Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Fünfzehntes Kapitel

Was er seiner Mutter schrieb, erfuhr Marie nicht. Er sprach nicht darüber, und sie fragte ihn nicht. Daß er nach einer Woche Antwort erhielt, erwähnte er beiläufig. Marie fühlte, daß er den Faden nicht wieder abreißen würde. Er war umgestimmt. Und so schien es, daß er auch Marie mit andern Augen betrachtete als bisher. Jener halb störrische, halb scheu bewundernde Blick, mit dem er sie angesehen, als sie ihn zu dem Versprechen gezwungen hatte, traf sie in den folgenden Tagen noch oft. Er benutzte nun jeden freien Augenblick, um mit ihr beisammen zu sein. Er kannte ihre Stundeneinteilung und wußte, was sie für den Tag vorhatte. Bei ihren Gängen in die Stadt begleitete er sie. Wenn sie nicht ausgehen konnte, schlechten Wetters wegen oder weil sie sich nicht wohl fühlte, erkundigte er sich, ob sie Aufträge für ihn habe. Er sorgte fast täglich für frische Blumen, aber da sie nicht wollte, daß er sich leichtsinnig in Unkosten stürze, verbot sie ihm den Luxus, worüber er sich nicht wenig erboste. Manchmal las er ihr vor, manchmal erzählte er ihr seine Erlebnisse mit einem Kameraden, aber nur wenn es sich um Vergangenes handelte, oder eine Liebesgeschichte, in die er verstrickt gewesen, aber nur, wenn sie leichter Art war und Stoff zur Erheiterung bot. Mußte er Kerkhoven in die Anstalt begleiten, war er den Nachmittag, den Abend über nicht frei, so rief er sie an, um eine Viertelstunde am Telefon mit ihr zu plaudern. Gelegentlich schickte er ihr einen Zettel mit einer Bemerkung über ein Buch, einer hastig hingekritzelten Glosse zu einem vorhergegangenen Gespräch. Sie anzuregen und bei guter Laune zu erhalten schien sein einziges Trachten zu sein. Da er dabei, wie schon gesagt, keine Pflicht verabsäumte, keine Arbeit aufschob, hätte man glauben können, er habe einen Geheimvertrag mit einer Gesellschaft von Wichtelmännchen geschlossen, damit sie in der Stille für ihn schafften. Unmerklich gewöhnte sich Marie an den beständigen Dienst, den er ihr widmete. Unmerklich wurde es Bedürfnis, wurde es unentbehrlich, dies Kommen und Wiederkommen, die Erwartung und daß sie sich erfüllte, Abrede und lebendige Verbundenheit, Wort und Gegenwort, Ruf und Echo. Ohne Gewißheit der Wiederholung ist kein Fließen und Werden, kein Sammeln und Entfalten. Endlich wieder hat ein Mensch Zeit für sie. Laßt uns sehen, wie lange es her ist, daß ihr das geschah. Ein Weltenalter ist es her. Damals ist sie jung gewesen, hat verwundert die Augen aufgeschlagen zu dem Mann, der bei ihr stehenblieb, ein Gehetzter und Gequälter, um ihr ungemessen viel Zeit zu schenken. Wie dankbar sie war für das Geschenk, dessen Wert sie kannte und durch das sie sich auserwählt fühlte. Dann hat ihn allmählich die Zeit verschluckt, denselben Mann, aufgefressen Glied für Glied hat ihn die Zeit, deren Herr und Gebieter er war, fort ist er, zum Schatten ist er geworden, auch er. Mit einem Schatten kann man nicht leben, einen Schatten kann man nicht fragen, der Schatten erwidert dein Lächeln nicht, sieht nicht, wenn du ihn anschaust, bemerkt deine hingestreckte Hand nicht, vergißt dich, während er an deinem Tische sitzt, sogar während er seine Arme um dich schlingt. Wie kann man ihm begreiflich machen, daß man noch da ist, ihm, dem Retter, Helfer und Erwecker von Tausenden?

Tina Audenrieth, die häufig zu Marie kam und Etzel bei einem ihrer ersten Besuche kennengelernt hatte, begegnete ihm in der Folge noch oft bei ihr. Sie mochte ihn gut leiden und war keineswegs unempfindlich für die Umsicht, mit der er es darauf anlegte, ihr zu gefallen. Sie wunderte sich über seine Stellung im Hause, über sein Verhältnis zu Kerkhoven. Marie erklärte ihr es. Noch mehr wunderte sie sich jedoch über den frenetischen Eifer, mit dem er schier unausgesetzt um Marie bemüht war und, als wäre es das Natürlichste von der Welt, sich als ihr Ritter, ihr Page, ihr Heger und Beschützer aufspielte. Es hatte etwas wie Besitznahme, eine Art häuslicher Tyrannis, und wenn man tiefer sah, konnte man auch eine verdächtige Berauschtheit darin erkennen. So tief wollte Tina gar nicht sehen, ihre Bedenken gingen in eine andere Richtung. Als sie mit Marie offen darüber sprach, denn durch ihre langjährige Freundschaft war ihnen gegenseitige Offenheit selbstverständlich geworden, sagte sie: »Ich finde, daß er mit all der Aufmerksamkeit, die er dir erweist, und Aufmerksamkeit ist nur ein schwaches Wort dafür, deinem Mann ein Unrecht zufügt.« – »Wieso denn, Tina?« fragte Marie betroffen. – Tina lächelte. »Aber liebste Marie«, rief sie in einem Ton, als glaube sie nicht an das Erstaunen in der Frage und als wolle Marie nur nicht zugeben, daß sie dieselbe Empfindung hatte. Marie dachte über Tinas Worte nach. Möglicherweise war es unvorsichtig von ihr, doch geschah es ganz impulsiv und bewies immerhin, bis zu welchem Grad der Vertraulichkeit sie bereits im Umgang mit Etzel gelangt war, daß sie ihm wiedererzählte, wie Tina Audenrieth sein Verhalten beurteilte. Kann sein, sie hoffte, er werde den Vorwurf widerlegen. Er schaute sie aber nur verständnislos an. Es klang wirklich zu verrückt. Er leistete sich doch selbst Erkleckliches an Überspitztheiten und queren Hypothesen, aber auf eine solche Idee wäre er nie verfallen. Er war ja im Gegenteil überzeugt, auch Kerkhoven zu dienen, indem er Marie diente, ja geradezu in dessen Sinn zu handeln. Sein Gedankengang war so: Der Meister ist überlastet, die Bürde auf seinen Schultern wird täglich schwerer, jeder andere bräche unter ihr zusammen, er, mit übermenschlichen Kräften begabt, hält sich aufrecht und geht seinen wunderbaren Weg; ein solcher Mensch dürfte eigentlich keinen Anhang haben, keine Familie, es hemmt ihn, ja es verdüstert ihn, da er sich den Kindern und der Frau gegenüber immerfort eines Versäumnisses anklagen und sich bei der leider vorhandenen Weichheit seines Gemüts Gewalt antun muß, besonders der Frau gegenüber, denn er wäre nicht der, der er ist, wenn er nicht spürte, wie sie unter einer Entfremdung leidet, die er beim besten Willen nicht aufheben kann, bei aller Liebe nicht, mit der er sicherlich an ihr hängt; sonach kann ihm nichts erwünschter sein, als daß man sich um Marie kümmert, sie in ihrer ständigen Niedergeschlagenheit ein wenig tröstet und ihr über das Gefühl der Einsamkeit hinweghilft. Eine echt Andergastsche Konstruktion, von deren Richtigkeit er allerdings durchdrungen war. Und vielleicht war es nicht einmal eine Konstruktion, oder es war so, daß ihm die Wirklichkeit den Gefallen erwies, mit der ebenso scharfsinnigen wie verführerischen Theorie übereinzustimmen und sich ihr im Verlauf der Begebenheiten mehr und mehr anzupassen. In der Tat war Kerkhoven unendlich froh, daß sich zwischen den beiden eine so gute Beziehung entwickelt hatte. Er unterließ nichts, um Marie in der günstigen Meinung zu bestärken, die sie von Etzel gefaßt hatte. Wenn sie hie und da noch immer kritisch war, sich über seine geistige Anmaßung beklagte, Zweifel an seiner Verläßlichkeit äußerte, sich mokierte über seine Neunmalweisheit, entging es ihm, wie schwach die Einwände gegen früher geworden waren und daß sie wahrscheinlich nur erhoben wurden, weil sie sie entkräftet zu hören wünschte. Und er beeiferte sich, sie zu entkräften. Er erachtete es als eine Fügung, die nicht glücklicher hätte sein können, daß Etzel unter Maries Einfluß geriet. Er wollte Anzeichen der veredelnden Wirkung seines Umgangs mit ihr schon bemerkt haben, was Marie natürlich nicht ungern vernahm. Wenn er ins Zimmer trat und die beiden beieinander sah, ging ein freudiger Schein über sein Gesicht, oft blieb er länger, als er beabsichtigt hatte und als es seine Zeit erlaubte, nur um ihnen ein wenig zuzuhören (wobei ihm nicht bewußt wurde, daß er durch so flüchtige Zufallsbesuche das lebendige Gespräch eher zerriß als förderte) und des wenn auch kurzen Vergnügens einer Geselligkeit teilhaftig zu werden, die ihm seit Jahren versagt war. Immer hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn er irgendeinmal am Tage bei Marie erschienen war, um fünf, wenn's hoch kam, zehn Minuten mit ihr zu plaudern oder sich nur (ich erinnere an das Bild vom augenaufschlagenden Golem) zu vergewissern, ob sie da war, ob sie lebte, was sie trieb, wie sie gestimmt war. Zwar lächelte sie ihm dann dankbar zu, fragte in ihrer neckenden, manchmal melancholisch-neckenden Art: »Geht's dir gut? Bist du mir grün? Sprich es aus, Joseph, sag etwas Freundliches«, und schmiegte sich, als suche sie Schutz und Wärme, an seine Brust. Er strich mit der Hand über ihr trockenes, seidiges Haar, das unter der Berührung leise knisterte, nickte ihr liebreich und zerstreut zu, murmelte etwas vor sich hin, was er offenbar für das verlangte »Freundliche« hielt, und verschwand alsbald wieder. Aber noch lange nachher blieb in seinen Augen der fahle Schimmer jenes schlechten Gewissens, das ihr forschender und erwartungsvoller Blick, ein Abwenden des Kopfes, ein Zucken des Mundes in ihm erzeugte. Das war jetzt Gott sei Dank vorüber. Er wußte sie betreut. Er wußte sie sozusagen versorgt. Sie war »da«, sie war in seiner Nähe, was ihm auch seinerseits das Gefühl gab, »versorgt« zu sein, zugleich wich der unbequeme Druck von ihm, die Empfindung von Schuld, die sich einstellt, wenn man einem Menschen nicht sein kann, was man ihm sein müßte und sein möchte, und die zuweilen so heftig wurde, daß sie die Klarheit seiner ärztlichen Entscheidung beeinträchtigte. »Haben Sie ihn angesehen? Haben Sie sein Gesicht gesehen, als er mir die Hand gab und Sie auf die Stirn küßte?« fragte Etzel eines Tages ganz erregt als Kerkhoven das Zimmer verlassen hatte. »Können Sie noch einen Augenblick glauben, daß Tina Audenrieth den leisesten Grund hatte zu ihrer ungereimten Vermutung? Geben Sie zu, Frau Marie, der Meister ist restlos einverstanden mit unserer Freundschaft ... oder darf ich das nicht sagen: Freundschaft? ... Dann verzeihen Sie ... ich meine, er hat auf keinen Fall etwas dagegen, daß Sie mir erlauben, so viel bei Ihnen zu sein, vorsichtiger kann man es doch nicht ausdrücken, wie? Es ist ihm recht, er billigt es, er wünscht nichts anderes, ich behaupte sogar, es entlastet ihn.« Marie wollte es weder zugeben noch leugnen, sie blieb still. Und das Wort von der »Entlastung des Meisters« wurde zur hilfreichen Legende, mit der sich insofern leichter leben ließ, als sich unter ihrem kupplerischen Schutz die Frage nach der Verantwortung kaum stellte.

