Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Kerkhoven brachte Lorriner in die geschlossene Abteilung seiner Anstalt. Das sollte kein Definitivum sein; die Übergabe an eine staatliche Anstalt behielt er sich vor. Er hatte seine Gründe, die Gedanken vorläufig nicht zu äußern, die er sich über den Fall machte, als sich ihm die einzelnen Umstände und der Hergang entschleiert hatten. Schwerer wog die Sorge um Etzel. Er wirkte wie ein Mensch, der mit aller Gewalt zu verhehlen sucht, daß er mit seinen Kräften am Rand der Erschöpfung ist. Als Kerkhoven ihn eines Tages fragte, ob er sich krank fühle, dachte er einen Augenblick nach und sagte: »Leider nein.« – »Wieso leider?« – »Ich war eigentlich nie richtig krank. Das fehlt mir vielleicht. Es schleicht was in mir herum, als wär's zu feig, sich zu entschließen, was es tun soll.« – »Daran ist etwas prinzipiell Wahres«, erwiderte Kerkhoven; »wenn die Menschen einmal ihren Organfunktionen den Gefahrenmoment abhorchen lernen, werden sie ihre Physis quasi zur Offenheit zwingen und die tückische Aufhäufung von Störungsgiften verhindern können. Virulenz der Keime ist oft nur eine Folge der Trägheit unserer Sinne. Das hat auch mit der Instinktbasis zu tun, von der wir neulich gesprochen haben. Die Wissenschaft steht da ganz am Anfang.« – »Soll ich Ihnen sagen, wie mir zumut ist, Meister? Aber lachen Sie mich nicht aus: so violett. Von den Menschen, von mir, von allem hab' ich ein violettes Gefühl.« – »Hm«, machte Kerkhoven verwundert und zog die Stirn kraus.

Das Mißliche war nach Kerkhovens Ansicht, daß der junge Mensch in seinen verschiedenen Zufallsquartieren alle häusliche Pflege entbehrte, jene Schonungen und Erleichterungen, die seiner jetzigen Verfassung sehr zugute gekommen wären. Am ehesten hatte man noch bei Lüttgens auf ihn acht gehabt, aber von dort war er längst ausgerückt, da er die Beziehung zu Hilde gelöst hatte. Gegenwärtig wohnte er in einem Hofgebäude in der Motzstraße bei einer Frau Blaustein, die die Schwester des bereits erwähnten Max Mewer war. Mewer, ein unansehnlicher, häßlicher Mensch von prononciert jüdischem Typus, war bei einem Montagsblatt angestellt, in seiner freien Zeit besorgte er Neil Marschalls Korrespondenz. Diesen Posten hatte ihm Etzel verschafft, denn er war bettelarm und wußte sich nicht durchzusetzen. Nun stand auf seiner Visitenkarte stolz zu lesen: Max Mewer Schriftsteller und Sekretär der Britzer Freien Siedlung. Aus Dankbarkeit hatte er für Etzel die Wohngelegenheit bei seiner Schwester vermittelt; bis vor kurzem hatte ein schwedischer Ingenieur dort logiert. Die Zimmer seien geradezu herrschaftlich, beide mit Ausblick auf einen Park, versicherte Mewer. Park in der Motzstraße, das lohnte einen Gang. Als Etzel mit Mewer hinkam und zum Fenster hinausschaute, waren da fünf krüppelhafte Bäume, ihre bleichsüchtige Belaubung verbarg schamhaft eine mechanische Werkstätte auf der gegenüberliegenden Hofseite, vermochte aber die stählernen Hammerschläge nicht zu dämpfen, die scharf rhythmisiert die Luft durchschnitten. »Und wo ist der Park?« erkundigte sich Etzel, wie jemand, der auf seinem Schein besteht. – »Park... na ja, Garten ...«, schränkte Mewer etwas betreten ein. – »Ich sehe auch keinen Garten.« – »Aber Bäume doch ... nennst du das keinen Garten?« – »Kaum ... Ich würde es Schmiede mit Gebüsch nennen«, erwiderte Etzel trocken. Jedoch mietete er die Zimmer.

Kerkhoven besuchte ihn eines Morgens vor der Sprechstunde. Er wollte sehen, wie er hauste und ob es nicht wie die meisten Studentenbuden eine kleine Nervenhölle war. Er war noch nie bei ihm gewesen, und wenn es auch nur ein fliegendes Quartier war, eine von vielen Stationen, etwas vom Etzelwesen und vom Etzelgesicht mußte sich doch darin spiegeln. Und so war es auch. Mischung von achtlosem Durcheinander und peinlichster Ordnung. Ein liliputanischer Schlafraum mit abgeschrägten Wänden und einem lächerlich pompösen Messingbett; kein Schrank, die Anzüge an einer Stange hängend wie beim Schneider, die Röcke auf Bügeln, die Hosen in Streckern; vier Paar Schuhe auf Leisten; die Gegenstände auf dem Toilettetisch blitzsauber und pedantisch aufgereiht; das Arbeitszimmer dann voll altmodisch verschnörkelter Möbel, Stühle und Sofa mit verschossener rosa Seide überzogen, alles bedeckt mit Büchern, Broschüren, Schreibheften. Bücher auf dem halbzerfetzten Teppich, in Regalen, in den Ecken gestapelt, viele aufgeschlagen, mit Lesezeichen, mit Bleistiftnotizen am Rand, wissenschaftliche Lexika, ein Lehrbuch der Anatomie, Reuters »Lebensgewohnheiten der Insekten«, ein Roman von Joseph Conrad, politische Flugblätter, Stöße von verschnürten Briefpaketen, neben dem Ofen eine Matratze mit verdrückten Kissen, als wenn jemand, der im Zimmer geschlafen hatte, eben fortgegangen wäre. Ein Tohuwabohu. Etzel, noch im Pyjama, war gerade beim Frühstück, er saß am Fenster; da auf den beiden Tischen, dem Schreibtisch und dem andern, kein Quadratzoll Platz war, hatte er die Tasse auf das Sims gestellt, leeren Tee übrigens, das Brötchen lag unangebrochen daneben. Vor Überraschung bekam er runde Augen bei Kerkhovens Eintreten. Er beförderte einen Haufen Bücher von einem Sessel aufs Sofa, damit der unverhoffte Gast sitzen konnte, redete lauter zusammenhangloses Zeug, lief ohne ersichtlichen Grund ins Schlafzimmer und kam wieder zurück; er wußte vor Reizbarkeit nicht, was er tun sollte. Kerkhoven packte ihn beim Arm und ließ ihn barsch an. »Ruhe«, sagte er, »was ist los, Mensch, was sind Sie denn so aus dem Häuschen.« Die Grobheit tat ihre Wirkung, er setzte sich still hin. Mit einem forschenden Blick in das übernächtigte Gesicht fragte Kerkhoven, wann er zu Bett gegangen sei; um halb fünf, war der mit gesenkten Augen gegebene Bescheid, und als Kerkhoven schwieg, fügte er achselzuckend hinzu, sein Schlafbedürfnis sei in letzter Zeit gering, er habe immer das Gefühl, er dürfe den Schlaf nicht Herr über sich werden lassen, drei, vier Stunden ginge es, dann treibe es ihn wieder auf, ob er vielleicht ein Mittel nehmen solle. Auf keinen Fall, erwiderte Kerkhoven und fragte, was es denn für unaufschiebbare Geschäfte seien, die ihn zwängen, die Nächte um die Ohren zu hauen, wo sei er denn letzte Nacht so lang gewesen? In der Siedlung, war die Antwort. Warum denn nur, gehe dort was Besonderes vor, erkundigte sich Kerkhoven. »Ich will nicht in Sie dringen, aber vielleicht können Sie mich einweihen«, fügte er hinzu. Etzel sah ihn mit seltsam brennenden Augen an. »Wir müssen nächstens einmal darüber sprechen, Meister«, sagte er ziemlich bedrückt, »im Moment wäre es verfrüht. Ich komm' schon. Renne ja immer zu Ihnen, wenn Feuer am Dach ist.« Nach einer Pause dann: »Wie steht's mit Lorriner? Was ist Ihre Prognose? Was haben Sie für Absichten mit ihm?« Kerkhoven erhob sich und schaute auf die Uhr. »Das läßt sich zwischen Tür und Angel nicht besprechen«, erwiderte er mit dem weit wegsehenden Blick, »da wäre viel zu sagen.« Er reichte Etzel die Hand, und mit einer Bewegung des Kinns gegen die Teetasse bemerkte er tadelnd: »Ein wenig gar zu frugal. Warum frühstücken Sie nicht ordentlich? Wollen Sie Ihrem Körper beweisen, daß Sie ihm über sind?« Etzel zupfte an seiner Nase. Er habe keinen Appetit, redete er sich aus, und das sei ihm nicht unlieb, er müsse sparen.

Es hatte zwar scherzhaft geklungen, das mit dem Sparen, aber es bestätigte Kerkhoven den lang gehegten Verdacht, daß in Andergasts Geldwirtschaft eine greuliche Verwirrung herrschen müsse. In einer Schale auf dem Tisch hatte er auch, unter andern Papieren, einen Pfandschein liegen sehen. Sicher war er vollständig blank, obschon es erst Monatsmitte war, und steckte wohl zudem noch in Schulden. Er hatte eine allzu offene Hand. Er gab, ohne zu rechnen, ohne hinzuschauen, wie wenn es unanständig sei, mehr in der Tasche zu haben, als man für die nächsten Stunden unbedingt braucht. »Es ist mir langweilig, daß das ein Problem sein soll«, hatte er einmal zu Kerkhoven geäußert, »ja, es ist langweilig, daß man erst darüber nachdenken soll, ob man jemand einen schmierigen Fetzen zusteckt, mit dem er seinen Hunger stillen oder sich einen Wintermantel kaufen kann. Aufreizend ist es, man versteht gar nicht, daß sich Menschen das gefallen lassen, vielmehr man versteht alles, was sie tun, um sich's nicht gefallen zu lassen.« Zum Erstaunen simpel, Etzel Andergast, du erinnerst ein wenig an den Bauer Akim in Tolstois Macht der Finsternis, der gibt auch solche nationalökonomische Aufsässigkeiten im Kannitverstan-Stil von sich.

In seinen pekuniären Schwierigkeiten kann ich ihm nicht helfen, überlegte Kerkhoven, das bloße Anerbieten würde ihn an der empfindlichsten Stelle treffen, diese Art der Verpflichtung würde er gegen mich nicht eingehen. Es ist nicht einmal zu sehen, wie ihm sonst zu helfen wäre, er ist der geometrische Ort aller erdenklichen Schicksalsnöte, und daß er selber halbwegs unversehrt dabei bleibt, ist ein wahres Wunder. Die seelische Verfassung, in der er den jungen Menschen gefunden, beunruhigte Kerkhoven mehr, als er sich zugestand, fortwährend mußte er an ihn denken, das Bild hatte Einfluß auf seine Handlungen und seine Worte, er spürte das aufgerissene Wesen, die Ratlosigkeit und Ungeduld, die innere Beschädigung auch, deren Sitz nicht nachweisbar war. Was tun? Wohin mit ihm? Wie ihn vor sich selbst schützen und verhindern, daß er sich mehr und mehr verstrickte? Dem Anschein nach war draußen in der Siedlung etwas im Werk, was ihn leidenschaftlich aufrührte, vermutlich hing es mit Lorriner zusammen, diese Sache war für ihn sicher noch nicht zu Ende, er mußte alles bis zum äußersten Ende führen, das war ein Charakterzwang. Kerkhoven dachte an das übernächtigte Gesicht mit den vibrierenden Lidern und der ungesund leuchtenden Haut, er warf sich vor, zu lau gewesen zu sein, den Zustand nicht ernst genommen zu haben. Er fand sich verantwortlich für den jungen Menschen, und im Augenblick, wo er die Verantwortlichkeit in ihrem vollem Umfang feststellte, wurde sie die gebieterischste seiner Pflichten. Das hatte etwas außerordentlich Verwirrendes für ihn, als habe er ein Gelöbnis getan, dessen Erfüllung möglicherweise über seine Kräfte ging. Er erwog allerlei Pläne. Ihn in der Anstalt unterzubringen, in einem ruhigen Gartentrakt etwa, wo er sich erholen konnte und unmerklich beaufsichtigt war, vor allem im Hinblick auf Schlaf und geregelte Ernährung, kam nicht in Frage, er würde sich nie freiwillig in eine Patientenrolle finden und bei der ersten Gelegenheit davonlaufen. Zudem war die Atmosphäre der Psychosen zu gefährlich, auch wenn man davon absah, daß die räumliche Nähe Lorriners ungünstig erregend wirken mußte. Blieb der andere Weg, daß ihn Kerkhoven bei sich aufnahm. Die Wohnung war groß genug, einige Zimmer wurden überhaupt nicht benutzt, wenn Marie in Lindow war, wurden alle Räume außer Kerkhovens Wohn- und Arbeitszimmer zugesperrt, überdies waren auf der Hofseite zwei Kammern, die seit Jahren unbewohnt waren, die alten Möbel darin stammten zum größten Teil aus Kerkhovens erstem Haushalt. Vielleicht lockt es ihn, ganz richtig mit mir zu leben, sagte sich Kerkhoven, vielleicht entspricht es seinem Wunsch, allerdings müßte ich ihn dann stärker binden, um ihm die Flucht zu seinen Leuten zu erschweren. Aber was würde Marie dazu sagen? Er fand nicht den Mut, mit ihr darüber zu sprechen. Ihre oft kundgegebene Antipathie gegen Etzel hätte ihn nicht abgehalten, sie für sein Vorhaben zu stimmen, es hätte nur eines Wortes bedurft, und sie hätte auch gegen ihre Neigung eingewilligt, war sie doch gewohnt, sich in allen wichtigen Lebensdingen nach ihm zu richten und ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken. (Am Rande: dies erschien ihm schon so selbstverständlich, daß er damit wie mit einer gegebenen Tatsache rechnete; was nicht etwa auf gemeiner Ehemannshybris beruhte, sondern auf einer Art von versteinertem Zutrauen als etwas Unverrückbarem, das zu den notwendigen Bestandteilen der Existenz gehört; man hat nur vergessen, daß es einmal lebendig, nämlich wechselseitig war, und hat versäumt, gelegentlich nachzusehen, ob man es nicht nähren und erneuern müßte.) Wenn es sich um Gastfreundschaft handelte, war sie zu jedem Opfer bereit, Gastfreundschaft zu gewähren, war ihr eine patriarchalisch-heilige Idee, das hatte sie von ihrem Vater, und in der tätigen Ausübung war sie eher zu enthusiastisch und zu generös als zu karg. Trotzdem er das alles wußte, verschob er es von Tag zu Tag, ihr sein Anliegen vorzutragen. Sie war so ungegenwärtig. Sie lebte wie in einem geschlossenen Gehäuse. Sie war immer müde, lag viel zu Bett. Wenn sie eine halbe Stunde gelesen hatte, entglitt das Buch ihrer Hand, und sie schaute mit ernstem, unbewegtem Gesicht endlos lange in die Luft. Wenn er sie fragte, wie sie sich fühle, ob er etwas für sie tun könne, lächelte sie ganz flüchtig ihr zärtliches Lächeln, dann trat wieder der regungslose, fast feierliche Ernst auf ihre Züge. Einmal war Aleid für zwei Tage von Dresden herübergekommen, aber sie ertrug die Lebhaftigkeit des jungen Mädchens nur schwer. Besuche von Bekannten waren ihr nicht minder quälend; wo sie nur konnte, sagte sie ihnen ab. Sie empfand keine Neugier mehr für Menschen; auch die ihr lieb und interessant gewesen, waren ihr langweilig, sogar wenn man ihr Blumen brachte, blieb sie stumpf. Kerkhoven war voller Sorge, der Umstand, daß sie sich niemals darüber äußerte, was in ihr vorging, auch kein Verlangen, keinen Wunsch, keine Unzufriedenheit laut werden ließ, vergrößerte die Sorge noch. Gerade die Ruhe, die Gelassenheit, das Sichauslöschenwollen war beängstigend. Da geschah es eines Tages, als Kerkhoven an ihrem Bett saß und ihre kühlen Finger in seiner Hand hielt, daß sie sich nach Andergast erkundigte. Und als er ihr erwidert hatte: so und so, es stehe nicht zum besten mit ihm, verschiedene Anzeichen deuteten auf eine schwere Krise, man könne nicht wissen, was da werden würde, sah sie ihn einen Moment fest an, als wolle sie die Gedanken in ihm lesen, und sie las sie auch, denn plötzlich sagte sie: »Willst du ihm nicht vorschlagen, daß er einige Zeit bei uns wohnen soll? Das wäre doch eine Lösung. An Platz fehlt's uns wahrhaftig nicht, an Dienstpersonal auch nicht. Im Notfall kann ich ja nach Lindow telefonieren, die Mutter soll eines der Mädchen schicken. Was er braucht, ist ein Daheim, Menschen, die ihm das Gefühl von einem Daheim geben. Meinst du nicht auch?« Kerkhoven war so überrascht, daß er erst nach einer Weile antwortete. »Du bist eine wunderbar gescheite Frau«, sagte er und zog ihre Fingerspitzen an seine Lippen, »ich habe es natürlich erwogen, habe aber befürchtet ... ein fremder Mensch ist eine Last ... zumal du doch jetzt...« – »Das macht mir nichts aus, Joseph«, versicherte Marie, »gerade weil es ein fremder Mensch ist. Tu es nur. Sag's ihm.« Ihre Stimme klang merkwürdig mädchenhaft, namentlich wenn sie leise sprach, sehr freundlich, sehr artig. »Schön, ich will's ihm sagen«, erwiderte Kerkhoven mit sichtlichem Aufatmen; »aber wolltest du nicht dieser Tage die Kinder bei dir haben? Soll ich nicht warten, bis sie wieder fort sind? Es wird sonst zu viel für dich.« Marie schüttelte den Kopf. »Schieb es nicht hinaus«, sagte sie, »das ist nicht gut. Wer weiß, ob man nicht den Moment verpaßt. Die Kinder ... nein. Ich möchte sie doch nicht kommen lassen. Ich hoffe, ich bin nächste Woche wieder ganz beieinander, dann fahr' ich nach Lindow und bleib' einstweilen draußen. Ich mag auch die Mutter nicht so lang allein lassen. Dir kann ich nichts sein, so wie ich jetzt bin, und das schrecklich große Haus rund um mich herum ...« Mit einer Bewegung, als bitte sie ihn, kein Gewicht auf ihre Worte zu legen, wandte sie den Kopf zur Seite und schloß die Augen.

