Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Fünftes Kapitel

Für die Dauer einer Episode haben wir mit v. Möckern zu tun, Chirurg, Hoffnung der Fakultät und ihr jüngster Ruhm.

Zuvor eine allgemeine Bemerkung. Es könnte scheinen, als ob hier die Dinge der Medizin und des ärztlichen Lebens auf Grund eigener Erfahrung wiedergegeben seien. Dem ist nicht so. Es ist alles von außen gesehen. Notgedrungen. Ich bin nur wie ein Spiegel, in den eine Reihe von Bildern und Antlitzen gefallen ist, die er aufbewahrt hat. Wer dürfte es wagen, sich als Laie auf einem Gebiet zu tummeln, dessen Unermeßlichkeit so einschüchternd ist, daß selbst die Kundigen Richtung und Überschau verlieren, sobald sie sich von der gewählten Arbeitsstätte zu weit entfernen. Hat doch hier der Menschengeist, wie wenn er für Jahrzehnte auf alle übrigen Aufgaben zugunsten dieser einen verzichtet hätte, Erstaunlicheres geleistet als jemals auf einem andern Feld. Mir obliegt Geschichtsschreibung, Schicksalsdarstellung, Blick in das Gewebe der Epoche. So betrachtet, wird alles andere zum Vorwand, und was sie bedeuten, diese Figuren und Schatten von Figuren, wo sie hingehn und welchen Sinn ihr Tun und Treiben hat, das kann ich selbst nur ergründen, wenn ich auf ihrer Fährte bleibe und ihnen auf ihren verworrenen Wegen geduldig folge.

v. Möckern kannte Kerkhoven aus dem Ambulatorium der Klinik, wo er seit einigen Wochen Volontärdienste tat; man hatte ihm auch acht Betten zugewiesen. Der Chefarzt hatte ein ungünstiges Vorurteil gegen den Hospitanten gefaßt. Nicht nur war ihm Kerkhoven persönlich nicht sympathisch (etwas an seinem Auftreten mißfiel ihm, die Gelassenheit vielleicht, der spürbare Mangel an Unterordnung), sondern auch als Arzt war er ihm nicht angenehm, er hielt ihn für einen Romantiker (Ausdruck der Geringschätzung), einen jener unverläßlichen Köpfe, die mit der Phantasie und dem Gemüt arbeiten statt mit der Beobachtung und dem exakten Nachweis, das Verhaßteste, was es für ihn geben konnte. Woraus er diese Schlüsse zog, kann ich nicht sagen, in der allerersten Zeit und vor der Sache mit dem Buchbinder Schaller hatte er keine Beweise dafür, ohne Zweifel handelte es sich um eine jener blutmäßigen Abneigungen, die sich zwischen Männern von polarer Natur und Geistesverschiedenheit nicht zu entwickeln brauchen, sie sind von Anfang an vorhanden, unversöhnlicher Gegensatz auf den ersten Blick. Doch wer war Joseph Kerkhoven schließlich im Vergleich zu Professor Doktor v. Möckern? Welchen Anlaß sollte die umworbene, bewunderte, am Beginn einer großartigen Laufbahn stehende Kapazität haben, sich um den unbedeutenden und im Grunde ja recht bescheiden auftretenden Doktorsmann überhaupt zu kümmern? Merkwürdig, aber es war doch so. Der Mensch fiel ihm auf, sofort. Sein Anblick beirrte ihn, er wußte nicht warum. Er tat meist, als übersehe er ihn, was ihn keine Überwindung kostete, auch nicht weiter bemerkt wurde, da es nicht seine Art war, irgend jemandem in seiner Umgebung persönliche Beachtung zu schenken, für ihn gab es nur »Fälle« und die für die Fälle nötigen Hilfskräfte; trotzdem war dieser eine Mensch störend zugegen. Merkwürdig. Man muß an eine vorahnende Eifersucht glauben, an eine Mobilisierung der kämpferischen Instinkte lange vor dem Waffengang, lang bevor der Gegner als solcher auf den Plan tritt. Während Kerkhoven zu Fuß in die Klinik marschierte, Hände in den Manteltaschen, und in seiner Gedankenversponnenheit achtlos in alle Pfützen tappte, hatte er genau dasselbe Gefühl wie als Einjähriger-Rekrut, wenn er wegen eines Subordinationsvergehens zum Rapport befohlen war.

Den Buchbinder Schaller hatte er mehrere Wochen hindurch in seiner Privatordination behandelt. Der Mann hatte an ständigen schweren Kopfschmerzen gelitten, die sich von Mal zu Mal verschlimmerten. Kerkhoven hatte an eine Höhlenentzündung gedacht, an Reizung durch ein exogenes Gift, an Zirkulationsstörung, an Hyperämie, an ein Dutzend anderer Ursachen, aber alles, was er gegen das Leiden unternahm, blieb wirkungslos, das einzige, wodurch er die Schmerzen zuweilen lindern konnte, war, wenn er dem Mann die Hand auf den Schädel legte. Das tue ihm wohl, sagte er mit einem rührenden Ausdruck der Dankbarkeit. Natürlich wußte Kerkhoven, daß er darauf keine Therapie bauen konnte, es war einfach eine suggestive Willensbeeinflussung, die nur vorübergehend war und die Wurzel der Krankheit nicht berührte. Der Patient beging aber dann, als ihn Kerkhoven endlich in die Klinik schickte, die Unbedachtheit, von dem Handauflegen zu erzählen und daß es ihm geholfen habe. Er sagte es nicht dem Chefarzt selber, sondern einem der Assistenten, und zwar kurz vor der Schädeltrepanation, die den vermuteten Tumor zeigte, doch v. Möckern hörte davon, und als Kerkhoven den Operierten in der Klinik besuchte, ziemlich verstört, denn er war sich des Fehlers, den er begangen, wie einer verbrecherischen Leichtfertigkeit bewußt, kam v. Möckern auf seiner Inspektionstour zu dem Bett des noch bewußtlosen Buchbinders, nickte Kerkhoven zu und sagte in seiner beintrockenen Manier und einem gespenstischen Lächeln um die farblosen Lippen: »Bei so ausgeprägten Symptomen eines Glioms, Herr Kollege, war die magnetische Kur nicht durchgreifend genug.« Und ging weiter. Die jungen Ärzte, die wie sein Hofstaat hinter ihm her zogen, kicherten belustigt und diskret. Kerkhoven wurde rot bis unter die Haare. Nicht fein von dem Mann, dachte er, aber die Lektion hab' ich reichlich verdient. Die Schädelöffnung war übrigens in dem besondern Fall, er konnte sich später, als Zuschauer bei der Sektion, davon überzeugen, ein solches Meisterstück chirurgischer Kunst, daß sein Groll völlig in Bewunderung unterging.

Er blieb allen diesen Leuten fremd. Niemand hatte das Bedürfnis, sich ihm anzuschließen, zumal er älter war als die meisten. Ein Gruß, ein paar der Arbeit geltende Worte, darauf beschränkte sich der ganze Verkehr mit ihnen. Die Scheu, die er verspürte, erweckte Scheu, so ist es immer, versöhnend wirkte nur seine Art von Bescheidenheit, eine recht knifflige und undurchsichtige Art im Grunde, weil man sich sagte, er habe wahrscheinlich Ursache, sich in den Schatten zu stellen. Daher konnte es geschehen, daß von der Geschichte, die bei der Vorführung eines achtzehnjährigen Mädchens passierte, einer Schaffnerstochter, gar kein Aufhebens gemacht wurde, man erinnerte sich erst wieder daran, als es wegen des angeblichen Ileus der Prostituierten Klein zu dem Meinungsstreit zwischen ihm und dem Chefarzt kam. Das mit dem Mädchen verhielt sich so. Anscheinend völlig gesund, stand sie seit ein paar Tagen unter Beobachtung, da sie weder gehen noch stehen zu können behauptete und über Schmerzen in den Weichteilen klagte, ohne daß die Schmerzen lokalisiert werden konnten. Kerkhoven, der sich unter den Hörern befand, bat den demonstrierenden Assistenzarzt, seine Meinung äußern zu dürfen. Er hatte sich die junge Person genau angesehen, nun trat er vor und sagte, er könne der Annahme, als handle es sich um einen Fall hochgradiger Hysterie, nicht beipflichten, nach seiner Überzeugung liege eine Tuberkulose des Rückenwirbels vor, der bezeichnete Schmerz sei zweifellos reflektorischer Natur. Der Assistenzarzt war höchlich betroffen. Schon wollte er auffahren und unwirsch erwidern, auf Zuschauerdiagnosen könne er sich nicht einlassen, jedoch ein Blick in Kerkhovens Gesicht veränderte seine Haltung, er entschloß sich plötzlich zu einer neuen sorgfältigen Untersuchung, deren Ergebnis alsbald die Richtigkeit von Kerkhovens Erkennung bestätigte. Die Zeugen des Vorfalls, acht oder neun Praktikanten, waren nicht weniger verdutzt als der Assistenzarzt, aber unerklärlicherweise schwiegen sie wie auf Verabredung darüber. Nicht unter allen Umständen ist das Außerordentliche den Menschen verdächtig und unbequem; vorausgesetzt, daß es nicht eine Schädigung ihrer privaten Interessen bewirkt (wozu freilich schon die Aussicht, sich mißliebig zu machen, gehört), erkennen sie es sogar nicht ungern an. Für das aber, was oben befremdet und unten den zünftigen Zusammenhalt sprengt, haben die Mittelmäßigen eine untrügliche Witterung.

Ob der Chefarzt von der Sache erfuhr, blieb ungewiß. Als er das Mädchen im Gipsbett sah, berichtete ihm der Assistenzarzt die Krankengeschichte, ohne Kerkhovens Namen nur zu nennen. Gleichwohl mußte er von anderer Seite davon gehört haben, vielleicht durch die Kranke selbst, was ihn dann zu weiterer Nachforschung veranlaßte, denn Wochen nachher, bei der Auseinandersetzung über den Fall Klein (die Klein war Kerkhoven zur Behandlung zugewiesen), ließ er abermals eine beißende Bemerkung fallen, ungefähr des Sinnes: mit telepathischen Diagnosen möge man ja zuzeiten Glück haben, in der Regel empfehle sich die wissenschaftliche Methode als die korrektere. »Womit nicht gesagt sein soll, daß ich gelegentliche Leistungen auf diesem Gebiet unterschätze, Herr Kollege«, fügte er mit dem gespenstischen Lächeln hinzu, das seinem flachen Gesicht einen Ausdruck gab, als habe er einen zu heißen Bissen im Mund. Kerkhoven bewahrte diesmal seine Ruhe. Diktatorisch verblieb v. Möckern bei der Feststellung des Ileus. Kerkhoven hatte, nach gewissenhafter Prüfung, nur eine einfache Kolitis konstatieren können. Allerdings täuschte das Krankheitsbild insofern, als die Patientin schwere Angstzustände erlitt, der Wahn, sie habe ein Geschwür im Leib, steigerte die ohnehin vorhandenen Schmerzen zu solcher Heftigkeit, daß sie blutigen Schleim erbrach, Folge der abstrahlenden psychischen Darmerregungen. So faßte er es auf, und es gehörte Mut und Festigkeit dazu, die Operation für überflüssig zu erklären und, in einem unbestimmten Gefühl ihrer individuellen Gefährlichkeit, vor ihr zu warnen. v. Möckern schüttelte starrsinnig den Kopf. Er war verantwortlich, offenbar, aber sein finsterer Blick sagte: Ich lasse mir keine Verantwortung rauben. Zuletzt war es wieder das heimlich Zwingende in Kerkhovens Wesen und Miene, das selbst ihm ein Zugeständnis abzwang: Er willigte in eine sechsstündige Frist. Diese Frist lief um acht Uhr abends ab. Das war der Grund, der Kerkhoven zu dem Gang in die Klinik nötigte.