An einem Tag, dessen Häßlichkeit und Ungunst Marie schon spürte, als sie am Morgen das Bett verließ, glitt sie beim Verlassen der Wohnung auf der Stiege aus und fiel über drei Treppenstufen hinunter. Sie konnte sich nicht erheben, ein schneidender Schmerz im Leibe machte sie fast ohnmächtig, glücklicherweise hörte das Mädchen, das sie zur Tür begleitet hatte, den Lärm des Sturzes und den schwachen Aufschrei ihrer Herrin, eilte ins Stiegenhaus, beugte sich über die Liegende und rief Hilfe herbei. Man trug sie ins Schlafzimmer. Die Schmerzen wurden ärger, kurze Zeit hernach hatte sie eine Fehlgeburt. Weder Kerkhoven noch Etzel waren im Hause, nur Doktor Römer, der von dem Mädchen gerufen wurde und die sofortige Überführung in eine Privatklinik veranlaßte. Er brachte sie selbst im Krankenauto hin, die Anstalt lag in der Burggrafenstraße, der notwendige operative Eingriff wurde ohne Zögern vorgenommen, und als Kerkhoven das Geschehene erfuhr und gegen zwei Uhr mittags in die Klinik kam, war alles vorüber. Marie aus der Narkose erwacht. Er blieb bis drei Uhr an ihrem Bett sitzen, hielt ihre Hand in seiner und wandte den Blick nicht von ihrem bleichen Gesicht mit den festgeschlossenen Lidern. Neben dem physischen Leiden glaubte er in den äußerst gespannten Zügen ein seelisches wahrzunehmen, das ihn mehr beunruhigte als jenes. Am Abend kam er wieder, ihr Zustand war befriedigend, nur war das Gesicht wie im Fieber gerötet, die Augen hatten einen ungewöhnlichen Glanz. Aber die Temperatur war normal. Das Zimmer war von betäubendem Rosenduft erfüllt. Der Strauß, dem er entströmte, stand auf einem Tisch in der Ecke, ein wahrer Berg von Rosen, eine einzige rotleuchtende Flamme. Marie wies lächelnd hin und sagte: »Etzel.« Kerkhoven sagte: »Er war ganz verstört. Schon nachmittags fragte er, wann er dich besuchen darf. Ich hab' ihm geantwortet, nicht zu früh, mein Lieber, nicht vor übermorgen, auch dann müssen Sie sich zusammennehmen und sich möglichst still verhalten.« – »Ja, er ist ein bißchen anstrengend«, gab Marie zu, »aber morgen gegen Abend kann er schon kommen, lass' ich ihm ausrichten.« – Am andern Tag sagte sie: »Ich muß dir was gestehen, Joseph. Das Malheur, das mir da passiert ist, ist eins von denen, die der Mensch unbewußt herbeiruft. Es ist eine heimliche Verschwörung. Die Seele besticht den Leib und läßt ihm keine Ruhe. Nicht als sollte der Leib was unternehmen. Nur was unterlassen soll er. Und so unterläßt er die Wachsamkeit. Verstehst du? Ich hab' mich gewehrt gegen das Kind, du weißt es ja, ich wollte es nicht haben, und jetzt ... jetzt ist mir doch zumut, als hätt' ich ein Verbrechen begangen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, die Schultern zuckten krampfhaft. Es war kein richtiges Weinen, auch kein Schluchzen, es war Erschütterung. Darin lag eine Eigentümlichkeit ihrer Natur, sie konnte sich nur selten durch Tränen von einer Gemütslast befreien, es bedurfte einer solchen Erschütterung, die viel qualvoller war als ein Tränenerguß, in dem man das Leid doch immer ein wenig genießt. Kerkhoven redete ihr zärtlich zu, fühlte aber dabei seine innere Unmacht wie einen eisernen Ring um die Brust. Sie war der einzige Mensch in seinem Lebens- und Wirkungsbezirk, bei dem er dies Gefühl der Unmacht hatte. War es Mangel an Hingabe und Vertrauen, bei ihr gerade, deren Wesen sich erst entfaltete in Hingabe und Vertrauen? War es ihr klarer und heftiger Intellekt, dem seinen weit überlegen, der sich wider ihn stellte und seinen Einfluß brach? Oder war er in ihren Augen zu sehr mit seinem Ich behaftet, so daß er für sie die magische Anonymität nicht besaß, ohne die der Arzt eine bürgerliche Figur ist wie ein Lehrer oder Beamter? Sicherlich war es das, zu nah war er ihr, zu nah sie ihm, ein Wort von Etzel Andergast kam ihm in den Sinn, das Wort von der heilenden Körperfremdheit; erleuchtetes Wort. Für Marie war er vielleicht nur eine Art Gaukler, eine allzu umschreibbare Person; wie hätte es anders sein sollen, da er ihr nicht zu geben vermochte, was alle andern von ihm empfingen, und er stets diese lähmende »Unmacht« verspürte, auch wenn es sich bloß um den Versuch zu trösten handelte? Als Marie ihn so grüblerisch dasitzen sah, betrachtete sie ihn mit seltsam bohrender Neugier. Als er sich erhob, um zu gehen, flammte in ihrem Gesicht und in den Augen etwas auf wie Flugfeuer, mit einem nur ihr eigenen Elan streckte sie ihm beide Arme aus den Kissen entgegen und sagte in dringlich flehendem Ton, in dem eine angstvolle Warnung mitschwang: »Gib acht auf mich, Joseph! Hörst du? Gib acht auf mich!«

Er stutzte zwar, aber dann nickte er mehrere Male, eifrig und ahnungslos.

Während der sechs Tage, die sie in der Klinik lag (ihr heilkräftiger Organismus überwand den schweren Eingriff schnell), hatte Marie reichlich Zeit, über die nächste Zukunft nachzudenken. Nach Lindow zu gehen, mußte sie sich nun wohl oder übel entschließen. Die Umstände verboten einen längeren Aufschub, ihre Mutter schrieb bereits ungeduldige Briefe. Man hatte sich gehütet, sie von dem Unfall zu benachrichtigen, sie wäre sonst gekommen und hätte mit übertriebener Sorge und geräuschvoller Wehleidigkeit Maries Genesung nur verzögert. Lindow war ihr eine zweite Heimat geworden, die Landschaft, besonders im Herbst, der jetzt nahte, bedeutete ihr viel; obwohl ihr das rauhe Klima nicht zuträglich war, liebte sie die strengen Linien, die ernste Einfachheit, die himmelspiegelnden Seen und einsamen Wälder. Jedesmal, wenn sie Etzel davon erzählte, ging sie mehr aus sich heraus als sonst, es klang wie Gedichtetes, in ihrer Phantasie verwandelte sich ja alles, unverwandelt verlor es Leben und Bewegung. Er hörte ihr zu, als müsse er sich jedes Wort und Bild einzeln einprägen, unterbrach sie mit wißbegierigen Fragen und behauptete lachend, Weg und Steg und Land und Leute kenne er nun hinlänglich, von Maries Existenz dort könne er sich aber keine Vorstellung machen. Mit seinem Spürsinn war er längst dahintergekommen, daß es da etwas Verhehltes gab; nicht schwer, es zu erraten; seit er im Haus war, hatte sie jede Woche ein- oder zweimal Anstalten zur Übersiedlung getroffen und den Vorsatz alsbald wieder aufgegeben. Endlich faßte er sich ein Herz und fragte unumwunden; er habe es nicht verdient, daß sie Geheimnisse vor ihm habe, erklärte er mit unernstem Schmollen, worauf sie nicht ohne Koketterie entgegnete, wenn er ihr die Geheimnisse raube, habe sie nicht mehr viel zu geben. Doch empfand sie selbst das Bedürfnis, sich mitzuteilen, es ging in diesen Tagen Absonderliches in ihr vor, wie wenn alles von innen nach außen triebe, Verborgenes ans Licht wolle, das Starre sich biege. Da er mit seinen Vermutungen auf die richtige Fährte unmöglich kommen konnte, war es klüger, ihn auf der falschen nicht zu weit gehen zu lassen, er dachte sich sonst Gott weiß was, die Gedanken der Menschen machen vor nichts halt. Erst wollte sie nur das eine berichten, das zarte Erlebnis mit Robert Suermondt, ihrem Gutsnachbar, das neben der Traurigkeit, mit der es beladen war, ihr Leben reicher gemacht hatte. Aber sie sah, daß es für sich allein nicht bestehen konnte; losgelöst von dem, was sich zwischen ihr und ihrer Mutter seit Jahr und Tag zugetragen hatte und was allmählich zur Seelenfolter für sie geworden war, nahm es sich aus wie ein stoffloses Gespinst neben einer Wirklichkeit, die unheimlich war durch das Ausmaß ihrer Banalität. Etzel war schon am Nachmittag gekommen; er hatte ihr einen ergreifenden Abschiedsbrief des Grafen Grünne vorgelesen, der sich am Tage vorher, lange vor dem Termin, den er sich gesetzt, erschossen hatte. Darüber sprachen sie, bis es dunkel wurde, dann erst begann sie zu erzählen.