Etzel kam in den folgenden Tagen nicht zu Kerkhoven, er war wie verschollen. Kerkhoven wiederum, obgleich er dabei das Gefühl eines sträflichen Versäumnisses hatte, war zu beansprucht, sich um ihn zu kümmern. Es gab überhaupt keine Ruhepause mehr. Die Anstalt war überbesetzt, die Ordination dauerte vier, fünf, ja sechs Stunden oft, ein paarmal wurde er als Konsiliarius nach auswärts berufen, nach Prag, Basel, Rotterdam. Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, benutzte er das Flugzeug. Nur dringende und besonders empfohlene Fälle konnten ihn zu solchen Reisen bewegen. Es warteten zu viele auf ihn, in wahren Heerscharen kamen sie an, Pilgerzüge, Tag für Tag. Wenn er sich zum Schlafen niederlegte, um ein Uhr, zwei Uhr nachts, dünkte ihn, als drängten sie sich vor der Schwelle und pochten fordernd an die Tür, eine Sinnestäuschung, die den Schlaf in kurze Dämmerzustände zerhackte. Es wurde immer ärger. Der Gedanke an ein astrales Verhängnis, das auf der Menschheit lasten mußte, kehrte wieder, an die »kosmische Störung«, von der anzunehmen war, daß sie auf das Sonnengeflecht des Sympathikus wirkte, dieses sternenhafteste unserer Organe, das zugleich der Sitz der Angst ist. Wie in früheren Jahrhunderten die Pest, wie das gelbe Fieber in den Tropen, wütet Krankheit des Gemüts, Seelenseuche, Willenszerspaltung und etwas wie Dekubitus des Herzens. Ein neues Element der Verheerung. Europäische Vesper. Deutsches Inferno. Die nicht mehr fest in ihren Wurzeln stehen, fallen ins Bodenlose. Ein Symptom war es vor allem, das Kerkhoven zu denken gab, nämlich die Häufung ausschweifender Bekenntnisse und die eigentümliche Wollust, mit der sie geschahen. Nie hatte er solche Dinge zu hören bekommen wie jetzt fast in jeder Sprechstunde. Nie hatten sich Menschen so entblößt, nie hatten sie so gierig in ihrem Innern gewühlt, ihre Triebe zerfasert und sich losgelöst aus der Umwelt und der Ahnenwelt, bis sie sich endlich »frei« fühlten, »frei« und nackt vor einem standen, mit erkälteter und erfrorener Seele, und verzweifelt um ein Mittel gegen den tödlichen Frost bettelten. Sie selber hatten keines mehr außer dem Rauschgift, die Herabminderung der Lebenstemperatur war nur zu ertragen bei herabgemindertem Bewußtsein. Früher waren es hauptsächlich Intellektuelle gewesen, Gescheiterte aus den geistigen Berufen, verunglückte Einzelgänger, die in der Zerrüttung einen Trost darin gefunden hatten, aus ihrem Selbst einen Spiegel für ihr Ich zu machen, jetzt waren es ganz einfache Leute, die von der dämonischen Sucht ergriffen wurden. Da kam zum Beispiel eine fünfundvierzigjährige Frau zu ihm, Zeitungsträgerin; sie war zehn Jahre mit einem Mann verheiratet, der nicht nur ein Päderast und Kinderverführer war, sondern auch ein Frömmler, bei jedem Anlaß mit Bibelsprüchen bei der Hand. Das war das Ärgste, die Bibelsprüche. Die Frau wurde trübsinnig, ließ sich von ihm scheiden, wegen ihrer psychischen Verstörung wurden ihr die Kinder weggenommen, Kerkhoven setzte es durch, daß sie wenigstens die älteste Tochter bekam, die das Blumenbinden lernte. Dadurch gewann sie Vertrauen zu ihm und beichtete ihm die ungeheuerlichsten Dinge, aus ihrer Jugend und ihrer Ehe, über ihr Verhältnis zu Eltern und Geschwistern, ganz ruhig, ganz treuherzig, aber mit jenem verzehrenden Lohen in den Augen, das nur die Selbsthasser haben, die sich an sich selber dafür rächen, daß sie sind, wie sie sind, und leiden was sie leiden. Solche gab es zu Tausenden, Männer und Weiber. Unheimlich, wieviel sie von sich wußten und was für Worte sie hatten, es zu sagen; man traute seinen Ohren kaum, es war eine Sprache für sich, und die Träume, die sie erzählten, waren wie von großen Dichtern gedichtet, geboren jedoch aus der beklommenen Enge der Armut und der hoffnungslosen Nüchternheit von Existenzen, die keinen Aufblick mehr kannten.

Trotz der Erschütterung, die er als Mitmensch davon erfuhr, beobachtete Kerkhoven, der Arzt, die augenscheinlichen Veränderungen wie Vorgänge in der Natur, die für das Allgemeine etwas Bestimmtes zu bedeuten haben, was erst erforscht werden muß. Aber auf die Dauer ließ es sich doch nicht verhindern, daß der erregende Ansturm das Gesamte der Persönlichkeit in Mitleidenschaft zog und er dann das bange Gefühl hatte, er sei dem allem nicht gewachsen, sei nicht mehr jung und schmiegsam genug, um physisch durchzuhalten, zu eingeschworen auf seine Methoden, erstarrte Methoden, zu »erfahren« mit einem Wort, um sich zu erneuern und jedes Phänomen mit frischer Unschuld anzuschauen. Und anders war man kein Arzt. Hypochondrische Verstimmung, könnte man sagen. Wir werden sehen, daß es das nicht war, nicht allein war, daß alles in ihm nach jener »Erneuerung« schrie, deren er nicht mehr fähig zu sein fürchtete, und daß sie sich eben dadurch in seinem Innern vorbereitete. In ihm war keine Faulheit, des Blutes nicht, der Sinne nicht, er war ganz der Mann, alles über den Haufen zu werfen, ein unbewohnbar gewordenes Haus zu demolieren und es von Grund auf wieder zu errichten. Bei der ziemlich genauen Kenntnis seiner Natur wußte er, daß er sich am meisten davor zu hüten hatte, latente Konflikte innerlich weiterglimmen zu lassen und zu tun, als wären sie nicht vorhanden. Das konnte nur durch Aussprache vermieden werden, aber er hatte keine Freunde, ärger noch, er hatte keinen Freund, seine Einsamkeit war in der Tat beispiellos, wenn er bloß hindachte, schauderte ihn, von Kollegen war ihm keiner auch nur wohlgesinnt, junge Leute konnten ihm nicht dienen, Anhänger, Schüler, Bewunderer nicht, auch Marie nicht (es war übrigens Gott weiß wie lange her, daß er mit Marie von sich und seinem Leben gesprochen hatte, in dem Punkt war sie wie ein von ihm vergessener Mensch, und ob die Schuld an ihm oder an ihr lag, darüber dachte er nicht einmal nach). Nein, hier war ein Mann von gleichen, wenn nicht überlegenen Einsichten vonnöten, bei dem ein Stichwort zur Verständigung genügte, und so verfiel er auf Heberle, den er länger als zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte, wiewohl ihm bekannt war, daß der alte Herr seit einigen Monaten in Berlin lebte; er hatte seine wissenschaftliche Tätigkeit aufgegeben und sich zurückgezogen; wie es hieß, laborierte er an einem Kehlkopfleiden. Er wohnte in Halensee, eines späten Nachmittags fuhr Kerkhoven zu ihm hinaus. Heberle begrüßte ihn mit rührender Freude. Er hauste mit seiner einzigen Schwester zusammen, man konnte sich nichts Altmodischeres denken als die beiden Menschen, die spießbürgerliche Einrichtung der Zimmer, das braune Samtjackett und die flatternde Lavallierekrawatte Heberles, die hohe Haartracht, die Spitzenärmel und die provinzlerische Betulichkeit seiner Betreuerin, die durch jeden Blick und jedes Wort erkennen ließ, daß der Bruder ihr Abgott war.

Heberle verbreitete sich nicht ohne Umständlichkeit über sein Leiden und schilderte humorvoll die Fehde, in der er wegen Berufung eines Spezialisten mit seiner Schwester lag; Fräulein Charlotte nannte er sie betont und mit lächelndem Augenzwinkern, als habe er sich aus Freundlichkeit entschlossen, aus ihren siebzig Jahren vierzig zu machen. Er seinerseits wehre sich dagegen, wolle überhaupt von Ärzten nichts wissen, Kerkhoven möge ihm die Abneigung nicht verübeln; ihr habe man eingeredet, man müsse unbedingt den Professor Rahl beiziehen, das sei der Wundermann, Stern erster Größe, neueste Weltberühmtheit, einer, der alles könne, alles kuriere, den Kopf aufmeißle wie eine Nuß und, was in Hals, Ohr und Nase überflüssig sei, begeistert wegschneide. Kerkhoven horchte bei der Nennung des Namens auf; er wußte natürlich von dem Mann, war ihm auch da und dort schon begegnet, alle Fachgenossen rühmten ihn, die Arbeiten, die er veröffentlichte, erregten Aufsehen, die Operationen, die er ausführte, galten als epochemachend. Doch wie ging es zu, vom erstenmal an, da Rahl in seinem Gesichtskreis aufgetaucht war, hatte Kerkhoven an jenen v. Möckern denken müssen, der ihm vor fünfzehn Jahren feindselig in den Weg getreten war, der Widersacher, der nie besiegbare, weil nie widerlegbare, das gegnerische Prinzip, der Mensch vom andern Pol. Wo mochte er sein, der ehedem bestaunte Heros der Wissenschaft, man hatte nicht mehr viel von ihm gehört, der Glanz um ihn war rasch erloschen, früher Ruhm ist oft eine Kinderkrankheit. Aber es kam ja nicht darauf an, daß der Widersacher so oder anders hieß, sich in dem oder jenem Spezialfach auszeichnete, von Zeit zu Zeit hatte er sich immer wieder erhoben, bald schattenhaft und heimlich Contremine legend, bald in offener Verfolgung fanatisch ergrimmt. Sie waren wie Abkömmlinge aus ein und derselben Familie, ein draufgängerischer Stamm, hart, brutal, selbstbesessen und phantasielos. Rahl machte entschieden den Eindruck, als sei er einer der mächtigsten Häuptlinge des Stammes. Kerkhoven sagte: »Ich nehme die Partei Ihrer Schwester. Sie sollten sich nicht sperren. Gegen die Chirurgen mißtrauisch zu sein haben wir noch am wenigsten Ursache. Chirurgie ist unter anderm eine Form der Courage. Und Rahl ist ohne Zweifel ein genialer Mensch.« Heberle lachte. »Gott sei Dank bin ich nicht Ihr Patient, lieber Freund, also dürfen Sie mich nicht ans Messer liefern«, antwortete er und kämmte mit allen zehn Fingern seinen moosgrünen Backenbart. Kerkhoven blickte ihn lächelnd an und dachte: die kleinen Frauenhände ... Plötzlich faszinierten ihn die Hände, er hatte durchaus nicht zu sehen erwartet, was sie ihm verrieten, es war eine beunruhigende Vision, oft schon hatten ihm Hände mitgeteilt, was weder den Augen anzumerken noch dem Herzschlag anzufühlen war, er machte eine unwillkürliche Abwehrbewegung und tat, was er in solchen Fällen zu tun pflegte (so haben wir ihn schon vor Irlen sitzen sehen), er beugte den Rumpf vor und streckte die Arme zwischen die Schenkel, bis die Fingerspitzen beinahe den Boden berührten. (Erinnern wir uns an die visionäre Kraft in ihm, sie wird einmal, bei ganz anderer Gelegenheit, entscheidend für sein Leben sein.)

