Jakob Wassermann
Etzel Andergast
Jakob Wassermann

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Siebentes Kapitel

Am vierzehnten Mai, abends, brachte Kerkhoven seine Frau in die Kreisirrenanstalt. Er hatte ein langes Gespräch mit dem Direktor und ein zweites mit dem Abteilungsarzt. Sie bekam auf dem Zahlstock einen besonderen Raum, zweifenstrig, mit Ausblick auf den Garten. Als er in das Zimmer trat, um Abschied von ihr zu nehmen, saß sie am Tisch und zeichnete mit der Fingerspitze imaginäre Linien auf die Holzplatte. Sie schaute nicht empor. Er ergriff sanft ihre beiden Hände und legte sie auf seine Brust. Sie ließ den Kopf nachfolgen, mit einer Bewegung, als knicke der Hals. Er streichelte ihre Haare. »Nina«, sagte er. Sie lächelte scheu zu ihm auf. Die Fenster standen offen, Akaziengeruch wehte herein, die eisernen Gitter sahen aus wie parallele schwarze Striche, die über den schwarzblauen Himmel gezogen waren. »Vuoi portarmi fiori, Giuseppe, domani, vuoi?« murmelte sie. Er sagte, er habe veranlaßt, daß man ihr jeden Tag frische Blumen ins Zimmer stelle. Sie umklammerte ihn und schluchzte fassungslos. Sie hatte es noch nicht begriffen, das alles. Es war ein Dämmerzustand, in dem sie die Dinge erlebte. Der Arzt erschien unter der Tür und nickte Kerkhoven bedeutsam zu. Er riß sich los. Im Korridor hörte er sie noch weinen. Ihr bettelndes »Mi vuoi portarmi fiori« verfolgte ihn noch lange. Nina, Nina ...

Aber Ninas Bild wurde bald blasser als der Schatten an der Wand. Dazu bedurfte es nicht vieler Wochen oder Tage, die bloße Rückkehr in die Stadt genügte, das Bewußtsein, daß es in einer bestimmten Straße, in einem bestimmten Haus eine Frau gab, deren Atem und Herzschlag wie seine eigenen waren und mit der er verbunden war wie noch mit keinem Wesen auf der Welt. Das aber hatte nichts mit klarer und der Wirklichkeit abgerungener Erkenntnis zu tun, es war eine sehr dunkle, beinahe mystische Empfindung, gegen die sich ein unfaßliches Etwas in seinem Innern zur Wehr setzte. Warum? Welche Feigheit oder Unentschlossenheit war die Ursache? Es war elf Uhr nachts, als er in seine verödete Wohnung zurückkehrte. Und von elf Uhr bis drei Uhr morgens schritt er unablässig wie ein Militärposten durch die offenen Türen von Zimmer zu Zimmer, vom finstern Schlafzimmer durch das beleuchtete Wohnzimmer ins finstre Wartezimmer und finstre Sprechzimmer und wieder zurück, unablässig. Erst als der Himmel im Osten rot wurde, ging er zu Bett und versuchte zu schlafen. Aber schon um fünf Uhr wurde er zu einem erkrankten Kind geholt.

Ihr habt natürlich einen Liebenden zu sehen erwartet, den das Glück erwiderter Liebe freudig emporträgt. Rückhaltlos hat sich ihm Marie gegeben, ohne Einschränkung, ohne Bedingnisse, mit der hochherzigen Freiheit einer Frau, der Schenken eine Lust ist, Sichselberschenken, wenn sie liebt, eine Selbstverständlichkeit. Sich aufheben, sich verheißen, sich kostbar machen, das kennt sie gar nicht, davon weiß sie nichts, sie ist von allen Künsten so weit entfernt wie von bürgerlichen Ängsten, und wenn man ihr von Strategie der Leidenschaft spräche oder den Gefahren der Sorglosigkeit, wäre sie erstaunt und verletzt. Ihre Seele ist darin so offen wie der Himmel und so einfach wie ein Quell. Der Untergrund ihres Wesens und die Atmosphäre ihres Lebens ist Zärtlichkeit, und aus der Zärtlichkeit wird das Lächeln geboren, mit dem sie ihren Körper der Liebe überläßt. Nicht viel anders, als wenn ein Vogel seine Schwingen ausbreitet, um sich der Luft anzuvertrauen. Wird er sich vorher besorgt nach der Temperatur erkundigen und was morgen für Wetter sein wird und was die übrigen Nestbewohner davon denken werden?