Robert Suermondt war vor dem Krieg ein gefeierter Schauspieler gewesen. Er hatte auf der Bühne zumeist urwüchsige, sehr knorrige, sehr männliche Charaktere darzustellen, darauf gründete sich auch sein Ruhm, denn diese Gestalten verdankten ihre unvergleichliche Wahrheit seiner eigenen Natur; er brauchte sich nur zu geben, wie er war, um der stärksten Wirkungen sicher zu sein, im andern Fall versagte er. Sein Beruf hatte ihn aber nicht nur niemals ausgefüllt, sondern im Lauf der Jahre war auch ein unüberwindlicher Widerwille gegen das Theater und Theaterwesen in ihm entstanden; eines Tages, er war damals kaum vierzig, machte er kurzerhand Schluß, kaufte sich das Gut in der Mark, legte den berühmten Namen ab, wie er sich vordem die Schminke vom Gesicht gerieben hatte, und nahm den bürgerlichen wieder an, mit dem er geboren war. Nichts konnte ihn dazu bewegen, kein materieller Gewinn, kein Ruf der früheren Bewunderer, nur für die Dauer einer Stunde zu dem verhaßten Gewerbe des Komödianten zurückzukehren, er war gewillt, seine Tage, so viele oder wenige es waren, als Landwirt, Gärtner und Jäger zu beschließen. Er verkehrte mit niemand. Er hatte die Brücken hinter sich abgebrochen. Ein paarmal im Jahr erschien er beim Stammtisch im Dorfkrug. Marie hatte vor etwa anderthalb Jahren zufällig seine Bekanntschaft auf dem Bürgermeisteramt gemacht, wo sie zu tun gehabt hatte. Er war mit seinen drei Rüden schneebedeckt hereingestürmt, ganz Waldmensch, um wegen einer Wasserregulierung einen furchtbaren Krach zu schlagen. Nachher entschuldigte er sich sehr gesittet bei ihr. Seine herrliche Stimme war ihr in die Glieder gefahren. In der Erregung klang sie wie eine Posaune. Er begleitete sie ein Stück Wegs. Sie lud ihn ein, sie zu besuchen, und er kam. Er holte sie zu Spaziergängen oder zu gemeinschaftlichen Ritten ab. Mit ihm auf die Jagd zu gehen weigerte sie sich. Sie verabscheute jede Art von Jagd. Als sie ihn näher kennenlernte, erstaunte er sie durch eine Beziehung zur Natur, die an Leidenschaftlichkeit und Tiefe alles übertraf, was sie in dieser Hinsicht für möglich gehalten. Eigentlich redete er nur von Steinen, Pflanzen und Tieren, immer nur in Randbemerkungen allerdings, in kurzen Apergus, von Wasser und Wolken, von den Schichtungen der Erde, den Kräften der Metalle, den Vorgängen in der Atmosphäre, und wie diese Erscheinungen und Zustände mit dem menschlichen Leben, Charakter und Schicksal zusammenhingen, ja, wie der Mensch gar nicht davon abgelöst werden könne. Da war kein dürres Buchwissen, keine äußerliche Beobachtung, das Wesen der Elemente erschloß sich, alles kam von der Anschauung her, und wenn er ein Scheit vom Wegrand auflas, um ihr die Faserung des Holzes zu erklären, oder das Ohr auf einen Ameisenhaufen legte, um, wie er sagte, in die Arbeit des Universums hineinzuhorchen, oder in seiner stockenden, monologischen Weise über die Gliederung der Landschaft sprach, ihre Physiognomik, ihre unterirdische Struktur als Grundlage der Linienbildung, ihre geheime Bewegung, über das, was er ihr Ideogramm und das was er ihr Gehirn und Herz nannte, war es, wie wenn man das Wesen eines Menschen analysiert, nein, schöpferisch war es und tröstlich. Er hatte einen harten, wilden Humor und eine souveräne Manier, Zeit und Welt über die Achsel anzusehen, er konnte roh und rücksichtlos sein und behandelte seine Leute mit äußerster Strenge, aber streng verfuhr er auch mit sich selbst; er pflegte zu sagen: Niemand bedarf so sehr der Peitsche wie der, der andere damit züchtigt. Doch war oft eine kindliche Weichheit in seinen Augen, ein Ausdruck von Verlorenheit in seinem massigen Rubensgesicht, wie man sie an Menschen beobachtet, die gewissermaßen ihr eigener Doppelgänger sind und des heimlichen Grauens über das Rätsel ihrer Zweifachheit nicht Herr werden können. Was Marie zu ihm getrieben, ihr den Umgang mit ihm unvergeßlich gemacht hatte, darüber war sie sich lange Zeit nicht recht klar. Es war vieles zusammengetroffen, wofür sie in dieser Epoche ihres Lebens, in der sie sich wie kaum zuvor in einer gefährlichen Schwebe befunden, besonders empfänglich war, nicht allein die überschäumende Naturhaftigkeit, die ihn wie einen Erdgeist oder Erdmann erscheinen ließ, eine Figur aus Vorwelt und Sage. Für sie das Fremdeste des Fremden, sie gestand es offen ein, sie hatte nicht viel übrig für nordische Götter und Dämonen, in keiner Gestalt und Erneuerung. Aber an dem Mann bewegte sie etwas bis ins Innerste, das war seine ungeheure Stummheit. Nie war sie einem so vollkommen stummen Menschen begegnet. Denn mit seinem Sprechen war es so: Die tiefsinnigen Deutungen der Geheimnisse von Baum und Blume, Frucht und Quelle, Vogelflug und Feuer waren bloß die undurchdringliche Schutzhülle einer Stummheit, die selber ein mysteriöses Element war und jedem Versuch trotzte, sie zu brechen. Niemals redete er über sich und sein Leben, niemals über vergangene Dinge, niemals fragte er sie nach ihren persönlichen Verhältnissen und Erlebnissen, es interessierte ihn nicht, wer sie war, woher sie kam, was in ihr vorging, immer war es, als wandere man eine Strecke Wegs mit einem Unbekannten, der einen nach hundert Schritten völlig zu bestricken wußte, dessen Hand, wenn er Abschied nahm, einem geisterhaft entschlüpfte. Das hatte ihr viel zu denken gegeben, die beim Gruß wie ein feiges Tier weghuschende Hand, das stumpfe Auge, das den Partner schon vergessen hatte, bevor er sich umdrehte, die Bestürzung, in der er einen zurückließ, wenn er gegangen war; als ob man für ihn gestorben sei und bis zur nächsten Begegnung keinen Anspruch zu leben habe. Das war die unschuldige Treulosigkeit des »Erdmanns«; es stieß sie ab und zog sie an, stieß wieder ab, zog wieder an, im quälendsten Wechsel, es war eine geistige Lockung und eine physische Angst, die Einsamkeit, mit der ihn ihre Phantasie umgab, erlitt sie selbst in ihren Träumen, die Unnahbarkeit einer Seele, die sich ausgeschlossen hatte aus dem Raum der Liebe und keinen Zugang mehr zu ihm fand, rief ein stürmisches, ein vermessenes Mitleid in ihr wach, ein lastvolles zugleich, das zur Untätigkeit verurteilt war, denn vor ihm stand sie genauso stumm, innerlich stumm, wie er vor ihr. Mitleid ist oft so nahe der Liebe, daß man den Unterschied nicht mehr spürt, sagte sie, außer wenn man liebt, da spürt man ihn; es war jedenfalls ein fremdartiges banges Gefühl, dem sie in ratloser Halbfreiwilligkeit Macht über sich einräumte. Bei alledem wußte sie wohl, es war ein selbstgesponnenes Gewebe, ein richtiges Traumgespinst, das sie über den klaffenden Riß in ihrem Leben hingebreitet hatte, nicht weil sie wähnte, ihn damit zu schließen, sondern um ihn nicht stets vor Augen zu haben. Gerade deswegen traf sie vielleicht sein plötzlicher Tod so schwer. Eines Morgens im letztvergangenen Dezember hatte er in der Nähe seines Hauses einen Baum gefällt, dann hob er den Stamm, der anderthalb Zentner wiegen mochte, auf die Schulter, um ihn wegzuschleppen; nach wenigen Schritten brach er vom Schlag gerührt zusammen, als hätte sich der Baum an ihm gerächt und ihn ermordet. Sein Tod hatte etwas Unglaubhaftes, der Gedanke, er könne sterben, wie andere Menschen sterben, war Marie fast immer widernatürlich erschienen, schon weil er mit seinen sieben- oder achtundfünfzig Jahren wie ein Mann von achtunddreißig aussah und strotzend von Leben und Kraft dem Schicksal des Alters nicht unterworfen schien. Ohne ihn wurde die Landschaft zum Kirchhof, der Gott hatte sie verlassen, der ihr die Seele eingehaucht hatte, so verarmt war Marie seit Irlens Tod nicht gewesen, es war überhaupt, als wäre es dasselbe Erlebnis in einer andern Zeit und Welt, durch ein psychologisches Gesetz ihr in der Wiederkehr des gleichen beschieden...

Da erst wurde das tägliche unausweichliche Beisammensein mit der Mutter zur kaum erträglichen Pein.

Der Vorgang ist nur zu verstehen, wenn man sich Art und Person der Professorin Martersteig vergegenwärtigt hat. Sie ist eine Frau von vierundsechzig Jahren, hochgewachsen, schlank, von edler Haltung, mit einer herrlichen Krone grauen Haares auf dem stolz aufgerichteten Haupt und den Spuren ehemaliger großer Schönheit in dem edel geschnittenen Gesicht. Sie sieht aus wie eine Herzogin, und so ist sie auch von ihren Freunden und Freundinnen genannt worden, die Herzogin. In ihrer Jugend ist sie von Lenbach und Lavery gemalt worden, sie erwähnt es bei passendem Anlaß gern. Sie trägt sich, wie sie sich fühlt, es gibt wohl keinen Menschen, der sie je in vernachlässigter Toilette gesehen hat. Wenn sie am Morgen ihr Schlafzimmer verläßt, könnte sie ohne weiteres eine Staatsvisite machen, und so bleibt sie den ganzen Tag über, besuchsbereit, empfangsbereit, ihrer Würde bewußt, wie wenn sie wirklich die große Dame mit großen Traditionen und großer Vergangenheit wäre, als die sie sich gibt. Daran hat auch das einfache Leben und die ländliche Umgebung auf Lindow nichts zu ändern vermocht. Sie befindet sich immer und überall in einem imaginären herzoglichen Schloß. Den Gruß des Verwalters, die Respektserweisungen der Dienstleute erwidert sie mit freundlichem, aber gnädigem Kopfnicken, der Tochter streckt sie noch immer die Hand zum Kusse hin. Sie leitet den Haushalt, beaufsichtigt den Unterricht des kleinen Johann, hat sich in die Gutsbewirtschaftung eingearbeitet und Marie den größten Teil der Last abgenommen, führt also durchaus kein Drohnendasein, aber das rechnet sie sich hoch an, so hoch, daß Marie außerstande ist, die Rechnung zu begleichen, und ihr nichts übrigbleibt als bei jeder Gelegenheit ausdrücklich oder durch Blick und Miene zu versichern: Ja, Mutter, du bist eine Perle, du bist die umsichtigste, tüchtigste, fleißigste, kenntnisreichste aller Frauen, ohne dich wüßt' ich mir nicht zu helfen und müßte die Bude zusperren. Schön. Das wäre auszuhalten. Auch der unablässige laute oder stille Anspruch auf das gesamte große und kleine Zeremoniell, das in obligatorischen Fragen nach Befinden, Schlaf, Verdauung besteht, in endlosen Beratungen, ob ein Fenster offenbleiben oder geschlossen werden muß, ob es sich zwecks Verhütung von Erkältung empfiehlt oder nicht empfiehlt, einen Thermophor ins Bett zu legen, ob man den Besuch des Landrats und seiner Gemahlin morgen oder übermorgen oder erst nächste Woche erwidern soll, ob sich das bisher benutzte Badesalz bewährt hat oder ob man es einmal mit einer neuen Sorte versuchen müßte, und so weiter. Das macht man mit. Es geht zum einen Ohr hinein, zum andern hinaus. Sie ist im Grunde gutherzig, man muß ihre Schwächen schonen. Ein Dutzend stereotype Wendungen sind ausreichend, um Rede und Antwort zu stehen und die der Mutter gebührende Achtung nicht zu verletzen. Aber damit hat es keineswegs sein Bewenden. Nicht auszuhalten, von Jahr zu Jahr, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag weniger, ist der hemmungslose ichbezogene Redeschwall. Geschichten, Geschichten, Geschichten. Von früh bis spät, im Haus und im Freien, bei Tisch und im Lehnstuhl: Geschichten, eine nach der andern, ohne Punkt, ohne Komma, ohne Pause, eine langweiliger, pointeloser, inhaltloser als die andere, ein Leerlauf von Assoziationen. Jede mit den Worten beginnend: Erinnerst du dich noch, Marie? Oder: Kanntest du den Soundso (oder die Soundso), nein? Von dem (oder der) muß ich dir was außerordentlich Merkwürdiges erzählen. Oder: Da wir gerade davon sprechen (wir haben aber gar nicht davon gesprochen), hab' ich dir nie erzählt, wie die Verlobung der kleinen Baronesse Mayern, übrigens eine Kusine der böhmischen Mayern, enorm reiche Leute, mit dem Hofjuwelier Stark zustande kam? Furchtbar komisch, das mußt du hören. (Es ist nichts weniger als komisch, sie will es gar nicht hören, außerdem kennt sie die Geschichte bereits in drei Fassungen.) Immerhin ist das Repertoire von erstaunlicher Reichhaltigkeit, es sind nicht nur Geschichten von Herren und Damen der Vorzeit, Familienereignisse, Schilderungen von Bällen, Reisen, bengalischen Nächten, Mordtaten, Bränden, fürstlichen Personen, sondern auch Lebensläufe von Hunden, Katzen, Kanarienvögeln, Papageien, mit einer Fülle von Episoden und charakteristischen Zügen, das heißt solchen, die sie für charakteristisch hält, da ja alles darauf hinzielt, sie im Mittelpunkt jeder Szenerie und jedes Vorgangs zu zeigen und den Beweis zu liefern, welche Wertschätzung sie bei allen Kreaturen Gottes genossen hat, bei Menschen wie bei Tieren. Die Ringe an ihrer Hand, der Schmuck an ihrem Hals, ein seidener Schal, eine emaillierte Dose, jedes hat seine Geschichte, ist auf irgendeine, meist sehr weitläufige Weise mit der Vergangenheit verquickt. Man nennt eine Jahreszahl, einen Namen, den Titel eines Buchs, es dauert keine zehn Atemzüge, und eine Geschichte kommt, ob sie paßt oder nicht, mit dem Thema zusammenhängt oder nicht, kommt unweigerlich und hat ebenso unweigerlich auf die hervorragende Rolle Bezug, die Adrienne Martersteig im Leben gespielt, wie sie sich in dieser oder jener Situation benommen, welches Maß von Bewunderung man ihr gezollt hat. Bisweilen verliert sie den Faden, gerät vom Hundertsten ins Tausendste, verwechselt die Menschen und die Ereignisse, verhaspelt sich gänzlich, will zum Ausgangspunkt zurückkehren und hat ihn vergessen und redet schließlich nur, weil sich die Worte in ihrem Mund wuchernd wie Pilze vermehren. Dabei ist sie äußerst animiert, ahmt Stimmen und Gesichter nach, zitiert, was sie gesagt hat, was die Leute gesagt haben, bricht an Stellen, die sie für ergötzlich hält, in herzliches Gelächter aus, und bei besonders gefühlvollen Erinnerungen schließt sie die Augen, während sich ein fast krankhaft-beseligter Ausdruck über ihre verfallenen, aber noch immer schönen Züge breitet. Marie kann sich nicht retten. Es ist ein Wolkenbruch von Geschwätz, Tag für Tag, Abend für Abend. Wenn sie zu ihren Kinder flieht, sich mit einem Buch in ihrem Zimmer einsperrt, Briefpflichten vorschützt, ist es nur eine Unterbrechung. Sie kann die Mutter nicht abendelang allein lassen. Sie kann nicht unartig gegen die Mutter sein und sie bitten, zu schweigen. Sie muß täglich eine oder zwei Stunden mit ihr Spazierengehen, im letzten Jahr, wo sie die Wanderungen mit Robert Suermondt unternommen hat, sind Vorwürfe und beleidigte Mienen ohnehin nicht ausgeblieben. Die Prätention ist immer die gleiche, ja sie wächst mit den Jahren, der phantasielose Egoismus des Alters überschreitet alle Grenzen. Ihr ist zumut, als werde sie von Geschwätz plattgedrückt. Die Stunden, die sie mit der Mutter zubringen muß, wie Gott den Tag gibt und den Abend schickt, sind Höllenstrafen. Unaufhörlich surrt ein glühendes Rad in ihrem Gehirn. Sie sitzt da, kann nichts denken, nichts lesen, hört nicht, sieht nicht und geht um Mitternacht zerschlagen zu Bett. Und es ist die Mutter ...