Im Laufe des Nachmittags war die Klein in derartige Schmerzparoxysmen verfallen, daß der diensthabende Arzt, der Kerkhoven vertrat, den Chefarzt benachrichtigte, der dann nach kurzer Untersuchung von dem Aufschub nichts mehr wissen wollte und die sofortige Operation anordnete. Sie fand um halb sieben statt. Der Bauch wurde aufgeschnitten: von Ileus keine Spur. Aber das Weib starb unterm Messer, buchstäblich. Embolie in der Narkose, eine Wendung, die freilich niemand hatte voraussehen können. Die Oberschwester teilte es Kerkhoven mit allen Einzelheiten mit. »Der Chef ist wütend«, sagte sie, »man muß ihm aus dem Wege gehen.« – »Ist er noch im Hause?« – »Ich glaube nicht.« – »So brauch' ich mich wohl nicht mehr bei ihm zu melden.« – »Kaum, das wird jetzt gegenstandslos sein, Herr Doktor.« – »Ist für den Abend noch was vorgemerkt, Schwester?« – »Eine Laryngektomie. Saal elf. Aber wahrscheinlich erst spät.« – »Es fließt viel Blut hier«, sagte Kerkhoven und schaute den öden Korridor hinunter, in dessen Tiefe, man konnte sich vorstellen, daß er meilenweit hinlief, von einer Tür zur gegenüberliegenden lautlos drei hagere weibliche Gestalten in weißen Hemden glitten. – »Gewiß, Herr Doktor, die Wissenschaft verlangt es«, erwiderte die Schwester freundlich. Kerkhoven rückte die Krawatte zurecht. Sie lag immerfort schief. Die Oberschwester sagte lachend: »Warten Sie, der Kragen springt aus dem Knopf.« Sie stellte sich auf die Zehen und half ihm, während die Augen hinter der Brille lustig funkelten. – »Danke, Schwester. Gute Nacht.« – »Gute Nacht, Herr Doktor.« Sie blickte ihm mitleidig nach, bis er an der Treppe verschwand. Statt direkt auf das Glacis und zu Irlen zu gehen, wählte Kerkhoven den Umweg über den Kai. Am Ufer blieb er lange stehen und schaute ins Wasser des Flusses, dessen kleine Wellen in schwachem Mond wie silberne Blätter raschelten.

Als der Tisch abgeräumt und das Mädchen gegangen war, setzte sich Irlen in den Lehnstuhl, breitete eine Decke über die Knie und schob die elektrische Lampe ein Stück weiter weg, da zu starkes Licht seine Augen angriff.

»Ich habe darüber nachgedacht«, begann er, »wie ich dir die Geschichte mit Otto Kapeller verständlich machen soll. Es ist eine Geschichte ohne Ereignis. Das Duell am Schluß gehört innerlich kaum dazu, es war nur die einzig mögliche Lösung, ich handelte dabei unter dem Zwang einer höheren Logik, obschon es zugleich der dunkelste Moment in meinem Leben war. Im Grunde ist es die Geschichte einer Enttäuschung, aber damit ist nur etwas über das Persönliche ausgesagt, es hatte einen Bezug weit über das Persönliche hinaus und nötigte mich am entscheidenden Punkt zur Revision meiner ganzen Existenz. Das klingt vorläufig rätselhaft, ich muß daher ein bißchen weiter ausholen. Ich habe dir aus meiner Vergangenheit bereits manches angedeutet, manches wirst du von andern gehört und dir in deiner Weise zurechtgelegt haben. Du weißt ja, wir haben davon gesprochen, daß seit zehn Jahren und länger noch meine Sorge um unser Land beständig gewachsen ist. Sorge, das ist ein Wort wie ein anderes, du verstehst mich schon, es steckt mehr dahinter, als ich Lust habe zu erklären; daß es sich weder um verschrobene Opposition noch um einen esoterischen Edelpatriotismus handelt, wissen sogar meine Feinde, trotz der törichten Legenden, die über mich umlaufen. Ich weiß nicht, ob dir der Name Lagarde etwas sagt; nein? Einer der großen deutschen Warner. Siehst du, es handelt sich für uns schlechterdings um Sein oder Nichtsein. Wir sind das Herzvolk Europas. Unsere Krankheit ist auch die Krankheit Europas und stellt alles in Frage, die geistige Entwicklung der gesamten Menschheit, die Ernte von Jahrtausenden. Wer das nicht begreift, lebt eben nur sich, das heißt, er lebt zum Schein. Es gibt ein Wissen über die Erfahrung hinaus, damit sag' ich gerade dir nichts Neues. Von einer bestimmten Zeit an, fast könnte ich den Tag nennen, es war nach einem Gespräch mit dem alten Mommsen, bedrängte mich dieses eigentümliche Vor-Wissen mehr und mehr. Schlimmer als Träume und Gesichte einen bedrängen können, darunter hatte ich ja nie zu leiden; die Wirklichkeit, faßt man sie nur, ist stärker. Aber das Erfassen eben, das ist das Schwere. Ohne Phantasie und ohne Selbstentäußerung kann man nicht zur Wirklichkeit durchdringen. Nun, das führt zu weit... Der Zwiespalt war für mich der: Entweder ich versumpfte in einer unmoralischen Untätigkeit, wozu ich auch irgendeine beliebige Beschäftigung rechnete, und ließ mich treiben, oder ich suchte Abhilfe und griff ins Geschehen unmittelbar ein. Da mir nach dem Abbruch meiner militärischen Laufbahn der Weg zum öffentlichen Dienst so gut wie verschlossen war, mußte ich einen andern wählen, um in Aktion zu treten, der Zustand des Hintreibens dauerte nicht lang, konnte nicht dauern, das ging über meine Kraft. So sammelte ich nach und nach einen ausgewählten Kreis von jungen Menschen um mich, was du nicht gar zu wörtlich nehmen mußt, alle diese Leute lebten da und dort verstreut, trafen einander da und dort, in zwanglosen Gruppen, als geistige Wahlverwandte, manchmal war ich zugegen, manchmal nicht, mit vielen stand ich nur in Briefwechsel oder regte sie zu wechselseitigem schriftlichem Meinungsaustausch an. Es sind natürlich die absurdesten Märchen darüber verbreitet worden, das läßt sich denken. Man witterte etwas wie einen politisch-pädagogischen Geheimbund oder ein Seminar für angehende Frondeure; dergleichen lag mir ganz fern. Ich hatte nicht nötig, den Präzeptor zu spielen, und Verschwörung, mein Gott, wir hatten nichts zu verbergen, das Erstaunliche war die selbstverständliche Sinneseinigkeit, wie wenn alle zu gleicher Zeit vom gleichen Geist und der gleichen Bewegung ergriffen worden wären. Wir waren wie Brüder aus demselben Haus, es bedurfte oft nicht einmal der Aussprache, die Sprache allein genügte, die Sprache als Leib und Rhythmus. Es war ein so wundervolles Erlebnis für mich. Ich sagte mir: zu verzweifeln ist noch kein Anlaß, diese Jugend gibt einige Gewähr für die Zukunft. Vielleicht war es einer der Augenblicke geheimnisvollen Aufflammens, auch die Völker haben solche Euphorien ... du schaust mich entsetzt an, du denkst dir: wir liegen ja keineswegs auf der Totenbahre ... gewiß, ganz im Gegenteil, dem Anschein nach sind wir noch nie so oben und vorne dran gewesen ... aber lassen wir das ... ich könnte nicht Rechenschaft darüber geben, was mir das Herz abdrückt, seit ich wieder in Europa bin. Jedenfalls ist es nicht bloß die Trypanosomiasis, die mich hingeworfen hat. Eine ganze Anzahl von den Freunden aus der damaligen Zeit ist ja auch noch da, steht nach wie vor zu mir, viele haben die Hoffnungen annähernd erfüllt, die ich auf sie gesetzt hatte, aber die Sache mit Otto Kapeller war eben doch der eigentliche Klaps für mich, wer weiß, in welcher tückischen Weise sie den Boden für die Parasiten bereitet hat. Es gibt ja einen Zusammenhang zwischen physischen und psychischen Schädigungen, nicht wahr, lieber Doktor? Der Körper entschließt sich nur manchmal lange nicht zur Antwort.«

