stimmt mit dem Verrat. Die hab' ich ja wirklich verraten. Zum mindesten mußten sie's glauben. Und weil sie die reinsten Menschenkinder sind, die mir je begegnet sind, so hätte ihr Urteil den Ausschlag gegeben. Nur die Reinsten dürfen richten. Ich dachte es mir wie ein Gottesurteil. Aber ich hab' sie nicht gefunden, das ist es eben. Niemand konnte mich auf ihre Spur bringen. Vielleicht sind sie gar nicht mehr am Leben. Der Orkus wird sie verschlungen haben.« – »Sehr schön, Etzel: nur die Reinsten dürfen richten. Aber in dieser Sache braucht es kein Gericht.« – Etzel nickte. »Ja, das hat mir auf einmal auch so geschienen, während ich wie verrückt ganz Berlin NO nach ihnen abgesucht habe.« Marie schob den Zeigefinger unter sein Kinn, so daß er den Blick zu ihr erheben mußte. Seine Augen wurden hell. Sie sah ihn an wie eine Fremde, mit vorsätzlicher Fremdheit, und was sie sehen wollte, sah sie, ja es dünkte ihr für gewiß, daß er in wenigen Monaten um ebenso viele Jahre reifer und gesammelter geworden war, ein Eindruck, zu dem außer dem männlichen Ernst in seinen Zügen auch das Gefühl des Intervalls beitrug, des Atemholens zwischen dem letzten tödlichen Ringen und dem nächsten. »Du hast sie nicht verraten«, sagte Marie, und ihre Arme legten sich um seinen Hals, »du bist weggegangen von ihnen. Die Menschen, die du hinter dir läßt, werden dich stets Verräter heißen, das ist ein Gesetz.« – Etzels Gesicht verfinsterte sich wieder. »Klingt soweit ganz plausibel«, erwiderte er, »aber du sagst es wahrscheinlich nur, um mich einzuschläfern.« Damit war das Losungswort für einen Krieg bis aufs Messer gefallen.

Zunächst muß er ihr beipflichten, wenn sie ihm vorstellt, daß die Ziele, die ihm noch vor kurzem, vor einem Jahr noch, gemäß waren, heute seiner Mühe nicht mehr wert sind. Daß der Zusammenschluß in Bünden und Gruppen, unter welchen Gesichtspunkten immer er erfolgt, die Gefahr der Zersetzung enthält. Ist es nicht immer von neuem die Flucht in eine Sekte von Freizüglern, die schließlich dazu verurteilt ist, Partei zu werden, weil sie nur Teil von einem Teil ist? Den Weg zum Ganzen zu finden, darauf kommt es an. Zumal für ihn, der alle übrigen Wege schon gegangen ist, das Erlebnis der Kameradschaft kennt, der Hingabe an die Ringenden und Unterdrückten; der in Gemeinschaft um Gemeinschaft geschlüpft ist, um sich auszulöschen und tragen zu lassen von einem unpersönlichen Willen; der früher als die meisten seiner Altersgenossen erfahren hat, wie die Welt antwortet, wenn man sie mit unzureichenden Mitteln in ihrem Fafnerschlummer stört. Er muß sich lösen davon und seiner selbst innewerden. Er muß an seine Einmaligkeit glauben lernen, an seine Wesenheit, seine Unterschiedenheit, darf sich nicht fürchten vor denen, die es nicht »verwinden« können, daß er über sie hinausgewachsen ist. Die sind Gefangene ihrer Zeit. Der Tag beherrscht sie, der Tag räumt mit ihnen auf. Sie klagt (ihre alte Klage): es ist soviel Geschwätz in der Welt, der Himmel ist verhängt von verantwortungslosem Geschwätz, alles ist verseucht davon, man möchte gar nicht mehr leben. Ihr ist immer noch höchstes Glück der Erdenkinder die Persönlichkeit, für diese Überzeugung läßt sie sich verbrennen. Ja, aber denen aus der alten Welt ist Persönlichkeit die Ausrede, der geliebte Hemmschuh, wendet er ein. Die gehören von Haus aus dem Teufel, versichert sie eifrig. Wie will er denn dem Allgemeinen dienen, wenn er nicht den Mut zu sich selbst hat? Der Wahn tobt sich aus, es kommt wieder mal eine andere Zeit, auf einmal ist einer da, auf den die Herzen und die Geister gewartet haben, ganz in der Stille ist er angetreten, ein einziger Mensch, und das Wunder geschieht, das Wunder des Kristalls, der Mensch kommt. Immer ist es der Mensch, der einzelne, einzige Mensch, der ein Ganzes schafft. Etzel hört verwundert zu. Hoffnungslose Individualistin, denkt er, aber es macht Eindruck auf ihn, er hat noch keine Frau so sprechen hören, auch der Meister hat dergleichen nie zu ihm gesagt. Es ist freilich das erstemal, daß Marie sich in solcher Weise hinreißen läßt, die einsamen Jahre haben sie scheu gemacht, sie hat stets das Gefühl, die Scham zu verletzen, wenn sie einen Menschen überreden soll; ihre geistige Schamhaftigkeit ist noch größer als die körperliche. Doch der Strom der Empfindung verdrängt die Scham, sie wünscht, Etzel soll werden, was sie in ihm sieht, was sie in ihm ahnt, es wäre der herrlichste Lohn, den sie sich denken kann. Selten erreicht ein Mensch seine höchste Möglichkeit, in der Regel bleibt er im Anlauf stecken und hält seinem Genius nicht, was er ihm versprochen hat. Das sagt sie ihm in einer Anwandlung von Kühnheit. Er weiß es. Er hat Angst genug. Vor dem Sturm ihrer Beschwörung zieht er sich mißtrauisch zurück. Er zweifelt an ihrer Aufrichtigkeit, wenn sie seine Abkehr von den früheren Freunden gutheißt. Er darf es, Marie darf es nicht. Sie darf es deshalb nicht, weil ihre Rechtfertigungen seines Tuns zu sehr danach klingen, als wollte sie ihn ausschließlich für sich haben. Pro-domo-Politik. Auf der einen Seite das Liebesnest, auf der andern die unbequem fordernde Welt. Das Nest ist tabu. Häßlicher Gedanke. Niedriger Verdacht. Doch kann er sich ihm nicht entziehen. Es ist wahr, er liebt sie bis zur Verrücktheit. Das Gefühl hat nicht die allergeringste Ähnlichkeit mit irgendeinem, das er je in sich verspürt hat, es ist wahr. Er liebt dermaßen, daß es nicht mehr gut ist, darüber nachzudenken. Aber ihr ist es nicht erlaubt, ihm aus dieser unheimlichen Tatsache ein Lebensgesetz zu zimmern und mit ihrer Weibergeschicklichkeit den Spieß umzudrehen. Die Verteidigung muß sie ihm überlassen. Ob seine eigene Verteidigung ausreicht, die anklägerischen Stimmen zum Schweigen zu bringen, wird sich erweisen. Gut, es ist ihm geschehen. Was er nie in Betracht gezogen, ist ihm widerfahren: die sogenannte Liebe hat ihn ergriffen, ist vielmehr über ihn hergefallen wie eine blutgierige Bestie, die einem die Zähne in die Gurgel schlägt. Man muß sich wehren. Vielleicht ist das Ganze nur eine Selbstverführung, eine Selbstvergiftung. Vielleicht ist das Bild, zu dem man verzückt emporschaut, bloß eine Fiktion. Vor allem hat man sich zu vergewissern, ob es der Kritik standhält. Ob es die Eigenschaften auch wirklich besitzt, die man ihm angedichtet hat. Sonst ist man der Gefoppte. Sonst ist man eben »eingeschläfert«, und das Erwachen wird grausig sein. Er hat sich dargebracht, ohne Abzug, ohne Klauseln. Hat sie das gleiche getan? Nein. Sie hat ihre Bedingnisse und ihre Vorbehalte gehabt und hat sie noch. Er ist in den feurigen Ofen gekrochen, ja, das ist er, das ist er, und sie nicht. An diesem Punkt setzt, echt Etzelisch, sein Argwohn an. Da sie nicht in den feurigen Ofen kriecht und ihn allein drin schmoren läßt, kann ihre Liebe nicht von der nämlichen Beschaffenheit sein wie seine. Also ist zu befürchten, daß sie die Frau nicht ist, die er anbetet, deren Blick und Atem, Gang und Stimme seinen Herzschlag verändert hat. Es ist zu befürchten, daß sie eine Fiktion ist. Der Zweifel muß beseitigt, das allenfallsige Mißverhältnis zwischen der eingebildeten und der wirklichen Marie muß aufgedeckt werden.