Ein Sonderfall, sie weiß es. Dergleichen gibt es nur selten, und daß es ihr zugestoßen ist, hat wohl auch seinen besonderen Sinn. Es braucht nicht bemerkt zu werden, daß sie die beschämenden Einzelheiten dieses Zustandes und Leidens vor Etzel nicht eigens ausbreitet. Was sie verschweigen kann, verschweigt sie. Sie will ihm ja nur erklären, weshalb sie nicht eben mit sehnsüchtiger Ungeduld zu ihrem Heim strebt. Sie hat in der letzten Zeit viel darüber nachgedacht. Findet Etzel nicht auch, daß eine eigentümliche Polarität zwischen den beiden Lebensvorgängen besteht? Der stumme, für Menschendinge indifferente Mensch und der redende, Menschendinge zerrende: jeder ein geschlossenes Schicksal und sie in der Mitte, ohnmächtig gegen beide? Was mag es zu bedeuten haben? Es sagt doch wahrscheinlich für sie, ihren Charakter, ihre ganze Existenz, etwas Bestimmtes aus, sie kann nur nicht ergründen, was. Verschärfung in dem einen Fall ist, daß der Tod alles zerschnitten hat, im andern, daß es sich um die Mutter handelt. Darauf kommt sie immer wieder zurück. Auf die naturgegebene Gegnerschaft zwischen Mutter und Tochter. Das mystische Unbehagen, aus einem Leib hervorgegangen zu sein, dessen Geist und Seele einen wie Moder anhauchen, mit dem man durch nichts verbunden ist als durch Pietät, ein subalternes Gefühl, wenn es nicht aus einem wahrhaft frommen Herzen kommt, vielleicht überhaupt kein Gefühl, eine Willensbemühung bloß. In ihr ist der Vater, dem ist sie zu eigen, dem verdankt sie sich, und wenn sie sein Bild aufruft, wird ihr die Mutter doppelt fremd, obschon gerade dadurch wieder die Pflichtliebe zum sittlichen Gebot wird, dem sich zu entziehen ihr unmöglich ist. Doch kann sie sich Vater und Mutter nicht als eines denken, es sind zwei feindliche Parteien, sie gehört zu der des Vaters; was der Mutter gefehlt hat, um sich zu erfüllen, ist ein Sohn. Das wäre der Ausgleich gewesen ...

Etzel schaut und schaut. Die ist ja schön, denkt er, verdammt noch mal, das hab' ich gar nicht gewußt ... Es ist ihm zu Sinn, als müsse er sie mitsamt dem Bett, in dem sie so still und geheimnisvoll liegt, aufheben und tausend Meilen weit wegtragen, an einen Ort, wohin die Bedrängnisse und Ängste nicht dringen können, deren Beute sie ist.

Es war ein Montag, als Marie die Klinik verließ. Kerkhoven konnte in den Vormittagsstunden nicht abkommen und bat Etzel, sie auf der Fahrt nach Hause zu begleiten (was er unter allen Umständen getan hätte). Aber es war eine überflüssige Vorsicht, die Begleitung der Pflegeschwester hätte genügt, Marie versicherte ihrem Mann am Telefon, daß sie schon ganz gesund sei und überhaupt keine Garde brauche, was solle ihr denn Etzel, er störe nur. Trotzdem war sie froh, als er kam. Beim Aufstehen und Ankleiden hatte sie sich kaum auf den Beinen halten können vor Schwäche und Schwindelgefühl, jeden Augenblick fiel sie der Schwester in die Arme. Etzel fand sie so blaß, daß er den behandelnden Arzt fragte, ob ihr die Fahrt im Auto nicht schaden werde. Der Arzt beruhigte ihn, allerdings müßte sich die gnädige Frau zu Hause noch sehr schonen. Dafür werde gesorgt werden, erklärte Etzel peremptorisch, worüber Marie laut auflachen mußte. Er wollte überall Hand anlegen und war nur schwer zu überzeugen, daß man seiner Hilfe nicht bedürfe. Es machte Marie nervös, daß er sie fortwährend anstarrte, und als die Schwester auf ein paar Minuten das Zimmer verlassen hatte, fragte sie ihn, was ihm denn an ihr nicht recht sei. »Nicht recht?« gab er erstaunt zurück. »Davon ist nicht die Rede. Sie kommen mir nur so schlank vor, Frau Marie. Unerhört schlank.« Und um nicht allzu dumm zu erscheinen, lächelte er aufgeklärt. Marie errötete. Als sie mit dem Lift in den Hausflur gefahren waren, nahm sie seinen Arm. Schritt für Schritt gingen sie zum Auto, die Schwester stützte sie an der andern Seite, ging aber dann voraus, um das Tor zu öffnen. Auf einmal blieb Etzel stehen und sagte erschrocken: »Was ist Ihnen, Frau Marie? Warum zittern Sie? Fühlen Sie sich schlecht? Sie zittern am ganzen Leibe...« – Marie flüsterte hastig: »Nichts ... lassen Sie ... nicht sprechen ...« Mit gesenktem Kopf ging sie weiter.