Das ist es ja, was Kerkhoven so bestürzt macht. Sein Tun ist von Verantwortung belastet, seine Gedanken, seine Entschlüsse, seine Gefühle. Es ist eine wahre Düsternis, moralische Kettenhaft, Abhängigkeit von dem Richtertum des nie schlummernden Gewissens. Böses Gewissen in Permanenz. Aber damit, will uns scheinen, ist noch wenig gesagt; oberflächliche Andeutung eines Zustandes, dessen Entwicklung bis in die Knabenjahre zurückreicht. Wenn er als Kind von der Liebe zwischen Mann und Weib gelesen hat, ist ihm dies etwas Heiliges gewesen, umhüllt von Romantik und Geheimnis und nur auserlesenen Geschöpfen beschieden. Im Maß wie die Sehnsucht erdgebundener wurde, der reine Traum von sinnlichen Wünschen umflort, verwandelte sich das Geheimnis in die Heimlichkeit und das Heilige in die Lockung des Teufels. Daran hatte die Epoche ihren Anteil, das Leben in der Provinz, die Dürftigkeit der Lebenslage, die geistige Verdorrung und die verlogenen Konventionen der Bürgerwelt am Ende des Jahrhunderts. Ein Erlebnis wie das mit dem Epileptiker Domanek wäre sonst nicht möglich gewesen. Der Einfluß davon war verhängnisvoller, als er es Irlen gestanden, vielleicht weil er nicht einmal die ganze Tragweite ermessen konnte, so umfassend kann sich ein Mensch gar nicht sehen. Und er hatte vieles verschwiegen, was zu bekennen den Mut jedes Mannes übersteigt. Wozu auch, es geht gegen die Scham, die das Rückgrat des Selbstbewußtseins ist. Zwischen seinem fünfzehnten und einundzwanzigsten Jahr hat es Zeiten gegeben, wo er in Qualen durch die abendlichen Gassen gewandert ist, um vor jedem beleuchteten Fenster stehenzubleiben und mit brennenden Augen das Spiel der Schatten auf den Vorhängen zu betrachten. Seine Phantasie gaukelte ihm das Ungeheure vor, das Verschwiegene, das Heimliche, das Sündhafte. Es gab ein Fenster in der elterlichen Wohnung, von wo er mit Hilfe eines der Mutter entwendeten Opernglases und von der Nacht beschützt stundenlang in die gegenüberliegende Wohnung eines Ehepaares zu schauen pflegte, von einer schmerzlichen, unreinen Neugier besessen, jede Miene, jede Regung, jeden Blick der beiden Menschen beobachtend, in herzklopfender Erwartung des Heimlichen, des Sündhaften, an dem auch seine Augen zu Sündern werden mußten, wenn es sich ereignete. Alles so nah, daß man hätte hinüberrufen können, und doch eine ferne Welt, wie ein Vorgang auf dem Mond, fremde, banale Leute, aber verzaubert durch eine sinnliche Vision in einem mönchischen Gehirn. Er verabscheute Laster und Ausschweifungen, aber er kannte ihre Stätten, und sie zogen ihn unwiderstehlich an. Eine Frau verehren, das hieß sie meiden; von ihr träumen, das war schon viel, sie im Traum umarmen Verbrechen. Liebe war das Heilige, die Sinne erniedrigten und zerstörten es. Man kann nicht im Unwirklichen existieren, die Engel kann man nicht besitzen, der Körper ist ein Tier, also muß man dem Teufel geben, was des Teufels ist. Das ist der Mann mit der Erbsünde, dem aufgetragen ist, daß er jedes Glück zu bezahlen, das heißt zu büßen hat, der nicht wagt, an sein Herz zu glauben, der sich immer ein wenig fürchtet, zu lachen, und der vom Schicksal niemals eine Gunst und Freundlichkeit erwartet, sondern sich von vornherein zitternd vor ihm duckt wie vor dem Basilisken, dessen Blick erstarren macht und dem gegenüber man sich am richtigsten verhält, wenn man seine Aufmerksamkeit nicht auf sich lenkt.

Das war die Anlage. Leben und Erfahrung hatten sie in mannigfacher Hinsicht gemildert und die Schroffen abgeschliffen. Der ärztliche Beruf ist wie kein anderer geeignet, die Ausgleichung des Gegensätzlichen zu bewirken. Vor dem Krankenbett und vor dem Leichnam hat nichts mehr Bestand, nichts mehr Gültigkeit, kein Brauch, kein Gesetz, kein Vorurteil, keine Leidenschaft, keine Religion. Alles wird Menschenprodukt, hat sein karges menschliches Maß und seine flüchtige menschliche Dauer. Kerkhoven hat in so viele Seelenabgründe geblickt, daß der eigene für ihn an Interesse verloren hat, er ist sozusagen vom Leid und der Not der andern angefüllt worden und daher nur noch vorhanden, wie das Becken eines Sees als Abgrund vorhanden ist, das Wasser schließt ihn und macht ihn unsichtbar. Er hat so viele Formen und Arten der Liebe kennengelernt, wie es Worte gibt, um sie zu bezeichnen. Sie waren vergänglich, alle; keine war, von außen betrachtet, was sie denen zu sein schien, die sie hegten. Eine sterbliche Illusion, abhängig von Glücksgütern, von der Blutbeschaffenheit, von der Epidermis. In dunklen Stunden war man versucht, an eine pathologische Entartung gewisser Drüsen und Nerven zu glauben, die Hypothese war nur zu platt und zu mißbraucht, ihr Zynismus hatte nichts Verführerisches mehr. Die Ehe mit Nina kam dazu, sie hatte nach allerlei Schwankungen und Rückfällen zu einer Versöhnung zwischen oberer und unterer Welt geführt, Friedensschluß unter Garantie des Behagens und der geregelten Ernährung und unter Verzicht auf alles, was mit Traum und Traumwesen zu schaffen hat.