Er hat ein doppeltes Gehör, wenn sie mit ihm spricht. Er vernimmt, was sie sagt, und er versucht zu ergründen, was sie denkt. Es kann nicht ausbleiben, daß er vielen ihrer Äußerungen einen doppelten Sinn unterschiebt. Da sie ihrem Temperament häufig die Zügel schießen läßt, ist es nicht schwer, sie auf Widersprüchen zu ertappen. »Neulich hast du mir gesagt, seit wir uns nahestehen, macht dir das Klavierspiel keine Freude mehr, heut hast du aber doch gespielt. Wie kommt das?« »Wenn dir der Verwalter so unsympathisch ist, wie du immer behauptest, warum bist du dann so besonders liebenswürdig mit ihm? Da stimmt doch etwas nicht.« – »Muß es absolut stimmen, Etzel?« fragt sie verwundert. Sie ist nicht die Person, die ihre Worte auf die Waagschale legt. Sie kann nicht mit Menschen verkehren, als stehe sie vor Gericht und solle auf ihre Aussage vereidigt werden. Man gibt sich nach, gibt der Sympathie nach, die Menschen haben viele Gesichter, die Worte vielen Sinn, das Heute ist ein anderes als das Gestern, was ficht ihn an, daß er beständig hinter ihr her ist und aufpaßt? Er findet, sie hat in Gelddingen eine zu leichte Hand; obschon er anerkennt, daß sie sparsam und rationell wirtschaftet, mißfällt es ihm, daß sie beträchtliche Summen für die Befriedigung von Luxuslaunen verausgabt, den Kauf eines schönen alten Schreibtischs zum Beispiel. Das nimmt er ihr direkt übel, es hat kein Verhältnis, es stört seine Idee von ihr, das Notwendige darf schön sein, die Schönheit des Überflüssigen ist Herausforderung. Damit bringt er Marie in Harnisch; darf, darf! Es fällt ihr nicht im Traum ein, ihr Leben nach dem Kodex des Dürfens und Bedürfens einzurichten, keine Armut wird sie jemals schrecken, aber setzt man sie aus Prinzip aufs Unentbehrliche, dann lieber gleich aufs Schafott oder nach Sibirien. »Damit widerlegst du mich nicht, Marie«, entgegnet er, »niemand weiß, was er sein wird, wenn er nur mit dem Notwendigsten in die Welt tritt. Es sind deine Arabesken, die mich an dir irremachen.« Eines jener Worte, die wie ein kleiner, aber geschickt geschleuderter Stein wirken. Sie lassen eine wunde Stelle zurück. Marie betrachtet die wunde Stelle. Sie weiß, die wunde Stelle wird heilen, und sie heilt auch, dann kommen neue kleine Steine und neue wunde Stellen. Zuletzt ist sie ganz bedeckt von wunden Stellen, die nicht mehr so rasch heilen wie die ersten. Die Frage der Rückkehr der Mutter muß erörtert werden. Die Professorin hätte schon im Januar kommen sollen, Marie hat sie gebeten, bis zum April zu warten, nun ist sie in größter Verlegenheit. Etzel tobt, wenn sie nur von der Möglichkeit spricht, daß die Mutter wieder im Haus sein wird. Nicht so sehr, weil er ihre Gegenwart fürchtet, die allerdings das freie Zusammensein mit Marie bedeutend erschweren wird, das auch; was ihn empört, ist ihre Schwäche, ihre Inkonsequenz, die ewige Berufung auf die Rücksicht, die sie zu nehmen hat. »Ich kann meiner Mutter nicht mein Haus verschließen«, sagt sie, »sie ist eine alte Dame, sie steht allein, in der Stadt fühlt sie sich nicht mehr wohl, die Freunde, bei denen sie wohnt, haben ihr Vermögen verloren, was für Gründe soll ich ihr für eine Maßregel angeben, die sie schwer verletzen muß?« – »Die wahren Gründe. Was denn für welche?« – »Ich bin noch nicht lang genug in deiner Schule, Etzel, um zu glauben, daß man wahr ist, wenn man roh ist. Verzeih, aber zu dieser Wahrheit zwingst du mich.« – »Das heißt mit dürren Worten, lieber beugst du dich unter das Joch, lieber spielst du die zärtliche Tochter und vergehst dabei vor Ungeduld und Abneigung. Lieber setzt du dir die Gouvernante vor deine Schlafzimmertür. Lieber als die aufrichtige Geste und der saubere Trennungsstrich. Wenn ich das begreife ...« – »Ich will mich nicht ins Unrecht setzen. Sag mir, was ich tun soll.« – »Zu einer Zeit, wo du kaum von mir wußtest, hast du das Richtige ohne mich getan. Es schien nicht, als ob du in meiner Schule mutiger und unabhängiger geworden wärst.« – »Es war nie der Plan, daß sie Lindow für immer meiden soll.« – »Wenn du nicht willst, daß ich es für immer meiden soll, bleibt dir keine Wahl.« – Marie, von jeher in ihrem Lebenskreis die Herrin, nicht gewohnt, sich kommandieren zu lassen und nach Vorschrift zu handeln, lehnt sich auf. Daß ein Mensch sie so bündig »vor die Wahl stellt«, ist ihr neu. Sie ist nicht gesonnen, sich ohne weiteres zu fügen. Böse Worte gehen hin und her. Aber sie spürt die Kraft seines Willens wie ein niederziehendes Gewicht. Es ist ihr klar, wenn sie in dieser einen Sache nachgibt, ist das Machtverhältnis zwischen ihnen ein für allemal zu seinen Gunsten entschieden. Trotzdem erliegt sie. Der stete, zähe Druck lähmt ihre Gegenkräfte. Sie setzen sich zusammen und entwerfen einen Brief an die Professorin Martersteig. Sie einigen sich auf die Formel, daß sich Marie noch monatelang schonen muß; die Anwesenheit der Mutter würde ihr wohl dankenswerte äußere Erleichterungen gewähren, ihr aber dennoch Verpflichtungen auferlegen, denen sie sich jetzt nicht gewachsen fühlt. Als sie ihm den Brief in der endgültigen Fassung zeigt, tadelt er die Weichmütigkeit gewisser Wendungen und besteht auf größere Bestimmtheit. Sie fügt sich abermals. Sie macht sich zwar über seinen Eigensinn lustig, zieht sein tyrannisches Gehaben ins Scherzhafte, aber sie fügt sich. Sie reicht ihm den geschlossenen Brief, bevor er in die Stadt fährt; er soll ihn mitnehmen. Ihre Miene hat etwas Schuldbewußtes. Es ist, als frage sie sich: Was wird aus mir? Er preßt sie mit einer Gewalt an sich, daß ihr die Sinne schwinden. Es kann mancherlei zu bedeuten haben, dieses Ansichreißen. Dank. Triumph. Gelöbnis, der zweiflerischen Sucht Einhalt zu tun. Oder gleichfalls das Gefühl von wachsender Verschuldung.

Die nagendsten Zweifel richten sich gegen Maries Beziehung zu ihrem Mann. Je mehr Einblick er gewinnt, je dunkler wird ihm die Sache. Er erinnert sich an das Wort: »Er ist mir anvertraut.« Und an das andere: »Er ist die Säule, die mich trägt.« Da klafft ein Abgrund zwischen Wort und Tat. Entweder sie belügt sich oder sie belügt den Mann oder sie belügt den Liebhaber. Sie hilft sich aus der Klemme, indem sie den Gatten zu einem über den Wolken schwebenden Zeus-Vater macht (wozu Etzel das Seine beigetragen hat, das hat er nur vergessen), übersieht aber, daß sie damit dem Geliebten die klägliche Rolle eines kleinen Nebengottes zuerteilt. In Wirklichkeit können die Dinge auch anders liegen, aber wer kennt sich da aus. Manchmal glaubt er an gar nichts mehr. Alles scheint möglich bei dieser Frau. Sie hat das Janusgesicht. Sie laviert. Sie deckt sich hier und deckt sich dort. Er muß herausbringen, in welchem Ausmaß sie gegen den Meister aufrichtig ist. Ob sie sich bei der Vertuschung der Wahrheit aktiv oder passiv verhält. Ihn, Etzel, läßt sie selbstverständlich glauben, daß das letztere der Fall ist. Mag es immerhin so sein, sie erreicht damit, was sie erreichen will. Sie verstellt dem Meister keinen Weg zur Erkenntnis, führt ihn niemals irre und ist darauf gefaßt, daß er endlich bemerkt, was vor seinen sehendunsehenden Augen geschieht. Vielleicht erwartet sie es sogar. Der Freibrief, den sie sich auf diese Art für ihr Handeln verschafft, ist ein diplomatisches Kunststück ersten Ranges. Unangreifbar. Und eben dadurch so verdächtig. Man lebt in einer mit Spannungen geladenen Atmosphäre. Schwül, verdammt schwül. Weder er noch der Meister noch Marie stehen in sonderlich günstiger Beleuchtung. Marie und ich, wir haben es nicht anders gewollt; urteilt man gerecht, so haben wir nicht anders gekonnt; aber der Meister: das schmerzt; ihn der Gloriole beraubt zu sehen, der Situation nicht gewachsen, das ist schlimm, das möchte man lieber nicht erleben. Auch Marie leidet. Sie erträgt Schwülnis nicht; jede Art von Schwülnis, auch die der Sinne, hat etwas Beleidigendes für sie. Ihre Haltung ist bei alledem bewundernswert. »Was, meinst du, Marie, denkt der Meister über uns? Du läßt ihn doch nicht über die Grenze, wie? Im Notfall gelingt dir's doch immer, ihn zum Umkehren zu bewegen? Was wirst du tun, wenn es mal mißlingt?« Bei diesen Fragen sieht Marie aus wie eine schlafende Parze. Er will wissen, worüber sie mit dem Meister gesprochen hat. Präzis will er es wissen, bohrt und bohrt. Merkt sich jede Nuance. Wenn er dann mit Kerkhoven zusammen ist, bringt er das Gespräch unverfänglich auf Marie; schlau und hartnäckig, wie er ist, gelingt es ihm zuweilen, daß dieser in der Fülle seines Vertrauens und um Etzel für eine Teilnahme zu belohnen, die ihm wohltut, eine Diskussion wiedergibt, die er mit Marie geführt hat, sagen wir über die Erziehung der Kinder, über irgendeinen Menschen, ein Ereignis. Dann vergleicht Etzel die Darstellung Kerkhovens mit der Maries, und bei der kleinsten Abweichung argwöhnt er eine Absicht Maries, zieht die verwegensten Schlüsse daraus und stellt sie inquisitorisch zur Rede. Durchaus nicht kalt und nüchtern; angstvoll, oft mit bebendem Mund, bis er wenigstens halbwegs sicher ist, daß sie keine Hintergedanken gehabt, sich keiner Zweideutigkeit schuldig gemacht, auch nicht liebedienerisch oder feig dem Meister etwas verschwiegen hat, was sie unter den gegebenen Umständen nicht verschweigen durfte. Wenn Kerkhoven anruft und Marie am Apparat mit ihm spricht, geht er im Nebenzimmer auf und ab. Er will nicht hören, was sie sagt, er will nicht indiskret sein, aber im Nebenzimmer bleibt er doch. Er braucht nicht zu hören, was sie sagt, die Stimme genügt ihm. Sie gibt sich zu viel Mühe, der Ton ist zu süß, die Freundlichkeit ist nicht echt, warum die überflüssige Floskel, warum so dringlich, warum lacht sie, Schauspielerei, nein, sie soll meinen Namen nicht nennen, er weiß ohnehin, daß ich da bin, muß sie ihn eigens daran erinnern, wozu das schmeichlerische Getue... Er hält sich die Ohren zu. Marie hat abgeläutet und kommt zurück. Sie findet ihn bleich, seine Augen starren sie feindselig an. Bestürzt eilt sie auf ihn zu und nimmt sein Gesicht zwischen ihre Hände. »Noch ein Bestechungsversuch«, höhnte er, »nicht einmal so viel Zeit läßt du dir, daß man den ersten vergessen kann.« – »Etzel!« – Ach ja doch, Etzel und wieder Etzel, was soll ihm das, gib mir lieber ein Mittel, daß ich alles miteinander vergessen kann. – Sie überwindet ihr Herzweh, sie ist so zärtlich wie eine Schwester, was sie ihm von den Augen absehen kann, spricht sie und tut sie, warum so verstört, Etzel, warum so wild. Und küßt seine Handgelenke, seine Augenlider, seine Stirn, sein Haar, bis er schmilzt. O schwer schmelzbare Seele. Eines Abends im April fahren sie zu einer Vorstellung ins Deutsche Theater. Als sie sich zur Rückkehr nach Lindow anschicken, ist es nah an Mitternacht. Etzel chauffiert den Opelwagen, Marie sitzt neben ihm. Beim Großen Stern, wo man auf das Zeichen zur Weiterfahrt warten muß, raunt er ihr zu: »Der Meister.« Drei Armlängen weit hält Kerkhovens Auto. Das Innere des Wagens ist beleuchtet. Kerkhoven hat Notizbuch und Bleistift in der Hand. Er schreibt aber nicht, liest auch nicht. Sein Blick ist abwesend. Sein Gesicht hat einen tiefversunkenen Ausdruck. Es ist von einer Traurigkeit, die sie beide noch nicht darauf wahrgenommen haben, weder Marie noch Etzel. Dann entschwindet er ihnen. Und keins von ihnen spricht. Dieses Aneinandervorüberfahren in der Nacht will ihnen nicht aus dem Sinn. Draußen auf der Chaussee bricht Etzel das Schweigen mit einem harten Auflachen. »Warum lachst du, Etzel?« Keine Antwort. Er gibt dem Motor Gas, das winzige Zeug schießt in die Finsternis hinein. Während der ganzen Fahrt kommt nur eine einzige Frage über Etzels Lippen: »Ist das Geld gekommen?« Marie verneint. Es verhält sich damit folgendermaßen. Marie hat eine dringende Zahlung, sechshundert und etliche Mark, für die Ausbesserung des Dachstuhls zu leisten. Der Zimmermeister war schon zweimal da, er braucht zum Wochenende das Geld. Marie hat so viel nicht vorrätig gehabt und hat Joseph gebeten, es ihr zu schicken. Es ist nicht gekommen. Sie hat ihn gemahnt, sehr ungern, es ist ihr unleidlich, ihn um Geld angehen zu müssen, es ist wieder nicht gekommen, trotzdem er es versprochen hat. Morgen wird der Zimmermeister zum dritten Male erscheinen. Und so geschieht es. Etzel wartet noch die Frühpost ab; kein Geldbriefträger. Marie spricht nicht darüber, er tut auch nicht dergleichen. Mittags, als er in der Großen Querallee mit dem Meister bei Tisch sitzt, fällt Kerkhoven die fleckige Röte seiner Stirn auf. Mit der gewohnten Freundlichkeit erkundigt er sich, ob ihm etwas fehle. Etzel schaut ihn an, eine Sekunde lang schwebt ihm das unbeschreiblich traurige Gesicht des Mannes im Auto vor, mit einer entschlossenen Kopfbewegung entzieht er sich dem Bild, reckt ein wenig den Hals und sagt: »Frau Marie ist in einer sehr unangenehmen Lage, Meister. Und noch unangenehmer ist es, daß ich Sie daran erinnern muß.« Kerkhoven weiß zuerst nicht, was er meint. Plötzlich versteht er. Er entsinnt sich. Er schlägt sich mit der flachen Hand auf den Scheitel. Er wird rot, der Mann. Er wird verlegen wie ein Schüler, der Mann. Jetzt kommt ihm auch der Ton zu Bewußtsein, in dem Etzel zu ihm gesprochen hat. Nicht in der Mitteilung war die Unehrerbietigkeit gelegen, sondern in dem Ton gereizter Belehrung und ungezogener Ungeduld. Kerkhoven blickt ihn hocherstaunt an. Zugleich ist in dem Blick eine rührende Schüchternheit, vor der Etzel innerlich erschrickt. »Die Sache wird sofort geordnet«, sagt Kerkhoven. Er läßt den Diener von unten kommen, übergibt ihm das Geld und beauftragt ihn, es telegraphisch nach Lindow zu überweisen. Dann nickt er Etzel zu, weder freundlich noch unfreundlich, und verläßt das Zimmer. Etzel sitzt am Tisch und zerkrümelt ein Stück Brot. Er kann den schüchternen Blick nicht vergessen. Der Mann hat ihn geschlagen mit diesem Blick. Der Mann hat Waffen, gegen die unsereins nicht aufkommen kann. Ich bin in der Falle. Ich komm' aus der Falle nicht mehr heraus. Es gibt keine Rettung mehr. Der Kopf in der Schlinge, Arme und Beine in der Schlinge.