Am Dienstag und am Mittwoch erwähnte sie nichts von Lindow. Mittwochabend sagte sie zu ihrem Mann, Freitag wolle sie fahren, natürlich nicht mit ihrem kleinen Opel; wenn Joseph ihr nicht seinen Wagen für den Tag geben könne, ziehe sie die Bahnfahrt vor. Sie fühle sich munter wie ein Fisch im Wasser, und für alle Fälle habe sie der Mutter telefoniert, sie solle ihr Frau Jänisch schicken. Frau Jänisch war eine alte Dienerin, die sie schon zwölf Jahre hatte. Kerkhoven sagte, sein Wagen stehe ihr selbstverständlich zur Verfügung, den Opel könne sie später holen lassen. Marie sah ihn an, als erwarte sie noch etwas anderes von ihm zu hören. Dieses andere kam nicht. Etzel war an diesen beiden Tagen immer nur kurze Zeit bei ihr, nach einer Viertelstunde bat sie ihn, zu gehen, sie möchte lieber allein sein. Er gehorchte ohne Widerspruch. Weshalb sie ihn fortschickte, begriff er nicht, schwerlich geschah es, weil sie Ruhe haben wollte, denn Tina Audenrieth war sowohl Dienstag wie Mittwoch den ganzen Vormittag und einen Teil des Nachmittags bei ihr gewesen; folglich war es ihr ums Alleinsein nicht zu tun. Auch andere Bekannte kamen. Sie nahm jetzt wieder Besuche an, unterhielt sich auch sehr vergnügt mit ihnen. Nur ihm wies sie die Tür. Er ging herum wie vor den Kopf geschlagen. Er stand vor seinem Arbeitstisch und stierte geistesabwesend auf die Briefe und Blätter. Manchmal klopfte er mit den Knöcheln der geballten Faust an seine Stirn und murmelte: »Hallo, E. A. da drinnen! Appell! Sie sind schwachsinnig, Herr!« Bei den Mahlzeiten erschien er nicht. Er hatte sich ein Motorrad verschafft, und wenn er eine freie Stunde hatte, raste er wie vom Teufel besessen durch die Stadt, bis er auf eine Chaussee gelangte. Am Donnerstagmittag fand er einen Zettel Maries in seinem Zimmer: Kommen Sie um fünf. Als er hinüberkam, saß sie mit ihrem Mann beim Tee, ungewöhnliches Ereignis, noch nie hatte er den Meister um diese Stunde bei ihr gesehen. Es war Marie nicht angenehm, daß er so erstaunt die Augen aufriß. Während sie ihm mit strahlender Miene die Hand hinstreckte, runzelte sie ganz schnell die Stirn. Wie sie das fertigbrachte, war nur für den schwer zu begreifen, der ihre mimische Ausdrucksfähigkeit nicht kannte. Sie erhob sich, um ihm Tee einzuschenken und die Platte mit den Brötchen zu reichen. Dabei plauderte sie in ihrer verbindlich-anmutigen Art und schien es ihren beiden Gästen nicht zu verübeln, daß sie sich zur Konversation wenig aufgelegt zeigten. Etzel hatte das Gefühl, als sei da eine andere Frau. Sie bewegte sich anders, ging anders, sprach anders, etwas Prickelndes und Beschwingtes war an ihr. Die Augen hatten einen zärtlichen Glanz wie bei einem Menschen, der etwas Freudiges vorhat, ohne daß er genau weiß, was es ist, und das Leben aus keinem andern Grund liebt, als weil er lebt. Die Wangen waren leicht gerötet, um den graziös gebogenen Mund zuckte bisweilen ein verschwiegenes Lächeln, der Körper vibrierte wie unter elektrischen Wellen, und diese Oszillationen teilten sich unmittelbar mit. Ein paarmal warf Etzel einen verstohlenen Blick auf Kerkhoven: ein ziemlich komischer Versuch, seine Ratlosigkeit zu vermelden und dem, der dafür verantwortlich war, zu verstehen zu geben, daß an der gewohnten Ordnung etwas nicht stimmt. Siehst du nichts, merkst du nichts, fragte der Blick, fällt dir nichts auf? Nein, Kerkhoven sah und merkte in der Tat nichts, nicht einmal Etzels angeberische Mienen. Vor dessen Kommen hatte er ein Gespräch mit Marie gehabt, das ihn innerlich noch beschäftigte. Wegen des bevorstehenden Abschieds und weil die Trennung vermutlich wochenlang dauern würde, hatte er sich zwischen zwei Konsilien entschlossen, mit ihr Tee zu trinken, und war unerwartet erschienen. Marie war ihm mit einem Freudenschrei in die Arme geflogen, nicht anders, als habe sie sich gerade das und nur das innig gewünscht. »Ich habe Etzel zu mir gebeten«, sagte sie voll Eifer, »wir wollen ihm sagen lassen, daß er nicht kommen soll.« – »Ach nein, Liebste«, entgegnete er, »tu das nicht, ich kann ohnehin nicht lang bei dir sein.« – Damit dämpfte er ihre Freude schon beträchtlich. – »Weißt du, daß ich ein Attentat auf dich plane«, sagte sie unsicher und suchte seinen Blick, den er ihr nur zögernd und allmählich gab. – »Gott bewahre, was mag das sein?« forschte er und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. – »Na, rate mal.« – »Kann nicht raten, Marie, bin ein schlechter Rater, das weißt du doch.« – »Ich hab' mir ausgedacht, wie es wäre, wenn du mich morgen selber nach Lindow brächtest. Was meinst du dazu? Du könntest ja gleich wieder zurückfahren. Ich wünsche es mir so sehr. Ist es unmöglich? Sprich, Joseph (mit Angst in den Augen, denn sie spürte die Weigerung schon, der ganze Mann war Weigerung), ist es wirklich unmöglich?« – »Ja, Liebste. Wirklich unmöglich.« Und als sie schwieg und von ihm fortging und sich an den gedeckten Tisch setzte und mechanisch die bunte Wärmehaube von der Teekanne hob: »Wozu die Gründe aufzählen? Sie würden dich doch nicht überzeugen. Ich fürchte, mein Unmöglich hat keine Beweiskraft mehr für dich. Ich verlange vielleicht zuviel Geduld von dir, zuviel Nachsicht. Aber bei wem unter allen Menschen soll ich sie finden, wenn nicht bei dir? Du mußt fühlen, was das bedeutet, Marie, und daß ich sonst nichts habe, worauf ich bauen kann.« – »Nimm Platz, Joseph«, sagte Marie freundlich; »darf ich dir einschenken?« Sie begann von Tina Audenrieth zu sprechen und erzählte eine putzige kleine Kindergeschichte, die ihr Tina heute von ihrem Enkelchen berichtet hatte. Sie hatte kaum geendet, als das Mädchen Herrn von Andergast meldete.

Kerkhoven war mit seinen Gedanken immer noch bei dem Gespräch, und Marie wußte es. Das waren die »langsamen Reaktionen«. Unzufriedene, zweifelvolle, anklägerische Gedanken bestürmten ihn, eingegeben vom »schlechten Gewissen«, das also doch nicht ganz zur Ruhe kam; vergebliches Zerren an der selbstgeschmiedeten Kette, vergebliches Bemühen, die Selbstopferung hintanzuhalten und aufzuschieben, die Kerze nicht von beiden Enden her sich verzehren zu lassen. Marie sah an seinem Gesicht, was in ihm vorging, er konnte es nie verbergen, es schmerzte sie, aber sie wollte den Schmerz nicht dulden, nein, jetzt wollte sie keinen Schmerz, wollte sich nicht in die Ecke stellen und traurig sein. Mit einer herben Bewegung wandte sie sich ab und setzte die Unterhaltung mit Etzel fort. Kerkhoven stand auf, küßte mit bittender Verneigung ihre Hand, legte dann beide Hände auf Etzels Schultern (Etzel hatte das Gefühl, als lägen zwei Granitblöcke auf seinen Schultern, obwohl es ein liebevoller Druck war, beteuernd und dankbar) und ging stumm hinaus.

Nach einem langen Schweigen sagte Marie: »Morgen wird's Ernst.« – »Ja«, sagte Etzel, »ich weiß. Sie fahren.« – »Wir werden uns lange nicht sehen, denk' ich«, sagte Marie. – Darauf Etzel: »Es wird wohl so sein.« – Und sie: »Schade.« – »Ja, vielleicht ist es schade.« – »Warum vielleicht?« – »Weil kein Notwendigkeit besteht.« – »Doch. Sie besteht. In vieler Hinsicht.« – »Das behaupten Sie. Sie wollen es so. Ich sehe die Notwendigkeit nicht. Einem Muß beugt man sich. Ich habe mich oft gebeugt. Hier ist ein eingebildetes Muß, kein wirkliches.« – »Unsinn, Etzel. Natürlich wäre es keine Katastrophe, wenn ich bliebe, aber da es keinen vernünftigen und plausiblen Grund für mein Bleiben gibt, ist es so gut wie ein Muß.« – »Gewiß, da haben Sie recht, Frau Marie. Einen vernünftigen und plausiblen Grund gibt es nicht.« – »Also ... weshalb so finster?« – Er drehte die Teetasse, die vor ihm stand, auf dem Untersatz herum wie einen Kreisel. Plötzlich wölbte er die Hand über die Tasse und drückte sie mit solcher Kraft zusammen, daß sie in Scherben zerbarst. »Was tun Sie denn?« schrie Marie entsetzt. Daumen und Mittelfinger bluteten. Marie sah sich hilflos um. Er riß das Taschentuch heraus und wickelte es um die Hand. Dann erhob er sich und ging schweigend im Zimmer auf und ab. »Es ist besser, Sie setzen sich wieder«, sagte Marie leise, »das Herumgehen macht mich schwindlig.« Er stellte sich ans Fenster, mit dem Rücken gegen das Zimmer, die unverletzte Hand in der Hosentasche. »Warum wollten Sie mich gestern und vorgestern nicht bei sich haben?« fragte er ins Fenster hinein. – Marie gab keine Antwort. – »Warum? Warum?« beharrte er rabiat. – »Benehmen Sie sich, Etzel«, warnte Marie, »bitte; bitte.« – »Ich will nicht, daß Sie mir schreiben, Frau Marie. Hören Sie? Ich will es nicht.« – Marie lächelte. »Ich denke auch gar nicht daran, Sie ungezogener Bub.« – Er drehte sich mit einem Ruck um und rieb seine Stirn. »Soll ich jetzt gehen?« fragte er. – Sie nickte. »Ja. Gehn Sie jetzt. Und sagen wir uns gleich adieu, nicht morgen, wenn ich schon mit einem Fuß über der Schwelle bin.« – Er machte ein paar Schritte zu ihr hin. Ihre Überlegenheit und Freiheit schüchterte ihn unbeschreiblich ein. Er schaute sie an wie verzaubert und voller Zorn über die Verzauberung. Sie reichte ihm die Hand. Er hob mechanisch die rechte, verbundene, ließ sie wieder fallen und gab ihr dann die linke, ohne daß sein Blick weicher wurde. Sie stand auf, während er ihre Hand hielt, und mit ihrem schwebenden Lächeln sagte sie: »Auf Wiedersehen, Etzel.« – Er ging zur Tür, faßte die Klinke, drehte sich noch einmal um, starrte zu Boden und verschwand wortlos. Kerkhoven schreibt an Marie: »Seit sechs Tagen bist du fort, und keine Zeile. Hat es etwas zu bedeuten? Hoffentlich nichts Schlimmes. Ich konnte dich nur zweimal anrufen, du warst so lakonisch am Apparat, wie ich leider stets gezwungen bin zu sein. Es ist zwei Uhr morgens, Andergast hat mich soeben verlassen, bis ein Uhr haben wir gearbeitet, dann geredet. Das ist schon Regel geworden. Er ist wieder mal in keiner guten Verfassung. Verschlossen und finster wie in der ersten Zeit oft. Wie sehr er innerlich gewachsen ist, kann ich gerade daran konstatieren. Es ist mehr Selbstbeherrschung und mehr Selbstkenntnis zu spüren. Worauf es wohl hinaus will mit ihm? Ich fürchte, ihn bald zu verlieren, ich weiß nicht warum. Nicht, als hätte er Entscheidungen getroffen oder sie stünden unmittelbar bevor, aber etwas zerrt an ihm, die Haut ist ihm zu eng. Ich werde mich schwer darein finden. Daß er mir nützlich ist, mehr, als ich voraussah, spielt natürlich keine Rolle dabei. Aber ich habe mich an die motorische und rhythmische Korrektur gewöhnt, die ich ständig durch ihn erfahre. Was keine Verleugnung meiner Gefühle sein soll. Ich bin aus der Vorwelt und bekenne mich zu den Schwächen des Herzens. Möglicherweise fehlt dein Einfluß auf ihn, der größer zu sein schien, als ich ermaß. Du fehlst überhaupt. Ohne dich hat das Haus keine Seele. Manchmal trotte ich automatisch auf die Tür deines Zimmers zu wie ein abgemüdeter Gaul auf den Stall, im letzten Augenblick erinnere ich mich: Sie ist ja nicht da. Antworte nicht: nur in der Entfernung bin ich ihm teuer. Es ist nicht wahr, auch wenn du mich mit Indizien stumm und schamrot machst. Liebe mit umgekehrtem Vorzeichen hast du es einmal genannt. Bestehst du darauf? Auch wenn ich dir sage, daß mein ganzes Wesen auf Einverständnis mit dir gestellt ist, in einem Grad, daß ich sofort in eine Art Schuldhaft gerate, wenn mir das Gefühl davon abhanden kommt? Es ist freilich eine Belastung von der Geburt her; daß ich gegen das Gift nicht immun werden konnte, hat mein Verhältnis zum Leben bestimmt. Wir unschuldig Schuldigen! Aber könnt' ich Schuld nicht auf mich nehmen, könnt' ich sie auch nicht in andern tilgen. Seit du weg bist, ist mir oft, als sei ein Schatten zwischen uns getreten, als hätte ich etwas gegen dich versäumt. Befreie mich von dieser Unruhe, gib mir ein Zeichen, Marie. Ich weiß, was du durchlitten hast in den letzten Wochen; wie kläglich hilflos ich dabeistehen mußte, ist mir ebenfalls bewußt, aber zieh in Betracht, daß die Natur in diesen Dingen die Frauen heldenmütig und die Männer erbärmlich geschaffen hat. Schreib mir!«

Maries Antwort traf drei Tage später ein, und dieser Brief hatte die allerseltsamsten Folgen, die sich denken lassen. Wir kennen Kerkhoven als einen Mann der Wirklichkeit, der bisher nicht die geringste Neigung gezeigt hat, einen klar zutage liegenden Sachverhalt innerlich zu verschleiern und nach der Art der Neurotiker und Hysteriker deshalb von sich abzuhalten, weil er sonst unbedingt Anstalten hätte treffen müssen, die seine ganze Lebenseinteilung über den Haufen geworfen hätten. So unglaublich es klingt, es ist doch so: Um nicht die Konsequenzen aus Maries Brief ziehen zu müssen, das heißt, alles stehn- und liegenzulassen, wer weiß für wie lange, beschloß er oder beschloß es in ihm, einfach nicht gelesen zu haben, was er las, und den Worten gewaltsam und fast, ohne zu wissen, daß er es tat, einen ganz andern Sinn zu unterschieben. Als ihm viele Monate später, in der finstersten Zeit seines Lebens, der Brief wieder in die Hände geriet und er sich von seinem wirklichen Inhalt überzeugen konnte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er wußte nichts anderes zu sagen als: Mann, Mann, wo hast du deine Sinne und deinen Verstand gehabt! Nebst alledem darf man nicht vergessen, daß diesen Riesen der Arbeit etwas eigen ist, was ich den pathologischen Zwang der geraden Linie nennen möchte, eine krankhafte Pedanterie, die sie zeitweilig blind und unter Umständen sogar grausam und rücksichtslos macht.