Obschon Marie dies alles nicht weiß, ist das Gefühl für ihn so tief und das Bild, das sie in ihrer Vorstellung von ihm hat, so fest umrissen, daß nichts an ihm sie zu überraschen vermag, was er auch tut oder unterläßt. Es ist wie eine Inspiration, durch die sie jede Regung in ihm kennt bis auf den Grund seiner Seele hinab. Noch nie hat sie einen Menschen so gewußt, oft ist ihr zumut, als hätte sie ein früheres Leben mit ihm gelebt, aber nicht zu Ende gelebt, die eigentliche Erfüllung sollte erst in diesem kommen. Dadurch, so dünkt ihr, war sie vorbereitet. Dadurch konnte sie ihm sein, was ihm eine Frau sein mußte. Sie hat viel darüber nachgedacht. Als sie ihr Herz geprüft und ihren Entschluß gefaßt hatte, war diese stürmische Bereitwilligkeit über sie gekommen, Jubel beinahe, ihm zu dienen. Ihre Wünsche gingen bis an jene Grenze, wo das Herz, trunken von ihnen, sich mit übermenschlichen Kräften begabt fühlt. Aber sie war nicht die Person, die sich in einen Rausch verliert. Sie sah außerordentlich klar. Sie wußte, daß sie wie ein Auswanderer handelte, der seinen ganzen Besitz wegwirft, um im Ungewissen ein ungewisses Glück zu suchen. Keine Spur von Bedauern war in ihr. Während sie in ihrem Innern alle Entscheidungen traf, schien sie sorglos, wie im Spiel. Kerkhovens Andeutungen über die Zukunft ergötzten sie, sie tat, als ließe sie sich treiben. Vorläufig wollte sie nichts weiter sein als seine Geliebte. Mit geschlossenen Augen, ganz, ganz still. Es war ein wunderbarer Enthusiasmus in ihr, der ihn erschütterte.

Sie täuschte sich nicht darüber: erschüttern konnte sie ihn, mitreißen nicht. In den meisten menschlichen Beziehungen liegt ein Krankheitsstoff, der unter günstigen Umständen nicht zum Ausbruch der Krankheit zu führen braucht, er enthält nur die immanente Gefahr; so bildete sich an diesem Punkt der zerstörerische Keim, der viele Jahre später virulent werden und das gesamte Gefüge der Existenz auseinanderreißen sollte. Seine Dunkelheit, seine Schwere, seine Erd- und Taggebundenheit erregten ihr schmerzliches Mitleid, sie spürte, was dahinter lag, die freudlose Jugend. Er ließ es ja nicht über sich Herr werden. Es gibt Männer, die in einer großmütigen Veranlagung alles, was sie durchgelitten haben, mit Vergessenheit bedecken, sie stoßen es kraftvoll ins Ungewußte hinunter, entschlossen mit jedem Heute wie mit einem ehrenhaften Gegner zu verhandeln, von dem man sich keines feigen Hinterhalts versieht. So setzte er beständig seine mächtige Natur ein, um die kleinen Tücken und Verrätereien des Lebens zu paralysieren, gelassen und geduldig, aber niemals froh und niemals innerlich ruhig. Die Leidenschaft, mit der er Marie umfing, war eine Form von Betäubung, ein finsteres Element, vor dem sie bisweilen erschrak. Und doch war er so zart, so rücksichtsvoll, so fürsorglich, fast wie eine Frau. Wunderlicher Widerspruch. Erst nach und nach vermochte sie ihn zu lösen. Ein Wort, das ihm entschlüpfte, eine scheue Frage, das Bruchstück eines Geständnisses halfen ihr. Ihre Sinne und ihr Verstand nahmen alles, was ihn anging, mit Begierde auf, sie konnte Stunden und Stunden damit hinbringen, über eine Eigenschaft von ihm, einen Ausspruch, einen Blick oft nur, ernstlich und gesammelt nachzudenken. Wovor bangte ihm? Wovor verkroch er sich? Immer die Gebärde, als müsse man die Türen verrammeln und die Fenster verhängen, wenn sie bei ihm weilte. Wenn er dasteht und seine Augen flüchten ins Leere, erinnert er nicht an einen ungetreuen Diener, der in den Kleidern seines Herrn auf den verstecktesten Platz im Theater geht und jeden Augenblick erkannt zu werden fürchtet? Es ist ein erstohlenes Glück, er hat es nicht verdient, er kann es nicht bezahlen. Eines Tages wird der Gläubiger erscheinen und ihm die Rechnung vorhalten, und dann? Oh, sie begreift, was es ist, ihr Herz zieht sich zusammen, sie ahnt die Schwierigkeit ihrer Aufgabe, wieviel muß sie ihm sein, um dieses Gift in seinem Blut zu löschen, darin liegt wohl auch die geheimnisvolle Bestimmung, daß sie ihn lieben muß, sie, die aus der Menschen Welt kommt, wo alles hell und weit ist ...