Pause, die durch die zehn Schläge der Kaminuhr ausgefüllt wurde. Als sie verhallt waren: »Ich erinnere mich nicht mehr, wer mich mit Otto bekannt gemacht hat. Er saß am Klavier und spielte Debussy. Ich habe nie einen jungen Menschen von einschmeichelnderem Wesen gesehen. Schlank, mit einem stählernen Körper, lächerlich blond, lächerlich hübsch. Er gab sich ohne jedes Zaudern in meine Hand, als ob er nur darauf gewartet hätte, mir endlich zu begegnen. Darin war etwas von der Hingabe des Tons an die Hand des Bildhauers. Beschreiben kann man das nicht. Es überwältigte mich. Hauptsächlich das eine, daß er in mir das Gefühl zu erwecken verstand, ich hätte ihm bis jetzt gefehlt, ohne mich könne er sich nicht vom Erdboden erheben. Er bot sich mir gleichsam als Aufgabe, er schien zu sagen: da hast du Material, mach etwas daraus. Er hatte viel Feinheit in sich, viel Spürsinn. Im Grunde trieb er ein wunderliches Spiel mit dem Leben, er trieb das Spiel, daß es ernst sein solle. Eine durchtriebene Angelegenheit, niemand kann es ohne weiteres durchschauen. Dabei war er ein Dichter, war sich dessen aber nicht bewußt, es lag nur als schwebende Möglichkeit in ihm, als Phantasierichtung. Das hat mir viel zu denken gegeben, es ist etwas abgründig Deutsches darin, ich habe mehrere junge Leute, von der Art gekannt, alle zwischen achtzehn und vierundzwanzig, nicht so interessant wie der, aber in jedem schäumte etwas vom Genie der Rasse auf, Ungeheures versprechen sie, man steht wie vor einer feurigen Fontäne, auf einmal: nichts, Finsternis, Stille. Ich hab' das häufig erlebt, wie gesagt, bei andern Völkern geht es nicht so ins Extrem. Otto war der einzige Sohn, eine blendende Zukunft lag vor ihm, was die Kapeller-Werke sind, darüber muß ich dich ja nicht erst aufklären. Schon unsere ersten Gespräche drehten sich um die Verantwortung, die auf seinen Schultern ruhen würde, nicht viel geringer als die eines Königs. Ich begriff, daß er recht hatte mit der Erwartung in bezug auf mich: da war wirklich eine Aufgabe. Denn der Weg, den er zu gehen hatte, lag genau in der Linie der Gefahr. Dort war das größte Gelingen, der sichtbarste Aufschwung, der entschlossenste Machtwille, die gewaltigste Anhäufung von Kapital, eine Vorherrschaft der Materie, eine Überlegenheit der äußeren Mittel, ein oligarchischer Fanatismus, die in anderthalb Jahrzehnten das Gesicht der Nation bis zur Unkenntlichkeit verändert hatten. Dieses Plusquamperfekt könnt' ich mir schenken, aber ich erzähle ja Geschichte. Ja, es ist so, gaben mir die pessimistischen unter meinen Freunden zu, Deutschland wie ein Mann in einer schwarzen Rüstung, unheimlich ist alles an ihm geworden, unheimlich ist es zu leben, wir sind keine Nation mehr, wir haben einen Staat, wir sind kein Volk mehr, wir sind Belagerte in einer Festung, die man mit Füsilierung schreckt, wenn wir aufmucken. Gebt acht, daß ihr euch dem Mann in der schwarzen Rüstung nicht mit Haut und Haar überliefert, antwortete ich ihnen, man soll ein Schicksal nicht für unentrinnbar halten, weil man ein Symbol daraus gemacht hat. Sie verstanden mich und schwiegen. Wenn ich nicht irre, war es Otto, der mir eines Tages in großer innerer Erregung sagte, die Ideale, die man ihm und seiner Generation als ewigen Besitz der Menschheit aufgeredet, könnten angesichts der Lebenstatsachen bloß noch als schnurrige Phantome humanistisch gebildeter Oberlehrer gelten. »Kein Anlaß, darüber zu jubeln, daß Omar in unserem Alexandrien die Bibliothek nicht verbrannt hat, er hat nur noch nicht verbrannt«, rief er bitter. Ich stutzte. Daher weht der Wind, ging's mir durch den Kopf. Was, Ideale, erwiderte ich ihm, habt Ideen, vielleicht braucht ihr dann die Ideale nicht. Aber gerade er hatte Ideen, sein Hirn war voller Projekte, Entwürfe und Vorsätze. Er legte mir Siedlungspläne vor, großartige Wohlfahrtseinrichtungen, die Gründung von Arbeiter-Universitäten, Musikhallen, Arenen und Theatern mit Monstre-Aufführungen, unter anderm auch recht interessante Reformen zur Vereinfachung und Steigerung des Betriebs, die das amerikanische Taylorsystem durch Einbeziehung der Bodenbewirtschaftung beseitigen sollten; das alles hatte aber nicht genug Realität, war zu utopisch, zu volksbeglückerisch; alle Romantik ist in diesem Fall nur der Versuch, dem tödlichen Ernst der Notwendigkeit auszuweichen, hielt ich ihm entgegen. Ich las ihm einige meiner nationalökonomischen Studien vor, zeigte ihm Hefte mit Statistiken, die ich im Lauf von Jahren angefertigt und oftmals überprüft hatte, schließlich reisten wir zusammen nach Manchester und in die Schneider-Creusot-Werke, an Empfehlungen mangelte es uns nicht. Indem er das Angeschaute verarbeiten lernte und sich zu einer ruhigen Betrachtung der bestehenden Verhältnisse bekehrte, dämmte sich der Überschwang von selber ein, er bewies mir seine Anhänglichkeit und Dankbarkeit auf jede Weise, und nicht nur das, er glaubte mich überhaupt nicht mehr entbehren zu können. Die erste Anregung, ich sollte in die Kapeller-Werke eintreten, ging von ihm aus, seinen Vater hat er erst nach und nach dafür gewonnen. Ich habe lange geschwankt. Ich hatte die Unabhängigkeit schätzengelernt; daß ich sie schon wieder opfern sollte, fiel mir schwer. Meine jungen Freunde begriffen nicht, daß da überhaupt eine Lockung sein konnte, manche sahen einen Verrat schon in der Unschlüssigkeit. Den Ausschlag hat schließlich die Erwägung gegeben, daß mir ein Wirkungsfeld eröffnet wurde, wie ich es nie wieder finden konnte. Vor allem, daß ich in Otto, dem künftigen Herrn dieses gewaltigen Reiches der Arbeit, einen Menschen geformt hatte, geformt zu haben wähnte, mit dem sich große Dinge ausführen ließen. Ich hatte mich sehr an ihn attachiert. Er hatte mich ganz und gar gewonnen. Ich habe an ihn geglaubt. Das kann ich wohl sagen. Nun, ich kam bös zu Sturz. Als der alte Andreas Kapeller starb, sieben Monate nach meinem Eintritt in die Firma, dauerte es keine weiteren sieben Monate, und Otto begann langsam seine wahre Natur zu zeigen.«