An dem Morgen, wo er den Brief erhielt, war er eben auf dem Weg zur Ordination. Es war zu spät, ihn zu lesen, er steckte ihn ungeöffnet in die Tasche. Die Sprechstunde dauerte bis zwölf; eine Reihe ungewöhnlich schwerer Fälle. Dann fuhr er mit Doktor Römer und einem fremden Arzt nach Tegel; hoffnungsloser Fall von Morphinismus bei einem russischen Emigranten-Ehepaar klangvollen Namens, das einst zur zaristischen Hofgesellschaft gehört hatte. Auf der Rückfahrt erinnerte er sich des Briefes und riß ihn auf. Er war benommen und ermüdet. Hastig überflog er die ersten Zeilen: »Gestern ist Mutter nach Dresden gefahren und wird vor Weihnachten kaum zurückkommen. Wir haben eine etwas erregte Auseinandersetzung gehabt, bei der ich ihr klarmachen mußte, daß es für uns beide besser wäre, wenn wir uns für einige Monate trennen. Und das ist geschehen. Der Abschied war dann ziemlich rührend, zum Schluß hat sie mir ein goldenes Bracelet geschenkt, ein Familienstück, schöne alte Arbeit. Werde es aber schwerlich tragen können. Und so bin ich nun allein ...« Also nichts Beunruhigendes. Sie ist allein, damit will sie sagen, daß sie gewünscht hat, allein zu sein ... Aufatmend las er weiter, von einem Dutzend abseitiger Gedanken beirrt, von den Gesichtern umlagert, die er gesehen, den Worten, die er gehört ... Daß einem der Schädel nicht springt ... dieses Leben, dieses gehäufte Grauen, diese Welt in Agonie ... aber was schreibt sie denn da ... nanu, Marie! Marie! Plötzlich war es ihm peinlich, den schweigenden Doktor Römer neben sich zu wissen, er schob den Brief wieder in die Tasche, um ihn zu Hause zu lesen. Etzel hatte sich mit einer Verabredung entschuldigt, er saß allein bei Tisch und schlang das Essen eilig und genußlos hinunter. Dann ging er ins Arbeitszimmer. Ein Stoß Telegramme. Telefon. Wieder Telefon. Alarm da, Alarm dort. Richtig, der Brief ... Es war ein nebliger Oktobertag, er setzte sich dicht ans Fenster, um zu lesen. Er schaltete von vornherein das halbe Bewußtsein aus, planmäßig und in panischer Angst vor der Forderung, etwa wie ein Kapitän in Voraussicht von Untiefen mit halber Dampfkraft fährt. Er ahnte schon alles, er drückte die Augen zu und verstopfte die Ohren, bildlich natürlich, alles bildlich und dumpf gedacht; laß es nicht geschehen sein, ruf mich aus dem Bergwerk nicht herauf! Lesen wir mit. »Dein langer Brief war eine liebe Überraschung. Also mäuschenstill muß man sich verhalten, wenn man wieder einmal seine Stimme hören will, seine sehr geliebte Stimme. Wo warst du denn die ganze Zeit, Joseph, wo hast du gesteckt, Gefesselter? Ist es denkbar, daß du den schrecklichen seelischen Verfall nicht bemerkt hast, der mich in den letzten zwei Jahren zu einem Gespenst meiner selbst gemacht hat? Kann das Liebe sein, die nur das Leuchtende sieht und es sich auch dann noch vormalt, wenn es längst schon verblaßt ist und das Herz in seinem Dunkel verseufzt? Wir unschuldig Schuldigen, schreibst du. Wir? Mensch, Joseph! Hast du meinen angstvollen Widerstand wirklich nicht gespürt, damals, und daß er nur eine Folge der andern, größeren Angst war, der, an deiner Seite zu erfrieren? Ist es ein Gesetz, daß jeder Mann das Leben seines Weibes, Leben im niedersten wie im höchsten Sinn, hinter die Begierde eines Augenblicks stellt? Und da verlangst du noch Einverständnis, da soll ich dich noch von deiner Unruhe befreien, als ob auch das noch eine zu große Ausgabe für dich wäre. Ich denke mit heißer Sehnsucht an dich, aber auch mit bitteren Tränen. Vor mir ist ein Tor, da will ich hinein, und davor steht ein finstrer Geselle, nennt sich Unmöglich und läßt mich nicht durch. Es ist aber etwas in mir, das verzehrt mich, ich strecke die Arme aus, zu fassen, zu halten und an mich zu drücken, ich verdurste, ich verbrenne fast. Schwer für eine Frau, das zu sagen, wir sollen ja immer scheinen, was wir nicht sind, aber ich will nicht mehr begreifen, ich will nicht mehr einsehen, ich will nicht mehr berücksichtigen, ich will nicht mehr mütterlich belächeln und töchterlich respektieren, ich will nicht mehr allein sein, ich will den Mann haben, der mir verschrieben ist vom Schicksal, nicht den Arzt, nicht sein Werk, nicht seinen Ruhm, nicht seine abgegeizten Viertelstunden, nicht seine umwölkte Stirn und seine anderswo weilenden Augen, ihn, ihn ganz will ich, mit Haut und Haar und Herz und Atem. Sitz nicht und grüble, Mann, dem jede Falte meines Leibes und meiner Seele gehört, sehn dich so nach mir wie ich nach dir, dann ist nichts mehr zu grübeln. Verstehst du mich endlich ...?«

Nein. Er verstand nicht. Mit einer furchtsamen Gebärde, wobei ihm die Hände leicht zitterten, legte er den Brief sorgfältig zusammen und verschloß ihn in der Schreibtischlade. Bedeutungsvolle Handlung. Und nun geschah dies. Zuerst bedeckte er den wahren Inhalt des Briefes mit Vergessen und schmuggelte dafür einen zwar ähnlichen, jedoch weit weniger kategorischen und leidenschaftlichen in sein Gedächtnis ein. Dieser Ersatzbrief veranlaßte ihn im Verlauf seiner verzweifelten Fluchtmaßnahmen zu folgenden Überlegungen: Unverkennbare Gleichgewichtsstörung und nervöser Erregungszustand, zurückzuführen auf den operativen Eingriff, der einen so empfindlichen Organismus wie den ihren, einen so zarten seelischen Apparat für geraume Zeit schädigen mußte; die Einsamkeit draußen ist verhängnisvoll; zu allem Unglück und als hätte ihr aufrührerisches Gemüt die Dinge auf die Spitze treiben wollen, hat sie sich noch mit ihrer Mutter zerzankt; man muß etwas tun; am besten, sie kommt zurück; sie wird sich dagegen sträuben, um sich selbst die Logik ihres Verhaltens zu beweisen; ich habe nicht eine Stunde Zeit, sonst würde ich hinausfahren und sie holen; anrufen? Aber was soll ich ihr sagen, es hat unter diesen Umständen nicht viel Sinn; schreiben? Ja, ich werde ihr schreiben; ich werde ihr Andergast schicken, er soll ihr den Brief bringen; er wird sie beruhigen, sie wird sich vor ihm zusammennehmen, er versteht es, sie aufzuheitern ... das ist die vernünftigste Lösung ...

Als er diesen Ausweg gefunden hatte, fühlte er sich erleichtert. In seiner abgründigen Verblendung dünkte ihn, als sei damit die Hauptschwierigkeit beseitigt, zumal er, je mehr sich der unmittelbare Eindruck verwischte, den aufgewühlten und aufwühlenden Brief für ein vorübergehendes Symptom hielt (oder sich vielmehr dazu überredete), eine mit dem liebenswürdigen bon sens, den er an Marie gewohnt war, unvereinbare Augenblicksexaltation. So sehen wir einen Mann, der aus tiefer Erfahrung wußte, daß es in solchen Fällen kein verlogeneres und dümmeres Wort gibt als »Zeit gewinnen«, auf die Stufe des törichten Sanguinikers herabsinken, nur weil er den Ernst der Situation um keinen Preis ins Auge fassen will; während er allen Menschen maßlos zur Verfügung steht, erwartet er gerade von Marie, der Gefährtin, seinem andern Ich, daß sie ihn schonen soll. Darin liegt ein Geheimnis, aber ich kann es nicht ergründen. Es braucht nicht eigens vermerkt zu werden, daß der Brief, den er an Marie schrieb, eine Verlegenheitsepistel war. Er bestand aus einer Reihe ziemlich nichtssagender Beteuerungen und Beschwörungen und war seiner nicht recht würdig, ein Beweis, daß wir gleich meilentief fallen, wenn wir uns nur im geringsten nicht auf der Höhe halten. Um zehn Uhr erschien Etzel. Anderthalb Stunden vergingen mit der Besprechung der Tagesgeschäfte, dann brachte Kerkhoven sein Anliegen vor. In ruhigem Ton und von der Verwirrung, in der er noch vor wenigen Stunden gewesen, weit entfernt. Er sprach von einer krisenartigen Verstimmung Maries und daß ihn ein Brief, den er am Vormittag erhalten, mit Besorgnis erfüllt habe. Er hoffe, der Zustand werde sich rasch bessern. Die Lindower Einsamkeit sei unter den gegenwärtigen Umständen Gift für sie, habe sie doch nicht einmal mehr die Mutter bei sich; Etzel möge sie bewegen, nach Berlin zurückzukehren, allenfalls mit den Kindern. Ja, mit den Kindern, das wäre ihm am liebsten, er habe die Buben seit Monaten nicht gesehen, »lassen Sie mich nachrechnen ... ja, seit Februar, es ist eine Schande.« Das alles habe er ihr auch geschrieben, hier sei der Brief, Etzel solle ihn gleich einstecken. »Sie kennen ja meine Frau jetzt«, fuhr er fort; »bei aller geistigen Unabhängigkeit und einem sehr ausgeglichenen Naturell kommt es doch zu bedenklichen Schwankungen, da verliert sie dann ihr heiteres Selbstvertrauen und wird verzagt wie ein Kind im Finstern; es hat nie lange Bestand, ihre wunderbare Schwungkraft hilft ihr bald wieder auf, man muß sie nur ablenken und darf vor allem nicht den Fehler begehen, sie als Kranke zu behandeln.« – Etzel hatte bis zu diesem Moment weder eine Silbe gesprochen noch durch einen Blick, eine Geste irgendwelche Zustimmung oder Verwunderung bekundet. Keine Miene verriet, was in ihm vorging. Nur seine Ohren und seine Stirn waren rot geworden. Er fühlte es, und sogar darüber war er unzufrieden. Er tat, als sei ihm etwas eingefallen, was er zu notieren vergessen hatte, nahm ein Blatt Papier und kritzelte mit dem Bleistift ein paar Worte hin. Gut, daß Kerkhoven nicht nachsah; es waren sinnlose Schnörkel. Als ihn Kerkhoven fragte, ein wenig betroffen von seinem beharrlichen Schweigen, ob er den Auftrag übernehmen und morgen früh nach Lindow fahren wolle, hob er den Kopf und antwortete mit emporgezogenen Brauen, als sei eine solche Frage nicht zulässig, da er in jedem Fall zu gehorchen habe: »Selbstverständlich, Meister.« Und als Kerkhoven hinzufügte: »Sie brauchen sich mit dem Zurückkommen nicht zu beeilen, wenn es Ihnen nützlich erscheint, zwei oder gar drei Tage zu bleiben, so bleiben Sie«, sagte er in demselben knappen, harten Ton: »Ja, Meister.« – »Schön, dann wollen wir uns für heute gute Nacht sagen.« – »Gute Nacht, Meister.«