Um neun Uhr abends fährt er in einem Tempo nach Lindow, als wünsche er insgeheim, aus dem Sattel zu fliegen und sich den Kopf an einem Baum zu zerschmettern. Der schüchterne Blick hinter ihm her wie ein unsichtbarer Vogel. Marie hat ihn schon erwartet. Sie beeilt sich, ihm zu sagen, daß sie das Geld unterdessen erhalten hat, sie möchte nicht, daß er sich ihretwegen in eine Verstimmung gegen den Meister hineinredet. »Ich weiß«, sagte er kurz. Sie sitzt am offenen Fenster, es ist eine milde Nacht, die Erde riecht feucht, einige Bäume stehen schon in Blüte. Er habe sich die Freiheit genommen, den Meister aufzurütteln, fängt Etzel an, und seine Augen blitzen gehässig. Es sei ziemlich unsanft ausgefallen, doch habe er sich nicht anders helfen können, er habe rot gesehen beim Gedanken an ein solches Maß von Gleichgültigkeit gegen Marie und Maries Alltagsexistenz. Ein Übergriff, gewiß; respektwidrig und anmaßend. Trotzdem könne er den Schritt nicht bedauern. Wenn man in den Schacht nicht hinunterschreie, höre der Mann ja nicht. – Marie verfärbt sich. »Ich erlaube dir nicht, so von ihm zu sprechen«, sagte sie. – Er braust auf. »Ich habe mich gehütet, deine Erlaubnis einzuholen. Ich mußte dir doch die Möglichkeit geben, deine Hände in Unschuld zu waschen. Ein Ehepaar ist eine kompakte Majorität, das hält zusammen wie die Kletten.« – Marie faltet die Hände unterm Kinn. »Um Gottes willen, Etzel, du wirst schlecht.« – Große Neuigkeit, versetzt er, ist ihm längst bekannt, daß er schlecht wird, sie braucht nicht so entsetzt zu sein, aber in dem einen gegenwärtigen Fall (er fuchtelt mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor ihrer Brust herum), wo sie auf einmal von ihm abgeschwenkt ist, um mit ihrem Mann gemeinsame Front gegen ihn zu machen, läßt er sich nicht von ihr um sein Gefühl betrügen. Ihn um alles andere zu betrügen, ist sie sowieso auf dem besten Weg. – Marie erhebt sich, schließt das Fenster und setzt sich ans Klavier; ihr Kopf sinkt nieder, die Stirn liegt auf der schwarzen Platte. Etzel geht hinter ihr auf und ab. Jammer genug, daß das geliebte Bild des Meisters seinen Glanz für ihn eingebüßt hat, fährt er verbissen fort, mit der Stimme eines bösen alten Mannes, eine Erfahrung, auf die er nicht vorbereitet war und die aus ihm einen Gläubiger macht statt einen Schuldner wie bisher. Er hat Anspruch auf das ungetrübte Bild. Er hat Anspruch auf des Mannes Größe und Unvergleichlichkeit. Wenn er, Etzel, an Stelle des Meisters wäre, er würde die Augen offenhalten, verflucht noch mal, wie er die Augen offenhalten würde, er würde nicht in die Lage kommen, daß sich eines Tages ein Quidam ins Haus schleicht und ihm sein Glück vor der Nase wegstiehlt. Er würde schon parat stehen, er, Etzel Andergast, kein Quidam sollte Schindluder mit ihm treiben. – Marie steht plötzlich aufrecht wie ein Pfeil. Mit blutleeren Lippen sagt sie: »Erst in diesem Augenblick hast du ihn verraten, Etzel.« – Er schweigt, Hände auf dem Rücken, Kinn auf der Brust. Das Toben hat aufgehört, das verzweifelte Gegensichselbertoben ist verstummt. – »Gehn wir auseinander«, fleht Marie; »komm nicht mehr zu mir, ich bitte dich. Laß mich. Versuch es. Wir wollen uns ein paar Monate lang nicht sehen. Im Juli kommt ohnehin Aleid, da ändert sich manches. Laß uns auseinandergehen.« – »Wenn ich nur könnte«, murmelt er und schaut nach links und nach rechts wie ein gefangenes Wild, »wenn ich das nur könnte!« – Marie bricht in ein Schluchzen aus, als wolle ihr das Herz zerspringen. Er nähert sich ihr bestürzt. Mit flachen Händen streicht er an ihren Armen und Hüften entlang, unzählige Male. »Hör auf zu weinen«, bittet er, »liebe, liebe, liebe Marie.« Und sie: »Was sollen wir tun?« – Der ungeheure Schatten steht neben ihnen, der Mann mit dem schüchternen Blick, sie wissen nicht, was sie tun sollen. Er geht im Haus herum, der ungeheure Schatten, nicht wissend und allwissend, abwesend und gegenwärtig, er begleitet sie auf Schritt und Tritt, es gibt keine Hilfe gegen ihn außer ihn selbst. Die Raserei der Umarmungen bewirkt nur, daß man ihn vergißt, solange sie dauern. Aber das Unwetter dieser Leidenschaft, wieder- und wiederkehrend wie die Gewitter in den Tropen, bedroht sie ständig mit Vernichtung, alle beide. Wenn sie aus dem feurigen Abgrund auftauchen, sind sie selber Schatten geworden. Vor den verhängten Fenstern dämmert der Tag. Marie schläft. Der Kopf ruht auf den gekreuzten Armen. Der halboffene Mund gibt ihren Zügen einen kindlichen Ausdruck, trotzdem sie von einem geheimnisvollen Schmerz durchtränkt sind. Auch ihr Körper hat etwas Kindliches. Etzel steht am Bett. Er ist schon an der Türe gewesen, jetzt steht er da und betrachtet mit gierig-suchenden Blicken das Gesicht der Schlafenden. Von Minute zu Minute wird es heller, er vermag jedes Fältchen zu sehen, den Flaum auf der Haut, das konvulsivische Zucken der Lider, das sich zeigt, wenn ein Schlafender sich beobachtet fühlt. Da gewahrt er unter den Wimpern einen nassen Schimmer wie von Tränen. In einer unerwarteten Erschütterung beugt er sich nieder, und ganz behutsam, mit den Spitzen der Lippen, küßt er das Nasse weg. Dann schleicht er aus dem Zimmer.

Die Schlinge zieht sich fester zusammen. Wären sie beide um eine Spur gewöhnlicher, um einen Grad banaler und durchschnittlicher, was hätte ihnen das alles anhaben sollen, was hätten sie zu fürchten, was sollte ihrer Liebe Abbruch tun? Sie könnten, mit einigen kleinen Schrecknissen, die bloß ein Anreiz mehr wären, ihr Glück genießen, und das Ende wäre schlimmstenfalls eine kleine Dutzendtragödie. Allein dies spielt sich unter Wesen ab, die begriffen haben, daß es nur eine einzige wirkliche Verschuldung gibt, nämlich die des Menschen gegen sich selbst. Sie ist nur tilgbar durch das Finden einer neuen Seelenform, und das ist ein Prozeß, der den Charakter einer tödlichen Krankheit hat. Nur wenige überstehen sie.

Die verzweifelten Versuche Etzels, sich aus der Doppelkette zu lösen, gipfelten in dem frivolen Spiel, das er mit Aleids Pensionatsfreundin trieb und das dann auch zur Katastrophe führte. Man könnte sagen, das Schicksal hatte bereits alle Vorbereitungen getroffen und harrte nur des letzten Signals. Aber vorher ereignete sich noch etwas, das Etzel den verhängnisvollen Weg erst wies, den er dann mit verwildertem Herzen ging, ohne zu bedenken, fast ohne zu wissen, was er tat; es war ein an sich ziemlich bedeutungsloses und folgenloses Erlebnis, äußerlich wenigstens. Innerlich bedeutete es sehr viel und hatte sehr entschiedene Folgen.

Mitte Mai lernte er in der Ordination Kerkhovens eine etwa vierzigjährige Frau kennen, Constanze Dufour, hieß sie, eine Schauspielerin mit politischer Vergangenheit; sie hatte zwei Jahre Festungshaft verbüßt. Sie wollte Kerkhoven wegen eines Nervenleidens konsultieren, einer Schreckneurose, doch hatte dieser seine Privatpraxis schon erheblich eingeschränkt und nahm sich des Falles wenig an. Frau Dufour hatte einige Male Gelegenheit, mit Etzel zu sprechen und verliebte sich Hals über Kopf in ihn. Sie war eine kleine, zarte Person, Typus Jessie Tinius, aber ungleich geistiger, noch immer hübsch, recht elegant und von ziemlich aggressiven Umgangsformen. Zuerst hatte er sich für sie interessiert, jedoch als sie sich ihm unverblümt eröffnete, wurde sie ihm lästig, und er zeigte es ihr. Das ernüchterte sie keineswegs, sie schrieb ihm überspannte Briefe, lauerte ihm zu allen Tageszeiten auf, machte ihm Szenen, drohte ihn zu erschießen, sich zu erschießen, und als sie eines Abends in der Kerkhovenschen Wohnung erschien und ihn zu sprechen begehrte, mußte er sie mit unmißverständlicher Deutlichkeit zur Tür zurückgeleiten. Nun begnügte sie sich damit, ihn mit ihren halbverrückten Episteln zu bombardieren. Er berichtete Marie davon, anfangs lachend, ganz obenhin, wie man über einen halb amüsanten, halb unbequemen Zwischenfall spricht, als sie ihn aber jedesmal neugierig fragte und er zu seiner Verwunderung merkte, daß ihre Wißbegier über ein rein psychologisches Interesse hinausging, schilderte er die Begegnungen und Gespräche mit der Frau ausführlich, beschrieb ihr Gehaben, ahmte ihre Redeweise nach und zitierte drastische Stellen aus ihren Briefen. Marie konnte gar nicht genug hören. Es machte den Eindruck, als unterhalte sie das Ganze, etwa wie ein spannender Roman in Fortsetzungen, aber da sich alles, was in ihr vorging, fast mediumistisch auf ihn übertrug, spürte er ihre geheime Angst nur zu gut, obwohl sie sie mit heroischer Anstrengung unter einer heiteren und sorglosen Miene zu verbergen verstand. Und so erwachte die dämonische Lust in ihm, die Angst zu steigern und sie mit wesentlicherem Stoff zu nähren als mit den Abenteuerlichkeiten der ältlichen Dame Dufour. Dabei bezog sich ein Teil von Maries innerer Unruhe, wie ihm nicht entging, gerade auf das Alter der verliebten Verfolgerin. Voll Bestürzung sagte sie sich: Er stellt mir ein warnendes Exempel der Lächerlichkeit auf, wahrscheinlich ist es ihm gar nicht bewußt, die Grausamkeit ist darum nicht geringer, das Memento für mich nicht weniger ernst. Und sie fing an, um ihn zu zittern.