Der durchdringende blaue Blick, bisher fast ununterbrochen auf den Zuhörer gerichtet, senkte sich wie erschöpft zu Boden. »Wahre Natur ... da stock' ich gleich. Muß man sich nicht schämen, wenn man aus dem eigenen Urteilsdefekt fremde Schuld macht? Man war kurzsichtig, die Augen haben sich betrügen lassen, daraus konstruiert man eine Lebensenttäuschung und vergißt, daß uns der Instinkt verliehen worden ist, damit er uns richtig führen soll. Mein äthiopischer Freund Ngaljema, das schönste Menschenexemplar, dem ich auf dieser Erde begegnet bin, sagte mir einmal: du ... gut, du guter Mann. Woher weißt du das, Ngaljema? fragte ich. Und er, mit seinem kindlichen Lächeln und einem Mund voll strahlendweißer Zähne: Ich nicht wissen, meine Augen wissen ... Schon zu Anfang gab es eine ganze Kette von Vorkommnissen, die mich hätten beunruhigen müssen, wenn ich Zeit gehabt hätte, ihnen genügend Aufmerksamkeit zuzuwenden. Zunächst war es auffällig, mit welchem Aplomb sich Otto der Trauer um den Tod seines Vaters hingab. Er fand kein Ende mit Gedenkfeiern, Würdigungen, Nachreden und Ansprachen. Kindisches Theater, jeder Mensch wußte, daß das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ziemlich kühl gewesen war, er wollte aber der Welt durch das offizielle Pathos Sand in die Augen streuen. Die Leute spotteten auch schon darüber, ich sagte ihm, er möge doch das ärgerliche Wesen lassen. Er schien zuerst betroffen, dann lachte er, dann gestand er mir mit sonderbarem Zynismus, die Rolle des Leidtragenden gebe ihm vorläufig die beste Möglichkeit, zu repräsentieren, da sonst jeder merken müsse, daß ihm der Purpur noch um die Schultern schlottre. Repräsentieren, Purpur: ich muß komisch dreingeschaut haben, denn er brach wieder in sein unwiderstehliches Lachen aus und sagte, ich solle ihn nur gewähren lassen, das sei eben seine Manier, mit den neuen Aufgaben und Forderungen fertig zu werden. Etwas in seinem Gesicht gab mir zu denken. Es war wie ein Belag... wie ein unsichtbarer Ausschlag... ein gewisser Zug, den Gesichter im Fieber haben. So viel war bereits klar, dem jungen Menschen war eine Machtfülle zugefallen, unter der die Stützen seiner Persönlichkeit wankten wie Brückenpfeiler unter dem Druck von Treibeis. Beunruhigender Vorgang. Es passierte folgendes. Eines Tages setzte er den alten Diener Quinke, einen durch und durch anständigen Mann, der achtundzwanzig Jahre im Haus war, Knall und Fall vor die Tür. Der Anlaß war so lächerlich, daß man sich fragte, wie ein vernünftiger Mensch überhaupt davon berührt werden konnte. Im Eifer der Rede hatte sich Quinke vergessen und hatte Otto statt mit gnädiger Herr in zerstreuter Vertraulichkeit mit dem Vornamen angesprochen. Der alte Mann kam zu mir, verzweifelt; er war nahezu mittellos, seine Ersparnisse hatte er bei dem Bankrott einer kleinen Bank verloren. Ich sagte zu Otto: Wenn du den Mann nicht wieder aufnimmst, und ich sehe nicht ein, warum nicht, mußt du ihn entschädigen. Er brauste auf; entschädigen? er denke nicht daran, er halte kein Greisenasyl. Dann zwingst du mich dazu, sage ich. Wenn es dir Spaß macht, bitte, antwortete er, es ist immerhin lehrreich, daß dich schwachsinnige alte Männer gegen mich in Harnisch bringen. Ich ... was erwiderte ich ... ich weiß es nicht mehr, wahrscheinlich nichts. Als ich gehen wollte, hielt er mich zurück und sagte, dieser Quinke sei ihm zeit seines Lebens verhaßt gewesen. Verhaßt? frag' ich erstaunt, warum denn gleich verhaßt, da tust du ihm mehr Ehre an als ich. Begreife doch, sagt er und faßt mich zutraulich unter, er kennt mich zu lang, er hat mich als Kind gekannt. Ich, noch mehr erstaunt: nun, und? Aber ich wünsche nicht, daß mich einer kennt, der mir aufzuwarten hat, ruft er aus, gibt es was Lästigeres als Domestiken mit Gemütsansprüchen? Ich brauche wirkliche Diener, keine gerührten Hausgespenster. Am selben Tag schickte er mir zwölf Flaschen alten Bordeaux in die Wohnung, dazu einen seiner charmanten Briefe; er beschwor mich, ihn gegen sich selber zu schützen, er brauche mich, ich sei sein Führer, sein guter Geist, sein Virgil, ich dürfe nie vergessen, daß ich ihn einst glauben gemacht, er sei der geliebteste meiner Freunde. Ja, das war wahr, aber jetzt war ich schon zu sehr irre, um zurückzufinden, das Vertrauen zu einem Menschen ist ein Diamant, den die geringste Verletzung entwertet. Ich befand mich in der Lage eines Schwimmers, der einen See überqueren soll und mittendrin merkt, daß ihm sein Arm lahm ist. Ich hatte mich umgarnen lassen, ich war dieser Seele nicht bis in ihre Wurzeln nachgegangen, das war meine Unterlassung, und Unterlassung ist Schuld. Alles, was daraus erfolgte, traf in den Mittelpunkt meiner Angst, Angst um diese unsre Welt, und außerdem ging es in die Tiefe eines Traumas hinein, das war meine Strafe, deswegen endete es im Verhängnis. Um das mit dem Trauma zu erklären, muß ich von einem Menschen sprechen, der in meiner Jugend eine Rolle gespielt hat. Ein etwas bedenklicher Terminus, Trauma, man sollte mit Worten bescheidener sein, unleugbar war es das, was du neulich Seelenwunde genannt hast, aber Wunde stimmt auch nicht ganz, es hat mit etwas Heilsamem zu tun, es war eine gebieterische Warnung, die das Schicksal beizeiten an mich ergehen ließ ... Du siehst mich so prüfend an. Nein, ich bin nicht müde. Laß nur, es geht noch, ich kann jetzt nicht abbrechen. Hab' ich dir nie von Gore erzählt? Helmut Gore war mein Vetter von Vatersseite her. Die Gore von Groothusen sind eine alte hanseatische Familie, weit älter als die Irlen, wir sind erst vor drei Generationen eingewandert, aus dem Cleveschen, Irlen bedeutet natürlich Erlen, die bei den Erlen hausen. Na ... Gore war Leutnant, als ich noch in der Quarta saß, also für mich ein Mann, und nicht allein das, Inbegriff des Mannes. Er hatte so etwas wie einen Nimbus um sich, war glänzender Reiter, Fechter, Pistolenschütze, außerdem sagte man ihm eine Menge Abenteuer mit Frauen nach. Jemand hatte ein Couplet über ihn verfaßt, jede Strophe eine Anspielung auf eine seiner tollen Geschichten, und schloß, nach der Offenbachschen Melodie gesungen, mit dem Refrain: Ich bin der Gore und kenne keine Furcht. Friedliebende Leute gingen ihm gern aus dem Weg, man konnte bei ihm nie wissen ... Er hatte eine mächtige Figur, breitschultrig, konnte fünfzig Pfund mit dem kleinen Finger heben, Stirn und Nase waren von klassischem Schnitt, mit den untern Partien stand es nicht so gut, die Lippen waren dick und brutal, das Kinn zu feist, das Irlensche und das Groothusensche stieß da feindlich aufeinander. Jedesmal, wenn er zu uns kam und mich sah, packte er mich am Oberarm und preßte ihn mit seiner ganzen Riesenkraft, ich glaubte zu sterben vor Schmerz, aber ich wußte, es kam darauf an, nicht zu schreien, nicht einmal die Miene zu verziehen. War die Probe bestanden, so legte er mir seine gewaltige Tatze auf den Kopf und sagte: Brav, Junge, kannst so bleiben. Meine Mutter erhob eines Tages Einspruch, sie meinte, er könne mir den Knochen zerbrechen. Er antwortete lachend: besser der Knochen hin als keine Courage im Leibe. Was, Kerl, sag daß ich recht habe, wandte er sich zu mir und drückte mich an sich, daß mir der Atem verging. Er hatte große Protektion und machte rasch Karriere, mit dreißig, obschon erst Hauptmann, bekam er das Kommando über ein Bataillon, das irgendwo draußen an der Küste stationiert war, in Heppens oder Bant oder so. Sonderbar, wenn man über einen solchen Lebenslauf nachdenkt ... da hast du wieder dasselbe Phänomen: ein Mensch von ungewöhnlichen Gaben, eine Natur, wie man zu sagen pflegt, nimmt einen herrlichen Anlauf, plötzlich: Schluß, es geht nicht weiter. Was ist geschehen? Man spricht von einem Knacks, aber was ist es eigentlich? Mißglückter Versuch des großen Chemikers, der mit uns gleichgültig experimentiert? Von Kameraden Gores erfuhr man bei uns, es stehe nicht gut mit ihm, die Vorgesetzten wüßten sich keinen Rat, beständig müsse man die Übergriffe vertuschen, die er sich zuschulden kommen ließ. Nachrichten von Soldatenmißhandlungen waren in die Zeitungen gedrungen, man konnte darauf gefaßt sein, daß er über kurz oder lang abgesägt wurde. Anfangs 1887 wurde er nach Kugelbake versetzt, einer einsamen Fortifikation, es war wohl das letzte Mittel, ihn zur Vernunft zu bringen, aber war gänzlich erfolglos. Was er dort getrieben, darüber hörte ich erst viel später Genaueres. Er war nicht nur der Schrecken seiner Untergebenen, vom Offizier bis zum letzten Rekruten, auch die Zivilbevölkerung zitterte vor ihm, die Kaufleute, die Beamten, die Schifferfamilien, es ist eine abseitige Gegend, noch heute, die Menschen sind wie Inselbewohner auf sich gewiesen und fern von der Welt; bis einer den Mut zur Anzeige und den richtigen Weg zum richtigen Amt findet, fließt viel Wasser ins Meer, da entschließen sie sich lieber zum Ausharren. Deshalb dauerte auch der unerträgliche Zustand ziemlich lang, über ein Jahr. Er soll nachts in die Häuser gedrungen sein und ihm mißliebige Personen einfach verhaftet haben. Sie wurden der Spionage verdächtigt, das war droben üblich. Auf offener Straße traktierte er Leute mit der Reitpeitsche, und einmal jagte er auf dem Marktplatz sein Pferd in eine Schar spielender Kinder. Die Macht war ihm zu Kopf gestiegen, der lächerliche Fetzen Macht, dessen er habhaft geworden, hatte ihn berauscht, hatte ihn um und um gedreht. Oder schrieb er sich ein Anrecht auf eine ganz andere Macht zu, eine für die Urgewalt seines Temperaments gemäßere, in der er nicht erstickt und verkommen wäre? Möglich. Eines Tages beging er die Verrücktheit und ließ den Redakteur eines kleinen Lokalblattes, den er sozialistischer Umtriebe bezichtigte, an die Mauer stellen. Zum Glück wurde der Mann nur verwundet, aber das schlug dem Faß den Boden aus, der Skandal war enorm, der Regierung gelang es nur mit Mühe, das Verfahren niederzuschlagen, aber Gore erhielt natürlich den blauen Brief. Um diese Zeit starb mein Vater, ich hatte eben das Abitur hinter mir und wollte mathematische Physik studieren. Erst ein Jahr später entschied ich mich für die militärische Laufbahn, hauptsächlich unter dem Einfluß meines Onkels Eckbert Irlen, der Lehrer an der Kriegsakademie war, ein Mann wie Fontanes Stechlin, ein Paladin aus der großen Zeit noch. Aber ich schweife ab, es handelt sich ja um Gore. Was ich dir bisher von ihm erzählt habe, ist nur Vorspiel zu der letzten und entscheidenden Begegnung mit ihm. An einem Sonntag, eine Woche nach Vaters Tod, ich erinnere mich noch genau, es war ein drückend schwüler Augusttag, komm' ich nach Hause, und Gore sitzt bei meiner Mutter. Das heißt, ich erkannte ihn nicht, Mutter sagte zu mir: das ist Gore. Kondolenzbesuch. Ich sehe einen Menschen brettsteif dasitzen, den Zylinder neben dem Stuhlbein, Gamaschen über den Lackschuhen, schwarze Glacés an den Händen, Gehrock und schwarze Krawatte. Aus dem Kragen quillt ein Fetthals, hinten ein Specknacken, von dem ein eikahler Schädel emporsteigt, vorn das Gesicht ... das Gesicht! Im ersten Augenblick dachte ich, der Mann sei von Wespen zerstochen, so aufgedunsen war die Haut, so amorph die Züge, die Augen kleine fahle Punkte in fahlen Teiggruben, der glattrasierte Mund ein Rüssel, der schnarrende Geräusche ausspie. Ich stehe wie angeschraubt. Er reicht mir die Fingerspitzen und schnarrt etwas. Ich weiß, das ist Gore, man hat es mir gesagt, ich weiß, Gore kann nicht viel älter sein als sechsunddreißig, der Mann da ist ein jahrloses Ungetüm. Ich muß annehmen, daß es derselbe Gore ist, den ich als Zwölf- und Dreizehnjähriger glühend bewundert habe, der einmal ausgesehen hat wie ein junger Eroberer, für den die Herzen von Frauen geschlagen haben, dessen Seele von feurigem Ehrgeiz erfüllt war, der lachende, stolze, stürmische Held Gore ... und dieses Wrack da? Dieser mitleidswürdige, gedunsene Fettsack? Dieser abgedankte Caligula mit der Miene eines magenkranken Philisters? Nein, ich ertrug's nicht, es zu denken, ich stürzte hinaus, verriegelte mich in meinem Zimmer und heulte wie ein Schloßhund. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Ich war taub, wenn man seinen Namen nannte. Manchmal ist er durch meine Träume gegangen. Ich erblickte dann das Gesicht, ungeheuerlich vergrößert, wie ein Fliegenkopf unterm Mikroskop, es glitt immer näher und näher an mich heran, zuletzt sah ich nur noch den weitaufgerissenen Mund, aus dem mir die Worte entgegenschnarrten: Courage, Junge, Courage ...«

(Zwei Jahre später, als Kerkhoven in Westpreußen Hunderte von Typhusbaracken unter seiner ärztlichen Obsorge hatte, wurde er eines Nachts von einem Soldaten, der vor Erschöpfung fast vom Pferd fiel, gebeten, zu einem kranken Offizier zu kommen. Im Schlitten fuhren sie eine Stunde lang über verschneite Äcker und zugefrorene Wasserläufe, bis sie vor einer elenden Kate hielten. Es war finster drinnen, nach ungeduldigem Rufen kam ein altes Weib mit einem brennenden Kienspan, der einen niedrigen, ungedielten, entsetzlich schmutzigen und stinkenden Raum zur Not erhellte, die Wände waren mit Frostreif bedeckt, von der Decke tropfte das Schmelzwasser auf den von der Ofenwärme aufgeweichten Lehmboden und auf die Lagerstatt, die aus einem quadratischen Kasten bestand. Darin schliefen drei kleine Kinder, und neben ihnen lag der Offizier bereits tot. Ein Mann weit über sechzig. Die Oberlippe glatt. Von der Spitze des Kinns rann ihm ein schütterer fahlgelber Bart auf die Brust. Das Gesicht war nichts als Haut und Knochen. Kerkhoven verlangte von dem Burschen, der ihn geholt, die Papiere des Toten. Er las den Namen: Helmut Gore von Groothusen.)