Als Etzel sein Zimmer betrat, schlug es auf einer Turmuhr Mitternacht. Er machte Licht und warf eine raschen Blick in den Spiegel. Sein Gesicht hatte noch den Ausdruck kalter Bereitschaft, durch den er geglaubt hatte, Kerkhoven täuschen zu müssen. Die Sache war zu plötzlich gekommen. Er mußte es erst mal überdenken. Während er, die Hand über der Stirn, zu »denken« versuchte, nahm er wahr, daß es nichts mehr zu denken gab. Bis morgen zu warten hatte keinen Sinn. Wozu sich schlaflos im Bett herumwälzen. Er öffnete den Schrank, nahm Mütze, Halstuch, Windjacke und Handschuhe heraus, stopfte, was er zum Übernachten brauchte, in einen Wachstuchsack und verließ Zimmer und Wohnung. Das Motorrad stand in einem Schuppen im Hof; den Schlüssel hatte er bei sich; den Torschlüssel auch. Er sperrte auf, füllte beim Licht des Scheinwerfers aus einer Kanne den Benzinbehälter, schob die Maschine in den Hausgang und auf die Straße, schwang sich in den Sitz und ratterte los. Über die Linden, die nördliche Friedrichstraße, Chausseestraße, am Bahnhof Wedding vorbei, Müllerstraße, Scharnweberstraße gegen Kremmen zu. Den Weg kannte er ungefähr. Siebenundsechzig Kilometer. Bei freier Bahn anderthalb Stunden. Die Straßen wurden immer öder und öder. Der Nebel immer dicker. Zuerst war er mit achtzig gefahren, hinter Hermsdorf mußte er das Tempo auf vierzig, dann auf dreißig verringern. Der Nebel erstarrte zu einer wolligen Wand, in die der Scheinwerfer einen qualmenden Trichter zu bohren bemüht war und der Dörfer, Äcker, Wälder, den Himmel und selbst die natürliche Finsternis der Nacht verschluckte, denn was einen da umfing, war eine schleimige Masse, aus Rauch und Wasser gemischt, bewegt und zäh, fett und übelriechend. In der Gegend von Schwante war kein Weiterkommen mehr. Fluchend stoppte er und sprang ab. Das Licht seiner Lampe prallte von den brodelnden Nebelschwaden wie von einem Hohlspiegel zurück und warf seinen Schatten in enormer Verzerrung an ein bewegliches Gewölbe. Der Boden war so glitschig, daß die von den Stößen des Motors zitternde Maschine fortwährend rutschte. Er hielt die Armbanduhr an die Laterne: halb drei. Auf einmal wurde er sich der Torheit seines Beginnens bewußt. Wenn er nun wirklich mitten in der Nacht dorthin kam, was dann? Sollte er die Leute alarmieren? Und warum? Er habe eine Botschaft für die gnädige Frau? Ein Unglück also? Man muß unsere Frau aus dem Schlaf wecken? Nein? Also was? Was soll's? Wozu der Klamauk? Sie haben wohl 'n kleinen Webefehler, lieber Herr? Was hätte er darauf zu erwidern? War ja vollkommen verrückt, das Ganze. Einfach loszurasen, ohne jede Überlegung ... Er mochte eine halbe Stunde ratlos gestanden sein, da sah es aus, als lichte sich der Nebel ein wenig. Dicht an der Straße gewahrte er die Umrisse eines Hauses, das riesengroß zu sein schien, doch als er hinging, war es eine verfallene Holzhütte ohne Türe, ohne Dach, immerhin ein Unterstand, sogar ein Strohhaufen, wenn auch feucht und klebrig, war vorhanden. Mit einiger Mühe brachte er die Maschine hinüber, befestigte sie mit der Kette an einem Balken, warf sich auf das Stroh und verfiel in einen steinernen Schlaf, aus dem er erst nach fünf Stunden erwachte.

Bevor er auf den Gutshof ging, säuberte er sich im Gasthaus. Als er sich melden ließ, war es zehn Uhr. Frau Jänisch, die ihn gemeldet hatte, zeigte ihm den Weg durch den langen Flur. Er trat in ein geräumiges, schön ausgestattetes Zimmer. Möbel aus dunkler Eiche, zartfarbige Stoffe, eine Wand mit Büchern, an der andern Wand ein Blumenstück von Corinth und ein Familienporträt, nach der Ähnlichkeit zu schließen der Vater. Astern und Spätrosen in Gläsern und Vasen, Kakteen in Töpfen. Auf dem Ständer des aufgeschlagenen Flügels die As-Dur-Sonate von Weber. Er hatte nicht gewußt, daß Marie Klavier spielte. Sie hatte nie davon gesprochen. Das Instrument in der Stadtwohnung hatte er nie offen gesehen. Warum hatte sie es verschwiegen? Er mußte sie fragen. Danach mußte er unbedingt fragen. Der Brief ... richtig der Brief ... den hatte er bei sich. In der inneren Rocktasche. Den brauchte er als Legitimation. Er hörte ein Geräusch und fuhr zusammen. Nichts; ein Scheit hatte im Ofen geprasselt. Er strich mit der Hand über seine Wange. Gott sei Dank hat er sich gestern nachmittag rasiert. Sie hat es nicht gern, wenn er unrasiert ist, sie sieht einen Respektmangel darin. Komisch, aber so ist sie nun einmal. Was ist denn los, warum klopft ihm denn das Herz so? Er spürt es bis in die Fingerspitzen. Er drückt die Faust unters Kinn, und um Gleichgewicht zu markieren, räuspert er sich. Plötzlich würgt ihn eine glühende Angst in der Kehle: Schritte. Ihre Schritte. So geht niemand auf der Welt als sie. Niemand geht so leicht, als ob zwischen ihren Sohlen und der Erde eine federnde Luftschicht sei. Er darf nicht auf die Türe sehen, hinter der die Schritte kommen. Wegsehen, sonst verrät er sich. Wegsehen, zum Fenster hinaussehen. Da ist sie schon. Sehr blaß, mit großen Augen steht sie regungslos da. Er steht ebenso regungslos da. Sein Blick flattert, kehrt sich vom Fenster ab und ganz langsam zu ihr hin. Er verbeugt sich und sagt: »Frau Marie«. Dann nichts mehr. Da lächelt sie, erregt, schüchtern, bestürzt. Ihre Wangen färben sich. Ein leiser Aufschrei. Es ist, als fiele sie nach vorwärts. Er fängt sie in seinen Armen auf. Sie liegt in seinen Armen. Er zieht sie an sich. Sie läßt sich fassen und läßt sich halten. Sie umschlingt seinen Nacken. Sie zittert wie im Schüttelfrost. Es ist ein schmerzlicher Krampf, der durch ihren ganzen Körper geht. Sie flüstert etwas, es ist nur ein Hauch. Es ist außerhalb des Wissens. Und er: Ohne Laut, ohne Wort. Sein Gesicht ist erschreckend finster. Nur halten, festhalten. Mit ungeheurer, wilder Kraft preßt er sie an seine Brust. Auch dies ist außerhalb des Wissens. Nur eins weiß er dumpf, tief drinnen: Das ist niemals gewesen, es ist wie Geburt. Es geht über alles Denken, es ist wie Tod. Vor den Fenstern braut schwach-durchsonnter Nebel.