Ihre heitere Unbefangenheit erscheint ihm oft wie Herausforderung. Sie hat keine Angst vor Entdeckung. Es fällt ihr nicht ein, Vorkehrungen zu treffen und Umwege zu wählen. Sie ist nicht blaß und atemlos, wenn sie kommt. In ihren Zügen ist keine lüsterne Spannung, kein aufgeregtes Komplicenlächeln, kein böses Gewissen, nichts, nichts, nur Freude. Sie trägt den Kopf frei, was sie tut, ist das Natürliche, das Angemessene. »Was bist du denn für eine«, fragt er beklommen, »fürchtest du dich denn gar nicht? Du bist ja ganz aus der Art ...« Ihre Liebkosungen zaubern die nervösen Schatten von seiner Stirn weg, aber wenn sie sich voneinander trennen, hat er das Gefühl sträflicher Pflichtversäumnis und stürzt sich in die Arbeit, als stünde schon der Rächer mit der Peitsche hinter ihm. Sie leidet darunter, sie will ihn nicht so bebürdet sehen, sie möchte den Krampf in ihm lockern, die Besessenheit von ihm nehmen, sie können alle warten, sagt sie, laß dir doch Zeit, du bist der Herr in deinem Leben; und umklammert bittend mit ihren beiden Händen seine rechte. Er schüttelt den Kopf. Nein, er hat keine Zeit. Es macht den Eindruck, als müsse er das ganze Leben mit einem einzigen Bissen hinunterschlingen. »Aber«, seufzt er, »du weißt ja nicht ... dort, wo du bist, was weiß man denn dort ... du hast es ja nie erfahren ... du kennst nicht die Not, keine geistige, keine leibliche ... du hast in einem Rosengarten gelebt ... das ist es ja ...« – »Was, Joseph, was«, drängte sie, »nur die hungern, können mitreden? Nur die Not gibt dem Menschen seinen Wert? Das willst du doch nicht sagen?« – »Nein. Das nicht. Ich meine, was aus uns werden soll ...« Ihr stolzes, sorgloses Lächeln beschämt ihn. Aber was ihn nachhaltig bedrückt, ist der bevorstehende Kampf. Die Heimlichkeit muß ja nun enden. Sie dürfen sich nicht wie unwissende Kinder aufführen, die eines Tages bei verbotenem Spiel ertappt werden. Was die der Welt vorenthaltenen Stunden der ersten Leidenschaft entschuldigt, wird gräßlich und unredlich, sobald sich, wie es hier geschieht, oder ihnen geschehen ist, der Anspruch auf einen Lebenszustand daraus erhebt. Das ist Kerkhovens Gefühl. (Zehn Monate früher, bevor er Irlen kannte, hätte er wahrscheinlich nicht so streng geurteilt.) Es ist auch Maries Gefühl. Aber etwas in ihr widerstrebt der Preisgabe. Als solle sie eine glückliche Insel verlassen, um ernüchtert ins Menschengewühl zurückzukehren. Es gebrach ihr nicht an Mut, sich zu stellen, es tat ihr nur leid um das Schöne, das nun dem Bittern und Traurigen zu weichen hatte. Wenigstens für lange Zeit.

Kerkhoven fand, daß er sich vor allem Irlen eröffnen müsse. Er habe schon viel zu lange gezaudert. Der Mann habe ihn aufgenommen wie einen Bruder, dafür habe er ihn schmählich hintergangen, sei in sein Haus eingebrochen wie ein Dieb in der Nacht und habe seine Freundschaft mißbraucht. So stehe doch die Sache, von der andern Seite angesehen, man dürfe sich nichts vormachen. Marie schaute schweigend zu Boden. Die »blassen Blumen« hatten einen Ausdruck melancholischen Besinnens. In der abbrechenden Geste, die sie machte, lag die Bitte: nicht so harte Worte, nicht richten, nicht klein werden ... Sie dachte an Ernst. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er es aufnehmen würde, wie er es ertragen sollte. Sie sah sein Gesicht mit der reinen, schmalen Stirn, dem bis zur Schwärze erloschenen Blick hinter den Brillengläsern, die schlaff herabgesunkenen Arme mit den Händen eines alten Fürsten. Er wird ihr nicht sagen: du hast mein Leben zertrümmert, Marie, aber sie wird vom ersten Augenblick an wissen, daß es so ist. Und Aleid? Und Aleid? Sie kann nicht in ein neues Leben gehen ohne ihr Kind. Da ließe sie das alte zu keiner Stunde los. Sie muß das Kind haben. Aber wie, wenn sie kein Anrecht besitzt? Man wird ihr zu verstehen geben: Wie kannst du ihm eine gute Mutter sein, da du eine schlechte Gattin warst? Was in aller Welt sollte Ernst zum Verzicht bewegen und zur Großmut stimmen? Weder er noch die alte Dame, noch Johann Irlen würde für ein solches Verlangen etwas anderes übrig haben als ein Achselzucken. Ja, auch Irlen. Bei dem Gedanken an ihn wird ihr weh, sie legt die Wange in die flache Hand wie ein kleines Mädchen, das gescholten wird. Kann sie denn das Haus verlassen, solang er dort krank liegt, ist das denkbar? Wäre es nicht eine widrige Lieblosigkeit und Selbstsucht? Diese Erwägungen überfielen sie wie eiskalter Regen auf einer Landstraße, es war so verwirrend, so trostlos plötzlich, daß sie sich vorbeugte und mit den Händen das Gesicht bedeckte. Kerkhoven schlang die Arme um ihre Schultern. »Nicht, Marie, nicht«, beschwor er sie, küßte ihr Haar und versuchte sanft, ihre Hände von den Augen wegzuziehen. Aber sie hob von selbst den Kopf. Sie lächelte schon wieder. »Sei mir nicht böse«, sagte sie mit dem strahlenden Lächeln, »ich bin dumm. Manchmal ist man ein bißchen dumm.« Sie sah ihn mit jenem offenen Kameradenblick von gleich zu gleich an, der so charakteristisch für sie war. »Du hast recht, Lieber«, sagte sie, »ihm bist du die Wahrheit schuldig.«