Irlen fuhr fort: »Vielleicht begreifst du jetzt, was sich ereignet hat ... Gore: das Motiv, Otto Kapeller: die Durchführung. Der eine die Skizze, der andere das Bild. Solche Vorgänge sind viel häufiger, als man weiß. Wir tun immer, als sei das Leben in seinen Typenschöpfungen unbegrenzt verschwenderisch. Keine Rede. Alte Formen werden wieder benutzt, frühere Versuche wiederaufgenommen. Ähnliche Gruppierungen ergeben ähnliche Gestaltungen. Zur Erkenntnis dieser Prozesse muß man aber mehr Naturforscher als Psycholog sein. Zum ersten Male zeigte sich mir das Gore-Gesicht, im Anfangsstadium sozusagen, bei der Geschichte mit Dagmar. Otto war dahintergekommen, daß seine Schwester Dagmar heimliche Zusammenkünfte mit einem jungen Düsseldorfer Kapellmeister hatte. Einem sympathischen und begabten Menschen übrigens. Otto hatte freundschaftlich mit ihm verkehrt, ihn häufig mit dem Auto holen lassen und abendelang mit ihm musiziert. Ich weiß nicht, wie weit sich Dagmar engagiert hatte, jedenfalls eröffnete sie dem Bruder ganz ruhig, als er ihr die Beziehung im Ton eines Untersuchungsrichters vorhielt, daß sie den Mann zu heiraten gedenke. Dagmar war keine Schönheit, aber äußerst anziehend und charaktervoll. Sie hatte den Bruder vergöttert, die Veränderung seines Wesens, die sie früher bemerkte als alle andern, war eine schmerzliche Enttäuschung für sie. Bald nach dem Tod des Vaters war es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen gekommen wegen der Rücksichtslosigkeit, mit der er die Mutter behandelte; ihre Gegenwart störte ihn, er vertrug sich nicht mit ihr, und nach einem vom Zaun gebrochenen Streit hatte er sie gezwungen, sich auf den trierischen Landsitz der Familie zurückzuziehen. Dann fing er an, sich allen möglichen Ausschweifungen zu überlassen, alkoholischen Exzessen und sonstigen ... für diese Zwecke hatte er ein Haus in Köln gemietet, dort spielte sich, in jedem Sinn, der nächtliche Teil seines Lebens ab, in welcher Gesellschaft, ist überflüssig zu sagen. Dagmar wußte es. Ich steckte um diese Zeit bis über den Hals in Arbeit, war die Hälfte des Jahres auf Reisen und bekam diese Dinge erst viel später und wie von ungefähr zu hören, niemand traute sich damit an mich heran, man hätte sich eine derbe Abfuhr geholt, denn unter allen Umständen hatte ich ihn ja nach außen hin zu decken. Wenn ich mit ihm beisammen war, gab es Konflikte genug, aber in der Regel zeigte er einen Eifer, mir zu gefallen, und war so bemüht um mich, daß der Argwohn, der mich freilich nie verließ, nur in der Tiefe weiterglomm. Eines Abends ließ sich Dagmar bei mir melden und um eine Unterredung bitten. Aufgeregt, ängstlich, halb vermummt kam sie, um mir zuvörderst mitzuteilen, daß sie von Spionen umgeben sei, auf Schritt und Tritt von Detektiven beobachtet, und daß sogar ihre Korrespondenz abgefangen werde. Dann berichtete sie die Ursache der Verfolgungen. Ich hatte davon gehört, mich aber gehütet, das Gerede aufzugreifen oder gar Otto darüber zu befragen. Sie war überzeugt, ich sei der einzige, der ihr helfen könne, der einzige, der noch Macht über Otto habe. Aber das war vorbei. Oder richtiger, es war nie gewesen. Was hat es mit dem Einfluß auf eine Seele auf sich, die keine Gravitation besitzt? Es ist eine Selbsttäuschung, und eine, bei der man schon hilflos auf der Strecke liegt, wenn man sie erkennt. Er hatte ihr so abscheuliche Szenen gemacht, daß sie noch in der Erinnerung erblaßte, hatte wie ein kotzebuescher Familientyrann getobt und die albernsten Velleitäten von Mesalliance und Familienschande vorgebracht. Es war zum Lachen. Ich bin nicht eben stürmisch eingenommen für die Mißachtung von Standesunterschieden zugunsten sogenannter Liebesheiraten, aber mein Gott, der Großvater von Andreas Kapeller war schließlich noch simpler Hufschmied in Steele gewesen. Da Otto bei seiner Schwester auf die unbeugsame Entschlossenheit stieß, die immer entsteht, wenn man sie mit ungeeigneten Mitteln brechen will, drohte er, ihren Liebhaber niederzuknallen, wenn er ihm vor die Augen trete, und als Dagmar dafür nur ein Achselzucken hatte, erklärte er ihr trocken, er werde ihre Entmündigung beantragen und sie in ein Irrenhaus sperren lassen. Das klang allerdings bedenklich, dergleichen war ihm zuzutrauen. Wann hat er das gesagt? fragte ich. Gestern, sagte sie und blickte mich schreckerstarrt an, als sei sie meines Beistandes plötzlich nicht mehr gewiß. Ich versicherte ihr jedoch, sie habe nichts zu fürchten. Am andern Morgen ging ich zu Otto, nachdem ich mich telefonisch angesagt, denn er hatte einen förmlichen Hofstaat von Dienerschaft um sich, und man konnte nur schwer zu ihm dringen. Ich gab ihm in aller Ruhe zu verstehen, daß jede Gewalttat, zu der er sich in dieser Sache vergäße, mich unweigerlich auf der Seite seiner Schwester finden würde. Was nun kam, war unerwartet. Eifersuchtsausbruch. Anklagen. Als ob ich ihn vernachlässigt, unsere Freundschaft verraten hätte, als ob ich mit Dagmar im Einverständnis sei, ja als ob Dagmar... absurd absurd... als wär' ich dem Edelsten meiner Natur untreu geworden und hätte ihn damit in heillose innere Verwirrung gestürzt. Absurd. Dazu Tränen, wirkliche Tränen. Ich weiß heute noch nicht, was daran Spiel und Rolle und was Wahrheit und echtes Leiden war. Wer will das Leiden auf seine Echtheit prüfen? Es gibt keinen Lügner, der nicht in seiner Lüge bis zu einem gewissen Grad wahr ist. Das ist es ja, weshalb uns die Lügner so viel zu schaffen machen, mir wenigstens. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, und indem ich mich zu einem Lächeln zwang, zitiere ich die Worte Petrucchios: Wenn kleiner Wind die kleine Flamme facht, so bläst der Sturm das Feuer und alles aus. Er schaute mich erstaunt an, dann schlug er die Augen nieder. Und in dem Moment durchzuckte es mich: Gore! Seine Wangen waren in den letzten Wochen unheimlich aufgequollen, die Farbe war kräftig und ungesund, der Hals hatte sich verdickt, der Nacken setzte zum Wulst an... Gore. Aber ein viel gefährlicherer Gore, ein viel unheilvollerer, einer, der sich auf ein Postament gestellt hatte und auf der öffentlichen Bühne den Heros mimte. Ich wußte damals schon: es geht auf Leben und Tod. Alles, was ich da erzähle, ich seh' dir's an, macht dir vielleicht den Eindruck, als hätt' ich es mit einem Halbwahnsinnigen zu tun gehabt und sei mir bloß nicht klar darüber geworden, mit einem Unzurechnungsfähigen, demgegenüber ich den Fehler begangen, ihn für voll zu nehmen, für ebenbürtig. Aber das ist ein Irrtum, ein fundamentaler Irrtum, Lieber. Weißt du, was diese scheinbare Unzurechnungsfähigkeit, diese großartig tuende Tollheit in Wirklichkeit war? Trivialität. Du mußt nicht meinen, daß ich im Augenblick der Erkenntnis alles geleugnet hätte, was zweifellos an großen Eigenschaften einmal vorhanden war, Finesse, Bildung, Erziehung, Anmut, Phantasie, aber das alles war durch die ungeheure Last von Besitz und Macht zu einem Brei von Trivialität zerquetscht worden. Der Organismus war zu schwach, das Gewicht zu tragen. Er war nicht darauf eingerichtet. Gore zur Potenz erhoben. Eine solche Trivialität hat etwas unglaublich Niederschmetterndes und Ernüchterndes. Sie saugt einem das Mark aus, und wo man hinfaßt, greift man ins schleimig Formlose. Ich war beengt, in jeder Hinsicht. Ich arbeitete unter beständigem Gegendruck. Von Reformen und Verbesserungen war längst keine Rede mehr, obwohl in manchen Teilen des Betriebs Zustände herrschten, die dringender Abhilfe bedurften. Wichtige Posten wurden mit Ottos Kreaturen besetzt. Über deren Köpfe hinweg traf er Verfügungen und griff in die Verwaltung ein, wobei er sich auf mich berief und mich in die Zwangslage brachte, ihn zu desavouieren. Zwei meiner besten Leute, ein Subdirektor und ein Ingenieur, wurden trotz meinem Einspruch entlassen, jener sollte ein Fabrikgeheimnis an die Konkurrenz verraten, dieser eine neue Verordnung sabotiert haben. Alles erlogen, eine perfide politische Intrige steckte dahinter. Im Dezember 1910, kurz vor dem großen Streik, hatte ich in Stockholm Verhandlungen mit einem schwedischen Konzern zu führen; in der entscheidenden Stunde, die Verträge sollten nur noch unterschrieben werden, fiel mir Otto mit einem geradezu verräterischen Telegramm an die Gegenpartei in den Rücken, mir, seinem Beauftragten. Du fragst mit Recht: Warum hast du ihm Amt und Stellung nicht vor die Füße geworfen und bist deiner Wege gegangen? Dem stand vieles entgegen. Ich habe oft mit dem Entschluß gerungen; es stand zu viel entgegen. Lebendiges Glied an einem lebendigen Körper, wie sollt' ich mich da leichterdings lösen? Jahre meines Lebens waren hineingeflossen, mein Blut war drin, Ideen, Pläne, Hoffnungen, Erwartungen, sollte alles umsonst gewesen sein, Fristung der Existenz bloß, und ich über alle Verantwortung hinweg das bereits Gewonnene, eine Welt, im Stich lassen wie irgendein bezahlter Schreiber? Unmöglich. Um zu kämpfen und mir's nicht bequem werden zu lassen, war ich ja da. Ich hatte überall im Betrieb Freunde, bis zu den jüngsten Arbeitern hinunter ergebene Leute, es war mir gelungen, ihr Vertrauen zu erwerben, sie hielten zu mir, auf eine abwartende Weise oft, aber es bedeutete ihnen was, wenn ich mich an ihren Diskussionen beteiligte, ihre Streitigkeiten schlichtete, ihre Versammlungen besuchte, sie nahmen es nicht für den Luxussport eines Herrn, sie fühlten, was sie anging, ging auch mich an. Ich hatte Freude an dem Ganzen, es war mir manchmal wie mein Eigenes. Wenn ich durch die Zechen, Gießereien, Stahlwerke, Walzwerke schritt, die Hochöfen, Krane, Pressen, Generatoren, Bohrer, Kessel, Schmieden und Hämmer sah, wenn die rotglühenden Eisenstangen über die Blockstraßen sausten und die glühenden Radscheiben an den riesigen Hebemagneten hoch über meinem Kopf hinschwebten, das war eine eigentümliche Betörung, Gewalt über die Elemente und die Materie, und schlug ich dann einen Band Goethe auf oder schaute mir ein Bild von Renoir an, so war das gar nicht so weit weg davon. Die Flinte ins Korn werfen, das hätte geheißen, sich als Besiegten und als Flüchtling bekennen, und das könnt' ich nicht, dürft' ich nicht, dagegen bäumte sich alles in mir auf, da mußte sich erst das Schicksal selbst gegen mich erklärt haben... Aber ich will zum Ende kommen. Der Streik, der von Anfang an den Charakter eines sozialen Unglücks gehabt hatte, war in der Hauptsache auf die starre Haltung Ottos zurückzuführen. Geringe Nachgiebigkeit nur, und man hätte verhandeln können; als ich ihm bedeutete, daß es hier nicht um Theorien gehe, nicht um persönliche Kraft- und Energieproben, sondern um ein Gesetz der Zeit und um Notwendigkeiten, die sich auch ohne ihn und wider ihn durchsetzen würden, gab er mir zur Antwort, darauf wolle er's eben ankommen lassen, vorläufig halte er sich noch für stärker als den aufgewiegelten Mob. Diese Verblendung machte mich schaudern, ich verzichtete auf weiteren Kampf. In der vierten Streikwoche, an einem frühen Morgen, erschien eine Deputation von Arbeiterfrauen vor der Villa und begehrte ihn zu sprechen. Es waren etwa dreißig Frauen jeden Alters, zweieinhalb Stunden warteten sie in der Kälte, standen lautlos vor dem Parkgitter und blickten zu den Fenstern empor wie Figuren von Meunier. Ich bewohnte um die Zeit das sogenannte Kavalierhaus am Ende des Parkes, vor mir hatte Dagmar drin gewohnt; seit dem Zerwürfnis mit dem Bruder lebte sie in England, eine Lösung, die ich vorgeschlagen hatte. Ich wußte von der Abordnung, ich dachte, Otto hätte sie längst empfangen, indessen teilte mir um dreiviertel zehn mein Sekretär mit, daß sie noch immer vor dem Tor stünden. Das geht doch übers Bohnenlied, sagt' ich mir, ging sofort in die Villa hinüber und verlangte Otto zu sprechen. Der Butler kam, der erste Kammerdiener, der zweite: Bedauern, der gnädige Herr ist noch im Bad. Ich: das kümmert mich nicht, die Sache leidet keinen Aufschub, und dränge die Leute beiseite. Zwei Minuten drauf stehe ich im Badezimmer, besser gesagt Badesaal, alles eitel Marmor und Gold, er sitzt in der Wanne, feist und zufrieden. Er vergnügt sich damit, ein Gummikrokodil schwimmen zu lassen und mit dem Finger den Rachen auf und zu zu klappen. Er mustert mich spöttisch und fragt: Na, was Neues vom Kriegsschauplatz? Gore. Gore in Vollendung. Da wüßt' ich: Er oder ich, denn er und ich, das war nicht möglich, auf tausend Meilen Entfernung nicht. Da war kein Zwist und Handel zwischen Privatpersonen mehr, da ging's um was anderes. Er schien es selbst zu begreifen, die Insulte, die er mir drei Tage später im Fabrikhof vor den Arbeitern, Mannschaften und Offizieren zuschleuderte, war durchaus von kalter Überlegung eingegeben, sie machte auf alle, die dabei waren, den Eindruck, wie wenn einer in der für ihn vorteilhaftesten Situation die Maske abwirft und sich stellt. Vielleicht war es ein Akt der Erlösung, wer will das beurteilen, vielleicht ein letzter verzweifelter Durchbruchsversuch aus dem Schein in die Wirklichkeit mit der feigen Absicht, die Entscheidung dem Schicksal zuzuschieben. Schein... eben, eben. Alles Dämonenwesen und Gorewesen ist ja bloß Schein. Das Duell ging auf schwerste Bedingungen, Pistolen, sieben Schritt Distanz, Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit eines Gegners. Am Abend vorher schrieb ich einige Briefe, dann ging ich mit einem Buch in den kleinen Wintergarten, um noch eine Stunde zu lesen. Da war mir, als glitte ein Schatten an der Glaswand vorüber. Ich sah auf, es war heftiges Schneegestöber draußen, sah auf und gewahrte Otto. Er stand drei Schritte von mir, die gläserne Wand zwischen uns, im Pelz und niedern steifen Hut, eine Zigarre im Mundwinkel, und schaute mich aus leicht verkniffenen Augen durchdringend an. Als ich das Buch weglegen und aufstehen wollte, drehte er sich um und verschwand im Flockenwirbel. Dieses Bild von ihm wie von der Schwelle der Unterwelt her ist mir unauslöschlich in der Erinnerung geblieben.«