Danach begann er, zögernd und schwerfällig, von dem zu reden, was ihn hergetrieben. Er fällt mit der Tür ins Haus, er fragt, ob es auch in vergangenen Zeiten solche Massenentartung der Psyche gegeben und vielleicht bloß der Name gefehlt hat. Schafft aber nicht der Name erst das Ding? Solang eine Erscheinung namenlos bleibt, ist sie nicht erkannt, und vielleicht verschwinden viele, ohne Schaden anzurichten, weil sie noch keinen Namen haben, so wie sich manchmal ein Symptom verspurlost, wenn man es nicht in Evidenz hält. Klingt paradox, nicht wahr, aber am Ende ist ein Quentchen Wahrheit drin enthalten, es soll ihm heute auf ein Pfund Unsinn nicht ankommen, falls sich ein Gramm Sinn herausdestillieren läßt. Wir haben ja eingesehen, daß keine Zelle, kein Gefäß, keine Drüse erkranken kann, wenn nicht zugleich der gesamte Organismus seine Normalverfassung verloren hat, daher könnte man sagen, jede Krankheit ist ein Kollektivum, sowohl was das Einzelwesen angeht wie auch das Gesamte des Menschheitskörpers. Es liegt nahe zu denken, daß die großen geschichtlichen Katastrophen, Kriege, Revolutionen, Untergang von Völkern in viel innigerem Zusammenhang mit Einbrüchen von Neurosen stehen, als wir bis jetzt begriffen haben, die Erforschung dieser Zusammenhänge würde freilich eine doppelte Pathogenese bedingen, einmal die Krankheit als Ursache angesehen und einmal als Folge, jede ein Bild für sich, total verschieden in der Wirkung, mit total verschiedener Therapie. Wäre es nicht wichtig, zu wissen, vor allem wichtig, brennend wichtig, ob wir das Ursachenphänomen oder das Folgephänomen vor uns haben? Die Ereignisse liefern den Anhalt nicht. Geschichte ist das, was geschehen ist, nicht, was geschieht. Nur wenn man das Kommende wüßte, könnte man Antwort auf die Frage geben. Das macht ihm viel zu schaffen, damit steht und fällt seine ganze Arbeit, sein ganzes Streben. – Heberle hat aufmerksam zugehört. »Ich glaube, es ist eine müßige Frage«, sagt er, »da alle Entwicklung in Kurven und Spiralen vor sich geht und alles Leben Wiederholung mit unwesentlichen Varianten ist.« – Kerkhoven schweigt eine Weile. Er schnürt sein Schuhband zu, das aufgegangen ist. »Mag sein«, erwidert er fügsam, »aber hier wird sich eines Tages eine Grenzscheide bilden. Man wird sie nicht am unbrauchbaren Material vergeuden. Da liegt der Hund begraben. Da ist der Kern des Problems.« – »Also spartanisch«, höhnt Heberle, »die Krüppel in den Taygetos. Und wo bleibt die Barmherzigkeit? Ich, ein herzloser alter Apotheker, muß einen Joseph Kerkhoven an die ärztliche Barmherzigkeit erinnern?« – Kerkhoven blickt betroffen vor sich hin. Hat er dies nicht schon einmal erlebt? »Wiederholung in der Variante?« »Nein«, sagte er mit sonderbarem Lächeln, »das müssen Sie nicht. Ich weiß, daß es meines Amtes nicht ist, für die Zukunft der Menschheit zu sorgen, wer wollte sich des anmaßen, aber es müßte möglich sein, das Fruchtbare vom Vergeblichen zu sondern.« – »Das setzt voraus, daß man sich die Entscheidung darüber zutraut, was fruchtbar und was vergeblich ist. Denken Sie mal, wenn Sie Beethovens Vater geschlechtlich sterilisiert hätten, weil er ein Lump und Säufer war.« – »Davon ist nicht die Rede.« – »Ach, Sie meinen, es hätte genügt, wenn er Ihr Patient geworden wäre, da hätten wir schon gar keinen Beethoven gekriegt?« – »Vielleicht.« – Beide lachen. – »Aber wo hapert's denn? Wie kann man Ihnen helfen?« fragte Heberle. – »Ich sehe keine Hilfe. Es ist da ein Punkt ... Bisweilen will mir scheinen, daß wir durch zuviel Behandlung sündigen. Durch all das Zugeben und Nachgeben, Zuhören und Verstehen. Das Harte wird aufgeweicht, das Verschlossene gesprengt, die Tiefe entgeheimnist. Die Terminologie, die wir erfunden haben, vergewaltigt unser Urteil und unser Auge. Indem ich einen Fall indiziere, mache ich ihn zu dem, was er mir scheint. Wer sagt mir, daß ich auf diese Weise die kontagiösen Stoffe nicht erst entbinde, die ich unschädlich machen will? Im Seelischen gibt es eine Übertragbarkeit wirklich, in einem Grad, den wir kaum ahnen, was wir im Physischen dafür halten, ist oft bloß Gleichzeitigkeit des konstitutionellen Geschehens. Wer weiß das alles. Die Natur ist ungeheuer tückisch, sie läßt uns hie und da einen Blick in ihre Werkstätte tun, merkt sie aber, daß wir ihr zu neugierig auf die Finger gucken, so schlägt sie uns den Fensterladen vor der Nase zu. Man ist immer der Belemmerte, und wenn man sich noch so groß vorkommt.« – »Allerdings, allerdings«, bestätigte Heberle mit einer Heiterkeit, die auf jahrzehntealter Resignation beruhte, »das haben Sie gut gesagt. Es geht verflucht langsam, das Zeug. Aber hören Sie mal, Verehrter ... wenn ich mir Sie so anschaue, Sie sind doch ein Kerl. Sie haben doch was vor sich gebracht. Sie stehen doch auf einer Höhe. Sie brauchen sich doch Ihrer Sache nicht zu schämen. Ich bin ja ein blutiger Laie in Ihrem Fach, aber ich habe mir erzählen lassen ... na, ich finde, wir können ganz zufrieden sein, daß wir Sie haben.« – Kerkhoven hebt etwas verwundert die Brauen. Er gehört zu den Männern, die nie wissen, was sie gelten, so tief sie unter Verkennung leiden, so wenig machen sie sich daraus, wenn man sie rühmt. Das Getane kommt nicht in Betracht, weil das zu Tuende alle Kräfte und Gedanken fordert. Das ist nicht Bescheidenheit, es ist eine panische Bedrängnis, ausgehend von der Irrealität der Zeit und der Realität des Todes. Der Tod ist allgegenwärtig und erfüllt sie, ohne daß sie ihn fürchten. Sie ringen mit dem Tod um die Zeit. »Was hab' ich nach Ihrer Ansicht denn erreicht«, fragt er achselzuckend, »was ist's denn, wenn man's ehrlich prüft? Ich kämpfe gegen eine Hydra, der hundert Köpfe nachwachsen, wo ich einen abgeschlagen habe. Ich bin quasi damit beschäftigt, Sprungtücher auszubreiten, während die Leute aus den Fenstern eines brennenden Hauses stürzen. Ist ja ganz verdienstlich, aber den Brand müßte man löschen können, und das kann man nicht. Ich fühle mich auch nicht getragen. Nicht aufgenommen, nicht angenommen. Ich stehe so ziemlich allein. Es bereitet mir keinen Kummer, aber es ist auch nicht gerade ein Ansporn. Es war immer so. Es ist wohl in den Sternen geschrieben. Die reinen Wissenschaftler sehen mitleidig auf mich herab, die Psychiater speien Gift und Galle, wenn sie von mir reden, für die Psychoanalytiker bin ich erst recht der böse Feind, die Internisten nennen mich einen Quacksalber und Fakiristen, die Nervenärzte sind erbittert, weil ich ihnen die Kundschaft wegschnappe. Ich schnappe aber gar nicht, Gott behüte. Ich habe nur einen Wunsch: Ich möchte nicht mehr flicken. Nicht mehr Reparaturen machen. Mir graut vor der sogenannten Praxis. Kann man da wirklich wirken? Von den Elementen aus? Es ist, wie wenn man mich in eine Bibliothek von zehntausend Bänden setzt, mit deren Inhalt ich mich ernstlich vertraut machen soll. Stellen Sie sich vor, man hätte zwei, drei Dutzend Seelen, die man heraushebt aus der Luft von Ansteckung und Gefahr, die man erforscht und kennt wie anatomische Präparate, mit allen ihren Eigenschaften, allen Beeinflussungen, allen Möglichkeiten der Entwicklung, allen Brechungen und Reflexen, jeweils die, und wenn man die gesichert hat, wieder andere, stellen Sie sich vor, was das dann wäre, Arzt zu sein ... Da wäre Sinn drin, da wäre Folge drin ...« Heberle schwieg lange. Dann sagte er mit bedenklichem Kopf schütteln: »Phantasmen, guter Freund, Phantasmen ... Darüber wollen wir in ein paar hundert Jahren sprechen.«

Weiß Nell Marschall Bescheid über Emma Sperling, oder ist sie ahnungslos? Ist ihre leidenschaftliche Freundschaft für sie, der Enthusiasmus, mit dem sie von ihr spricht, ehrlich oder nicht? Ist es nur blümerantes Weibergetue oder wirkliche Verblendung, die man ihr nicht anrechnen darf und der einmal, so oder so, die Erkenntnis folgen wird? Steckt eine Politik dahinter und welche, oder ist es ein leeres Feuerwerk? Glaubt sie an das Frauenzimmer, oder ist es Seifenbläserei mit eingebildeten Gefühlen? Das waren die Fragen, die Etzel nach der Szene in Lorriners Wohnung nicht zur Ruhe kommen ließen. Der Grund ist zunächst nicht einzusehen. Was konnte ihm daran liegen, was Nell an Emma Sperling zu lieben und zu bewundern fand? Was war für ihn gewonnen, wenn Nell in Emma das verächtliche Geschöpf sah, das sie in seinen Augen war? Was ging es ihn überhaupt an? Nichts erklärlicher am Ende, als daß eine so schwärmerisch veranlagte Person wie Nell, Altruistin durch und durch, von diesem lebendigen Spielzeug, diesem hübschen kleinen Insekt berückt war und sich nicht viel darum kümmerte, was für Unfug es in der Welt stiftete. Und mehr war es bestimmt nicht als äußere Berückung, vielleicht nicht einmal mehr als das exzentrische Vergnügen an der Gegenspielerin, Sehnsucht des beschwerten Menschen nach dem, der keine Schwere hat. Eine erotische Beziehung kam gar nicht in Betracht, wenn man Nell Marschall kannte.

Aber um Nell selber handelte es sich für Etzel erst in zweiter Linie. Die Sache war für ihn ziemlich ernst. Um zu verstehen, warum, müssen wir sein Verhältnis zur Siedlung kennen. Anfangs, als er davon hörte, auch nach einigen flüchtigen Besuchen, war er nicht sonderlich begeistert gewesen, er sagte sich, es ist eines der zahllosen Experimente, in denen das schlechte Gewissen der oberen Klassen zum Vorschein kommt. Die amerikanische Abstammung der Gründerin verringerte sein Mißtrauen auch nicht. Aber dann änderte sich seine Meinung. Als er sich von der Großzügigkeit der Anlage, der zielbewußten Führung, der Opferfreudigkeit Nells überzeugt hatte; als viele seiner Freunde und Freundinnen, die ohne Angehörige und zu arm waren, um sich ein möbliertes Zimmer zu leisten, Hunderte von mittellosen Universitätshörern, Kunst- und Musikschülern, Söhne und Töchter zugrunde gegangener Familien, nicht eingeschriebene Arbeitslose, Literaten ohne Erwerb, Journalisten ohne Anstellung, durchwegs junge Leute, denn für solche war die Siedlung ausschließlich bestimmt, als alle diese dort Aufnahme fanden, wobei weder nach der Konfession noch der politischen Richtung gefragt wurde, sondern nur Bedürftigkeit und Würdigkeit den Ausschlag gaben, da war er Feuer und Flamme für das Unternehmen, auf das wir zunächst einen Blick werfen müssen.

Es gibt in jener Gegend Berlins zahlreiche solcher Massenniederlassungen, die den verschiedensten Zwecken dienen, humanitären und pädagogischen, aus privater Initiative oder staatlicher Werktätigkeit entstandene. Sie haben unverkennbare Typenähnlichkeit miteinander; obschon die Not ihr Baumeister war, drückt sich in allen das gleiche Verlangen nach Befreiung von erstarrten Lebensformen aus. Hier war es nicht anders, höchstens daß das äußere Bild sich ungewöhnlich vorteilhaft gab. Ein ausgedehntes Areal, fünfzig bis sechzig recht ansehnliche Blockhäuser. Jedes bot Raum für zwölf Insassen, diese zwölf machten einen sogenannten Ring aus, der dem Ringführer oder der -führerin unterstand. Im Zentrum die Wirtschafts- und Gesellschaftshäuser, Sportplätze und Nutzpflanzungen sowie das Haus, in welchem Eleanor Marschall mit dem Stab ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wohnte. Es hieß, die Erbauung dieser kleinen Stadt habe sie viereinhalb Millionen Mark gekostet, die Ausgaben für die Erhaltung beliefen sich auf sechs- bis siebenhunderttausend Mark (eine auffallend niedrige Ziffer übrigens). All dies zeugte von fürstlicher Generosität, die auf fast unbegrenzten Reichtum schließen ließ, die Gerüchte konnten nicht aus der Luft gegriffen sein, die Nell Marschall als einzige Tochter eines Pittsburger Stahlmagnaten und Erbin eines jener phantastischen Dollarvermögen bezeichneten, von denen man bei uns nur scheu zu flüstern wagt. Wunderlicherweise erlaubte sie keinem ihrer Freunde eine Anspielung darauf, auch die scherzhafteste empfand sie als grobe Taktlosigkeit und verzieh sie nicht leicht. Sie wollte an ihre Vergangenheit nicht erinnert werden, als sei der maßlose Luxus, in dem sie aufgewachsen, ein Fehltritt, den sie sich hatte zuschulden kommen lassen. In der Hinsicht wie in mancher sonst noch trat die Puritanerin und Enkelin von Puritanern hervor. Wahrscheinlich hätten ihre Mittel es ihr ohne weiteres verstattet, die Stiftung für viele Jahre hinaus sicherzustellen, jedoch das lag nicht in ihrer Absicht, sie wollte etwas Vorbildliches schaffen und die Entschlußkraft zu gleichem Tun in andern wecken. Daß sie an Befristung und spätere Ablösung dachte, jedenfalls keine Verbindlichkeit für ewige Zeiten eingehen wollte, bewies der Vertrag, den sie mit der Stadtgemeinde geschlossen, wonach ihr eine erhebliche Subvention gegen Abtretung von Grund und Boden und sämtlicher Immobilien nach Ablauf von zwanzig Jahren gewährt wurde. Der Charakter der Siedlung war der einer kommunistischen Genossenschaft. Jeder Aufgenommene war gehalten, von jedem Verdienst, jedem Einkommen, auch dem kleinsten, einen bestimmten Prozentsatz abzugeben, ferner seinen Platz sofort einem andern zu überlassen, wenn sich seine Lebensumstände derart verbesserten, daß er auf Hilfe nicht mehr angewiesen war; er hatte dann ein Jahr lang nachträglich einen angemessenen Monatsbeitrag zu entrichten, und es muß gesagt werden, daß nicht ein einziger Fall eintrat, wo sich jemand dieser Pflicht entzogen hätte. Es gab keine Handwerker, keine Bedienung, keine Köche und Köchinnen, keine Aufsichtspersonen, alles war Gemeinschaftsarbeit, in wechselndem Turnus mit genauer Stundeneinteilung den Ringen auferlegt, weshalb auch die Regiekosten verhältnismäßig gering waren. Wenn einer häufiger Gast war, wie Etzel zum Beispiel, wurde ihm das Patronat über zwei oder drei Jüngere übertragen, die zum Fortkommen wenig geschickt waren und für die er nach besten Kräften zu sorgen hatte. Jede einzelne Einrichtung bekundete den durchdringenden Verstand der Urheberin, ihre organisatorische Begabung, ihre Lebenskenntnis und ihre weibliche Phantasie für das Soziale. Da war nichts Doktrinäres, nichts von der Verbissenheit der theoretischen Weltbeglücker, die sich und andern immerzu ihre sittliche Mission beweisen müssen, ein Geist der Heiterkeit und natürlichen Freiheit strahlte von ihr aus, der auf das ganze Gemeinwesen überging und ihm sein eigentliches Gepräge verlieh. Alle diese jungen Menschen, die sie vor Elend und Untergang gerettet hatte, waren ihre Brüder und Schwestern, von vielen kannte sie genau den Lebensgang, die einzelnen Lebensereignisse, Gesinnung und Neigungen, viele zog sie in ihre persönliche Nähe, duzte sie und ließ sich von ihnen duzen, ihre Lieblinge überhäufte sie mit Schmeicheleien und Kosenamen, keine Verlegenheit und Not, wo sie nicht augenblicks eingegriffen hätte, auch wenn einer davon betroffen war, der ihr nicht besonders nahestand, auch wenn sie mit andern und wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt war. Jeder wußte es. Man hat für eine dringliche Anschaffung kein Geld, man geht zu Nell; man braucht einen Paß, eine Empfehlung, Fürsprache bei einer Behörde, man wendet sich an Nell; es ist ein Meinungsstreit ausgebrochen, Nell soll ihn schlichten; man steht vor einer schweren Entscheidung, Nell soll raten. Nell kann alles, ordnet alles, findet immer einen Weg. Nell ist eine Art Schwester-Königin, das Reich, das sie beherrscht, ist ein richtiges Matriarchat.