Soweit war es jetzt. Sie hatte kapituliert. Sie hatte sich an ihn verloren. Die Sinne hatten ihren Machtspruch gesprochen, und der schien unwiderruflich. Der Zauber der sinnlichen Fixierung hatte ihre Seelenlage von Grund aus verändert. Der Aufruhr des Bluts, der Sturm bis in die Träume hinein, die Erschütterung der Lebenswurzeln: es war erstmalig. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. Bei einer Frau wie Marie wehrt sich der Körper gegen eine solche Revolte bis aufs äußerste. Solange es irgend geht, widersetzt er sich dem Einbruch des Chaos und flieht gewissermaßen zu den Grazien, um bei ihnen Schutz zu finden. Später, als sich Kerkhoven bemühte, aus den Trümmern ihrer und seiner Existenz zu retten, was noch zu retten war, als er in vielen Nächten und vielen Tagen pflegend, sorgend, forschend und langsam aufbauend Ursache und Tragweite des Geschehenen zu erkennen und ihr selbst verständlich zu machen suchte, sagte er einmal in einem Augenblick hoher Eingebung: »Du bist im Element getroffen worden, dort, wo die allerdunkelsten Kräfte wohnen, wo die Urnacht der Kreatur beginnt. Das ist selten, die meisten Menschen werden davor bewahrt. Wir müssen die lichten Kräfte versammeln, damit der Riß sich wieder schließt, denn mit ihm weiterzuleben ist unmöglich.« Da blickte sie aus ihrer schauerlichen Zerbrochenheit mit erster Hoffnung zu ihm empor und entdeckte etwas, was sie immer bloß geahnt hatte und was ihr ganzes Verhältnis zu ihm veränderte und erneute: Irlen sprach aus seinem Mund zu ihr; Irlen wohnte in seiner Seele ...

Aleid kam in den letzten Julitagen. Sie hatte Marie schon aus Dresden geschrieben, sie möchte ihre Freundin Lotte Vanloo mitbringen, deren Eltern eine Nordlandreise machen und sie unterdes zu einer verheirateten Schwester geben wollten, zu der sie aber nur ungern ginge. Ob die Mutter etwas dagegen habe. Marie hatte nichts dagegen und lud das junge Mädchen in aller Form ein. Wenige Tage nach Aleid erschien sie dann, ein höchst anmutiges Geschöpf, das Mißlaune, Niedergeschlagenheit, ja nur Versonnenheit nicht zu kennen schien, ununterbrochen lachte und schwatzte, das ganze Haus mit Leben füllte und den kleinen Johann dermaßen behexte, daß er sogar seinem Abgott Etzel untreu wurde. Aleid, die viel schwerblütiger war, auch nicht sonderlich hübsch (zu Maries Kummer war aus dem zierlichen Kind ein recht derbes Mädchen geworden, sommersprossig, mit stets unordentlichen kupferroten Haaren), blieb neben dem sprühenden Wesen, einem wahren Inbild der Siebzehnjährigkeit, im Schatten. Marie bewunderte die selbstlose Hingabe ihrer Tochter an die überlegene Gefährtin. Sie sagte scherzend: »Ich bin nicht sicher, ob ich mich mit so einem Star zusammengetan hätte, als ich jung war. Man will doch seine Chancen behalten.« – »Ach was«, erwiderte Aleid in ihrer schnurrigen Art, »allein bin ich gar nichts, mit ihr werd' ich wenigstens dazuaddiert. Daran gewöhnt man sich.« – »Ist sie immer so strahlend?« – »Ja, immer. Nur im Bett heult sie manchmal. Aber das darf man nicht merken.« – »Warum, glaubst du, heult sie?« – »Weiß nicht. Als ich sie mal erwischte, sagte sie, es sei, um den Göttern zu opfern. Närrisch, nicht?« – Am Samstag sollte Kerkhoven kommen, er sagte aber ab, schon das dritte Mal. Aleid, die ihn verehrte, war enttäuscht. Sie hatte Lotte gegenüber mit dem Stiefvater gewaltig renommiert, und als Etzel die Absage überbrachte, ließ sie ihn zornig an, als ob er schuld sei. »Schade«, jammerte sie, »Lotte hat heut Geburtstag, ich hatte ihn ihr zum Geburtstag versprochen.« Lotte wurde rot wie eine Mohnblüte. Sie warf die Lippen auf und schmollte: »Herr von Andergast wird denken, ich sammle Berühmtheiten. Ich mach' mir aber nur aus hochstehenden Menschen etwas, und deswegen hatt' ich mich gefreut.« – »Das gefällt mir, Fräulein«, sagte Etzel, »ich ließe mir den Professor Kerkhoven auch nicht zum Geburtstag schenken. Wüßte gar nicht, wo ich ihn unterbringen sollte.« – Lotte starrte ihn verblüfft an und wurde wieder dunkelrot. – »Ist sie nicht reizend?« fragte Marie, als sie mit Etzel allein war. – »Nett«, gab er zurück, »aber nicht viel dran.« – Doch schien es ihm Spaß zu machen, sich mit ihr zu unterhalten. Er fand den Ton, so wie er ihn mit allen Menschen fand. Seine Art der Kameradschaftlichkeit mußte auf jeden jungen Menschen Eindruck machen. Es war etwas ungemein Selbstverständliches darin; eine wohltuende Trockenheit und Leichtigkeit. Der Reichtum seiner Erfahrungen im Verkehr mit Jüngeren bewahrte ihn vor jedem Mißgriff. Indem er sich zwanglos auf gleich und gleich mit ihnen stellte und niemals seine Überlegenheit hervorkehrte, trat die Überlegenheit um so stärker ins Licht und wurde bereitwillig anerkannt. Zudem war er nicht mehr der Etzel, der seine Hände in hundert Affären hatte, überall geschäftig Verbindungen herstellte und sich gewissermaßen ins Innere der Menschen drängte. Das war vorbei. Es war etwas Strenges in seinem Gesicht und etwas Verschlossenes in seiner Haltung. Er wirkte wie ein Mann von siebenundzwanzig. Er war nicht mehr redselig. Er konnte stundenlang schweigen, wenn er mit Leuten beisammen war, und dieses Schweigen machte ihn viel gegenwärtiger und seine Gegenwart viel anziehender als seine frühere Wort- und Zungenfertigkeit. Es konnte nicht ausbleiben, daß sowohl Aleid Bergmann als auch Lotte Vanloo ein Interesse für ihn faßten, das von einer noch sehr kindlichen Neugier genährt wurde. Die Freundschaft, die ihn mit der von beiden schwärmerisch geliebten Marie verband, steigerte die Neugier und verlieh ihm einen Nimbus. Sie suchten bei jeder Gelegenheit seine Nähe, und es fiel ihm nicht ein, den Unnahbaren zu spielen. Er gewöhnte sich an ihre Gesellschaft. Es war neutrales Gebiet. Entgiftete Luft. Auf gemeinsamen Wanderungen und Segelbootfahrten, bei Tennis- und Kricketpartien entstand Vertraulichkeit. Während der ersten Woche war Marie von der Teilnahme ausgeschlossen, eine heftige Erkältung mit darauffolgender Halsentzündung zwang sie, im Bett zu bleiben. Sie schien sich zu freuen, daß die drei jungen Menschen so viel unterwegs und im Freien waren, und lächelte glücklich, als ihr Aleid und Lotte versicherten, es seien die schönsten Ferien, die sie je gehabt. Oft saßen sie bei ihr am Bett, die Mädchen auf der einen Seite, Etzel auf der andern, erzählten ihre Erlebnisse und besprachen Pläne. Wenn ihr dann der Lebhaftigkeit zuviel wurde, schickte sie alle drei hinaus. Als sie wiederhergestellt war, ließ sie sich bereden, bei einer Bootfahrt im Mondschein mitzuhalten und erkältete sich von neuem. Doch setzte sie der Krankheit den heftigsten Widerstand entgegen, um nicht abermals durch Bettlägerigkeit isoliert zu sein. Nur das Haus zu verlassen getraute sie sich nicht, obwohl das Wetter anhaltend schön war. Der Sommer hatte eine gefährliche Art von Schönheit, so fand sie wenigstens, sie war immer ein wenig erschöpft und litt an Bangigkeit. Auch dieser Stimmung wollte sie nicht nachgeben. Es wäre ein offenes Eingeständnis gewesen. Die Dissonanz zwischen ihr und der Jugend, die sich um sie bewegte, dünkte sie ohnehin von schmerzlicher Grellheit. Eine qualvolle Unruhe nahm von ihr Besitz. An den Tagen, wo Etzel nicht da war, verging sie vor Sehnsucht nach ihm; wenn er da war, kam ein anderes Gefühl über sie, Angst, drückende Angst, und noch eines, das zu benennen sie nicht den Mut hatte. Alles an ihr war stumme Frage, wenn er ihr gegenüberstand. Die stumme Antwort, die er für sie hatte, die sein Gesicht für sie war, hätte die Angst von ihr nehmen müssen, es war die Antwort des Mitverurteilten, der an die Möglichkeit von Flucht und Befreiung kaum zu denken wagt, doch dies verminderte die prophetische Angst mitnichten. Und was er von Kerkhoven berichtete, vermehrte ihre Beklommenheit. Er sehe den Meister oft tagelang nicht, gestand er. Auch wisse dann niemand von seinen Leuten, wo er sei. Die Patienten in der Ordination müßten manchmal viele Stunden warten; wenn er endlich erscheine, ließe er sagen, er könne niemand vornehmen. Doktor Römer habe ihn verlassen, es müsse ein Zerwürfnis stattgefunden haben, auch andere Mitarbeiter hätten ihn verlassen. Etzel hatte noch mehr auf dem Herzen, aber er wollte es nicht sagen, er fürchtete, Marie aufzuregen. Er deutete nur immer wieder die erschreckende Rastlosigkeit des Meisters an und daß er wie ein Mensch wirke, der im Begriff sei, unerwartete Dinge zu tun, die sich aber seit langem in ihm vorbereiteten. »Einmal ist er mitten in der Nacht zu mir ins Zimmer gekommen«, erzählte er, »ich saß noch bei einer Arbeit, er sagte nichts, ging auf und ab, wie vergraben in sich selber, und nachdem er eine Viertelstunde auf und ab gegangen war – ich natürlich konnte nur abwarten, ihn anzureden war nicht möglich –, ging er wieder fort. Ich hatte das Gefühl: ihm nach. Aber so was fühlt man ja nur, man tut es nicht.« – »Niemand kann ihm helfen«, sagte Marie vor sich hin, »er lebt in seiner Welt allein und kann keinen brauchen.« – »Das mag schon sein«, erwiderte Etzel finster und sah sie geduckt an, von unten herauf, »wenn du an dich dabei denkst, dich hat er längst vergessen.« – »Ja, mich hat er vergessen.« – »Und mich hat er –«, er machte eine Bewegung wie wenn man einen Hahn zudreht, »stopp. Verstehst du? Er hat eben den genialen Instinkt. Stopp, sagt der Instinkt, während man meint, es ist alles noch wie vorher. Du, Marie«, rief er mit verstörtem Gesicht, packte sie und riß sie herum, als hätte sie nicht mehr Gewicht als eine Feder, »manchmal glaub' ich fast, ich hab' dich ihm nur weggenommen, um herauszubringen, ob er ein Herz hat wie andere Menschen und was für Belastungen es aushält.« – »Wirklich? Glaubst du das? Glaubst du das?« fragte sie in glasigem Ton. – »Ja. Und ob er wie ein Mensch aus Fleisch und Blut handeln wird, wenn ihm einmal die Augen aufgehn.« – Darauf Marie, erloschen: »Das ist ganz gut möglich bei dir. Ihr könnt eben alle das Morden nicht lassen.« – Sie standen im Finstern. Aus dem Garten schallten die lustigen Stimmen der Mädchen herein. Sie standen eng beieinander. »Wenn du mich nur wirklich umbringen würdest«, murmelte Marie. – Er hatte den rechten Arm um ihre Hüfte gelegt, mit der linken Hand umklammerte er ihr Kinn. »Und dann?« raunte er ihr in unsinniger Wut und Liebe ins Ohr, »was soll aus mir werden ohne dich?« – »Sei still, Etzel, sprich nicht davon ...« Ihre Hände waren in seine Haare verwühlt, und sie verlor das Bewußtsein. Spät am Abend kam Aleid in ihr Schlafzimmer, setzte sich an ihr Bett, umarmte sie zärtlich und eröffnete ihr mit heiterer Verzweiflung, Lotte sei »leider Gottes« bis über die Ohren in Etzel Andergast verliebt. »Ach«, sagte Marie bedauernd, »das ist ja ganz schlimm. Was werden wir da machen?« – »Du mokierst dich, Mutter, aber bei ihr ist das ernst. Sie ist eine entschlossene junge Dame.« – »Er wird sehr erstaunt sein.« – »Das möcht' ich nicht so sicher behaupten, Mutter. Du meinst doch nicht, daß er's nicht darauf angelegt hat? Ich hab' ja zugesehn. Es mußte so kommen.« – »Ist denn schon etwas vorgefallen?« – »Na... wie man's nimmt.« – »Wieso ... wie man's nimmt?« – »Na, so. Kannst dir ja denken...« – »Nun, ich will drüber nachdenken, Aleid«, schnitt Marie das Gespräch hastig ab, »es wird sich schon eine vernünftige Lösung finden. Außerdem: braucht ihr in diesen Dingen uns ältere Leute überhaupt noch? Ihr habt ja eure eigne Welt.« – Sie lächelte Aleid zu, als diese das Zimmer verließ. Dann schaute sie zur Decke hinauf, und das Lächeln blieb auf ihren Lippen, als wolle sie sich's vortäuschen oder als hätte der Mund vergessen, es abzutun.