Kerkhoven erinnerte sich an folgendes. An dem Abend, an dem er Nina in die Anstalt gebracht hatte, war er noch bei Irlen gewesen, Irlen wußte, woher er kam. Marie hatte es ihm mitgeteilt. Er sprach kein Wort über das Geschehene. Sein Händedruck enthielt alles, was er hätte sagen können. Er war darin der zartesten und eigentümlichsten Nuancen fähig. Im allgemeinen liebte er nicht das viele Einander-die-Hand-Reichen, namentlich nicht bei täglichem Verkehr, doch wenn sich ein besonderer Anlaß bot, wurde die bei den meisten Menschen so leere Geste ein ausdrucksvolles Zeichen, für Verschiedene verschieden. Kerkhoven entsann sich der wohltuenden Empfindung eines Halts und Anhalts, als Irlen seine Hand umfaßt hatte, den Daumen wie mit besonderer Versicherung anpressend, und drei oder vier Sekunden lang die gesenkten Augen auf ihren verschlungenen Händen hatte ruhen lassen. Das schweigsame Mitgefühl, das sich darin kundgegeben, hatte ihn beschämt, ungeachtet seines Kummers um Nina, schon an jenem Tag war ihm sein eigenes Schweigen wie Verrat erschienen. Heute, da er den Verrat einbekennen sollte, trat er den Weg zum Freund mit schwerem Herzen an.

Er stellte die gewöhnlichen Fragen, nahm die Temperatur ab, prüfte den Verlauf der Fieberkurve auf dem Zettel, der über dem Bett hing, dann setzte er sich Irlen gegenüber, und mit einem Gesicht, das im Sprechen verfiel, sagte er: »Ich habe eine private Angelegenheit vorzubringen, Irlen. Eine Sache, die mich seit einiger Zeit bedrückt. Nicht an sich bedrückt, nein. Sondern weil sie sich hinter deinem Rücken abgespielt hat. Ich habe einfach nicht den Mut aufgebracht, dich ... es handelt sich um etwas, das entscheidend für mein Leben ist ... und nicht für meines allein ... es ist ... kurz und gut: Marie Bergmann und ich, wir lieben uns und sind gesonnen, alle Konsequenzen daraus zu ziehen.« Er riß das Taschentuch heraus, wischte sich die Stirn, bog den Rumpf bis zu den Schenkeln herab und nickte ein halbes dutzendmal pagodenhaft mit dem Kopf. Da Irlen keinen Laut von sich gab und die Stille auf beunruhigende Weise andauerte, blickte er endlich wieder empor. Irlen saß in steinerner Unbeweglichkeit auf seinem Stuhl. Er schaute geradeaus gegen die Tür, die Pupillen schienen starr, das Blau der Augen schimmerte ins Grünliche. Die Unterlippe war ein wenig herabgesunken und machte wie bei einer japanischen Maske aus dem Mund einen offenen Spalt. Bestürzt sprang Kerkhoven auf und wollte sich ihm nähern. Da erhob er aber langsam den Arm. Kerkhoven blieb stehen. »Laß nur«, murmelte Irlen, »nichts ... es geht vorbei. Nein, ich will nicht liegen. Nicht ... nicht sprechen. Laß. Bemüh dich nicht.« Kerkhoven sah sogleich, daß hier keine Krankheitswirkung vorlag. Um so betroffener war er. Er ging zum Kamin, stützte den Arm auf den Bord und wartete. Er starrte auf das Zifferblatt der Uhr und konnte das Vorrücken des großen Zeigers verfolgen. Sie hatte ein schönes Gehäuse aus getriebenem Silber, auf dem Amoretten lagerten. Auf einmal, wie um einen Ausruf zu unterdrücken, preßte er die Hand an den Mund, in seine Augen trat eine beinahe kindliche Überraschung, aber eine von der schmerzlichsten Art. Und dieser Schmerz oder das Bedauern oder was es war galt nicht bloß Irlen, auch ihm selbst, seiner Unwissenheit und Verständnislosigkeit, als Arzt und als Mensch. Es ging ihm lange nach. Es dauerte Tage, bis er wieder einigermaßen ins Gleichgewicht kam. Was für ein Schwachkopf man ist, grollte er in sich hinein, roh, dickhäutig, ahnungslos, als hätte man zeitlebens nur mit der Heugabel zu tun gehabt; weiß nichts vom Menschen, von Tod und Teufel nichts und macht ein Riesengetue von seiner Kenntnis und Erfahrung, statt das Maul zu halten und zu lernen, miserabler Idiot, auf Knien zu rutschen und zu lernen ...