So etwas war ganz nach Etzels Sinn. Er hatte eine heimliche Vorliebe für das human Gelockerte einer Gemeinschaft, deren Seele eine Frau war. Es hing wohl mit Regungen zusammen, die tief in seinem Innern verlagert waren, gewaltsam von ihm erstickte Erinnerungen an die Mutter, und mit jener Zärtlichkeitsentbehrung, von der Kerkhoven einmal gesprochen hatte. Wo immer sich der Anlaß bot, pries er Nell Marschall, nannte sie eine zweite Jane Addams, eine Person großen Stils, vor der man sich zu neigen habe. Es war seltsam, daß er in der Anerkennung so weit ging; Menschen wie er, die frühzeitig üble Erfahrungen gemacht haben, behalten für immer etwas Einschränkendes in ihrem Urteil, sie sind nicht mehr beherzt genug zu einem unbedingten Ja. Um so glücklicher macht es sie, wenn sie sich der Hemmung einmal entledigen können, da wird die gefesselte Empfindung zum freien Strom. Er hatte niemals Kritik an Nell geübt; selbst wenn sie ihm Grund dazu gab, ließ er seine Gedanken nicht bis an die gefährliche Zone, sie war ihm einfach tabu. Und nun war das gekommen. Dieser Zweifel. Dieser häßliche Verdacht. Dieser Schatten oder nur geargwohnte Schatten über einem Bild, dem er Verehrung hatte zollen dürfen. Keine Kleinigkeit. Es gab nicht soviel verehrenswerte Leute. Kerkhoven, ja der. Aber Kerkhoven war der Meister, die große Ausnahme, an ihm konnte überhaupt nichts und niemand gemessen werden. Er konnte aber nicht der einzige sein, konnte nicht alle andern ersetzen, es mußten doch ein paar übrigbleiben, an die man sich außerdem halten konnte, die nicht versagten, sich nicht untreu wurden, deren Sein und Tun sich nicht als Humbug herausstellte, wenn man es unter die Lupe nahm. Wundern wir uns nicht über die unerbittliche Strenge eines jungen Menschen, der sich zu allen Dingen der Welt, allem Geschehen, allen Worten, allen Gesichtern in einem Verhältnis qualvoller Spannung befand und an einem Punkte seines Lebens war, wo er Enttäuschungen schlechtweg nicht mehr ertrug, so wie ein überreizter Nerv keine Berührung mehr aushält, ohne unsinnige Schmerzen zu verursachen. Wäre der Fall um einen Grad weniger ernsthaft, so brauchten wir uns um diese fortwährenden Windmühlenkämpfe nicht länger zu kümmern und könnten den gerechten Kammacher, als der er vielleicht manchen erscheint, sich selbst überlassen. Man fragt sich in der Tat, was ihn daran stört und erregt, daß Nell und die Tänzerin Emma Sperling ein Herz und eine Seele sind, was es groß für ihn bedeuten kann, selbst wenn sich Nell in ihrem Innern keiner Illusion über Emmas Charakter hingibt. Nun, er überlegte so: Ist Emmas abgründige Verlogenheit kein Geheimnis für Nell und vergöttert Nell sie trotzdem, so ist sie nicht das, was sie scheint; man kann nicht mit der verkörperten Lüge in innigem Kontakt leben, ohne was davon abzubekommen und selber ein Stück Lüge zu werden; unter diesen Umständen kann man nicht bloß an sie nicht mehr glauben, sondern auch an ihr Werk nicht; was einen daran überzeugt und zur Bewunderung hingerissen hat, muß noch einmal untersucht werden, und man hat sich zu vergewissern, ob man nicht das Opfer eines Betruges geworden ist und wo der Wurm im Holz sitzt; etwas ist faul im Staate Dänemark, mag Nell bona fide sein oder nicht, und ob sie's ist, muß zuallererst ins klare gebracht werden ... Weitgehende Folgerungen, überheblich und abstrus wären sie zu nennen, wenn sie nicht aus der äußersten Lebensunsicherheit, der verzweifelten Suche nach festem Boden entstanden wären. Auf dem Weg, den er einschlug, machte er unerwartete Entdeckungen, die nicht geeignet waren, sein Gleichmaß wiederherzustellen. Krankhaft gesteigerte Hellsichtigkeit gewährte ihm Einblicke, auf die seine Sinne sonst wohl kaum geantwortet hätten.

Er kam täglich in die Siedlung. Sprach mit Freunden, suchte den und jenen auf, trieb sich in den Gassen herum, in der Bibliothek, in den Werkstätten, half bei einer Arbeit, schrieb Briefe, und zum Schluß, am Abend meistens, fand er sich bei Nell Marschall ein, in dem geräumigen, mit fast japanischer Kargheit ausgestatteten Zimmer, wo sich nach dem Nachtessen ihre Bevorzugten zu versammeln pflegten. Da saß er stundenlang in einer Ecke, fast unbeachtet, und hörte mit merkwürdig stillem Gesicht den Gesprächen zu. Obwohl die schwachsichtigen Augen immer halb gesenkt waren, schien ihnen nichts zu entgehen, keine Gebärde, kein Lächeln, kein Spiel der Mienen. Manchmal trat Nell an ihn heran, legte die Hand auf seinen Kopf, beugte sich ein wenig zu ihm herunter und fragte mit ihrer hellen Glockenstimme: »And you, darling? What's the matter with you? Wach auf mein Herz und singe!« Dann lachte sie übermütig, schüttelte ihn heftig bei den Haaren und rückte ihn so in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Für die Dauer von zwei Minuten. Er kannte das. Es ließ ihn kalt. Er sang nicht. Er heuchelte leichtes Geschmeicheltsein wie ein Kater. Wenn sie im Kreise ihrer Gäste saß und erzählte, war atemloses Lauschen in seinem Gesicht. Die Augen öffneten sich plötzlich und hatten einen begierigen Glanz. Ihr Mutterwitz, die treffenden Bemerkungen, ihre Gabe, Menschen und Begebenheiten plastisch hinzustellen, ihre funkelnde Beredsamkeit, das alles trank er gleichsam in sich hinein, und in Momenten, wo er sich vergaß, erstarrte ein fragender Ausdruck in seinen Mienen, und er glich jemand, der noch immer bei Tisch sitzt, wenn schon längst alle aufgestanden sind. Es geschah zuweilen, daß ihn Nell von der Seite ansah, scharf und rasch, als sei ihr sein Benehmen nicht ganz geheuer. Da sie sehr feinfühlig und wie alle ihrer selbst nicht sicheren Menschen im Erraten dessen, was im andern vorging, oft geradezu clairvoyant war, wurde sie in seiner Nähe immer unruhiger und unruhiger.

Eines Abends, Ende Mai, kam er früher als gewöhnlich, der große Saal war noch leer. Er stellte sich an eines der Fenster und schaute in die Purpurröte des westlichen Himmels. Da vernahm er Gelächter und Stimmen aus einem anstoßenden Raum, Nells Stimme und eine zweite, die er ebenfalls kannte. Er ging hin und pochte leise an die Tür. Er war sich der Ungehörigkeit seines Beginnens bewußt, setzte sich aber darüber hinweg. Man rief drinnen, er trat ein. An der Schwelle stutzt er. Das Bild, das sich ihm bietet, ist ein wenig sonderbar. Vor einem dreiteiligen großen Toilettespiegel stehen Nell und Emma Sperling. Emma, mit ihrem frechen Gassenjungengesicht, den Grübchen in den Wangen und dem saugenden Märchenlächeln, ist voll Eifer dabei, der andern einige Tanzbewegungen zu zeigen, die sie offenbar für ihre Produktionen erfunden hat und die nicht eben dezent sind. Bisweilen stößt sie einen kleinen bellenden Schrei aus und schneidet ihrem Spiegelbild eine Fratze. Sie scheint Neil aufgefordert zu haben, den Partner zu markieren, denn Neil steht in ziemlich alberner Pose daneben, die Arme in der Luft, das linke Bein vorgestreckt. Sie sieht furchtbar komisch aus, und als Emma herausplatzt, kann sich Neil gleichfalls nicht mehr halten, ein Doppelgelächter bricht aus, Baß und Diskant. Als sie Etzels ansichtig werden, machen sie etwas erstaunte Gesichter, lassen sich aber im Lachen nicht weiter stören. Endlich haben sie genug, Nell, ganz erhitzt und matt, sinkt in einen Stuhl, Emma, die Etzel flüchtig zugenickt hat und dann von seiner Anwesenheit keine Notiz mehr nimmt, findet plötzlich, daß es höchste Zeit sei, zu gehen, um neun Uhr beginnt die Vorstellung, es ist halb. Aber das Auto steht ja draußen. Sie rafft ihre Sachen zusammen, schwatzt dabei unablässig und verabschiedet sich von Nell. Sie umarmen und küssen einander. Nell ist tief gerührt. Ihre Augen leuchten noch, als Emma längst verschwunden ist. Sie schaut Etzel mit naivem Entzücken an und erwartet, dasselbe Entzücken in seinem Gesicht zu sehen. Da dies nicht der Fall ist, verändert sich ihre Miene, sie scheint sich seines eigenmächtigen Eindringens zu erinnern und es nachträglich zu mißbilligen. Dennoch versucht sie, seine verletzende Gleichgültigkeit zu übersehen, er ist vielleicht nur zerstreut, denkt sie, und um ihn an das zu mahnen, was er ihrer gehobenen Stimmung und der Situation schuldig ist, fragt sie halb ungeduldig, halb aufmunternd: »Ist sie nicht ein Engel? Ist es nicht ein Glück, daß ein so süßes Geschöpf existiert?« Etzel hat sich ihr gegenüber in einen Sessel niedergelassen. Er steht noch einmal auf, schließt die Tür nach dem Saal, die nur angelehnt war, setzt sich wieder. »Sag mir aufrichtig, Nell, was hältst du eigentlich von ihr?« fängt er an. Nell versteht nicht. Was sie von Spatz hält? Hat sie recht gehört? Einfältige Frage. Was sie von einem Wesen hält, das ... doch wozu Worte? Er scheint nicht bei Trost zu sein. – »Verzeih, Nell«, sagt er gelassen, wobei aber die Nasenflügel leicht vibrieren, »ich frage ja nicht zum Spaß oder um dich zu ärgern. Auch nicht, um deine auswendige Meinung zu hören, sondern deine inwendige.« – Was auswendig, was inwendig? Nell versteht noch immer nicht. Keine Silbe begreift sie. Sie schaut ihn fassungslos an. Da scheint ihr ein Licht aufzugehen. Ein fraulich-mitleidiger Blick trifft ihn, ihre Augen schimmern sogar feucht. »Armer Kerl«, flüsterte sie, »ich kann mir gut vorstellen, daß sie dich leiden macht. Damit mußt du dich abfinden. Undinen und Elfen kann man nicht erobern. Die kann man nicht besitzen. Du bist zu verwöhnt darin, darling. Du bist ein blinder kleiner Fresser. Du meinst, alle Frauen sind über einen Kamm zu scheren. Ich fühle ja mit dir, aber andererseits... glaub mir, es ist dir ganz gesund, daß du mal auf die Ausnahme stößt und deinen Willen nicht bekommst.« Sie lächelt ihm gütig zu, beugt sich ein wenig vor und will seine Hand ergreifen. Als er sie ihr schroff entzieht, schüttelt sie erschrocken den Kopf. Er ist über und über errötet. Er empfindet keine Lachlust, kein Erstaunen, er schämt sich, daß jemand, den zu respektieren er alle Ursache hat, so maßlos törichtes Zeug redet. Deshalb ist er rot geworden. Er sinnt darüber nach, wie er sich verhalten soll. Es ist möglich, daß ihm Nell um jeden Preis entschlüpfen will, daß ihr seine Fragen äußerst unbequem sind und daß sie durchtriebenerweise diese Parade gewählt hat, die ihm nach ihrer Meinung den Mund verschließen muß. Es ist aber auch möglich, daß sie völlig überzeugt ist von dem, was sie sagt, und keinen Begriff hat von dem, worauf er bis jetzt nur vorsichtig angespielt hat. Das wären dann allerdings zwei ganz verschiedene Nells: eine, der er die Maske vom Gesicht reißen, und eine, der er einen Fetisch zerschlagen muß. Es wird sich zeigen, mit welcher er zu tun hat. (Er stellt sich die Welt noch immer zu einfach vor, als ob sich jeder Charakter auf eine Formel bringen ließe.) Indessen merkt er, daß ihre Geduld zu Ende geht, obwohl sie ihn noch liebreich lächelnd betrachtet. Mit der Bewegung eines Menschen, der das Versteckspiel satt hat, sagt er rauh: »Weißt du denn nicht, Nell, daß Emma eine verworfene kleine Bestie ist? Eine Person, mit der man über das, was anständig und was gemein ist, gar nicht rechten kann, weil ihr das Unterscheidungsvermögen fehlt, die aber ein anständiger Mensch nicht über seine Schwelle läßt, wenn er sich nicht beschmutzen will? Weißt du nicht, daß sie dem armen Roderich, als er nur noch mit einer Hand am Abgrund hing, den letzten Fußtritt versetzt hat? Weißt du auch nicht, daß sie Lorriner als das unwiderstehliche Hürchen, das sie ist, zuerst geködert und dann kaltblütig verkauft hat? Lorriner hat es nie zugestanden, mit Hebeln und Schrauben hätte man es nicht aus ihm herausbringen können, für den war sie ja... weiß Gott was... die große Astarte... da kuschte er... nahm alles hin, wie ihr Knecht, ihr Söldling ... nur zum Schluß würgte sich's aus ihm heraus ... da konnte er nicht mehr ... das muß man erlebt haben ... aber ich sag' dir's jetzt, Nell, damit du's weißt. Auch ich hab' einige Zeit gebraucht, bis ich dahintergekommen bin, was für ein Früchtchen sie ist, obgleich ich sie nie für was anderes als einen Blender und Irrwisch gehalten habe.«