Allmählich bekommt alles ein anderes Gesicht für Marie. Die Landschaft hat eine andere Farbe, die Bäume haben eine andere Gestalt, alles ist wesenloser, viel weiter weg, die Geräusche und Stimmen der Außenwelt dringen durch eine Mauer aus Watte. Das vergessene Lächeln schwebt auf ihren Lippen, wenn sie durchs Haus geht, das Haus kommt ihr unbekannt vor, es ist ein fremdes Haus, in allen Räumen fröstelt sie, obgleich richtige Hundstagshitze herrscht, die Luft siedet, die Nächte sind schwül. Sie kümmert sich nicht um ihre Blumen, nicht um das Spalierobst, der Gärtner sieht ihr kopfschüttelnd nach. Der kleine Johann macht vergebliche Versuche, sie in seine Interessenwelt zu ziehen, er sagt kummervoll zu seiner Aja: Mutter ist wie eine gläserne Frau. Es strengt sie an, mit den Kindern zu sein, sie muß ihre ganze Kraft zusammennehmen, um ihren Fragen standzuhalten. Das Sonderbare ist, daß es sie immerfort dorthin zieht, wo Lotte Vanloo ist. Wenn sie die Mädchen allein weiß, geht sie zum Tennisplatz, aber nicht so nah, daß sie gesehen werden kann, und beobachtet Lotte beim Spiel. Wenn sie im Bad sind, erscheint sie bisweilen am Ufer des kleinen Weihers und sieht zu, wie Lotte schwimmt. Auf Aleid wirft sie kaum einen Blick. Hört sie ihre Stimmen im Garten, so tritt sie ans Fenster, und indem sie sich den Anschein gibt, als sei sie in Gedanken, verfolgt sie jeden Schritt und jede Bewegung Lottes. Bei Tisch, während sie sich mit beiden unterhält, hat sie nur Augen für die eine. Es ist quälend, es ist erniedrigend, aber sie kann nicht anders. Unaufhörlich spricht eine Stimme in ihr: So geht man, so hält man sich, so lacht man, eine solche Pfirsichhaut hat man, einen solchen Tauglanz in den Augen, solchen Jubel in der Stimme, wenn man siebzehn Jahre alt ist. Oft hat sie Mühe, der Versuchung zu widerstehen, das Mädchen anzurühren, die Haare, den Nacken, die Hände, die Brust, es ist, als müsse sie sich überzeugen, ob das alles kein Trug, ob es wirklich so zu fürchten ist, wie sie es fürchtet. Bei jeder liebenswürdigen Äußerung des Kindes zuckt sie zusammen, das Bild von Unbefangenheit, Lebensmut, Gesundheit und Kraft, das ihr unablässig vor Augen steht, zwingt sie unablässig zum Vergleich mit sich selbst, und sie kommt zu dem Schluß, daß sie vor dieser Fülle, diesem blühenden Lebenswunder nicht bestehen, daß es keine Eigenschaft des Geistes und des Herzens gibt, mit der man erfolgreich dagegen ankämpfen kann. Ihr Gemüt verfinstert sich. Ihr Inneres ist eine einzige Wunde. Die Gedanken sind manisch auf den einen Punkt gerichtet. Früher hat sie zuweilen geträumt, sie müsse auf einem dünnen Seil über einen Abgrund laufen und könne sich nur dadurch vor dem Sturz bewahren, daß sie keinen Blick in die Tiefe wirft. So lebt sie jetzt. Sie hat nicht das geringste Talent zum Spionieren; einem Menschen heimlich nachzugehen, verwehrt ihr der Stolz, sie hat sich nie in eine Lage denken können, in der sie einer so demütigenden Handlung fähig wäre. Doch nun gewinnt sie es über sich, Aleid auszuhorchen. Sie stellt sich sachlich interessiert. Als müsse man doch wissen, wie sich die Dinge entwickeln. Als habe man das Kind zu schützen. Als sei es vielleicht doch nicht so harmlos, wie man anfangs gedacht hat. Aleid zuckt die Achseln. Sie lächelt vielsagend. Es scheint, man hat sie ins Vertrauen gezogen, und sie fühlt sich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Sonach geht etwas vor. Endlich weiß Marie, was eine Verschwörung ist. Endlich weiß sie, wie es ist, wenn man verraten wird. Es gibt keine Empfindung, deren Wesen und Wirken man nur im entferntesten zu ahnen vermag, bevor man sie erlebt. Was man nicht erlebt, hat keine Wirklichkeit. Es erleben heißt aber davon zermalmt werden. So will es ihr scheinen. Sie beschließt, die beiden Mädchen müssen aus dem Haus. Sie kann ihre Gegenwart keine Woche mehr ertragen. Trotzdem sich der »Beschluß« erst im Stadium des Wunsches befindet, wenn auch eines brennenden, eines Wunsches, von dem sie besessen ist, und sich seiner Erfüllung vorläufig praktische Schwierigkeiten entgegenstellen, zögert sie nicht, Etzel davon zu unterrichten. Sie ist so erregt dabei, daß sie die Hände auf ihr Herz preßt, um sprechen zu können. Sie hat ihn erst rufen müssen. Er ist aus der Stadt gekommen, hat Aleid und Lotte am Tor getroffen und sich gleich mit ihnen zum Bad verabredet. Ohne sich um Marie zu kümmern, ohne ihr guten Tag zu sagen, wollte er sofort mit ihnen gehen. Sie hat es vom Fenster aus gehört, das heißt, sie hat sie nur miteinander sprechen gesehen und hat alles erraten. Da hat sie ihn gerufen. Und sagt ihm, was sie beschlossen hat. Er scheint unangenehm berührt, zuckt aber gleichgültig die Achseln. »Wenn du es für richtig hältst...«, erwidert er frostig, »es ist natürlich deine Sache.« – Sie zwingt sich, kühl zu bleiben. »Wär's bloß meine Sache«, gibt sie mit einer Gelassenheit zurück, die, in diesem Moment, einer großen Schauspielerin würdig ist, »so hätte ich nicht nötig, dich aufmerksam zu machen.« – »Ich kann nicht einsehen, was ich dabei soll.« – »Du fängst an, in der Verstellung etwas zu leisten.« – »Du mußt achtgeben, Marie«, sagt er im Ton eines wohlmeinenden Beraters, man »kann leicht einen Menschen in eine Dummheit hineintreiben, wenn man ihm mit Gewalt die Gelegenheit nimmt, sie zu begehen.« – »Du warnst mich?« – »Ja, ich warne dich.« – Aleid steckt den Kopf in die Türspalte. »Kommen Sie nicht, Etzel?« – »Ich komme.« Und zu Marie gewandt, mit meisterlich gespielter Harmlosigkeit, die sie tiefer trifft als der feindselige Trotz vorher: »Ich bitte also bis zum Abendessen um Urlaub, Frau Marie.« – Sie sieht ihn mit den Mädchen durch den Garten gehn. Er hat beide untergefaßt, Aleid rechts, Lotte links. Er neigt sich zu Lotte und flüstert ihr etwas ins Ohr. Das Mädchen lacht ihn kokett an. Marie hat das Gefühl, als rinne ihr das Gehirn aus dem Kopf. Es ist ihr furchtbar schwindlig, sie hält sich am Tisch fest. Weit draußen in der Landschaft schmettert sinnlos eine Trompete. Nicht zusammenbrechen, sagt sie sich vor, nicht zusammenbrechen. Was ist denn geschehen? Eine Liebelei ist zu Ende. Nicht zusammenbrechen. Aber sie muß zu Bett, die Zähne klappern im Mund. Während sie regungslos, mit weitoffenen Augen daliegt und der Gesang der Vögel durch die Mauer aus Watte dringt, erhebt sich sein Gesicht vor ihr, und zwar im Profil, scharf geschnitten wie auf einer Bronzeplakette. Die Härte der Linien, die finstere Drohung im Augenbogen, die erbarmungslose Entschlossenheit in der Schrägfalte zwischen Nase und Lippenwinkel geben ihr die Vorstellung eines Peinigers, dem sie verfallen ist. Es ist eine Phantasie des Grauens. Sie hat keine Herrschaft mehr über ihr Denken. Ihr sonst so klarer Geist verdunkelt sich. Sie weint. Aber sie weiß kaum von den Tränen, die langsam unter den Lidern hervorträufeln wie die Flüssigkeit aus einem zersprungenen Gefäß. Zum Abendessen kommt sie nicht, sie läßt sagen, sie habe Kopfschmerzen, es möge sie niemand besuchen. Von elf Uhr an beginnt sie zu warten. Auf dem Tischchen neben ihr hängt die kleine Uhr in einer Glasvitrine, und nicht eine Sekunde lang wendet sich ihr Blick vom Zifferblatt ab. Anderthalb Stunden starrt sie behext auf das Zifferblatt. Jede Minute ist eine Hölle der Erwartung. Plötzlich springt sie auf, zieht sich in fieberhafter Eile an, wirft ein Tuch um die Schultern, verläßt das Zimmer, verläßt das Haus. Da huscht eine Gestalt an ihr vorbei: raschatmend; aufgelöst; mit wirren Haaren; in erschrockener Scham vergehend: Lotte. Die Nacht ist wie laues, dunkelblaues Wasser. Der Sternenhimmel schwillt atmend auf und ab. Mit mondsüchtiger Unbeirrbarkeit geht sie in einer bestimmten Richtung, als sei sie gerufen worden und müsse sich beeilen, zurechtzukommen. Auf einmal bleibt sie stehen. Jemand pfeift leise vor sich hin. Jemand steht leise pfeifend unter einem Baum. »Etzel!« ruft sie. Das Pfeifen hört auf. Etzel kommt langsam auf sie zu. Er ist im Sporthemd, der Kragen offen, der braune Hals, das braune Gesicht treten deutlich aus dem Dämmerlicht. Eine Weile schaut er sie an, dann spürt sie an ihrem Arm den stählernen Druck seiner Finger. Schweigend gehen sie zusammen weiter. Sie beginnt zu sprechen. Überstürzt, mit der glasigen Stimme, die ohne Herz ist. Sie überliefert sich ihm. Bedingungslos. Auf Gnade und Ungnade. Bruch mit allem Bisherigen, Flucht, Heirat, alles, was er gefordert hat. Sie unterwirft sich. Fristlos. Er braucht nur ja zu sagen, sie ist bereit. Maßlos ist der Sinn ihrer Worte, maßlos sind die Worte selbst. Es ist nicht mehr die nämliche Marie. Es ist ein Mensch, der aus sich herausgestürzt ist. Als Etzel dies erkennt, packt ihn das Entsetzen. Es scheint, daß ich alle Menschen, die ich an mich binde, maßlos mache, durchzuckt es ihn. – »Was ist? Ich seh' dein Gesicht nicht!« schreit Marie auf, klammert sich an seine Schultern und rüttelt ihn mit unheimlicher Kraft. Das Entsetzen macht ihn stumm. Da will sie also doch in den feurigen Ofen hinein, denkt er, sie, die einzige von allen ... Und siehe da, er empfindet keinerlei Triumph darüber, nicht die Spur von Siegergefühl oder Genugtuung ist in ihm, nur ein abgründiges Besinnen. Das Licht einer Blendlaterne blitzt auf und erleuchtet die Tiefen. Der ungeheure Schatten steht da und spricht: Eine Menschenseele so weit treiben heißt sich in die Verdammnis stürzen, Etzel Andergast. Da senkt er den Kopf. Es ist ihm schauerlich zumut. Er möchte Marie nehmen und in das Innere seiner Hände hineinschließen wie in eine Muschel (so wie er einmal geträumt hat, daß der Meister ihn in die Hände geschlossen), aber das ist nun zu spät. Den Anteil an dieser Menschenseele hat er verwirkt. Er muß jetzt allein sein. Er kehrt sich ab und geht, die Hände vor dem Gesicht, allein weiter. Marie sieht ihn in der Finsternis verschwinden. Sie schaut sich um, auch sie gewahrt den Ungeheuern Schatten, und sie fürchtet sich vor ihm. Ihr einziger Gedanke ist: sterben. Sie hat das Gefühl, sie braucht sich nur hinzulegen, dann stirbt sie schon von selber. Wie sie ins Haus und in ihr Zimmer gelangt, weiß sie nicht. Als sie im Bett liegt und der Körper mit wollüstiger Einwilligung ins Bodenlose hinuntersinkt, fragt sie sich lächelnd, wer wohl früher kommen wird, Joseph oder der Tod.