Nach langem Schweigen erhob sich Irlen und sagte mit belegter Stimme: »Heute würde ich nichts gegen ein Veronal einzuwenden haben, Joseph.«


Daß mit Nina etwas nicht in Ordnung war, hatte Kerkhoven gespürt, aber eben nur gespürt, nicht wahrgenommen. Als er an einem der nächsten Abende spät nach Hause kam und in sein Arbeitszimmer gehen wollte, um noch eine Stunde zu lesen, bemerkte er, daß die Schlafzimmertür nur angelehnt war. Durch den Spalt schimmerte Licht. Sie hat vergessen, das Licht auszulöschen, dachte er. Leise ging er hin und öffnete die Tür ein wenig weiter. Sein Schritt war fast unhörbar; wenn er nachts heimkam, pflegte er im Vorzimmer die Filzschuhe anzuziehen, um Nina nicht zu wecken. Er spähte gegen das Bett und sah, daß sie wach war. Sie lag still da, die Hände unter dem Nacken, und blickte zur Decke hinauf. Das Gesicht hatte etwas Lebloses, doch kaum hatte sie, ohne die Richtung ihres Blicks zu verändern, die Bewegung der Tür bemerkt, als ein elektrisches Beben über ihren Körper lief, bis zu den Knien verfolgbar, und sofort erschien das süßliche Lächeln auf den Lippen, das nur dann von ihnen wich, wenn sie ganz sicher war, allein und unbeobachtet zu sein.

Kerkhoven trat an das Bett. »Hallo, Nina, fehlt dir was?« – Eifriges Kopfschütteln. – »Warum schläfst du denn nicht?« – Achselzucken. Sie wisse es nicht. – »Es ist doch gleich eins. Bist du nicht müde?« – Müde? O nein. Non è mai stanca. Wovon sollte sie müde sein. – »Aber du siehst so komisch aus ... du hast etwas ... willst du mir's nicht sagen?« – Erstaunen Wahr'aftig nein, Giuseppe. Nix. Nixnix. Und das Lächeln. Er schaute sie noch eine Weile forschend an, dann ließ er sie. Als er gegen zwei Uhr zu Bett ging, lag sie noch genauso da, die Hände unterm Nacken, mit demselben geronnenen Lächeln, aber die Augen waren geschlossen, sie schien zu schlafen. Er hegte Verdacht, sie stelle sich bloß schlafend, doch fand er es bequemer, sich nicht davon zu überzeugen. Es wühlten zu viele Gedanken in seinem Hirn, zu viele Sorgen bestürmten sein Herz. Er glaubte noch nachzudenken, während er schon schlief, die Taggespenster ließen ihm keine Ruhe. Und so floß alles, was in seinem Unbewußten mit Nina zu tun hatte, in einen aus der Finsternis des Schlummers herausgeschnittenen Leuchtkreis, dessen quälende Grellheit den Augenblick des Aufwachens zur Erlösung machte.

Er fing an, sie zu beobachten, und dies wirkte auf sie wie auf den Goldfisch die Annäherung eines Menschen an das Bassin, in dem er schwimmt. Vielleicht gewahrt er nur den Schatten, aber der genügt zur Panik. Das geronnene Lächeln, mit dem Nina von früh bis abends herumging, gab ihm zu denken. Ihr Schwatzen und Lachen hatte etwas Entseeltes, wie das Geräusch von Regentropfen in einer Dachrinne. Dazu der scheue Blick, und, wenn er eine liebkosende Berührung versuchte, das Zurückziehen. Beim Weggehen von zu Hause küßte sie ihn, aber nur auf die Wange, ganz obenhin, ganz gehorsame Magd. Er wunderte sich. Manchmal wurde er ungeduldig und zankte. Da faltete sie stumm die Hände vor der Brust und stand da wie eine melancholische kleine Madonna ... Komm her, Nina, setz dich zu mir... näher, hast du denn Angst vor mir, gib mir doch die Hand... Sie setzte sich an seine Seite, reichte ihm langsam die Rechte, schaute ihm eine Sekunde lang starr in die Augen, dann verdeckte sie seine Augen mit der Linken und kehrte sich weg. Sehr italienische Geste, sie rührte ihn, aber was tun? Die tiefe Anhänglichkeit, die er für dieses Geschöpf empfand (wie entsprach sie dem Sinn des Wortes, wie unverkennbar war sie »creatura«), hinderte ihn nicht, zu sehen, daß sie sich nur noch am äußersten Rand seines Lebens bewegte und daß es schwierig war, sich mit ihr zu verständigen, sobald es nicht um das gewohnte tägliche Einerlei ging. Zu viele Gedanken wühlten in seinem Hirn, zu viele Sorgen bestürmten sein Herz, kleine Nina, du wehrst dich umsonst gegen das unerbittliche Schicksal, deine Zeit ist um. Kerkhoven war freilich nicht der Mann der graden Wege und der mutigen Abrechnungen, mit sich und mit andern konnte er nicht fertig werden, er hing und verhing sich in jeden Zustand, fürchtete die Entscheidung und die Endgültigkeit eines jeden. Die Senatorin Irlen hatte einmal zu ihrem Sohn gesagt: »Hast du bemerkt, daß er gern die Türen hinter sich offen läßt? Das muß etwas zu bedeuten haben.« – »Es hat zweifellos etwas zu bedeuten«, gab Irlen mit leiser Ablehnung kritischer Folgerungen zur Antwort, »ein Mensch, der nicht weiß, wie weit er gehen wird, sucht sich instinktiv den Rückzug zu sichern.«