Indessen hatte sich Irlen gefaßt. Das Gesicht hatte wieder Farbe, nur auf der Stirn lag ein eisengrauer Ton, sie sah aus wie mit einer Tinktur bestrichen. »Es ist zum Verzweifeln«, klagte er, »nachgerade kommt mir alle Fähigkeit abhanden, die gewissen kleinen Anfälligkeiten im Keim zu unterdrücken. Vor kurzem könnt' ich's noch. Jammervoll. Es scheint, es hapert mit den Reserven.« Kerkhoven gab keine Antwort. »Ich denke, du läßt mich jetzt allein, Joseph«, fuhr er mit veränderter, freundlich-bittender Stimme fort, »es ist besser so. Vielleicht auch morgen. Ich werde telefonieren lassen. Du bekommst Nachricht. Auf alle Fälle.« – »Nun, gute Nacht, Irlen«, sagte Kerkhoven. – »Gute Nacht, Joseph.« Als Kerkhoven die Tür hinter sich zugemacht hatte, sagte Irlen bitter vor sich hin: »Ngaljema zieht den roten Kittel an.«

Ungefähr zur selben Zeit saß oben Marie vor dem Flügel, in sich hineingebückt. Ihre rechte Hand ruhte auf der Klaviatur, bisweilen drückte sie mit einem Finger eine Taste nieder, a oder c, dann erschrak sie über den schwachen Ton in der Einsamkeit des Zimmers und senkte den Kopf noch tiefer. Endlich stand sie auf, ging zur Tür, die in die Bibliothek ihres Mannes führte, und lauschte. Es war ganz still drinnen, sie öffnete leise und spähte hinein. Nichts zu hören. Finster. Da wurde sie von Angst ergriffen, tastete nach einem der Schalter, ein Eckenlicht in einer Bronzekerze flammte auf, und bei dessen Schein sah sie Ernst auf der Ottomane liegen, den Kopf in Kissen gewühlt, den Rumpf so zusammengebogen, daß es aussah, als habe man einen Haufen Kleider hingeworfen. Ungewöhnlicher Anblick bei einem Mann, der sonst die Beherrschtheit selbst war, dessen korrekte Haltung eher an einen Offizier in Zivil als an einen jungen Gelehrten denken ließ. Marie stand wortlos da; die Arme über der Brust gekreuzt, wagte sie kaum zu atmen. Was sollte sie tun? Was sollte sie sprechen? Es war ja alles so unsinnig, was für Worte gab es denn, welchen Trost, der bloße Versuch, solche Verzweiflung zu mildern, deren Ursache man selber war, hatte was seltsam Eitles, sie bebte zurück davor, es machte sie auch so schuldig, und sie konnte sich nicht schuldig finden. Seine Brille lag auf dem Teppich, dies rührte sie, es war, als hätte er sich freiwillig des Zeichens seiner Würde begeben und sei dadurch doppelt hilflos und mitleidswert. Sie setzte sich zu ihm und streichelte zaghaft seinen Kopf. Sie begann zu reden. Was ihr gerade in den Sinn kam, nicht viel Verständiges, nur so eben, daß er ihre Stimme hörte und nicht glaubte, sie empfinde nicht mit ihm. Immer das nämliche: der Irrtum, in dem sie sich befunden, er und sie, als sie die Ehe geschlossen. Sie hätten einander mißverstanden und jeder sich selbst. Nur Freundschaft hätte es sein dürfen, wie es ja jetzt noch Freundschaft sei, von ihrer Seite wenigstens die innigste, und nichts wünsche sie sehnlicher, als daß er sie auch weiterhin als seine beste Freundin betrachte, die allerergebenste, allerdankbarste. Und so weiter. Er machte eine unmerklich verneinende Bewegung mit dem Kopf. Doch, Ernst, doch, beharrte sie in schwesterlichem, naiv-schmeichelndem Ton, er müsse sich nur langsam an den Gedanken gewöhnen, den andern Gedanken aber gar nicht in sich laut werden lassen, er habe ihr unsäglich viel gegeben, ihr Herz sei ganz erfüllt davon, es seien so wunderbar schöne Jahre gewesen, die sie miteinander verlebt, nie werde sie's vergessen, warum müsse es denn gerade das eine sein, diese eine besondere Liebe, die sei ihnen eben nicht beschieden, sie habe es immer schon gewußt, erst dunkel und zweifelnd, dann klar und unabänderlich. Und so weiter. Törichte Argumente im Grund. Zärtliche, humane, der Situation angemessene, aber ihr Ziel verfehlende und auch nicht ganz aufrichtige Argumente. Der Sieger ist nie ganz aufrichtig, nur weiß er es nicht, wenn er schonen will. Ernst konnte der eifrigen Trösterin das Wort entgegenwerfen, das sie für den Augenblick verstummen machte. Wie ein Stöhnen aus einer Höhle klang's: »Und das Kind?« Sie zuckte zusammen. Sie war darauf gefaßt. Oh, er mußte nicht so tun, als würden alle Kinder, die geboren werden, von liebenden Gatten in die Welt gesetzt, es war ein Schmerzensschrei, und nicht ganz ehrlich, denn auch der Schmerz hat seine Winkelzüge, aber Marie wollte nichts erwidern, der Gedanke an Aleid schnitt ihr in die Seele. Ihre brennende Erwartung (mehr als Erwartung, Gewißheit fast, weil alle göttlichen und menschlichen Rechte und die Überzeugung von der Noblesse des Mannes sie in dem Glauben befestigten), ihre Zuversicht, daß das Kind ihr gehören würde, konnte jetzt nicht erörtert werden, im ersten Aufruhr der Gefühle. Sie schwieg lang. Leidvoll starrte sie vor sich hin. Da war es nun, das Zerrüttende, das viel zu früh die Blüten abschor. Sie dachte an ein Gespräch, das sie vor ein paar Tagen mit Kerkhoven gehabt. Gleichsam, um sie auf die Probe zu stellen, hatte er wie beiläufig bemerkt, sie werde in dem Kampf schließlich erlahmen. Da kennst du mich schlecht, hatte sie geantwortet, Widerstand macht mich stärker, aber, hatte sie leiser hinzugefügt, man braucht dazu ein Gewissen, das muß so weiß wie Schnee sein. Und er: Du siehst so eigentümlich aus, hast du denn das schneeweiße Gewissen nicht? Nicht ganz, nicht ganz schneeweiß, war ihre Entgegnung gewesen, ich hätte ihm schon damals sagen müssen, wie es mit mir stand, du weißt, was ich meine, und ich habe es nie gesagt, auch nicht, als du's förmlich von mir verlangt hast, von mir erwartet hast. Warum nicht? Kannst du mir's erklären? Und er darauf: Sicher nicht, weil du zu feig dazu warst, du bist nicht feig, du hast nur nicht das Gefühl gehabt, das dich heute zwingt, du hast ihm ja nicht geraubt, was du ihm heut raubst, hätte er denn