Schon seit Monaten beobachtete Kerkhoven die Abwärtsbewegung seiner Existenz. Ihn dünkte, das innere Mißlingen und im Zusammenhang damit das äußere habe an einem ganz bestimmten Tag begonnen, den er freilich nicht bezeichnen konnte. Diese Empfindung wurzelte in dem Sinn für periodische Abläufe, der so stark in ihm ausgeprägt war. Er konnte förmlich zuschauen, wie ihm die Dämonen, nach Goethes Wort, ein Bein ums andere stellten, und war auf das Schlimmste vorbereitet. Er glaubte ein beständiges Nachlassen seiner seelischen Kräfte wahrzunehmen. Die neuen Heilversuche, mit denen er sich seit einem Jahr beschäftigte, gerieten ins Stocken. Sie konnten ja nur gelingen, wenn er selbst seelisch intakt war. Und er war es nicht mehr. Ein Gefühl von Verbrauchtheit hatte sich eingestellt, und nachdem er dies konstatiert hatte, war ihm klar, was geschehen mußte. Wenn am oberen Flußlauf die Dämme brechen, muß man sich unten vorsehen, Eile tut not. Der Abbau der Privatpraxis war nur ein erster Schritt. Die unmittelbare Folge war eine Schmälerung seines Einkommens, die ihm alsbald ernste Schwierigkeiten bereitete. Eine der geringsten war es, als er nicht imstande war, Marie die kleine Geldsumme zu schicken, um die sie gebeten hatte. Er mußte eine Anzahl bewährter Leute entlassen, und da die Ordinationsräume für das künftige Arbeitsprogramm zu weitläufig waren, beschloß er, einen Teil des Traktes zu vergeben. Das führte zu Reibereien mit Doktor Römer, die mit einem Bruch endeten. Der langjährige Mitarbeiter wurde sein erbitterter Gegner. Es zeigte sich, daß er in der Stille gegen seinen Chef und Lehrer Material gesammelt hatte, das er ausgiebig zu verwerten wußte. Dies ermutigte andere, die längst auf der Lauer gelegen waren, und alsbald hagelten von allen Seiten Angriffe, Verdächtigungen, Verleumdungen und Schmähschriften auf ihn herab. Sie beeinträchtigten den Zulauf der Heilungsuchenden nicht, im Gegenteil, er kam auf die Art erst recht in den Geruch eines Wunderdoktors, und vor den Türen stauten sich die Massen wie vor einem Auswanderungsbüro, so daß ein paarmal die Polizei einschreiten mußte. Ihnen unter dem Hohngeschrei der Kollegen den »Wunderdoktor« wirklich zu machen hatte er kein Verlangen; mit Ausnahme weniger mußten die Wartenden enttäuscht wieder abziehen. Er hatte gehofft, die Zeit und die Kraft, die er durch den Verzicht auf die private Praxis gewann, der Anstalt zuwenden und damit den pekuniären Entgang wettmachen zu können, jedoch das Kesseltreiben, das seine Person in die Öffentlichkeit zerrte und sie unwürdigen Verfolgungen preisgab, wirkte auf seine Lieblingsschöpfung zurück, dort sah er sich von verkappten Feinden umgeben, die medizinische Behörde mischte sich in den Betrieb, die Post brachte anonyme Briefe schmutzigsten Inhalts, unter diesen Umständen litt nicht nur der Ruf der Anstalt, sondern auch ihre ökonomische Basis wurde erschüttert, da sie mit den staatlichen Zuschüssen allein nicht zu halten war. Kurzum, alles hatte sich zu seinem Sturz verschworen, sichtbare und unsichtbare Mächte.