Marie macht sich los. Sie versucht zu sprechen, es bleibt bei einer hilflosen Mundbewegung. Sie geht zur Chaiselongue an der Seite des Flügels, legt sich hin und verdeckt mit dem Unterarm die Augen. Der Schüttelfrost ist nicht vorüber, er wirft ihren Körper förmlich. Etzel nähert sich und schaut auf sie herunter. Sie macht eine übermenschliche Anstrengung, sich zur Ruhe zu zwingen, es gelingt nicht, das Lächeln, das um ihren Mund zuckt, erstirbt wieder. Er nennt ihren Namen. Er kniet neben dem Sofa nieder und flüstert zwanzigmal ihren Namen. Marie, Marie, Marie; immerfort. Eine Beschwörungsformel. Die zwei Silben haben einen Wohllaut, der ihn betrunken macht. Sie streichelt mit der freien Hand, mit den Fingerspitzen, ganz sacht seine Stirn. »Wie bist du denn hergekommen?« fragt sie fast unhörbar, um eben etwas zu fragen. Hastig, mit einer Stimme, in der eine ganz andere, für sie sehr verständliche Mitteilung enthalten ist, berichtet er seine nächtliche Fahrt und wie er bei Mutter Grün übernachtet hat. Sie tut den Arm vom Gesicht und starrt ihn groß an. Und plötzlich reißt sie seinen Kopf zu sich her und küßt ihn, daß es aussieht, als wolle sie die Zähne in seine Lippen beißen. Sie hängt an ihm wie verloren und zittert vom Scheitel bis zur Sohle. Vielleicht währt er ein Jahrhundert, dieser Kuß, vielleicht nicht zehn Sekunden. Es gibt keine Zeit mehr. Sie sieht das Bild: wie er durch Nacht und Nebel (keine bloße Buchphrase, dies »Nacht und Nebel«, wahrhaftig nicht) zu ihr fliegt. Endlich löst sie sich von seinem Mund. Sie hält seinen Kopf zwischen ihren Händen, schiebt ihn sanft zurück und betrachtet sein Gesicht, als sähe sie es zum ersten Male. Da kommt etwas wie Lähmung in ihren Blick. Es ist, als habe sie in seinen Zügen die Wirklichkeit gelesen, die ihr abhanden gekommen ist. Jäh richtet sie sich zum Sitzen auf, so daß auch er sich erheben muß. »Nein, nein, nein!« ruft sie verstört. Er setzt sich dicht neben sie und will den Arm um ihre Hüften legen. Sie schüttelt den Arm ab und wiederholt verzweifelt: »Nein, nein!« und dann: »Ich will, ich darf nicht schuld sein, daß du ihn verlierst. Ich nehme dir den Meister weg, und was bekommst du dafür, was bin ich dagegen!« Es ist ein Aufschrei. Sie bricht in schreckliches, unstillbares Weinen aus. Etzel weiß sich keinen Rat, er streicht immer nur mit der Hand über ihr Haar. – »Davon kann doch nicht die Rede sein, Marie«, spricht er zu ihr, »keine Rede davon, daß du ihn mir wegnimmst, warum denn auch? Ist ja barer Unsinn.« – Die Antwort ist ein trostloses Kopfschütteln. »Es ist Raub, es ist Verrat«, schluchzt sie, »mach dir doch nichts vor, Etzel, denk daran, was er dir ist, vergiß es nicht, laß dich nicht hinreißen, wie lange, und du wirst es bereuen, was tauschst du denn dagegen ein?« – »Das muß ich selber am besten wissen, was ich eintausche.« – »O Gott nein, ich bin doch nichts gegen ihn, ich bin ja auch keine Frau für dich.« – »Warum nicht? Warum bist du keine Frau für mich?« – »Etzel! Etzel! Sei nicht blind, sieh doch die Dinge, wie sie sind ... vierzehn Jahre Unterschied ... vierzehn Jahre bin ich älter als du.« – »Was willst du damit sagen, Marie? Unsinn ist es, das sag' ich noch einmal. Du bist gar wohl die Frau für mich. Du wirst auch meine Frau werden. Warum schaust du so erstaunt? Ja, das wirst du. Meine Frau.« Sie wendet ihm das Gesicht zu und lächelt zu dieser überraschenden Mitteilung, während ihr das Wasser aus den Augen und über die Wangen rinnt. »Dummer Bub«, sagt sie und küßt gerührt seine Handgelenke. »Ach, dummer Bub, was denn, was denn...« Zornig entzieht er sich ihr. Dummer Bub, damit kann man diese Sache nicht erledigen, es ist ihm heiliger Ernst, sie wird sich bald davon überzeugen. Sie hört ihm zu wie einem Kind, das steigert seinen Zorn zur Erbitterung. Will sie sich über ihn lustig machen? Was das Gerede über den Meister betrifft, so hat es nicht Hand und Fuß. – »Wieso nicht, sprich.« – Weil in der großen Seele des Meisters diese Möglichkeit schon lange ihren Platz hat. Es muß genügen, wenn er als gewährende Gottheit über ihr und ihm schwebt, was will sie mehr? – Maries Blick erwidert: Bist du wirklich so unschuldig oder stellst du dich nur so? – Dies empfindet er als Herausforderung, die Röte steigt ihm bis in die Schläfen, und wie ein unumstößliches Diktum verkündet er: »Wir stehen unter seinem Schutz und Schirm mit allem, was wir tun. Zweifelst du vielleicht daran?« – Marie, mit spöttischem Mitleid: »Ach, Etzel. Nicht einmal von Männern weißt du was.« – Da braust er auf. »Das dürftest du sagen, wenn ich nicht den Beweis dafür hätte.« Und klopft mit der Faust an seine Brust. – Marie zieht die Brauen hoch. »Was für einen Beweis?« – Er greift mit übertriebener Langsamkeit in die Rocktasche, zieht Kerkhovens Brief heraus und legt ihn ihr mit einer Miene finstern und bösen Triumphs auf den Schoß. Sie öffnet den Brief und entfaltet ihn. Er wartet schweigend. Sie überfliegt die ersten Zeilen und schaut zu Etzel empor. Er zuckt die Achseln und macht eine Bewegung mit dem Kinn gegen den Brief. Das soll heißen: Du siehst, er hat dich in meine Hand gegeben, wozu streiten wir. Marie senkt die Augen wieder auf den Brief. Da steht, nun wir wissen ja ungefähr, was da steht. Gütige, aber farblose Worte. Worte der Bedrängnis und der Mahnung. Da steht ferner: »Behalte Etzel so lange draußen, wie du willst, ich habe dann wenigstens das beruhigende Gefühl, daß du nicht allein bist ...« Marie erhebt sich, reißt den Brief mitten durch, die Teile noch einmal, die dann ihrer Hand entfallen. Man kann die Geste kaum mißverstehen: Wenn du es denn willst, das kannst du haben. Sie atmet tief auf, geht an Etzel vorbei und zum Fenster. Der Nebel ist jetzt ganz zart, das feuchte Buchenlaub sieht aus wie Filigranarbeit. Etzel steht am Flügel. Er beobachtet sie mit regloser Aufmerksamkeit. Nun dreht sie sich halb um und sagt entschlossen: »So muß ich eben klüger sein als er. Dazu bin ich bestellt. Er ist mir anvertraut.« Wie Etzel das hört, reckt er sich, macht eine kalte Verbeugung und geht. Fünf Minuten später rattert seine Maschine auf die Chaussee hinaus. Es muß ein Traum sein, daß er fort ist. Sie hüllt sich in ihren Schal und verläßt das Haus. Eine schwache Hoffnung läßt sie glauben, daß es nur ein Anfall von jungenhaftem Trotz war; er wird zurückkehren. Sie geht eine Weile auf und ab. Trotzdem ihr die Glieder bleischwer sind, geht sie zu den Pflanzungen und Warmhäusern hinüber. Beim Anblick eines vor dem Stall angebundenen Grauschimmels denkt sie: Warum sehen alle Pferde so komisch aus, wenn sie beim Stehen das eine Vorderbein vorstellen? Es ist ihr kalt. Überall friert sie, auch in den geheizten Zimmern. Sie versucht zu lesen, ihre Augen gleiten über die Seiten des Buchs, ohne ein Wort zu erfassen. Sie legt sich hin, es treibt sie wieder auf. Sie setzt sich ans Klavier, aber während sie auf das Notenblatt starrt, sinkt ihr Kopf auf die Brust, und sie hat ein schlafähnliches Gefühl von Lebensunlust. Sie wird zu Tisch gerufen, sie soll essen, sie kann keinen Bissen hinunterbringen. Gegen Abend zieht es sie zum Telefon, sie will sich mit Berlin verbinden lassen, unterläßt es aber. Drei- oder viermal glaubt sie das Signal zu hören, doch wenn sie ins andere Zimmer eilt, wo der Apparat steht, ist es nichts. So vergeht der Abend, vergeht die schlaflose Nacht. Im Geist schreibt sie einen langen, schmerzlich bewegten Brief und weiß doch, daß sie keinen Satz davon zu Papier bringen wird. Sehnsucht ist kein friedliches Feuer, an dem man sich behaglich wärmt, sie ist ein schlimmer Brand, der einen ausdörrt. Sie mag ihre Kinder nicht um sich haben, sie will nicht sprechen, ihr graut vor der Sonne, sie haßt den Schlag ihres Herzens, stundenlang sitzt sie am Fenster, den Ellbogen auf das Sims, die Wange auf die Hand gestützt und schaut in eine entseelte Welt. Wieder wird es Abend. Wie lang soll es noch dauern, dies sinnlose Tag- und Abendwerden? Die Pendüle auf dem Schreibtischbord meldet mit silbernem Stimmchen acht. Noch eine Ewigkeit bis neun. Eine weitere Ewigkeit bis zehn, bis elf, bis zwölf. Und doch wird es neun, und doch wird es zehn, wenn's nur schon morgen wäre. Wenn nur kein Morgen käme. Aber was ist das? Das silberne Stimmchen hat eben zehn verkündet, da fährt sie zusammen. Das zuckende Gehämmer eines Motors. Sie rennt in den Flur, lehnt sich an die Wand, drückt die Hände auf die Brust, läuft wieder ins Zimmer zurück. Lauscht, lauscht ... Frau Jänisch wird doch hören, wenn es läutet ... Da geht die Türe auf, und er steht auf der Schwelle. Ich bin da, sagt der ganze Mensch. Nicht zu leugnen, er besitzt das Genie, im rechten Augenblick dazusein ...

Um fünf Uhr morgens verläßt er sie und geht leise in den oberen Stock, wo Frau Jänisch gestern abend noch das Gastzimmer instand gesetzt hat. Im Flur brennt Licht. Er ???bös[r]findet die richtige Türe nicht gleich, zwei, an denen er die Klinke niederdrückt, sind versperrt, die letzte ist es, er tritt hinein und bleibt im Finstern stehen. Es ist ihm zumut, als befinde er sich im Innern eines Berges. Das Rauschen, das in allen finstern Räumen vernehmlich wird, klingt wie das Rauschen von fernen Wässern, die einen Ausweg aus dem Berg suchen. Urlange Zeit ist es her, daß ihn solche Stille umfangen hat, im Grund ist es ja die Stille, die rauscht. Auch das Blut in den Adern kann es sein. In dunklem Jubel strömt es zum Herzen und entströmt ihm wieder, um unermüdet zurückzukehren, nachdem es den ganzen Leib mit seinem dunklen Jubel erfüllt hat. Viele Stimmen sind im Blut, alle Liebesworte sind hineingeschmolzen. Alle Bilder und Erinnerungen der Sinne sind im Blut, so wie Salz, das sich im Wasser gelöst hat, sind sie aufgelöst im Blut. Das Mund- an Mundsein, die maßlosen Umarmungen, das brechende Auge. Die Flamme und die Erschöpfung, die Erneuerung und der holde Tod. Der Atem, der aus Liebe besteht, die Zunge, die wie eine feurige Lazerte ist, die unersättlichen Hände, der unerschöpfliche Dank im wiedererwachten Blick, das ungläubig-vertraute Flüstern, die Entdeckung des Du, wie wenn man nach vielen Irrfahrten auf einem andern Stern gelandet wäre. Er tastet sich zu seinem Bett, er will kein Licht, Licht wäre Mord, er schlüpft unter die Decke und stürzt in den Schlaf, wie ein Stein in einen Brunnen fällt. Es ist spät, als sie sich beim Frühstück treffen. Sie sprechen nicht viel. Manchmal tauchen die Blicke ineinander wie aus Versehen und flüchten dann erschrocken. »Es regnet«, sagt Marie. – »Ja, es hat die ganze Nacht geregnet«, antwortet er. – »Willst du nicht die Kinder sehen?« fragt sie. Selbstverständlich will er, auf die hat er sich schon lange gefreut. Sie gehen hinauf; bevor sie ins Zimmer treten, sucht sie seine Hand und preßt sie mit aller Kraft. Es sind frische, lebhafte Jungens, in den siebenjährigen Johann, der ein unbändiges Temperament hat und Augen wie zwei riesige Saphire, verliebt er sich gleich. Er legt sich mit ihm auf den Boden und spielt Eisenbahn und Tunnel mit ihm, seine aufgestellten Beine sind der Tunnel. Der dreijährige hat einen Schnupfen, er fürchtet sich vor dem mächtigen Unbekannten, versteckt sich hinter Aja, bohrt die Fäuste in die Augen und verschließt sich vor der Welt. Marie fährt ihm mit den Fingern durch den braunen Schopf und spricht mit ihm in betrübtem Ton wie mit einer aufgeklärten, aber zu Pflichtversäumnissen neigenden Person. Auf Johann deutend sagt Etzel: »Der sieht Ihnen ähnlich, Frau Marie, der kleine ist das Ebenbild des Meisters.« – Marie bestreitet es; Johanns Stirn, der Blick, die Figur, das ist doch so sehr Kerkhoven, daß es einem in die Augen springt, findet sie. – Etzel ist durchaus anderer Meinung, er nimmt Johann auf seine Arme und fragt mit gespielter Strenge: »Sag selbst, Junge: wer hat recht, die Mutter oder ich?« – »Du«, antwortet Johann prompt und lacht die Mutter mit schalkhafter Schadenfreude an. – »Also. Die Sache ist entschieden, Frau Marie«, sagt Etzel befriedigt und küßt den Knaben, auf den Scheitel. Marie neigt lächelnd den Kopf, ist aber nicht überzeugt.


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