den Unterschied sehen können? Nein; er hätte es genauso schwer genommen, und dir war' zumut gewesen wie einem Kind, wenn es für eine Notlüge ebenso hart bestraft wird wie für einen Diebstahl; es stand nicht im Verhältnis, hab' ich recht? Da war sie ihm mit einem kleinen Jubelschrei an den Hals geflogen und hatte ihn mit einer Glut geküßt wie nie vorher. Ja, es war so, wie er es gesagt hatte, der liebe große Mensch; und doch, etwas stimmte daran nicht, schneeweiß war das Gewissen doch nicht. Wiewohl sie wußte, daß sie das Unglück dieses Mannes, der da so maßlos elend vor ihr kauerte, durch ein umfassendes Geständnis nur noch vermehrt hätte, wünschte sie in einer selbstquälerischen und leidenschaftlichen Verstrickung, daß sie ihm alles gebeichtet hätte. Vielleicht, um ihm vor Augen zu führen, daß nicht nur das Glück mit einem andern, sondern auch das Grauen und der Selbstverlust an der Seite eines andern sie auseinandergerissen hatten. Aber sie unterließ es. Man kann nicht noch mit einem kleinen Hammer zuschlagen, wenn man den großen schon weggelegt hat. Es war eine schwüle Nacht, Anfang Juli, die Fenster standen offen, bisweilen erscholl im Garten ein schwacher Vogelruf, fette Falter flatterten um das Licht. Weder Marie noch Ernst dachten an Schlafengehen; mit dem Vorrücken der Stunden faßte sich der junge Mensch halbwegs, er vermochte wenigstens seine Lage zu überdenken, sich darein fügen konnte er nicht, alles in ihm bäumte sich gegen die Vorstellung, daß er Marie verlieren sollte, es ließ sich nicht zu Ende denken, zwischen Verzicht und Entbehrung war schon keine Brücke mehr, Verzicht, einmalige Handlung, an der ein Schimmer von Heroischem lockte, Entbehrung, tödlicher Zustand, der das Leben vereiste. Was waren Heim, Beruf, Arbeit, was Bücher, Ideen und Pläne, wenn er Maries Schritt nicht mehr hören, ihr Lächeln nicht mehr sehen, die Berührung ihrer Hand nicht mehr fühlen durfte, wie den Tag beginnen, wenn sie nicht da war, wie den Abend ertragen. Das lag in seinen stumm-entsetzten, ohne Brille wie blind aussehenden Augen, als er den Kopf in ihren Schoß schmiegte und in dumpfes Schluchzen ausbrach. »Ach, liebster Ernst«, sagte Marie bloß, »liebster Ernst.« Als er sich satt geweint hatte, setzte er sich auf, nahm ihre Hand, strich sacht drüber hin, und ohne sie anzuschauen sagte er mit heiser gewordener Stimme, es sei ihm klar, wie unvernünftig und unmännlich er sich betrage; verrückt, daß er die Möglichkeit, sie könne von ihm gehen, nie im geringsten erwogen, nicht einmal in bösen Träumen befürchtet habe. Warum? Weil er nie an sich irre geworden sei; weil er das ihm vom Schicksal Gewährte als etwas ihm Gebührendes betrachtet habe, ein Privileg sozusagen. »Eine tolle Unbescheidenheit, und in der bin ich erzogen worden«, fuhr er selbstfeindlich fort; »das Gute kommt einem von Rechts wegen zu, am Übel ist ein Schlamperei der Vorsehung schuld, und man ist das Opfer. Kein Los ist so verdient wie das von der Hybris geschaffene. Geh nur deinen Weg, Marie, du bist zu Besserm bestimmt als zur Lebensgefährtin eines staatlich besoldeten Philosophen, der mit seiner Philosophie wie ein Narr dasteht, wenn sie ihm helfen soll zu leben.« Dann, mit fast irren Blicken: »Vielleicht dauert die ganze Herrlichkeit überhaupt nicht mehr lang. Ich hab' ein Gefühl wie vor einem Erdbeben. Gestern abend, wie wir zusammen unten im Garten waren ... es regnete förmlich Sternschnuppen ... man sehnt sich nach Vernichtung ... vielleicht gibt es Krieg, es hat ja allen Anschein ... immerhin, es wäre ein Ausweg.« Er lachte leise, wie schadenfroh, mit gebleckten Zähnen, das blasse Zahnfleisch sah aus wie etwas Totes im Mund. Marie verspürte einen Schauder. Es wurde nicht still in ihm, er mußte reden, reden. Zaghaft äußerte er, sie werde doch nicht von heut auf morgen aus dem Haus gehen. Er will ihren Entschluß nicht antasten, in keiner Weise, aber sie soll nichts überstürzen. Es braucht alles Zeit, vieles muß geordnet werden, man will es doch friedlich und anständig ordnen, ohne Hast. Er wird sie nicht stören, ihr nicht lästig fallen; wünscht sie es, so wird er für ein paar Wochen verreisen, es sind ja bald Ferien, vielleicht klärt sich unterdessen manches in ihr. Marie schüttelt verwundert den Kopf. Er hat noch Hoffnung, dachte sie, er weiß noch immer nicht, was es ist, glaubt, es geht vorüber wie eine Krankheit. Im Hinblick auf die nächste Zukunft beruhigte sie ihn. Natürlich denke sie nicht an sofortige Veränderung, sie so wenig wie Kerkhoven. Für ihn wie für sie bestünden Pflichten, die jede Übereilung ausschlössen. Wie sich ihr Verhältnis zu Irlen jetzt gestaltet habe, könne sie ihn nicht im Stich lassen, und wenn sie einmal mit Kerkhoven auch äußerlich verbunden sei, könnten sie hier in dieser Stadt nicht mehr bleiben. Ein Ausdruck von Erleichterung zeigte sich in seinem Gesicht. Da sie ihn so weich und nachgiebig sah, hielt sie den Augenblick für gekommen, die Schicksalsfrage zu stellen, und während ihr Herz wie ein Motor klopfte, sprach sie mit einer Stimme, die sie selber nicht vernahm, von Aleid. Er werde ihr doch das Kind nicht streitig machen ... darüber brauchten sie doch nicht erst zu verhandeln ... damit stehe und falle sie ja ... sie beide seien doch nicht Menschen, für die das einen Anlaß zu Auseinandersetzungen geben könne. Ernst hob sinnend die Augen zu ihr. Er erkannte die schwache Stelle ihrer Position. Eine Sekunde lang schien es, als denke er daran, den Vorteil auszunützen. Seine Stirn bedeckte sich mit feiner Röte. Gleich darauf, wie erschrocken, schlug er die Augen nieder und sagte bedrückt: »Mach dir keine Sorgen, Marie. Das Kind muß bei dir bleiben. Das versteht sich von selbst.« Marie stand rasch auf, trat zum Fenster und faltete heimlich die Hände.