An einem dieser Tage ließ ihn der alte Heberle rufen. Er war todkrank. Geschwür im Kehlkopf. Er konnte nicht sprechen. Er deutete resigniert auf seinen Hals und warf einen liebevoll-anklagenden Blick auf seine Schwester. Die berichtete Kerkhoven, die Operation sei beschlossen. Am folgenden Tag solle sie stattfinden, Heberle habe gewünscht, ihn vorher noch zu sehen, da er überzeugt sei, nachher sei es zu spät. »Törichterweise«, fügte das alte Fräulein hinzu, das ein felsenfestes Vertrauen zu der Kunst des Geheimrats Rahl hatte. Kerkhoven hütete sich, seine Meinung zu äußern, er blieb eine Weile an Heberies Bett sitzen, von traurigen Erinnerungen bewegt. Der alte Mann schien ein dringliches Anliegen an ihn zu haben, wollte es aber offenbar nicht zu Papier bringen, da er sich nur schreibend mitteilen konnte. Aber Kerkhoven las es in seinen Augen, und als er sich verabschiedete (mit der Gewißheit, es sei für immer), wußte Heberle, daß ihn der Freund verstanden hatte, und drückte ihm mit beredter Dankbarkeit die Hand. Eine Stunde darauf war Kerkhoven in Rahls Privatwohnung. Prunkvolle, palastähnliche Räume; an allen Wänden Fotografien mit überschwenglichen Widmungen, goldgerahmte Porträts, Marmorbüsten, Medaillen, lauter Geschenke geheilter Fürsten, Könige, Militärs, Bühnengrößen, Bischöfe, Kardinäle und Staatsmänner aller Nationen. Kerkhoven hatte nur seinen Namen zu nennen gebraucht, um sogleich vorgelassen zu werden. Rahl schien außer sich vor Freude, den »berühmten Kollegen« bei sich zu sehen. Es war ein zwergenhaft kleiner Mann mit abnorm großen Händen und einer Löwenstimme. Nach dem Austausch üblicher Redensarten kommt man zur Sache. Auch Rahl ist ein Mann, hinter dem die Zeit her ist wie ein bissiger Hund. Seine Anhänger behaupten, er habe sich das Schlafen vollkommen abgewöhnt, es genüge ihm, wie Napoleon, zwischen zwei Operationen zehn Minuten lang die Augen zu schließen. Womit er dem »berühmten Kollegen« dienen könne, fragt er nicht ohne Verwunderung. Der Hinweis Kerkhovens auf seine alte Beziehung zu Heberle erregt kaum sein Interesse; höchstens, daß er eine maliziöse Betrachtung anstellt über die Freundschaft eines echten Forschers mit einem erklärten Phantasten. Kerkhoven spürt etwas dergleichen, ist ihm doch nicht unbekannt, daß Rahl einer der heimlichen Drahtzieher der gegen ihn gerichteten Machenschaften ist. Er grollt ihm deswegen nicht; es ist fast eine Charakterschwäche an ihm, daß er den Feind zu gut versteht, auch steckt sonderbarerweise noch immer etwas von jener Naivität in ihm, die an der Hoffnung festhält, man könne einen Gegner durch Beweise der Redlichkeit und anständigen Gesinnung überzeugen. Als er seinen Zweifel ausdrückt, ob es unumgänglich nötig sei, an einem siebenundsiebzigjährigen Greis einen so schweren Eingriff vorzunehmen, läßt sich Rahl langsam im Sessel zurücksinken, und seine dicken Brauen winden sich wie Würmer gegen die Stirn hinauf. Unermeßliches Staunen. »Zumal der letale Ausgang, so oder so, nicht vermeidbar ist«, fügt Kerkhoven hinzu, ohne sich von der theatralischen Pose einschüchtern zu lassen, »der Tod hat ihn schon im Arm, jeder Laie kann es sehen.« Die froissierte Miene Rahls macht die Antwort im Grunde überflüssig; wer hat Sie zu diesem Dazwischentreten ermächtigt, Herr Kollege? steht deutlich darin geschrieben; exitus letalis oder nicht, was hat das mit der Wissenschaft und ihrer Ausübung zu tun? Habe ich das Recht, mich mit privaten Anschauungen auseinanderzusetzen und über humane Gesichtspunkte zu philosophieren? Ich kenne keine Menschen, ich kenne nur erkrankte Organe. Natürlich sagt er das nicht ausdrücklich, er lehnt nur die Anregung des Kollegen höflich, aber entschieden ab. Kerkhoven hat es vorausgesehen. Er wollte sein Gewissen salvieren, weiter nichts. Er weiß es, für die löwenstimmige Kapazität ist der Mensch nur eine zufällige Verkörperung des Falls; wenn er den Fall vor sich hat, ist er gleichsam zum Richter ernannt, und keine Macht der Erde kann ihn mehr bewegen, diesen Schuldigen, nämlich der Krankheit Angeklagten, aus den Fängen zu lassen. Er verrichtet Wunder, er ist ein Held und Retter, aber zugleich das menschgewordene Skalpell, kühn, scharf, glänzend und mitleidlos. Der Widersacher. Kerkhoven nickt vor sich hin. Er fühlt sich zu müde, um zu kämpfen. Er spürt, er ist neunundvierzig Jahre alt, und sein Leben steht vor umwälzenden Entscheidungen. Er muß innehalten auf dem Weg, er muß eine Weile Schluß machen mit allem, sonst ist er verloren, sonst versteinert er im sogenannten Beruf. Neunundvierzig, Schicksalseinschnitt, Schwelle der dritten Pubertät, das Problem ist, die Hemmung einzuschalten, um den Sturz zu überstehen. Während er in das herausfordernd selbstbewußte, eigentümlich nackte (nackt wie Tatsachen sind), willensgespannte Gesicht seines Gegenüber schaut, ist ihm zumute, als hätte er seit Jahren etwas vergessen, was einmal allerwichtigster Bestandteil seiner Existenz war, er nimmt sich vor, darüber nachzudenken, er muß ergründen, was es mit dieser höchst bedrückenden und schuldhaften Empfindung auf sich hat. Er erhebt sich, da Rahl leise Zeichen der Ungeduld von sich gibt. Der Geheimrat begleitet ihn zur Tür, und im Gefühl seiner Überlegenheit kann er sich der Bemerkung nicht enthalten, die Herren von der psychologischen Schule dürften sich, die Größe einzelner restlos zugegeben (Verneigung), auf die Dauer doch nicht der Erkenntnis verschließen, daß man ohne greifbare Materie und systematisierte Therapie in der Medizin keinen Hund vom Ofen locken könne. Es klingt anzüglich genug, trotz des zuckersüßen Tons. Kerkhoven bleibt stehen. »Gewiß«, erwidert er mit der Ruhe des Überlegenen, »man erlebt auch wenig Befriedigung dabei. Je reiner der Wille, je übler wird ihm mitgespielt. Der Formalismus wird uns immer wieder knechten, der Geist muß in den Pferch, das Herz steht auf dem Index. Die beamtete Wissenschaft beharrt auf ihrem Schein, wie Shylock fordert sie ihr Pfund Fleisch. Man hat mich niemals gelten lassen. Warum? Ich war den Kollegen stets ein Dorn im Auge. Warum? Ich habe es nie begriffen. Aber das Anathem fällt auf euch selbst zurück, ihr Herren von der alleinseligmachenden Kirche.« Der Geheimrat will beschwichtigen. Er sucht nach Worten, aber Kerkhoven hebt nur ein wenig die eine Hand (die andere ruht auf der Türklinke) und fährt achselzuckend fort: »Meine Person kommt nicht in Betracht. Ich gehöre keiner Clique an, auch keiner Schule. Eben das wird mir nicht verziehen. Ich wollte nie etwas anderes sein als ein simpler Arzt, mein Ehrgeiz ist so gering ... ich wage gar nicht zu sagen, wie gering. Daß ich für den friedlichen Tod eines alten Mannes plädiert habe, der sich um solche Schonung hoch verdient gemacht hat, müssen Sie, verehrter Kollege, einem Rest von Köhlerglauben an menschliche Einsicht zuschreiben, der noch in mir steckt. Meine ganze Lebensarbeit war auf Vorbeugung gerichtet, Vorbeugung des Schlimmeren. Ich bin des unheilbar Kranken müde. Das Unheilbare steht uns im Weg. Wir heilen nur, um uns mit Flickwerk zu trösten. Vor einigen Tagen hat man mich ins Polizeigefängnis gerufen, zu einem halben Dutzend jugendlicher Apachen, Mitglieder einer festen Organisation, syphilitische, sexuell verkommene Jungens zwischen vierzehn und sechzehn Jahren. Simulierten Wahnsinn. Alle sechs. Grotesk. Und wie sie das trafen. Als hätten sie ein Semester auf der psychiatrischen Klinik gearbeitet. Stellen Sie sich das vor. Deutlicher habe ich nie das Antlitz dieser Zeit gesehen. Der gespielte Wahnsinn war viel wahrer, in einem andern Sinn, als die halben Kinder ahnten. Na... wozu das. Die Generalrevision, vor der ich stehe, zwingt mich jedenfalls, eine Zeitlang vom Schauplatz zu verschwinden. Damit will ich nur sagen, daß die Kollegen sich nicht weiter gegen mich bemühen müssen...« Er verneigt sich und überläßt den Geheimrat seinen sehr gemischten Gefühlen.

Es war ein herrlicher Abend, ziemlich spät schon. Er ging zu Fuß nach Hause. Um nicht gesehen und behelligt zu werden, schlich er sich förmlich in die Wohnung hinauf und schloß sich in seinem Arbeitszimmer ein. Stundenlang saß er am Schreibtisch, untätig, den Kopf in die Hand gestützt. Auf einmal blickt er empor, als habe er eine Stimme gehört. Wo ist eigentlich Marie? fragt die Stimme in ihm. Da weiß er, was er vergessen hat. Marie hat er vergessen. Sie hat ihm schon die ganze Zeit gefehlt, er ist nur nicht darauf gekommen. Überall, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht hat er sie entbehrt, doch hat er das Gefühl der Entbehrung nicht zu lokalisieren vermocht. Er ist freilich soundsovielmal in Lindow gewesen, hat sie gesehen und mit ihr gesprochen, trotzdem dünkt ihn, daß das nicht Marie gewesen ist, sondern ein Ersatzbild. Er hat auch jeden zweiten oder dritten Tag mit ihr telefoniert, erst gestern wieder, jedoch es war nicht Maries Stimme, die er gehört hat, es war eine Ersatzstimme. Wie über sich selbst verwundert, daß er es nicht schon längst bemerkt hat, schüttelt er den Kopf. Er erinnert sich an einen beschämenden Vorfall: vor einigen Wochen, auch mitten in der Nacht, hat ihn derselbe Gedanke durchzuckt, nur dumpfer: Wo ist Marie – was ist mit ihr? Und weil er das unklare Gefühl hatte, Etzel könne ihm Auskunft geben, vielleicht sogar den Wunsch, sich mit Etzel über Marie zu unterhalten, ungefähr, wie sich ein Vertriebener mit jemandem aus der Heimat über seine Angehörigen unterhält, ging er in dessen Zimmer, ohne die Ungereimtheit seines Tuns in Erwägung zu ziehen. Es ist eine für ihn charakteristische Sorte von Handlungen: Um eine unangenehme Empfindung für den Moment loszuwerden, faßt er in aller Eile einen Entschluß, der diese Empfindung hundertfach verstärkt. Wie er dann bei Andergast war, befiel ihn eine merkwürdige Scheu, er konnte es nicht über sich bringen, ihn nach Marie zu fragen, er brachte das Wort nicht über die Lippen, er brachte überhaupt kein Wort über die Lippen, es war eine peinliche Situation, die er ungeschickt genug beendete, indem er sich stumm zurückzog. Dabei hatte es ihn erleichtert, daß er Etzel in seinem Zimmer angetroffen hatte, er entsinnt sich genau dieser unverständlichen Erleichterung, was mochte sie zu bedeuten gehabt haben? Er schaut auf die Uhr: halb eins. In Lindow anzurufen, ist es zu spät. Und wieder überkommt ihn der kindische Wunsch, sich an Andergast zu wenden. Dem Zweck forscht er nicht nach. Vielleicht will er ihn bloß sehen. Er hat sich schon mehrere Abende nicht gemeldet. Er wird nicht zu Hause sein, sonst wäre er herübergekommen. Man muß nachsehen. Falls er zu Hause ist, wird er wohl noch nicht schlafen. Kerkhoven verläßt das Zimmer, geht den Korridor entlang, pocht an Etzels Tür. Da alles still bleibt, öffnet er und macht Licht. Das Bett ist unberührt. Er verharrt eine Weile nachdenklich, dann kehrt er langsam in sein Zimmer zurück und setzt sich wieder an den Schreibtisch. Sein Blick fällt auf einige Briefe, die Etzel zur Unterschrift hingelegt hat. Es handelt sich um gleichgültige Angelegenheiten, der oberste Brief ist an die Zeitschrift für ärztliche Fortbildung gerichtet. In der Sekunde, wo er nach der Feder greift, um sie ins Tintenfaß zu tauchen, stockt die Hand. Er wirft die Feder weg, die Linke legt sich schwer auf den Brief, den er unterschreiben gewollt, und knüllt ihn zusammen. Die Augen starren ins Leere, das kein Leeres ist...

Er sieht etwas Unfaßliches. Nein, nicht so. Ein zweites Ich in ihm sieht etwas, wovon das Außen-Ich nur eine verschwommene, blitzhaft entschwindende Kunde erhält. Es ist, als habe eine unsichtbare Hand einen Vorhang mit einem Messer zerschnitten und jenes Innen-Ich habe einen Blick durch den Spalt geworfen, der sich sofort wieder schließt. Das Außen-Ich ist ohne Verzug damit beschäftigt, den Sachverhalt zu vertuschen, und will nichts gesehen haben; das Innen-Ich hat aber gesehen und befindet sich in einem Zustand unsäglicher Verstörung. (In der gleichen Minute war es, da Marie die »bedingungslose Übergabe« vollzog.) Er steht auf, tritt ans offene Fenster, stiert in die Nacht hinaus und streicht unaufhörlich mit der Hand über die Stirn. Es gibt keinen Namen, keine Bezeichnung für das Gesehene. Es hat den Kreis des Bewußtseins nur gestreift. Es war eigentlich nichts Greifbares, es war eine Art lautloser Detonation. Verblieben ist eine Unruhe, die unhemmbar wächst und sich aus sich selbst nährt. Das statische Gefühl ist erschüttert wie bei einem Erdbeben. Er wankt. Er flicht die Finger beider Hände ineinander, daß die Gelenke knacken, und der Oberkörper macht eine wiegende Bewegung. Die grabenden Gedanken sind ohne Licht und Ziel. Kein Verdacht setzt sich in ihm fest (das kann nicht oft genug betont werden), es ist nur die versengende Unruhe, von der er weiß, daß sie vom Zentrum des Lebens ausgeht. Wenn er mutiger wäre, wenn er besser Bescheid über sich selbst wüßte, wenn er nicht so unsinnige Angst davor hätte, das wahre Wesen dieser Unruhe zu entschleiern, so könnte er einen Beschluß fassen, sein Verhalten während der nächsten Stunden danach einrichten und sich zur Besonnenheit zwingen. Das ist unmöglich. Er könnte den Chauffeur telefonisch erreichen, er könnte den Wagen bestellen und unverzüglich nach Lindow fahren. Unmöglich. Er fürchtet sich. Er will Zeit gewinnen. Er klammert sich an die Hoffnung, daß der Tag alles ungeschehen machen und ihn davon überzeugen wird, daß er Gespenster gesehen hat. Andrerseits geht es über seine Kraft, stundenlang hier im Zimmer auf und ab zu marschieren, Beute wahnwitziger Halluzinationen. Er wird zu Bett gehen und ein starkes Schlafmittel nehmen. Gedacht, getan. Er dosiert das Mittel nicht gering, es würde für drei Männer genügen. Der Schlaf packt ihn wie eine Zange, als er erwacht, zunächst schlaff und erinnerungslos, ist es neun Uhr. Er badet, rasiert sich, stürzt eine Tasse Tee hinunter, läßt der Ordinationsschwester sagen, er sei heute nicht zu sprechen, und steigt ins Auto. Um halb elf fährt er in den Hof in Lindow ein. Seit dem Augenblick des Erwachens hat er keine Sekunde überlegt, was er tun wird, alles ist in einer Weise geschehen, als sei es ihm im Schlaf befohlen worden. Aus dem langen Flur des Erdgeschosses kommt ihm Etzel entgegen. Etzel meidet seinen Blick. Mit einer Kopfbewegung fordert ihn Kerkhoven auf, ihm zu folgen. Sie betreten den nächsten Raum. Er wendet sich Etzel zu und fragt mit heiserer Stimme: »Was ist hier los?« – Etzel, fahlen Blicks, beugt den Nacken und erwidert: »Man braucht Sie, Meister.« – »Gut. Ich habe aber mit Ihnen zu sprechen. Warten Sie droben in Ihrem Zimmer auf mich.«