Die Wirkung dieser Worte ist schwer zu beschreiben. Nell sitzt regungslos, beide Hände auf den Knien. Ihr Gesicht wechselt mehrmals schnell nacheinander die Farbe, von tiefer Blässe zu hektischer Glut. Ihr hübsches, eigensinniges Kinn ist leicht vorgestreckt, wodurch die Kopfhaltung etwas Puppenhaftes bekommt und die Lider sich automatisch halb schließen. Die Züge haben den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit und angestrengten Nachdenkens, als müsse sie ihre ganze Geisteskraft aufbieten, um sich zurechtzufinden. Das dauert eine ziemliche Weile. Vom Saal herein dringen lebhaft redende Stimmen, die Korona hat sich offenbar schon versammelt. Nell dreht den Kopf und lauscht. Dadurch gewinnt sie Zeit. Dann steht sie mit jäher Bewegung auf, Etzel erhebt sich gleichfalls. Sie packt ihn am Ärmel und zieht ihn zu der dem Saal gegenüberliegenden Tür, von da in das nächste Zimmer, das finster ist, und nachdem sie dieses durchquert hat, in das dritte, wo sie Licht aufdreht. Es ist ihr Schlafgemach, ein bescheiden ausgestatteter kleiner Raum. Sorgfältig schließt sie die Tür, lauscht noch einmal zurück, streicht die schönen hellblonden Haare aus der Stirn. Nun wendet sie sich zu Etzel, der noch immer nicht wenig verblüfft ist von der wilden Energie, mit der sie ihn hierher befördert hat, und ergreift seine beiden Handgelenke. Ihre Brust atmet heftig. Ihre Augen blitzen ihn an wie zwei polierte Steine. Ihr Mund ist seinem Gesicht so nah, daß er ihren warmen Atem spürt. Mit heiserer Stimme sagt sie: »Ich habe nichts gehört und will nichts gehört haben. Verstehst du mich? Bilde dir nicht ein, daß ich etwas weiß. Du hast mir nichts gesagt. Nichts. Merk dir das.« Sie läßt seine Arme fallen, vielmehr sie wirft sie gleichsam weg und geht zweimal durch das Zimmer mit Schritten wie ein Mann. Das gibt sie gut, denkt Etzel, weiß von nichts, hat nichts gehört, das Rezept muß man sich wirklich merken. Aber es ist ihm keineswegs humoristisch zu Sinn, eher schwarz, ja richtig schwarz ist ihm zu Sinn, das »Violette« ist schwarz geworden. Was meint sie denn? Spricht sie noch wie ein Mensch? Nell bleibt stehen, sie lacht bitter auf, aber es klingt gezwungen und ein wenig theatralisch. Etwas Hartes kommt in ihre Züge, um die Mundwinkel liegt eine schneidende Schärfe. Sie beginnt von Lorriner zu sprechen, und zwar so, als ob es ein neuer Gesprächsstoff wäre, als ob der Name zwischen ihnen noch nicht genannt worden wäre und ihr das Alleinsein mit Etzel den langgewünschten Anlaß böte. Ob Andergast Nachricht von ihm habe? Ihn vielleicht gesehen habe? Jaja, sie wisse schon, sie habe es auch vergeblich versucht, Kerkhoven halte ihn ja unter Verschluß wie einen gemeingefährlichen Irren. Nun, dafür trage er als Arzt die Verantwortung, er werde ihn gewiß nicht einen Tag länger der Freiheit berauben, als unbedingt nötig sei, selbst wenn sich entgegenwirkende Einflüsse geltend machen sollten. Hinter den Worten liegt eine Warnung, ja eine leise Drohung. Etzel blickt verwundert drein, in der Magengegend hat er ein unangenehmes Gefühl wie von einem Krampf. Das mit den »Einflüssen« hat er überhört, er begreift nicht, was sie meint, nur die sonderbare Anspielung auf Kerkhoven bleibt in ihm haften. War nicht eine heimliche Verdächtigung drin? Es dünkt ihn so, er kann es aber nicht glauben. Er drückt die geschlossene Faust unters Kinn, eine Geste, die ihm seltsamerweise etwas Geharnischtes gibt. Nell beobachtet ihn verstohlen. »Es kann nicht unheilbarer Wahnsinn sein«, sagt sie schmerzbewegt, »es ist nicht möglich, daß ein so herrlicher Geist erlischt wie ein Zündholz. Wir werden ihn wieder haben, ganz gewiß. Du zweifelst doch auch nicht daran?« Als Etzel schweigt, tritt sie wieder dicht vor ihn hin, legt kameradschaftlich die Hand auf seinen Arm und sagt vertraulich-leise: »Hör zu, darling. Du bist doch so ein geschickter Spürhund, du kannst mir helfen. Ich habe die bestimmteste Nachricht, auch bei uns in der Siedlung spricht man überall davon, daß Jürgen Lorriner von einem seiner allernächsten Freunde ganz planvoll in die geistige Umnachtung getrieben worden ist. Ich ahne nicht, wer es ist, ich kannte ja seinen Umgang wenig, seine politischen Freunde gar nicht, jedenfalls handelt es sich um einen Menschen ohne Gewissen, einen eifersüchtigen Dämonen, der nur das eine Ziel verfolgt hat, den Besseren, Edleren, Größeren aus dem Weg zu räumen. Du kannst mir ruhig glauben, wenn ich es sage, ist es so. Es ist ihm ja auch gelungen, für einige Zeit wenigstens. Aber lang wird er sich seines Triumphs nicht freuen, dafür will ich schon sorgen.

Denk mal nach, darling, ob dir niemand einfällt, auf den mein Signalement paßt.« Etzel schaut, schaut, schaut. Komisch, wie ihn seine eigenen Haare kitzeln. Komisch, wie die Frau vor ihm hin und her schwankt. Komisch, was er für eine Lust hat zu piepsen, wie ein kleiner Vogel möchte er gern piepsen. Nell tätschelt mit zwei Fingern seine Wange. »Unsere Gäste werden sich wundern über das ausgiebige tête-à-tête«, ruft sie und lacht schrill, beinahe hysterisch. Sie faßt ihn unter und nötigt ihn so, eingehängt mit ihr den Weg zurückzugehen, den sie gekommen sind. In dem Zimmer, worin sie sich zuerst aufgehalten haben, sieht Nell etwas auf dem Boden funkeln. Sie bückt sich und hebt es auf, ohne Etzels Arm loszulassen. Es ist ein dünnes goldenes Armkettchen. »Es gehört Spatz«, sagt sie und betrachtet es wie eine teure Reliquie; »das arme süße Kind ... weißt du, darling, daß man ihr einen frühen und gewaltsamen Tod prophezeit hat? Heute erzählt sie mir das, so nebenbei, ganz munter, wie wenn man ihr was zum Geburtstag versprochen hätte. Du kannst dir vorstellen, wie mir dabei zumute war.« Etzel bleibt stumm, er hat kaum ein Wort von dem Gerede begriffen. (Sechs Monate später, als die Prophezeiung wirklich eintraf, erinnerte er sich daran wie an einen Traum, in welchem Nell selber zur weissagenden Sibylle wurde.) Arm in Arm betreten sie den Gesellschaftsraum. »Endlich! Wo warst du, Nell? Wir wollten schon das Haus nach dir durchsuchen!« schallt es ihnen entgegen. Nell lacht, beschwichtigt, teilt Händedrücke, Küsse, Umarmungen aus, Etzel verliert sich still in der aufgeregten kleinen Menge, die ihm fast ebenso gespenstisch erscheint wie das, was er soeben erlebt hat.

Eins kommt zum andern. Wie es eine Gesetzmäßigkeit im Verlauf der Ereignisse gibt, so auch in der Entfaltung der Charaktere. Man könnte beinah sagen, sie durchleuchten sich selbst, wenn man im richtigen Augenblick zu sehen versteht. Dies wußte Etzel aus langer Erfahrung und bezog mit trainierter Ausdauer seinen Posten.

Nell war von einer ihr befreundeten Schriftstellerin, einer Frau von M., die unter dem Pseudonym Narzissa Horn schrieb, gebeten worden, eine eben vollendete Novelle bei ihr vorlesen zu dürfen. In aller Bescheidenheit, da sie eine Dame von Welt ohne blaustrümpfige Allüren war. Gattin eines bekannten Aristokraten und einflußreichen Mannes, hatte sie Nell schon manchen Dienst erwiesen; ihr den Wunsch abzuschlagen, war unmöglich. Nell, die ein außerordentlich scharfes literarisches Urteil besaß, schätzte die Frau persönlich hoch, von ihrer Begabung hatte sie jedoch keine große Meinung, hatte sich auch zu verschiedenen Malen recht mißfällig über ihre Bücher geäußert. Die Vorlesung fand also statt, Nell lud ihren ganzen Kreis dazu ein, auch Etzel; es war zwei Abende, nachdem er das seltsame Gespräch mit ihr gehabt. Natürlich folgte er dem Ruf. Die Aufmachung war wie üblich: stimmungsvoll verdunkelter Raum, Unterhaltungen im Flüsterton, willfährige Mienen, hinter denen die Furcht vor der Langeweile lauerte und sie verdrossen machte, wenn sie sich unbeobachtet wähnten. Das kannte er. Es war die höfliche Übereinkunft, sich einer Prüfung zu unterziehen, bei der der einzige Lichtblick war, daß sie nach menschlichem Ermessen bald überstanden sein würde. Narzissa Horn war eine Frau Mitte der Vierzig, sah gut aus, gab sich etwas lockerer, als sie sich vermutlich sonst zu geben pflegte, und versicherte immer wieder, daß sie nie im Leben solches Lampenfieber gehabt habe wie vor diesem Parterre von Kennern und Kennerinnen. Was mit gebührendem Protest aufgenommen wurde. Alle nahmen Platz, und nach endlosem Stühlerücken, Räuspern und Husten ging's los. Es war ein mittelmäßiges Elaborat, das sei gleich gesagt, ohne Salz und Schmalz, obwohl modern aufgeputzt und mit einigen mehr als gewagten Schilderungen erotischer Natur, die aus dem Mund einer so noblen Dame geradezu unanständig wirkten. Etzel genierte sich ordentlich, und seine Zehen in den Schuhen machten kleine Turnübungen. So war es mit allen, auch die Abgebrühtesten sahen merklich bestürzt aus. Anderthalb Stunden dauerte die Vorlesung. Nell täuschte sich selbstverständlich nicht eine Sekunde über den Wert des Produkts. Es wäre gesellschaftlich zu begreifen gewesen, wenn sie sich mit einem konventionellen Lob begnügt hätte, bei ihrem diplomatischen Geschick konnte sie um die Verlegenheit leicht herumkommen, die andern wären ihr dankbar dafür gewesen. Statt dessen geschah das Unerwartete, daß sie vor der Autorin niederkniete und ihr die Hände küßte. Peinlicher Moment. Sie schien bewegt. »Ein bedeutendes Werk«, sagte sie mit Augenaufschlag. Betretenes Schweigen der Zuhörerschaft. Sie, erbittert durch dieses Schweigen, trumpfte auf und rühmte psychologische Feinheiten und erlesene Wendungen, die man in der Novelle vergebens gesucht hätte und die sie in ihrem Trotz und der Entschlossenheit, hingerissen zu sein, frei erfand. Als sie spürte, daß selbst ihre Getreuesten sie im Stich ließen, sich sogar erkältet und aufsässig zeigten, obschon sie ihr sonst jede Extravaganz zugute hielten, weil sie sie ja aufrichtig liebten, steigerte sie sich in einen verworrenen Hymnus hinein, sprach von adeliger Kunst, von spezifisch weiblicher Genialität, schüttelte die Haare wie eine Bacchantin und warb leidenschaftlich um Beifall, jetzt mehr für ihre eigenen Worte als für die Sache, die sie vertrat. Frau von M., die das Unziemliche des Ausbruchs lebhaft empfand und wahrscheinlich eine verständige Portion Anerkennung lieber gehabt hätte als den maßlosen Erguß, stand eine Weile ziemlich verschüchtert da, und es gelang ihr schließlich, Nell in ein Zwiegespräch zu ziehen. Aber es war, als könne sie nicht mehr in ihre normale Gemütsverfassung zurückfinden. Den ganzen Abend hindurch war sie lärmend, lachte schrill und unmotiviert, ging von einem zum andern, drückte da ein junges Mädchen an ihre Brust, stellte dort irgend jemand wegen eines Wortes oder Blickes schroff zur Rede, zitierte Verse von Longfellow, legte eine Carusoplatte ins Grammophon und sang mit, obgleich sie weder musikalisch war noch eine wohltönende Stimme hatte, kurz, es war ein unheimlicher Rausch, der ihr ganzes Wesen ergriffen hatte und sie zu hemmungsloser Selbstpreisgabe zwang. Dies brachte Etzel auch von der Meinung ab, sie habe Frau von M. nur aus Snobismus mit jenen Schmeicheleien überhäuft, die so lächerlich unwahr geklungen hatten, daß kein Schriftsteller der Welt naiv genug sein konnte, sie für bare Münze zu nehmen; er hatte gedacht: wenn so eine Amerikanerin mit einer waschechten Aristokratin zu tun hat, verliert sie den Kopf; es war nicht zum erstenmal, daß sich Nell durch diese Schwäche in den Augen ihrer Freunde herabsetzte. Aber das konnte an ihrer seltsamen Aufführung nicht ausschließlich schuld sein. Je mehr er darüber nachsann, je geheimnisvoller dünkte ihn der Vorgang.

An der Ostseite der Siedlung waren fünf neue Blockhäuser errichtet worden. Selbstverständlich fehlte es an Bewerbern nicht, viele waren vorgemerkt, es war ein Wettrennen, die Sekretariatskanzlei war den ganzen Tag von Bittstellern belagert, wo sich Nell Marschall blicken ließ, stürzten Wartende auf sie zu. Sie sprach mit jedem wie mit ihresgleichen, ohne die Spur von Hochmut oder Herrengefühl; wenn sie ihr Unvermögen, allen zu helfen, eingestehen mußte, konnte sich niemand dem Eindruck der schmerzlichen Trauer entziehen, die ihr schönes Gesicht überschattete. Sie stand blaß und ratlos vor den Bittenden, ihr zuckender Mund schien sagen zu wollen: Ich weiß, daß ich euch enttäusche, ich weiß, es ist alles zuwenig, viel zuwenig, was soll ich tun? Etzel hatte die Zusage von ihr erhalten, daß er fünf junge Leute seines Bekanntenkreises in die engste Wahl bringen dürfe. Sie hätte ihm das Versprechen kaum gegeben, hätte sie nicht gewünscht, ihn zu verpflichten und Frieden mit ihm zu schließen. Vielleicht vergaß er dann gewisse Dinge, die sich zwischen ihnen ereignet hatten. Sie hatte eine dunkle Furcht vor ihm und wollte ihn nicht zum Feind haben. Etzel wußte es und hatte darauf gerechnet.