So lang wie möglich wird Kerkhoven an die Unerschütterlichkeit seiner Verbindung mit Nina glauben. Das heißt, er wird sich weder die Kraft noch die Entschlossenheit zutrauen, das Band zu zerreißen, und wird eher hundert Gründe ausfindig machen, die es als untrennbar und schicksalhaft erscheinen lassen, als dem einzigen gemäß handeln, der ihm die tiefe Brüchigkeit des Verhältnisses vor Augen führt. Er wird seine Dankbarkeitsverpflichtung vorschützen, sein Mitleid, seine Ehre, um sich einen Schritt zu ersparen, der ihm zu große Opfer an Energie und Festigkeit auferlegt, und mit der Ausrede, daß höhere Aufgaben sein Leben beanspruchen, wird er unter Umständen dieses Leben selbst zum Opfer bringen, nur um nicht vor ein Entweder-Oder gestellt zu werden. Er weiß es. Er fürchtet sich vor sich. Er hat immer gedacht: Frau ist Frau, und da man nun einmal eine haben muß, ist man noch mit der am besten dran, die einen am wenigsten stört. Aus dieser nicht sonderlich erlauchten Auffassung heraus hatte er vor kurzem gegen Irlen geäußert: »Meine Ehe ist, was eine richtige Ehe sein soll, nämlich in jeder Hinsicht neutralisiert.« Irlen hatte spöttisch-nachsichtig gelächelt, was blieb ihm anders übrig, wenn ein so grundgescheiter Mann so törichtes Zeug redete. Doch Kerkhoven fühlte sich unbehaglich, seine ganze Existenz war ihm so unbehaglich, als ob er immerfort rauhe, geflickte Wäsche am Leib trüge. Er war beirrt, gereizt, aufgescheucht; im Wunsch, es möge alles so bleiben, wie es war, und in der Angst, daß es nicht mehr so weiterging wie bisher, fachte er die halberloschene Zärtlichkeit für Nina wieder in sich an und ging, als sei dies die unerläßliche Folge, Marie Bergmann geflissentlich aus dem Weg. Denn dort wurzelt ja die Angst. Nur Angst, nichts, worauf sie sich gründete, nichts Ausgesprochenes, nichts, was man stummes Einverständnis nennen konnte, leere, blöde Angst. Er machte sich nichts vor, er spürte natürlich, daß zwischen dem geronnenen Lächeln auf Ninas Lippen und seiner eigenen veränderten Gemütslage ein Zusammenhang bestand, aber daß Nina von Marie Bergmann wußte, daß sie wie eine, der eine Verkündigung geworden, in ihrer Seele bereits erlitt, was sie erst erleiden sollte, das hätte er sich nicht träumen lassen. Ein Vorfall vermittelte ihm die Ahnung davon.

Eines Mittags, es war an einem Dienstag Ende März, saß er mit Nina bei Tisch, als es draußen läutete. Der Depeschenbote, Telegramm von Marie Bergmann. Aufgegeben in einer zwanzig Eisenbahnminuten entfernten kleinen Stadt. Inhalt: wenn er es möglich machen könne, bitte sie ihn inständig, sogleich zu ihr zu kommen, sie liege krank in dem und dem Gasthof. Kerkhoven verfärbte sich. Drehte das Papier um und wieder um. Krank? In einem Gasthof krank? Wie kam sie dort hin? Was hatte sie dort zu suchen? Er zog sein Notizbuch, blätterte nervös, ging dann ins Vorzimmer und telefonierte ein dringendes Antworttelegramm. In einer Stunde konnte er bei ihr sein. Aber Nina war schuld, daß es länger dauerte.

Er hatte die Depesche achtlos liegenlassen; als er wieder ins Zimmer trat, stand Nina neben dem Tisch, das Telegramm in der Hand. Sie las oder schien zu lesen, denn die Augen bewegten sich nicht. Sie stierte mit dem Ausdruck hilfloser Verzweiflung auf das Papier, als ob sie unermeßliches Unglück daraus erfahren oder bestätigt gefunden hätte. Kerkhoven erschrak. Trotz des Schreckens mußte er aber erst seine Gedanken zu ihr zwingen, weil noch der andre Schrecken in ihm war. »Nina! Che cosa, Nina!« rief er und legte die Hand auf ihre Schulter. Langsam richtete sie den Blick auf ihn, wie erstaunt über seine Stimme. Da begriff er alles. Noch ehe sie seinen Armen entgleitend in die Knie gebrochen war, hatte er begriffen. Mit tiefem Aufseufzen hielt sie sich an der Tischkante fest und flüsterte vor sich hin: »Morire... morire...« Mit seiner respektablen Kraft hob er sie auf und trug sie zum Sofa. Er bettete sie hin wie einen verwundeten kleinen Vogel, den man unterwegs aufgelesen hat, und setzte sich zu ihr. Toll, ging es ihm durch den Kopf, gänzlich närrisch. Er verspürte einen Lachreiz, rein motorische Gegenwirkung, denn einen Augenblick lang stockte sein Herz. Nicht weil er für Nina fürchtete. Auch das. Aber es stand in zweiter Linie. In erster stand die Besorgnis, wie er sich gegen die grausige Hellseherei dieser Frau schützen sollte, wenn einmal (wer weiß, wann) der feig verhehlte Traum, den die wachen Sinne aus der Erinnerung drängten, Wirklichkeit erlangte. Jetzt galt es zu trösten, zu spotten, unbefangen sein, Ruhe bewahren, überlegen sein, Zeit gewinnen, die häusliche Ordnung nicht gefährden. Manöver. Uralte Manns-Methoden. Er redete italienisch. Es war näher, faßlicher, beschwichtigender für Nina, außerdem war ihm dadurch eine gewisse Ausdruckssteigerung erlaubt, die ihm die deutsche Sprache verwehrte. Allein in Ninas Innern war ein Gefühl wie ein genau eingestellter Meßapparat, der zeigte Ablauf und Ende an, untäuschbar. Sie hielt seine Rechte mit ihren beiden umschlossen und hörte ihm scheinbar gläubig zu. Vielleicht glaubte sie ihm wirklich, während er sprach. Sie konnte nicht in sein Gehirn hineinschauen. Sie konnte nicht wissen, daß er immerfort an die andere dachte, die aus einem Gasthof einer andern Stadt nach ihm gerufen hatte wie eine Sterbende. Seine gezwungen scherzhaften, seine vorwurfsvollen Fragen beantwortete sie ganz zutraulich, ganz heiter schon: »Si ... credo... hai ragione... si, si... sono un po' stupida, scusa, Giuseppe.« Aber es war nur eine vorübergehende Aufhellung ihres Gemüts. Bald umhüllte es der dunkle Schleier von neuem. Bis Kerkhoven erkannte, daß der Zustand das Bild einer Seelenkrankheit bot, vergingen noch Wochen. Die Zeit riß ihn von ihr weg, das Schicksal, unbarmherzig, da nützte kein Vorsatz, kein Pflichtgefühl, keine Dankbarkeit, kein Wille zu schonen.

Er hatte ein Werk über Blutkrankheiten mitgenommen und versuchte während der Fahrt zu lesen. Die Gedanken irrten eigensinnig ab. Er hatte, gestern oder vorgestern, den Privatdozenten Bergmann getroffen, dieser hatte ihm erzählt, seine Frau sei für ein paar Tage auf das Gut einer Freundin im Odenwald gereist. Er hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Marie unternahm oft derartige kleine Ausflüge. Er hatte sogar eine Art Erleichterung gespürt, ähnlich wie: um so besser, da kann sie mir nicht begegnen, es bleibt alles beim alten. Auch das war schon zuviel, wie durfte er es wagen, eine Begegnung nicht zu wünschen, also zu wünschen? Im Moment, wo er das Telegramm gelesen, hatte er dieselbe Empfindung gehabt wie als Kind, wenn man ihn des Morgens aus dem Bett gerissen hatte: Kälte, Kränkung, Überfall. Marie war die Person nicht, die sich in blindem Alarm gefiel. Wenn sie ihn mit solcher Eindringlichkeit rief, hatte sie Grund, den ernstesten. Nun, ich komme, dachte er, ich komme. Und trommelte vor Ungeduld auf der offenen Buchseite.

Um halb vier kam er an. Der Gasthof lag zwei Minuten vom Bahnhof. Ein besseres Landwirtshaus eigentlich. Vor dem Eingang ein Bierwagen, schwatzende Handlungsreisende. Man wies ihn an eine ältere Frau. Er nannte seinen Namen. Ja, die Dame erwarte den Herrn Doktor, Zimmer fünf, zweiter Stock. Er stieg hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ein finsterer Gang, er zündete ein Streichholz an, um die Nummern lesen zu können, klopfte endlich an einer nischenartig vertieften Tür. Riesiges Zimmer mit niedriger Decke, schlecht durchwärmt, mit Kälteunterschicht, drei Fenster, ein Erker, Plüschmöbel, kahl, unwohnlich, hinten zwei Betten, in einem von ihnen bleich, matt lächelnd, unkenntlich fast: Marie. »Dank«, flüsterte sie, »Dank, daß Sie gekommen sind, vielen Dank.« Er entledigte sich seines Mantels, warf ihn samt dem Hut aufs Sofa, zog einen Stuhl herbei. Drei, vier Fragen in feststehender Formulierung. Sie antwortet mechanisch. Was ihr fehlt, kann sie nicht sagen. Angst, Angst, Angst. Sie ringt verzweifelt die Hände, um die Angst zu illustrieren. Sie kann nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen, nicht denken, nicht gehen: Angst, fürchterliche Angst. Das Herz tobt, die Eingeweide krümmen sich, der Kopf schwindelt ihr, sie kann auf keiner Stelle liegen, wälzt sich und wälzt sich, das Gehirn ist ein einziger gräßlicher Gedankenaufruhr, aber das Allerallerärgste ist die Übelkeit, sie kann keinen Begriff davon geben, wie schrecklich es ist, sie hat Baldrian in Löffeln genommen, Algocratin, alles umsonst, es ist wie ein inneres Erwürgtwerden, sie hält es nicht mehr aus, sie will nicht mehr leben.

Kerkhoven schaute sie an. Lange Zeit. »Seit wann ist das so?« fragte er. – »Seit drei Tagen.« – »Also seit Sie von zu Hause fort sind?« – Sie zögerte: »Ja...« – Dieses Zögern fiel ihm auf. »Ist es der erste Anfall der Art, oder haben Sie schon früher...?

– »Schon früher. So heftig war's aber noch nie.« – »Können Sie mir sagen, zu welcher Zeit es angefangen hat?« – »Vor zweieinhalb Monaten. Ich hab' mich sehr zusammengenommen, damit es niemand merken soll. In meinem ganzen Leben hab' ich mich nicht so zusammengenommen. Diesmal aber...« – »Und die Ursache? Können Sie mir eine bestimmte Ursache nennen?«

– Wieder zögerte sie. »Ich denke, ja. Es hat mit Aufregungen zu tun. Es ist... ich...« Tiefer Atem hob ihre Brust. Die Augen waren naß. Der schöngebogene Mund zuckte. – »Sie müssen mir alles sagen, Frau Marie. Wenn ich den Zustand... wenn ich Ihnen helfen soll, dürfen Sie mir nichts verschweigen. Vielleicht warten wir ein wenig. Vielleicht denken Sie in aller Ruhe ein wenig nach.« Während er sprach, schaute er sie immerfort aufmerksam an, ohne daß sein Blick die mindeste Neugier, die mindeste Gemütsbewegung verriet. Sie hielt dem Blick stand, ungefähr wie jemand, der sich krampfhaft wo festhält, um nicht zu fallen. Es löste sich etwas in ihr. Seine stille Gegenwart flößte ihr Sicherheit ein. Sie schloß die Augen. Doch ihre ineinanderverschränkten Finger machten unaufhörlich qualvolle Knetbewegungen. »Es ist schon ein bißchen besser«, murmelte sie, »es ist besser mit der Angst.« Warum liegt sie in diesem Wirtshaus da, in dieser greulichen Bude von einem Zimmer? dachte er in ratloser Betroffenheit; was sich hier darbietet, läßt keinen Zweifel zu, ausgesprochene Psychoneurose, abzufragen was sie hervorgerufen hat, erübrigt sich wohl... aber wie geht das zu? Was, um Gottes willen, ist geschehen? Er nahm sanft ihre gequälten Hände auseinander und sagte: »Reden Sie, Frau Marie. Reden Sie sich's von der Seele.«

Was er gleich vermutet hatte, bestätigte sich. Liebesgeschichte. Erotische Verstrickung. Ehebruch. Freilich, eine halbe Stunde vorher hätte er nicht einmal den Gedanken zu denken gewagt, hätte empört und mit überlegener Verachtung die bloße Andeutung der Möglichkeit zurückgewiesen, wer immer sie auch geäußert hätte. Darauf kam es jetzt nicht an. Hier war er nicht Mann, sondern Arzt. Hier hatte er mit der Patientin Marie Bergmann zu schaffen, mit nichts und niemand sonst. Alle Vergesellschaftung mit andern Ideen und Träumen war glatt auszutilgen.