Als Etzel den Wagen Kerkhovens in den Hof einfahren sah, befand er sich in Maries Schlafzimmer. Sie hatte ihn nicht rufen lassen. Sie hatte sich sogar geweigert, ihn zu empfangen. Darauf hatte er ihr einen Zettel mit drei Worten geschickt: Es muß sein. Als er an ihr Bett trat, war ihm die Kehle zugeschnürt. Sie lag da wie ein schwerkranker Knabe. Er stand zu Füßen des Bettes, seine Finger umklammerten die Messingstange. Er sagte über sie hinüber: »Wir wollen nichts überstürzen. Wir dürfen den Kopf nicht verlieren.« – Sie rührte sich nicht. – Er fuhr eindringlich, doch ohne Weichheit fort: »Man muß es besprechen, das alles. Es sind schwierige Dinge. Das mußt du verstehen.« – Marie rührte sich nicht. – Er wurde unsicher. Ging auf und ab. Blieb vor Marie stehen. Ging wieder auf und ab. Griff nach einem Handspiegel und legte ihn wieder weg. Dann, mit dumpfer Stimme, drängender: »Laß mir vier Wochen Zeit, Marie. Gib mir vier Wochen Frist. Überleg dir's. Willst du?« Sie machte mit dem Kopf ein schwaches Zeichen der Verneinung. Plötzlich ein gellender Aufschrei: »Joseph!« Es ist die Erlösung. Diesmal ist er nicht zu spät gekommen.

»Du bist krank, Marie?« fragte Kerkhoven noch auf der Schwelle. »Also hat mich mein Vorgefühl nicht getäuscht.« – Sie richtet sich auf. Sie hascht nach seiner Hand. Sie preßt die Stirn auf seine Hand. Schultern und Nacken werden von Stößen geschüttelt, seine Hand ist naß von ihren Tränen. Er nimmt sie schweigend in die Arme, will ihren Kopf aufheben und sie küssen. Sie wehrt ihn leidenschaftlich ab. Nein, nein, sie will nur seine Hand, die gute starke Hand. Er denkt: Was ist geschehen, das ist meine Marie nicht mehr. Etwas Arges schleicht in sein Inneres, die gespenstische Vision taucht wieder auf, aber er will nicht glauben, will nicht sehen, will nicht wissen, genau wie in der Nacht. Er streichelt ihre Haare, ihre Schultern und Arme, er sagt gütige Worte, doch sie schüttelt immer mit derselben leidenschaftlichen Heftigkeit den Kopf. »Ach, Mann«, stöhnt sie auf, »Joseph, mein Joseph, weißt du denn nicht?« – »Was soll ich denn wissen, Liebe, du bist sehr krank, soviel weiß ich...« Er macht sich los, erhebt sich, schiebt mit erhobenen Armen etwas weg, was nicht zu ihm heran soll, geht zur Tür hinaus und will vor diesem Etwas die Flucht ergreifen. Marie sieht ihn großäugig an, mit einem wilden und hilflosen Blick, dann springt sie aus dem Bett und wirft sich vor ihm auf die Knie. Die Arme bettelnd hinaufgestreckt wimmert sie: »Ich bin eine Betrügerin, Joseph. Ich hab mich verloren. Die Begehrlichkeit hat mich soweit gebracht. Ich bin zu begehrlich. Schau meine Finger an, es sind begehrliche Finger. Schau die Daumen an, es sind Lügnerdaumen. Nimm mich zu dir, Joseph. Laß mich nicht mehr allein, ich beschwör' dich bei allem, was dir heilig ist, geh nicht mehr fort von mir!« Und stürzt flach auf den Boden nieder. Nur eine so stolze Frau wie Marie kann sich so demütigen, daß einem das Herz dabei stillsteht. Kerkhoven, in seiner angstvollen Bemühung, die Ruhe zu bewahren, denkt: Es war die höchste Zeit, daß ich gekommen bin... offenbar hat sie sich mit diesem Andergast zu weit eingelassen... das meint sie doch natürlich mit der Begehrlichkeit... was könnte es sonst heißen: Begehrlichkeit... hat gespielt mit ihm, dann, als es ernst wurde, war's zu spät... der ist keiner, mit dem man spielen kann... Und Joseph Kerkhoven will nicht glauben, will nicht sehen, will nicht wissen, noch immer nicht. Die Sache ist ja die: Sein Vertrauen zu ihr war und ist so groß, daß er eher mit dem Untergang der Welt rechnete als damit, daß sie dieses unbegrenzte Vertrauen täuschen könnte. Das gehört zu den Undenkbarkeiten. Er beugt sich nieder zu ihr, hebt sie mit den zärtlichsten Worten, die sich nur ersinnen lassen, vom Boden auf, trägt den leichten, widerstandslosen Körper ins Bett zurück, zieht einen Stuhl heran und beteuert ihr, er wird sie nicht mehr verlassen, es wird nicht mehr vorkommen, was auch immer sich ereignet. Was auch immer geschehen sein mag. Denn sie und er sind ein einziges unteilbares Wesen. Während er dies sagt, zittert seine Stimme, er ist der Wahrheit schon ganz nah. Sie hat das Gesicht in die Kissen gewühlt. Er steht auf und sagt, es sei gut für sie, wenn er sie nun ein wenig sich selbst überlasse, in einer halben Stunde komme er wieder, dann könnten sie in Ruhe miteinander reden. Sie seufzt trostlos in sich hinein, aber sie nickt. Er geht. Geht ins Kinderzimmer, um die Buben zu sehen, aber die sind schon im Freien. Als er über den Flur zurückkehrt, stehen Aleid und Lotte an der Stiege und tuscheln. Er begrüßt sie herzlich, und indem er sich mit ihnen unterhält, sieht er immerfort Marie vor sich, ihr krankes Gesicht, ihren wunden Blick, und da überfällt ihn der Gedanke: Verzeihung? Nein, Verzeihung ist das Ende; Verzeihung vernichtet und entehrt die Liebe, sie neu zu schaffen, ist dann kein Stoff mehr da. Es gelingt ihm, den Mädchen zuzulächeln, er geht weiter, klopft an Etzels Tür und tritt ein. Etzel sitzt auf der Tischkante und legt ein Buch weg, in dem er dem Anschein nach gelesen hat. Kerkhoven bleibt vor ihm stehen. »Nun, das ist eine schöne Geschichte; der Zustand, den ich da unten angetroffen habe, ist nicht erfreulich, mein Lieber«, sagt er, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Etzel wippt sich von der Tischkante ab, stellt sich ans Fenster und schaut hinaus. Langes Schweigen. »Sagen Sie mal, Etzel«, beginnt Kerkhoven wieder, und seine Stimme klingt nicht so unbefangen, wie er wünscht, daß sie klingen soll, »warum haben Sie all die Zeit her gegen mich den Ahnungslosen gespielt?« – Schweigen. – Kerkhoven versucht krampfhaft, eine Haltung zu bewahren, die er innerlich nicht mehr besitzt. »Wollen Sie mir eine Frage beantworten, Etzel?« – Etzel nickt. Er wendet das Gesicht nicht vom Fenster. – »Gut«, sagt Kerkhoven; »so frage ich: Haben Sie sich mir gegenüber etwas vorzuwerfen?« Etzel dreht sich um. Mit nervösem Blinzeln der Lider erwidert er brüsk: »Auf diese Frage zu antworten, Meister, bin ich nicht befugt.« Gut gesagt, Etzel Andergast, wie ein Ehrenmann gesprochen; bravo!

Endlich weiß Kerkhoven. Endlich sieht er. Mechanisch greift er nach dem Buch, das Etzel in der Hand gehabt hat, und läßt es fallen. Langsam überzieht sich sein Gesicht von der Stirn bis zum Kinnrand mit milchig grauer Farbe. Er wird es Tag und Nacht sehen, Wochen und Monate, er wird es aus seinem Auge, aus seinem Blut, aus seinen Träumen nicht mehr herausbringen, es wird ihn vergiften, und es wird seine Mannheit lähmen, das eine Bild: wie sie sich umschlungen halten, Mund an Mund, Leib an Leib, nackt und bloß, er wird es nicht ertragen können, daß es eine geile und verräterische Wirklichkeit war, indes er blind vertrauensvoll daneben gelebt hat. Es nimmt ihn und reißt ihn mitten durch, vom Scheitel bis in seine Mannheit. Die Oberarme hat er an den Leib gepreßt, die Unterarme streckt er mit offenen Händen parallel vor sich hin. »Gehen Sie, Mensch... gehn Sie hinaus, Mensch«, röchelt er aus seiner Kehle, und dies ist kein »apage Satanas«, es soll nur heißen: Seien Sie nicht auch noch Zeuge meiner unwürdigen Schwäche. Aber Etzel kann sich nicht bewegen. Er muß zusehen, wie der Meister hinsinkt. Zusehen, wie er den Kopf auf einen Stuhl legt und heult. Der Meister heult. Der Meister heult wie ein wundes Tier. Der Mann ist gebrochen. Der Mann liegt da wie eine gebrochene Eiche. Der mächtige, wunderbare Mann. Der Lehrer, der Freund, der Helfer, der Führer, der Kenner und Erkenner, der Erbarmer, der Erleuchter. Liegt da wie ein Tier, wie ein Kind, und heult in einen Stuhl hinein. Man sieht seine Stiefelsohlen und unter den heraufgezogenen Beinkleidern seine Strümpfe. Kalt überläuft es den Etzel Andergast. So kalt, wie er gewesen ist, so kalt überläuft es ihn. Kalt ist es ihm in den Knochen, kalt sind seine Eingeweide im Bauch. Geh, Mensch. Laß dich nicht mehr blicken, Mensch. In ein Loch, Mensch. Heb deine Augen nicht mehr zum Himmel, Mensch. Nichts da, Himmel. Nichts da, Welt. In ein Loch mit dir und deiner verkrüppelten Phantasie. Geh, Mensch, geh fort...


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