Er hatte eine Liste mit zwei Dutzend Adressen angelegt. Aus diesen vierundzwanzig Namen mußte er sich für fünf entscheiden. Daß diese fünf dann auch aufgenommen würden, dafür wollte er schon sorgen. Zunächst hatte er durch ein weitläufiges Ermittlungsverfahren festzustellen, wer den Vorrang verdiente. Schwierige Aufgabe, da er sich nicht von Sympathien leiten lassen, sondern sich nur nach dem Notstand richten durfte. Wie Überblick gewinnen, wie verhüten, daß er den jeweils aktuellen Fall für den dringendsten nahm und über dem gegenwärtigen Augenschein den gestrigen vergaß? Er kannte hundert, wo man sofort hätte eingreifen müssen, die vierundzwanzig waren ja schon eine Elendsauslese, die sollte nun abermals destilliert werden, Extrakt vom Extrakt. Es bangte ihm vor einer Verantwortung, die ihn in Konflikt mit der Gerechtigkeit bringen konnte, jetzt hatte sich's wieder einmal zu erweisen, ob sie nicht bloß ein Begriff war, die berühmte Gerechtigkeit, eine Tugend, die man immer nur von den andern erwartete, indes man selber ihrer nicht fähig war und einem Eindruck, einer Verführung, einem Machtkitzel erlag. Sich allein auf das Gedächtnis zu stützen ging nicht an, er mußte Ausweise und Zeugnisse haben; um vergleichen und urteilen zu können, brauchte er die Unterlage von gesammeltem Stoff, so erweiterte er mit Hilfe Max Mewers, den er um Rat fragte, seine Liste zu einer Art Stammrolle mit einer Anzahl Rubriken, in denen Alter, Beruf, Familienverhältnisse, Lebensumstände, Erwerbsaussichten und Eigenschaften der Kandidaten verzeichnet werden sollten. Mit diesem Instrument in der Tasche machte er sich auf den Weg. Denn obwohl er weitaus die meisten seiner Schützlinge gut kannte, merkte er zu seiner Verwunderung, daß er von keinem einzigen genug wußte, um die Spalten der Fragebogen von selber ausfüllen zu können, Beweis für die Oberflächlichkeit aller Beziehungen. Ich muß mich hier auf das Notwendigste beschränken. Wollte ich bei jeder Station dieses Rekognoszierungsganges verweilen, so würde dieses Buch formlos wie ein Sandhaufen werden und aufhören, der Spiegel zu sein, als den ich es geträumt habe. Was würden wir auch groß sehen; unerfreuliche Stuben; Hofkammern, Mansarden, verwahrloste Löcher mit jämmerlichen Resten von Mobiliar, fragwürdigen Betten und verstreuten Überbleibseln einer besseren Vergangenheit, einem Fetzen Samt, einer leeren Vitrine, einer Mappe mit Fotografien. Wenn sie nicht mehr ihre anfängliche Bestimmung erfüllen, verwesen die Dinge, Schmuck muß überschüssig sein. In den Massenquartieren ist nichts dergleichen zu finden; es sind Kasernen für den ausrangierten Teil der Menschheit, wer dorthin verschlagen ist, hat alles, was er besitzt, in seinen Taschen. Bürgerliche Wohnungen sind eigentlich noch trister, wenn sie sich krampfhaft bemühen, das Gesicht zu wahren. Die abgebauten Beamten, zugrunde gegangenen Kaufleute, kleinen Adligen, die sie innehaben, sind wie die Nachzügler einer geschlagenen Armee, die mit schlotternden Knien noch ein bißchen Parademarsch markieren. Jeder Raum ist von einem oder mehreren Untermietern besetzt, Buchhaltern, Agenten, Reisenden, denen ebenfalls ein Schatten früheren Glanzes anhaftet und die ihre Taschenuhr und sonstige Wertobjekte ganz heimlich zum Pfandleiher tragen. Helle Flecke in den Tapeten zeigen die Stellen an, wo einmal Bilder gewesen sind, am Piano hängt ein gerichtliches Siegel wie ein höhnisches rotes Auge, kahle Fenster, Küchen, in denen nicht gekocht wird, Bücherschränke ohne Bücher, Stühle, die kummervoll-erstaunt um einen Platz herumstehen, an dem der Tisch fehlt, als wäre er gestorben und soeben beerdigt worden. Überall noch der Rahmen und nichts mehr drin, das Skelett ohne das Fleisch, Kirchhöfe und Mausoleen. Dort hat Etzel seine Leute aufzusuchen, wo man im Begriff ist, den letzten Halt zu verlieren, wo man das traurige Spiel Als-Ob spielt, wo aber noch was zu retten ist, ein wenig Stolz, ein wenig Hoffnung. In verschämter und in offener Armut hausen sie, denen er in die Zukunft hinüberhelfen will, Studenten, Studentinnen, junge Techniker, Kunstgewerbler, Novizen des Elends, durch seelischen Druck fast gefährdeter als durch materiellen, obgleich auch der auf keinen erheblichen Widerstand mehr stößt. Man muß sich sputen, über kurz oder lang haben sie ihr inneres Kapital verwirtschaftet, eines Tages werden sie stempeln gehn, vorläufig sind sie nicht »arbeitslos«, denn ihr Arbeitgeber sind sie selber, sie glauben, daß ihre Person noch einen Einsatz darstellt und daß nicht alle Ideale der Geisteswelt so räudig aussehen wie die, mit denen ihre Väter auf den Hund gekommen sind. Politisch haben sie sich noch nicht festgelegt, wenigstens nicht alle, das Termitenparadies lacht ihnen nicht, eher neigen sie dazu, die der Nation zugefügte Unbill zu rächen oder doch zu tilgen. Bürger: verachtetes Wort, hat es seinen edelbescheidenen Sinn gänzlich verloren? Dennoch sind sie Söhne und Töchter von Bürgern und werden sich erst am Tag der endgültigen Verzweiflung zur Masse schlagen. Mancher hat eine kleine Rente; einen Monatswechsel von hundert Mark, davon soll er Kost, Logis, Wäsche, Kleider, Stadtbahn, Studium zahlen. Das Zimmer kostet mindestens dreißig Mark, bleiben zwei Mark per Tag für alles andere, aber viele haben nur vierzig Pfennig und leben von Brötchen, Tee, Kaffee und einmal Suppe am Tag, an ein Bad ist nicht zu denken, dafür rechnet die Wirtin fünfzig Pfennige, eine »sturmfreie« Bude, in die man mal ein Mädel mitnehmen kann, ist auch selten. Aber wenn man nur einen Raum für sich hat, viele müssen sich mit einer Schlafstelle begnügen. Man meint immer der, bei dem man gerade ist, befinde sich auf der untersten Staffel der Not; holder Irrtum, nach unten gibt's keine Grenze. Wer kein Hemd mehr auf dem Leib und seinen letzten Rock versetzt hat, kann immerhin noch ausgehen, wenn er zufällig noch einen alten Mantel besitzt, für den kein Leihamt mehr was gäbe; wenn aber das Schuhwerk hin ist und die Sohlen vom Leder fallen, was dann? Und wenn er krank ist, wenn's mit der Lunge hapert, wenn das Geld nicht mehr zu einem Mittagstisch in der Mensa oder zu dem scheußlichen Fraß in einem der Eßhäuser reicht, wenn die Mutter und kleine Geschwister um einen herum hungern, was dann? Etzel, der Prüfungskommissär, hat dann nur die Frage zu beantworten: Wer ist es, der dieses leidet? Fällt in die Rubrik: Eigenschaften und besondere Art des Bewerbers. Er kommt sich wieder einmal wie ein Spitzel vor, der unter der Maske der Freundschaft und Teilnahme Indizien sammelt. Wirf die Katze, wie du willst, sie fällt auf die Füße. Nach drei Tagen hat er seine Auswahl getroffen. Der erste ist ein gewisser Seyschab. Neunzehn Jahre alt. Beide Eltern sind den Leuchtgastod gestorben. Studiert Philosophie, bringt sich als Lektor in einem Verlag für pornographische Literatur durch und hält damit auch einen jüngeren Bruder über Wasser. Aber nur knapp. Hungerkünstler. Sieht aus wie ein Leichnam. Wohnt in einem Bretterverschlag, zu dem man durch die einzimmerige Behausung einer achtköpfigen Proletarierfamilie gelangt. Der Bruder schläft hinter einem Vorhang aus zusammengenähten Säcken in der großen Schublade einer nicht mehr vorhandenen Kommode. Diesem Menschen ist ein ruhiger lächelnder, man könnte sagen hoheitsvoller Mut und eine leuchtende geistige Reinheit eigen. Etzel kennt ihn von der Universität her und hat sich oft mit ihm unterhalten. Von den schrecklichen Umständen, in denen er lebt, weiß außer Etzel fast niemand. – Der zweite ist ein junger Graf Grünne, zweiundzwanzigjährig. Etzel hat ihn einmal bei einer blutigen Keilerei in einer nationalsozialistischen Versammlung aus den Händen eines Kommunisten befreit, der ihn beinah erdrosselt hätte. Danach sind sie die ganze Nacht miteinander spazierengegangen. Man sieht Grünne nie anders als in einer alten ledernen Automobiljacke. Das dazugehörige Auto garagiert auf dem Mond. Er hat überhaupt keine Subsistenzmittel. Wovon er lebt, ist rätselhaft. Bisweilen schickt ihm ein Onkel, der auf einer Klitsche bei Arnswalde haust, zehn Mark. Er sieht aus wie der Prinz Louis Ferdinand, ist homosexuell, glänzender Mathematiker, glühender Patriot und leidet unter wiederkehrenden Migränen epileptoiden Charakters. Er hat die bezauberndsten Manieren und die schönsten Hände, die Etzel je bei einem Mann gesehen hat. Er macht sich nichts aus seiner jammervollen Lage, er sagt, und man glaubt es ihm ohne weiteres, er wolle noch bis Neujahr 1929 zuwarten, und wenn sich bis dahin nichts geändert habe, mit ihm nicht und in der Welt nicht, werde er die Budike schließen. – An dritter Stelle kommt eine Studentin der Kunstgeschichte, Helene Grätz. Ihren Unterhalt erwirbt sie als Turnlehrerin für Kinder in Privathäusern, so viel nämlich, daß sie ihre Dachkammer bezahlen kann und nicht verhungern muß. Sie steht völlig allein in der Welt. Sie hat keinerlei Anhang, es ist, als sei sie von keiner Mutter geboren worden, so allein ist sie. Sie hat eine zierliche Gestalt, ist dünn wie ein Faden, man denkt, die Natur habe ihr aus Mildherzigkeit dieses Nichts von einem Körper gegeben, um es ihr zu ermöglichen, mit dem Mindesten von Nahrung so zäh, so energisch, so arbeitsam zu sein, wie sie ist. Sie liebt fanatisch die »Schönheit«. Mit diesem Wort begreift sie alle großen Werke der bildenden Kunst. Seit ihren Kindertagen träumt sie von einer Reise nach Italien. Um einmal die Sixtinische Kapelle zu sehen, würde sie sich eine Hand abhacken lassen. Sie weiß, daß es nicht sein kann und wahrscheinlich nie sein wird. Seit drei Wochen hat sie alle Stunden verloren, sie ist von einem Omnibus gestürzt und hat sich eine schmerzhafte Verstauchung des Knöchels zugezogen, die noch Monate zur Ausheilung brauchen wird. Die Dachstube ist ihr gekündigt worden, am ersten Juni wird sie obdachlos sein. Sie ist nicht verzweifelt, sie ist nur betroffen. Sie hat keine Ahnung, was da werden soll. – Vier und fünf endlich sind ein Zwillingspaar, Bruder und Schwester, Herbert und Anna Dedeken heißen sie, noch nicht achtzehn alt. Etzel hat ihre Bekanntschaft in einem Nachtkabarett gemacht, wo er mit Jessie Tinius und Roderich war; die Zwillinge produzierten sich dort als Wunderkinder mit indianischen Liedern und Tänzen (kläglich übrigens). Damit verhielt es sich so. Als Sechsjährige waren sie mit den Eltern nach Südamerika ausgewandert. Herbert mußte täglich mit dem Vater in den Urwald hinaus und ihm bei der Arbeit helfen. Weiße Menschen sahen sie niemals, nur bisweilen Indianer, aber diese Wilden waren freundlich mit ihnen, so mißtrauisch sie sonst den Ansiedlern aus dem Weg gingen, luden sie zu ihren Festen ein und lehrten sie ihre Gesänge. Die Einsamkeit machte den Vater zum Trinker, und er fing an, die Mutter grausam zu mißhandeln. Die Zwillinge fürchteten und haßten den Vater mehr als alles auf der Welt und hingen mit angstvoller Leidenschaft an der Mutter. Sie starb schon im dritten Jahr. Vierzehn Monate hausten sie mit dem Vater allein, diese Zeit war die düsterste ihres Lebens. Er ging am Säuferwahnsinn zugrunde. Wie sie durch Wald und Prärie zur nächsten Stadt wanderten, das mußte man von ihnen selbst hören. Ein dänischer Farmer nahm sie mit nach Europa, kümmerte sich aber dann nicht weiter um sie. Wo sie in den nächsten Jahren überall herumgestoßen wurden, konnte Etzel nicht erfahren, nur daß sie eine Zeitlang in einem Erziehungshaus waren, natürlich nicht in demselben, er in der Knaben-, sie in der Mädchenfürsorge. Sie konnten aber eins ohne das andere nicht leben, verabredeten sich zur Flucht, in einer Herbstnacht brachen sie zur gleichen Stunde aus und schlugen sich nach Berlin durch. Sie erinnerten sich der armseligen Künste, die sie den Urwaldindianern abgelernt hatten, und nach schrecklichen Entbehrungen gelang es ihnen mit Hilfe eines stromernden Schauspielers, der sich ihrer angenommen hatte, bei jenem Kabarett unterzukommen. Aber das dauerte nur ein paar Monate, dann waren sie wieder brotlos. Sie mußten sich hüten, aufgegriffen zu werden, sonst hätte man sie wieder auseinandergerissen und wahrscheinlich wieder in die Korrektion gesteckt. Im Februar hat ihnen Etzel eine notdürftige Unterkunft bei einer Portiersfrau verschafft, aber die will sie jetzt nicht mehr beherbergen. Herbert hat sehr viel Sinn für Mechanik und bastelt den ganzen Tag an selbsterfundenen Apparaten herum, sicher wird er einmal eine große Erfindung machen, wenn ihn das Leben nicht vorher zertritt, unablässig lernt und studiert er, jedes Buch ist ihm ein Heiligtum. Das Mädchen ist immer in seiner Nähe oder er in ihrer, denn das Seltsamste ist, daß sie beide wie ein einziges Wesen wirken, wie ein Hermaphrodit mit getrennten Hälften, es ist, als dächten sie zu gleicher Zeit dieselben Gedanken, hätten zu gleicher Zeit dieselben heiteren oder traurigen Empfindungen. Herbert hatte Etzel erzählt, daß er in der Fürsorge einmal an einer Halsentzündung erkrankt war; am selben Tag und in derselben Stunde war auch Anna an einer Halsentzündung erkrankt.