Die Erzählung läßt sich nur inhaltsmäßig festhalten. Fehlt die Musik der Klage darin, so ist sie nichts mehr. Die brutale Wiedergabe macht ihr Ergreifendes zunichte. Die Tatsachen unterscheiden sich in keiner Weise vom Üblichen. Unter der Grobheit ihres Unglücks litt sie vielleicht am meisten. Vergangenen Juli hat sie bei ihrer Freundin Tina, der geborenen L'Allemand, seit zwei Jahren an den Oberförster Audenrieth verheiratet, einen Herrn von P. kennengelernt, Weltmann, Sportsmann, Jäger, unsinnig reich, Stück von einem Abenteurer, Stück von einem Grandseigneur. Dieser Mann, über fünfzig schon, hat sich mit besinnungsloser Leidenschaft in sie verliebt. Sie bemüht sich zu erklären, warum sie dem Ansturm von Raserei nicht widerstehen gekonnt, findet aber nur hilflose Worte. Es ist ihr damals leer ums Herz gewesen, erdrückendes Einerlei der Tage; keine Freude, keine Aussicht auf Freude, auf einmal war's wie eine Windhose, die einen herumwirbelte und mit fortnahm. Es kommt eben so. Man kann nichts dafür... Ihre Stimme war gleichmäßig leise, der gesenkte Blick suchte auf der Bettdecke einen Punkt, wo er ruhen konnte, die gefalteten Hände bewegten sich nicht und wirkten wie gefesselt. Sie ist in dem Verhältnis von Anfang an die Überwältigte gewesen und war der Freiheit der Entschließung beraubt. Der Zustand hat Ähnlichkeit mit einem jener Träume gehabt, aus denen zu erwachen man sich verzweifelte Mühe gibt, und es gelingt nicht. Sich gegen die Tyrannei aufzulehnen ist vergeblich gewesen. Obwohl er seiner Familie gegenüber dieselben zwingenden Gründe wie sie gehabt, das Geheimnis zu wahren, hat er sie durch seine wahnwitzige Eifersucht und die rücksichtslosen Forderungen an ihre Zeit in die größte Angst versetzt, alles werde an den Tag kommen. Sie darf nicht wagen, sich zu entziehen, der triftigste Abhaltungsgrund wird zum Anlaß abscheulicher Auseinandersetzungen, er ist fähig, in ihr Heim zu dringen, vor keinem Skandal wird er zurückscheuen, anerkennt er doch auch keine Macht über sich, er ist gewohnt, alle Schranken niederzureißen, hat nur Liebediener und Jasager um sich. Im Oktober hat er ihr mitgeteilt, er müsse für zwei Monate nach Amerika reisen. Sie hat aufgeatmet. Neues Leben schien möglich. Sie beschloß ein Ende zu machen, und als ob das Schicksal ihr beistehen wollte, hatte es Johann Irlen gesandt; in seiner Nähe, so dünkte ihr, konnte sie die verlorenen Seelenkräfte zurückgewinnen. Aus den zwei Monaten seiner Abwesenheit wurden vier. Als er ihr seine Rückkunft meldete, war sie innerlich eine andere geworden, aber mit ihm zu brechen, sah sie trotzdem keine Möglichkeit. Fragen Sie nicht warum, Doktor Kerkhoven, nein, fragen Sie nicht, es ist die schlimmste aller Qualen. Sie begreift es selber nicht. Sie liebt ihren Gatten. Ihm Schmerz zuzufügen, unausdenklich. Und solchen Schmerz. Wenn er ahnte. Es läßt sich kaum vorstellen, was mit ihm geschähe. Sie liebt ihn, wirklich, wirklich, sie liebt ihn, sie hat ihn unendlich gern. Sein kleiner Finger ist mehr wert als jener ganz. In diesem Menschen, der sie so verrückt zu lieben vorgibt, ist kein Funke Edelmut, keine Vornehmheit, kein höherer Geist, nichts, nichts, nur wilde Kraft. Sie weiß es. Darin liegt ja das Furchtbare: in der Hingabe an einen Mann, den sie nicht achten kann, noch mehr, mit dem sie innerlich nichts gemein hat. Doch es zwingt sie, wie geht das zu, es macht sie vollkommen elend. Gestern abend ist sie mit ihm in sein Jagdhaus gefahren. Dort pflegen sie einander zu treffen. Und wie es immer gewesen ist, so auch diesmal. Erst das wütende, rasende ... ach, Gott, wozu es aussprechen ... dann der Nervenzusammenbruch. Jedesmal. Und jedesmal ärger als das vorige Mal. Es träte wahrscheinlich auch dann ein, wenn er sich wie ein Mensch benähme, der seine fünf Sinne beieinander hat. So aber ist gar kein Halt. Verdächtigung, Drohung, Beschimpfung. Dann wieder der tobsüchtige Körper. Ohnmacht über Ohnmacht, physische, seelische. Und wieder die Folter der Befragung. Sie schildert, weil sie es plötzlich innerlich sieht, wie er auf dem Tischrand sitzt, die Arme verschränkt, und mit kaltem Ingrimm sein Kreuzverhör beginnt. Nach jeder Antwort lacht er schallend und verdreht den Körper wie ein Akrobat. Er glaubt nicht, daß sie ihm allein angehört. Es ist demütigend, daß es so ist, demütigend, daß er es nicht glaubt. Seit Monaten lebt sie ja nicht mehr mit Ernst, so seltsam es klingt, es ist die Wahrheit. Ernst bescheidet sich. Er würde sich jahrelang bescheiden. Er fügt sich ihrem Wunsch, und er fügt sich ihrer Indifferenz. Was immer sie tut, er findet es richtig, murrt nicht, beklagt sich nicht, wartet, ist glücklich, daß sie bei ihm ist, braucht keine sinnlichen Entflammungen. Vielleicht wird er eines Tages anders sein, es ist nicht wahr, daß die Natur keine Sprünge macht, vorläufig ist seine Haltung von der unfaßlichsten Sanftmut und Geduld. Der andere aber: unersättlich. Es läßt ihn nicht, bis die letzte Schwäche und Erniedrigung jeden Lebenshauch in ihr absterben macht. Aber sie will berichten, wie es gekommen ist, daß sie hier liegt. Gegen Morgen hat er sie verlassen, sie hat nicht schlafen können, plötzlich ist ihr klargeworden: gehst du in dieser selben Stunde nicht auf und davon, so ist es zu spät für immer. Sie ist aufgestanden, hat sich angekleidet, ist heimlich aus dem Haus gegangen, hat sich anderthalb Stunden durch den Wald geschleppt, hat im Dorf glücklicherweise einen Wagen gefunden, der hat sie hierher gebracht. Sie hat an Tina telegrafiert, sie möge im Fall einer Nachfrage von zu Hause oder vom P.schen Jagdhaus angeben, sie sei für einen Tag nach München gereist, dann auch an ihn, Kerkhoven. Was soll sie jetzt tun? Sie traut sich nicht heim. Wie wäre das möglich, abgesehen von ihrem Zustand. Sie kann Ernst nicht vor die Augen treten. Sie kann dieses Spiel nicht mehr spielen. Sie kann nicht dorthin zurückkehren, wo Johann Irlen ist. Wenn Aleid nicht wäre, könnte sie vielleicht verschwinden, für eine Weile wenigstens, Kerkhoven würde sich nicht weigern, ihr dabei zu helfen. Sie hat sich die Frage vorgelegt, ob sie ohne jenen Mann existieren kann. Sie weiß es nicht. Trotz allem und allem, sie weiß es nicht. Mit ihm bestimmt nicht. Ohne ihn auch nicht. »Was soll ich also tun, Doktor Kerkhoven, sagen Sie es mir, so kann man doch nicht weiterleben ...« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Sie zitterte am ganzen Leib. Weinte nicht. Sie weinte selten. Seit dem Tod des Vaters hatte sie nicht mehr geweint. Um sich selbst weinen ... da mußte, metaphorisch gesprochen, schon etwas vom Sternenhimmel dabeisein.

Kerkhoven strich sich mit der Hand über seine Stirn, die feucht war, und sagte: »Das alles werden Sie mit andern Augen ansehn, Frau Marie, wenn sich erst Ihr Körper wieder beruhigt haben wird.« Sie schüttelte traurig den Kopf. Kerkhoven gab sich einen Ruck und fragte mit rauher Stimme, worin denn die Anziehung für sie bestanden habe ... oder solle er sagen: bestehe? Er begreife es nicht ganz. Schließlich, ein Mann, dreißig Jahre älter als sie ... Da müsse doch die Hinneigung von ihrer Seite ... es mache den Eindruck krankhafter Übersteigerung. Könne sie ihm nicht einen Anhaltspunkt geben? (Eine Frage, die er sich, nach allem, natürlich selbst beantworten konnte, aber es war der »Mann«, nicht der Arzt, dem sie entschlüpfte und der hören wollte, was er zu hören fürchtete.) Mit ihren erfahrenen, ernsten Augen sah ihn Marie verwundert und wie sinnend an. Diese Augen waren der stummen Sprache in höherem Grad mächtig als der Mund der Worte. Sie stützte den Ellbogen auf das Kissen, legte die Wange in die Hand und sagte leise: »Er ist ein Mann, der physisch keine Grenzen kennt.« Kerkhoven stand auf, ging zum Fenster und verharrte dort in wortlosem Nachdenken. Er sah, ohne zu sehen, Häuser wie aus der Spielzeugschachtel, zu beiden Seiten einer Straße hingestellt. Als er nach drei vier Minuten an das Bett zurückkehrte, hatte es den Anschein, als habe er in der Zwischenzeit lediglich erwogen, wie der Fall zu behandeln sei.


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