Als er diese Wahl getroffen hatte, bestellte Etzel die fünf für den folgenden Nachmittag in die Siedlung. Gegen sechs Uhr war Nell gewöhnlich zu sprechen. Sie kamen pünktlich. Im Sekretärsbüro teilte ihm Mewer jedoch mit, Miß Marschall sei in die Stadt gefahren. Dann wolle er auf sie warten, entgegnete Etzel, er müsse ihr die Leute vorstellen; heute noch. – »Wer weiß, wann sie zurückkommt«, sagte Mewer, »es kann spät werden.« – »So wird's eben spät. Kann unmöglich die jetzt wieder nach Hause schicken. Wo sollen wir denn hin einstweilen? Es regnet wie aus Scheffeln.« – Mewer schielte ihn über die Hornbrille hinweg an. Ein kleines, scheues Unbehagen wurde er gegen Etzel nie los. Er war ihm nicht heimlich, obwohl er ihn bewunderte, ja sogar ihm nachlief. Wo er nur konnte, suchte er in seiner Nähe zu sein. »Du siehst stark mitgenommen aus, Andergast«, sagte er, »das Wasser rinnt dir ja bei den Schuhen heraus. Solltest acht auf dich geben. Wenn du mir folgst, legst du dich in die Klappe.« – Etzel klopfte verdrießlich die triefende Windjacke ab und schaute an sich herunter. Tatsächlich stand er in einer Wasserpfütze. – »Führ sie doch in eins der neuen Häuser hinüber«, schlug Mewer vor, »sind zwar noch nicht fertig eingerichtet, aber das stört wohl nicht. Wenn Miß Marschall kommt, lass' ich dir's sagen oder hol' dich selber.« – »Dank' dir«, sagte Etzel und machte kehrt. Draußen setzte er sich an die Spitze seiner Schützlinge und marschierte mit ihnen quer durch die Siedlung zu dem ersten der noch unbewohnten Blockhäuser. Alle waren bis auf die Haut naß und schüttelten sich wie die Hunde, als sie in dem Gemeinschaftsraum, in den man unmittelbar von der Straße aus gelangte, vor der Sintflut in Schutz waren. »Macht's euch bequem, so gut ihr könnt«, sagte Etzel, »jetzt heißt's Geduld haben.« Was mochte mit ihm los sein? Er war zum Umsinken müde. Vielleicht hatte er sich in den letzten drei Tagen übernommen. Nicht ausgeschlossen. Er kauerte sich in einen Winkel auf den Fußboden und ließ den Kopf vornüber fallen, hob ihn aber gleich wieder hoch und murmelte: »Was soll denn das? Wirst du wohl parieren, verdammtes Gerippe!« Er befand sich ungefähr in der Verfassung eines hochgradig Fiebernden, dem das Bewußtsein des Fiebers fehlt; nichtsahnend geht er seinen Geschäften nach und begreift nicht, warum seine Glieder so bleiern sind und bald Hitze, bald Kälteschauer über seine Haut jagen.

Sonderbare Situation. Sechs junge Leute, von denen fünf einander vollkommen fremd sind, in einem ihnen fremden Raum gewissermaßen interniert und zu einem Warten verurteilt, dessen Ursache und voraussichtliche Dauer sie nicht kennen, denn der sie hergebracht hat und den sie als ihren Führer betrachten müssen, ist ganz gegen seine sonstige Art in stumme Teilnahmslosigkeit versunken, ja er scheint sogar zeitweise zu schlafen. Er hat bestimmte Hoffnungen in ihnen erregt, als solle sich an diesem Abend ihr Schicksal zum Bessern wenden, dies beschäftigt sie innerlich stark, sie können nicht recht daran glauben, es geschehen keine Wunder, es geschehen nicht einmal Überraschungen, jedenfalls sind sie gegen die übliche Enttäuschung gewappnet. Jeder ist aus einer andern Welt, es scheint gar keine Brücke zwischen ihnen zu geben, und doch, Viertelstunde um Viertelstunde vergeht, endlich muß einer von ihnen reden, wenn der dort im Winkel sich noch länger in Schweigen hüllt. Ringsum herrscht tiefe Stille, die durch das eintönige Rauschen des Regens nur noch drückender ist, sie können sich nicht entsinnen, je eine solche Stille erlebt zu haben, vielleicht nur die Zwillinge, in ihnen taucht die Kindheitserinnerung an den Urwald auf. Sie sehen einander in die Augen und lächeln ihr seltsames Hermaphroditenlächeln. Schiffbrüchige, die sich ans Land gerettet haben und in einer Höhle beisammenhocken, bis der Morgen graut und der Sturm aufhört, erzählen einander gern Geschichten, wenigstens steht es in den Büchern so, jeder berichtet irgend etwas aus seinem Leben. So jovial geht es hier nicht zu, diese Achtzehn-, Zwanzig-, Zweiundzwanzigjährigen sind harte, karge, unbeschauliche Leute, kein Schiffbruch der Welt kann sie zur Schwatzhaftigkeit über sich selbst verführen. Gleichwohl kommt ein Gespräch in Gang. Da fällt ein Wort, dort eins. Stockend, widerwillig, nach Beziehung tastend, das Terrain sondierend. Frage nach der Tageszeit. Mürrische Hindeutung auf das Wetter, spottende Bemerkung von Helene Grätz über ein etwas kitschiges Bild, das neben der Tür hängt. Grünne zieht eine Stulle aus der Tasche, und als er den begehrlichen Blick Herbert Dedekens gewahrt, verbeugt er sich höflich und teilt sie mit ihm. Seyschab hat Zigaretten, bietet sie an, alle beginnen zu rauchen, die Mienen entspannen sich, man ist wohlwollender gestimmt. Seyschab, der nie ausgeht, ohne ein Buch zu sich zu stecken (er ist mit einem Buchhändler befreundet, der ihm wissenschaftliche Werke borgt), hat anfangs zu lesen versucht, jetzt klappt er das Buch zu. Der Graf beugt sich zu ihm herüber und liest den Titel: Psychologie des Traums. Er blickt Seyschab nicht ohne Respekt an, kann sich aber nicht enthalten, sein Mißtrauen gegen »all solches Zeug« zu äußern. Seyschab setzt ihm in ein paar Worten die Gesichtspunkte des Autors auseinander. Grünne hört aufmerksam zu. Die Zwillinge rücken näher. Seyschab entwickelt eine tiefsinnige Theorie des Traumlebens, die in scharfem Gegensatz zu den Freudschen Lehren steht. Es ist eine förmliche Metaphysik, und obwohl der junge Graf sich Mühe gibt, ihn zu verstehen, kann er ihm doch nicht ganz folgen. Das Thema interessiert ihn, aber er braucht das lebendige Beispiel. Da entspinnt sich eine allgemeine Unterhaltung über Träume. Mit Rücksicht auf den Schläfer oder Halbschläfer im Winkel erhebt sich der Ton selten über das mezza voce. (Jedoch Etzel schläft nicht, er ist allerdings nicht völlig wach, es ist ein Zwischenzustand, der sonderbarerweise seine Empfänglichkeit steigert; indem jene von Träumen sprechen und ihre Träume erzählen, sieht er jeden einzelnen mit erstaunlicher Deutlichkeit vor sich. Sie geben sich ihm in ihren Träumen zu erkennen, und dieser Vorgang wird für ihn wiederum traumhaft.) Grünne hat nur Sinn für leichtfaßliche Deutungen. Da er wenig Phantasie besitzt, sind seine Traumwege unverschleiert und der Wirklichkeit sehr nah. Am Tag bevor seine Migräne beginnt, träumt er jedesmal, er habe die entsetzlichen Kopfschmerzen bereits und schneide sich mit einer Schere die Pulsadern auf; mit dem Augenblick, wo das Blut fließt, lindern sich die Schmerzen, und wenn er dann in einem warmen Blutsee liegt, hören sie ganz auf, da fühlt er sich wie neugeboren. Helene Grätz fragt verwundert, wie es kommt, daß in so vielen Träumen das Blut eine Rolle spielt; sie hat von Zeit zu Zeit folgenden Traum: eine große flache Schüssel wird vor sie hingestellt, darauf liegen achtzehn bis zwanzig abgeschnittene Taubenköpfchen, die sich noch bewegen und mit den Augen neugierig umherschauen; das Blut in der Schüssel versickert langsam, erst wenn es verschwunden ist, rühren sich die Köpfchen nicht mehr. Herbert Dedeken sagt, auch er habe einen Traum, den er jeden Monat mindestens einmal träume: er befindet sich auf einem Schiff, das er nach vielen Mühseligkeiten und Fährnissen erreicht hat, die Verfolger stehen an Land und drohen ihm mit erhobenen Fäusten, das Schiff hat die Anker gelichtet, kann aber nicht aus dem Hafen, niemand weiß warum. Jede Minute ist wichtig, die Mutter erwartet ihn; trifft er zur rechten Zeit nicht ein, so wird er sie nie mehr sehen, muß aber das Schiff wieder vor Anker, so wird er den Verfolgern ausgeliefert. »Erzähl doch mal deinen Traum vom Reh«, wendet er sich an die Schwester, »das ist ja so ein Bluttraum.« Anna errötet, sie scheint nicht gern daran erinnert zu werden. Es ist so: sie wandert über eine schneebedeckte Waldschneise, ein Wolf bricht vor ihr ins Gebüsch. Erschrocken will sie umkehren, da gewahrt sie ein Reh, das sich mit den Vorderläufen in einer eisernen Falle gefangen hat, während der ganze Hinterleib eine einzige Wunde ist, der Wolf hat ihn zerrissen und angefressen. Der Anblick des Rehs ist von unausdenklicher Gräßlichkeit, die flehenden Augen, vorn das Zerren am Eisen, hinten der zuckende, rauchende Rumpf... alle drei bis vier Wochen kommt dieser Traum. Die andern nicken verstehend, sie erkennen die Tiefe der Lebensangst, die aus dem Traum spricht; um den lähmenden Eindruck zu mildern, erzählt Seyschab »seinen« Traum: Er sieht sich selbst, das heißt, ein zweiter Seyschab geht vor ihm her, er weigert sich, an die Spaltung seiner Persönlichkeit zu glauben, er empfindet sie als unlogisch und zuchtlos; das andre Ich kümmert sich aber um seine Entrüstung nicht, es trabt gleichmäßig weiter, und um es für die Aufsässigkeit zu bestrafen und der Sache ein Ende zu machen, hebt der Ur-Seyschab einen Stein auf und schleudert ihn dem Abtrünnigen an den Kopf; der Stein trifft ihn selbst, und von dem Schmerz erwacht er. Alle lachen, am ausgelassensten der junge Graf. Das ist einmal ein richtiger Philosophentraum.

Etzel blickt empor. Die Träume, die sie einander erzählt haben, spiegeln sich in seinen Augen. Es sind magische Bilder, jedes die knappste Zusammenfassung eines Schicksals. Sie brauchen nicht gedeutet zu werden, da sie doch mehr von der Seele künden, solange sie in ihrer geheimnisvollen Sprache reden. Es wäre so, als wollte man den Sinn eines Gedichtes dadurch ergründen, daß man es grammatikalisch zergliedert. Plötzlich weiß er so viel von diesen Menschen, als hätte er das Leben jedes einzelnen gelebt ...

Es war schon finster, als Mewer kam. Sie hatten die letzte halbe Stunde im Dunkeln sitzen müssen; die neuen Gebäude waren noch nicht an die elektrische Leitung angeschlossen. »Bist du da, Andergast?« rief Mewer, den Kopf in der Türspalte. Auf Etzels Zuruf schob er sich herein und meldete, Miß Marschall sei zurück. »Sie erwartet dich«, sagte er, »aber allein, ohne deine Leute.« – Hockend, die Arme um die Knie geschlungen, schaute Etzel zu ihm empor. Ihm ahnte nichts Gutes. »Warum allein?« fragte er mißtrauisch. – »Weiß nicht. Sie will dich sprechen.« – »Was ist denn noch zu sprechen«, maulte Etzel und erhob sich schwerfällig. – »Weiß wirklich nicht. Sie scheint mir nicht bei Laune.« – »Na, schön. Indessen könntest du denen hier Gesellschaft leisten, Mewer. Das blödsinnige Herumsitzen. Bis man da zur Audienz kommt ... Hungrig werden sie auch schon sein. Seid ihr hungrig?« wandte er sich an die fünf. – »Ach wo, nicht so schlimm«, hieß es zögernd. – »Sieh doch zu, daß du eine Kerze bekommst, Mewer. Unterhalte sie. Sing ihnen das Judenlied vor.«

Das Judenlied war eine berühmte Leistung Mewers. Er hatte es selbst gedichtet. Auch die Musik, halb Gassenhauer, halb Tempelklage, stammte von ihm. Er blies sie auf einem in Fließpapier gewickelten Taschenkamm. Es waren sechs oder sieben Strophen, die in drastischer Verkürzung das Schicksal seines Volkes schilderten. Jahrtausendleid zu einer Jahrmarktsballade verarbeitet und im Moritatenstil vorgetragen. Ahasver als Bänkelsänger. Freilich entsprach Max Mewer nicht dem gewaltigen Bild, das man sich vom ewigen Juden macht. Er sah aus wie ein Wiesel und war dürr und armselig von Statur. Sein Gesicht denunzierte ihn bei allen Spöttern und Hassern, das empfand er als sein Spezialpech und bezeichnete es als ethnologische Schlamperei. Vielleicht hatte er einmal gehofft, der nicht sein zu müssen, der er war, schließlich hatte er begriffen, daß er sich nicht entschlüpfen konnte, die ätzende Bitterkeit seiner Seele bewirkte nicht nur, daß er sich bekannte, sondern auch, daß er sich, halb schmerzlich, halb zynisch, übertrieb. Darin lag ein gewisser schamloser Trotz, dessen Quelle die Aussichtslosigkeit einer demütigenden Situation von weltgeschichtlichem Ausmaß war. Im Jahre 1920, er war damals noch ein Knabe gewesen, hatte sich sein um zwölf Jahre älterer Bruder aus diesem Grund erschossen. Nachdem er als Freiwilliger den ganzen Krieg mitgemacht und viele Auszeichnungen erhalten hatte, wurde er von einer studentischen Verbindung, der er seit vielen Jahren angehörte, wegen seines Judentums ausgeschlossen. Die besondere Roheit dieses Aktes und die Folgerung, die der Betroffene daraus zog, hatten dem Fall seinerzeit die allgemeine Aufmerksamkeit zugewendet. Es war an einem Festabend geschehen. Erst sollte eine Programmdebatte stattfinden, daran anschließend Konzert und Tanz. Einer der ersten Anträge lautete, es solle darüber abgestimmt werden, ob Juden in der Verbindung fernerhin verbleiben dürften. Hermann Mewer, der einer der Gründer war und im Vorstand saß, meldet sich zum Wort. Der Vorsitzende verweigert es ihm zunächst und fragt die Versammlung, ob sie Mewer hören wolle. Die meisten sind dagegen, erst nach langer Beratung versteht man sich dazu. Kaum hat er seine Rede begonnen, als einer der »alten Herren« dem Kapellmeister ein Zeichen gibt. Mewer redet, die Kapelle spielt. Mitten im Satz verstummt er, verläßt seinen Platz, geht ins Nebenzimmer und jagt sich eine Kugel in den Kopf. Er ist mit geladenem Revolver zu dem Abend gegangen. Er hat um die Verschwörung gewußt. Er war entschlossen zu sterben, wenn ihn die Freunde von einst aus ihrer Gemeinschaft ausstoßen würden. In einem hinterlassenen Brief war es zu lesen: »Die Erwägung, daß es einem gerecht empfindenden Menschen unmöglich ist, in einer so aller Ehre, allen Anstandes baren Welt zu leben, zwingt mich, dieser Welt den Rücken zu kehren. Gewissenlosigkeit, Verblendung und Haß haben sich der Männer bemächtigt, denen ich ehemals mit Stolz und Freude Kamerad war, und da man mir auch den ritterlichen Waffenschutz nicht zubilligt, ich andrerseits zum Verbrecher nicht werden, niedriger Rachsucht nicht nachgeben will, bleibt mir nichts als der Tod.« Ein unbefangener Chronist richtete kurz nach dem Selbstmord an die Kommilitonen Mewers die sarkastische Frage: Darf man erwarten, daß die abgebrochene Debatte jetzt noch einmal und ohne Musikkapelle aufgenommen wird? Dieses Erlebnis bestimmte die Lebens- und Geisteshaltung Max Mewers. Als er eines Tages Etzel den Vorgang erzählte, konnte sich dieser vor Verwunderung nicht fassen. »Warum hat er sich denn da erschossen?« fragte er. »Das versteh' ich nicht. Nimm mal an, beispielsweise, eine jüdische Gesellschaft setzt mich vor die Tür, und aus Kummer darüber schieß' ich mich tot. Wäre doch geradezu blödsinnig, was? Weil sie sich besser oder vornehmer oder was weiß ich dünken, soll ich mich umbringen? Damit liefere ich doch keinen Ebenbürtigkeitsbeweis. Siehst du nicht ein, daß das ein kompletter Stiefel ist?« Nein, Mewer sah es keineswegs ein. Mit verbissener Miene antwortete er: »Du stellst die Dinge auf den Kopf, Andergast, weil du sie so, wie sie sind, nicht wahrhaben willst. Und damit gehörst du noch zu den halbwegs Anständigen.« Etzel wußte von seinen Waremme-Tagen her viel von Juden, viel von jener tiefreichenden Erschütterung des Selbstbewußtseins, an der sie litten wie an einem Erbübel. Er war sich natürlich darüber klar, daß das Argument, mit dem er sich gegen Mewer für den Augenblick salviert hatte, eine dreiste Spitzfindigkeit war, eher eines schlauen Winkeladvokaten als Etzel Andergasts würdig, aber die ganze Frage ging ihm nicht nah, sie betraf ihn zu wenig, er verstand sie nicht recht; wenn er sich mit ihr zu beschäftigen hatte, geschah es wohl in seiner mutigen und ehrlichen Weise, aber er ermaß weder die Schuld auf der einen Seite, noch fühlte er das Leiden auf der andern. In dieser Stunde, wo sein Körper so empfindlich war, als sei er ohne Haut, die Sinne aufgewühlt, die Nerven so gespannt, daß er zu gleicher Zeit hätte weinen, beißen und um sich schlagen mögen, sah er auch Mewer in einem neuen Licht, steckte auch in ihm auf einmal drinnen wie vorher in den Traumerzählern. Er ahnte den vergeblichen, unaufhörlichen, erniedrigenden Kampf, spürte den leidenschaftlichen Appell, das ungesühnte Unrecht. Er erinnerte sich einer Auseinandersetzung, die er vor ein paar Tagen mit Grünne gehabt, gleich nachdem er ihn endlich ausfindig gemacht; er war ja lang auf der Suche nach ihm gewesen. Grünne war durch seine politische Richtung gewissermaßen zum Judenhaß verpflichtet, willig übernommenes Vorurteil hatte den Boden bereitet. Bei irgendeinem zufälligen Anlaß kam die Rede darauf, Grünne ging scharf ins Zeug und sagte, die Juden seien das tödliche Gift im nationalen Körper, ohne sie wäre solches Unheil nie über Deutschland gekommen, sie unschädlich zu machen sei der erste Schritt zur Wiedergeburt. Etzel schien eine Weile sehr nachdenklich, er spürte die echte Verzweiflung und die echte Überzeugung in den Worten des Kameraden, er konnte nicht widersprechen und wollte es auch nicht, da er einsah, daß da mit Gründen nichts auszurichten sei, es war ein zugefrorenes Terrain, und es aufzutauen war eine Frage der Temperatur, nicht der Worte, nicht des Geistes. »Kennst du denn eigentlich Juden«, erkundigte er sich schließlich, »hast du schon mit welchen verkehrt?« Davor möge ihn Gott bewahren, erwiderte der Graf, er hoffe auch künftig von ihnen verschont zu bleiben. »Du bist ein Kamel«, sagte Etzel, »ich wette mit dir, daß du mindestens einem halben Tausend schon die Hand gedrückt hast. Was stellst du dir denn vor? Glaubst du, sie tragen Hörner und sitzen nachts auf den Bäumen? Ich werde dich nächstens mit einigen zusammenbringen, es sind manchmal famose Kerls, sag' ich dir, du wirst deine blauen Wunder erleben.« – »Danke bestens«, hatte Grünne erwidert, »dann kannst du gleich deine Karte mit p.p.c. bei mir abgeben.« Was für ein Satan ist in die Menschen gefahren? war Etzels verwunderter Gedanke gewesen; sie hassen, und warum? Weil sie hassen. Ohne Kenntnis des Objekts; sozusagen aus unschuldigem Herzen; der gute Grünne wenigstens und viele von seiner Gilde. Ein soziologisches Rätsel. Da ist offenbar kein Kraut dagegen gewachsen, man müßte die Köche in den Giftküchen zu fassen kriegen, die ihnen den Haß schmackhaft und appetitlich auf den Tisch liefern ...

»Fang nur an mit deinem Lied«, forderte er Mewer auf, »ich möcht' es gern wiederhören. Und du, Grünne, hör auch zu. Ein Riesenspaß. Moment! ... Es werde Licht.« Er zog die elektrische Taschenlampe, die er stets bei sich trug, aus seiner Rocktasche und drehte sie auf. Die grellweiße Flamme beleuchtete sein Gesicht zuerst. Es hatte einen Zug von Wildheit, der es förmlich zerspaltete, die Augen lagen tief und glühend in den Höhlen. Mewer setzte sich auf den Tischrand und schlug die Beine übereinander. Er durchsuchte seine Taschen nach dem Kamm, der bei der Produktion unentbehrlich war. Endlich fand er ihn. Statt des Fließpapiers benützte er das abgerissene Stück eines Briefs. Etzel ließ den Schein der Lampe im Kreis herumgehen. »Komm her, Grünne«, rief er mit einer fremden, gellenden Stimme, »drück dich nicht. Ich hab' dir einen Juden versprochen, jetzt kriegst du ein Konzert obendrein und ohne Eintrittsgeld.« Grünne trat neugierig, doch mit zögernder Verachtung näher. Alle Gesichter, auf die das Blendlicht fiel, sahen wie Gipsbüsten aus. Mewer raunte Etzel zu: »Es ist Zeit, du darfst die Miß nicht länger warten lassen.« – »Ja, fang nur an«, entgegnete Etzel, »ich geh' dann schon. Also das Judenlied steigt, Kinder!« Er reichte Seyschab die Laterne und tauchte in die Finsternis. An der Tür blieb er stehen und lauschte. Erst kam die scheußliche Melodie auf dem Kamm, sie erinnerte an das Gequäkse eines Saxophons. Hierauf begann Mewer mit öliger Tenorstimme:

Ich komm' vom Anbeginn der Welt
und geh' ans End der Zeiten,
im Anfang, heißt es, war das Wort,
und was hat's zu bedeuten?

Blut, Tränen, Leid und Narben,
Angst, Zittern, Schnorren, Darben
Flucht, Zähneklappern, Wandern
Vom Euphrat bis nach Flandern.

Vom wem ist denn das schöne Liedlein?

Vom braven Jüdlein, vom frechen Jüdlein!
Abraham Isak Jakob & Co.
Rote Rose von Jericho.

Zu Worms und Wien, Madrid und Rom
ward ich zu Tod geschunden.
Krieg, Hungersnot und Pestilenz
hätt' ich für sie erfunden:
So sprachen Kaiser, Papst und Zar,
so legten's die Konzilien dar.
Und Hund, Mensch, Pfaff, Soldat und Ritter
bespuckten mich durchs Käfiggitter.
Zehnfach zahlen, hundertfach sterben,
tausendfach büßen Und dann noch
dem Henker die Füße küssen.

Von wem ist denn das schöne Liedlein?

Vom braven Jüdlein, vom frechen Jüdlein!
Abraham Isak Jakob & Co.
Blutige Rose von Jericho ...

Nach dieser Strophe ging Etzel. Undeutlich hörte er von draußen, durch die Fenster, noch die dritte:

Ich bin von König Davids Stamm,
das hab' ich ganz vergessen,
hundertprozentiges Königsblut,
und so viel Unflat fressen!
Ich tu', als war' ich's nicht,
das ist mein Strafgericht.
Getrost, getrost, zweitausend Jahr:
ein Sandkorn in der Ewigkeit,
ich hab' ja noch so viel Geduld,
Geduld für einen Berg von Zeit.
Steh auf, Sohn Zions, und sei stolz,
Die Quäler sind aus schlechterm Holz.

Der Refrain verklang dann:

Von wem ist denn das schöne Liedlein?

Vom lieben Jüdlein, vom frechen Jüdlein!
Abraham Isak Jakob & Co.
Heilige Rose von Jericho ...

Neil empfing ihn sofort. Sie hatte Gesellschaft bei sich, hatte aber Auftrag gegeben, sie zu rufen, wenn er kam. Als sie seiner ansichtig wurde, zog sie die Brauen hoch, und ihr Blick wurde eigentümlich starr. Ohne stürmische Begrüßung wie sonst fing sie zu sprechen an und schien vor allem bestrebt, ihn nicht zu Wort kommen zu lassen. Sie befanden sich im gleichen Zimmer wie neulich, wo der dreiteilige Spiegel stand. »Ich muß dir eine traurige Eröffnung machen, darling«, begann sie in kaltem und eiligem Ton, »ich bin genötigt, meine Zusage wegen deiner Freunde zurückzunehmen. Es tut mir fürchterlich leid, das kannst du dir denken. Aber es sind mittlerweile dringende Verpflichtungen in den Vordergrund getreten. Du mußt mir verzeihen ... ich war bereits gebunden, als ich dir das übereilte Versprechen gab ... kurzum, es geht diesmal nicht.« Sie machte mit dem Kopf eine Schrägbewegung wie eine Amsel, bevor sie nach einem Korn pickt, die Finger zupften nervös an dem breiten Spitzenkragen, den sie um den Hals trug. Sie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie fürchtete sich davor. Sie hatte sich schon den ganzen Tag davor gefürchtet. Es war ihr nicht wohl bei der Sache. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, welchen Schlag sie mit ihrer plötzlichen Weigerung gegen ihn führte. Sie kannte den Ernst, die unbeugsame Energie, mit der er sich solchen Aufgaben unterzog, sie spürte ihm an, sie witterte es geradezu, was ihn die Erfüllung gekostet hatte und daß das Nein so unerwartet auf ihn niederdonnerte wie das Beil auf ein Schlachttier. Aber das war ja eben die Absicht. Nicht aus Bosheit, es war keine boshafte Faser an ihr; nicht aus verhehlter Abneigung, sie hatte ihn gern, er interessierte sie, sie hatte eine große Meinung von ihm und war nicht im geringsten darauf erpicht, ihn zu strafen, weil er es gewagt hatte, Emma Sperling herabzusetzen und schlechtzumachen, oder weil er Jürgen Lorriner »verraten« hatte; auch die kritische Wachsamkeit, mit der sie sich seit langem von ihm beobachtet wußte, verübelte sie ihm nicht, obschon sie sie reizte und beunruhigte. Jedes dieser Motive wäre niedrig gewesen, und Niedrigkeit war ihrem Wesen fremd, der Antrieb kam aus tieferen Schächten, er hatte mit einer uneingestandenen Eifersucht zu tun, mit der Stellung, die Etzel unter den jungen Menschen einnahm, dem unbedingten Vertrauen, das sie ihm schenkten. Es war eine Eifersucht wie die eines Künstlers auf den Rivalen, womit nicht gesagt sein soll, daß sie in ihrer Wirkung weniger verheerend war als irgendeine häßliche und geistlose Intrige. Sie bewies es ja durch die Tat. Eifersucht war vielleicht das einzige Laster Neils, und wenn ihre Lebensarbeit dabei ins Spiel kam, die ideale Berufung, ihr enthusiastisches Verhältnis zur Jugend, gab sie sich dem Gefühl ohne Maß und Schranke hin und schreckte vor keinem Mittel zurück, den vermeintlichen Nebenbuhler ihre überlegene Macht spüren zu lassen, selbst um den Preis der Verleugnung ihres Helfertums wie hier. Zu retten, Dank und Liebe zu ernten, als gütige Schicksalsgöttin einzugreifen, wenn die Not am höchsten war, dazu war sie da, sie allein und niemand sonst.

Etzels erster Gedanke war: Um Gottes willen, wie soll ich es denen beibringen... die haben sich doch schon darauf eingerichtet ... die glauben doch, sie sind aus dem Wasser... ich kann ihnen ja nicht mehr unter die Augen treten... die müssen mich für einen gemeinen Schwindler und Aufschneider halten... was tu' ich denn da... ich weiß gar nicht, was ich da tun soll...

Er wankte ein wenig. Seine Beine hatten sich in zwei empfindungslose Pflöcke verwandelt. Der Schädel war entsetzlich leer, dabei innen heiß, er hatte das Bedürfnis, ihn in eiskaltes Wasser zu tauchen. Die Finger bewegte er mechanisch, wie man tut, wenn die Hände blutlos und abgestorben sind. Er näßte die Lippen mit der Zunge und stotterte etwas von fester Abmachung und daß er sich darauf verlassen habe und daß drei von den Leuten jetzt einfach auf der Straße lägen. Er sagte dies ebenso automatisch hin, wie er automatisch die Finger spreizte und einzog, sein Blick hatte etwas blöde Glotzendes, und während er unter der quälenden Sinnestäuschung stand, Neil schwebe unaufhörlich im Kreis um ihn herum, mußte er immer wieder dasselbe denken: Wie sag' ich's ihnen nur... was fängt man mit ihnen an... die gehn ja drauf... die können sich nicht mehr erfangen... es ist der letzte Monat gewesen...

Neil sprach zu ihm. Ihre Stimme war wie ein Schraubenzieher. Er antwortete: Ja, nein; ja, nein; ohne zu verstehen. Oder er schüttelte den Kopf, das heißt, er wußte, daß er den Kopf schüttelte, und sah es wie von außen, aber es hatte keinen Sinn. Auf einmal war Neil weg. Oder war er selber weggegangen? Jedenfalls war er allein. Eine Weile später befand er sich auf der Straße. Er ging vorwärts, machte eine Unmenge Schritte. Wieder eine Weile später hielt er einen Laternenpfahl umfaßt und preßte die Stirn daran. Ein Schupomann stieß ihn in den Rücken und empfahl ihm barsch, seinen Rausch zu Hause auszuschlafen. Wohin soll ich denn? dachte er verzweifelt, zu denen kann ich doch nicht zurück... ich kann ihnen doch nicht sagen, daß... kann ich doch nicht... wohin also? Da rührte sich etwas in seiner Brust wie eine kleine windscheue Flamme. Gab es nicht einen Menschen, zu dem er fliehen konnte? Wie war es möglich gewesen, ihn zu vergessen? Vor dem brauchte er sich nicht zu schämen, dem mußte er nichts explizieren, der begriff ohnehin alles, wußte alles, sah alles. Doch wie zu ihm gelangen? Es war zu weit. Er durchwühlte angstvoll seine Taschen: nichts ... Er hatte nicht zehn Pfennig im Vermögen. Das letzte Geld hatte er Helene Grätz gegeben, damit sie ihre Schulden beim Bäcker und Lebensmittelhändler bezahlen konnte, dreizehn Mark. Bis in die Große Querallee zu Fuß zu gehen, fühlte er sich nicht fähig, es war ein Weg von Stunden. Unmöglich heute. Ich weiß, was ich tu', überlegte er dumpf, ich nehme ein Taxi und borg mir das Fahrgeld dort vom Pförtner aus.

Gegen zehn Uhr abends läutete er an Kerkhovens Privatwohnung. Das Mädchen, das ihm öffnete, sagte, der Herr Professor sei zwar zu Hause, er arbeite jedoch und habe befohlen, ihn nicht zu stören. Kaum hatte sie ihren Spruch beendet, so stieß sie einen Schrei aus; der junge Mann vor ihr fiel längelang zu Boden wie ein Stock.


 << zurück weiter >>