Sie hatte den Mächten zu früh gedankt. Wohl war Ernst gesonnen, seine Zusage zu halten, allein er hatte nicht mit dem Einspruch der Senatorin gerechnet. Die alte Dame hatte schon seit einiger Zeit Unheil gewittert. Sie hatte scharfe Augen und wußte zu beobachten, obwohl sie sich immer neugierig-ahnungslos stellte wie ein junges Mädchen, das frisch aus dem Pensionat kommt, und mit der stereotypen Leutseligkeit einer Herrscherin die Menschen ihrer Umgebung darüber täuschte, daß sie sich über jeden einzelnen eine ziemlich richtige Meinung bildete. Ihr Mißtrauen gegen Marie war nie ganz eingeschlummert, ihr Gefühl war immer gewesen: die Person hat's hinter den Ohren, ihre Artigkeit und ihr offener Blick, damit behext sie bloß die Leute. Auf Kerkhoven war sie ohnehin nicht gut zu sprechen; »es ist wahr, er gibt sich jetzt Mühe, einen guten Eindruck zu machen«, sagte sie, »aber die schlechte Kinderstube kann einer nicht loswerden, das steckt im Blut, deshalb wird er auch nie auf einen grünen Zweig kommen, und wenn er so bedeutend wäre wie Virchow.« Sie war einmal am Fenster gestanden, als die beiden das Haus verließen. Die Haltung Maries, die Kopfwendung; da war eine offensichtliche Intimität. Ein andermal war sie vom Garten in den Treppenflur getreten, als beide in leisem Gespräch die Stiege herunterkamen. Im Moment, wo sie sie bemerkten, hatten sie geschwiegen. Der Senatorin war es nicht entgangen, keine Miene, keine Gebärde. Dann waren ihr allerlei Gerüchte zugetragen worden, die Bekannten fingen an zu tuscheln, die Dienstmädchen hatten unverschämt-wissende Gesichter, wie es eben geht. Bisweilen dachte sie daran, den Enkelsohn zu warnen, aber sie traute sich nicht recht, auch war ihre Natur zu passiv dazu. Sie liebte nicht »Affären«. Sie war für den Frieden, für glatte Oberfläche, für einen reibungslosen Tag. Wenn sie morgens aus ihrem gesegneten Schlaf erwachte und sich die Schokolade ans Bett servieren ließ, mußte sie sich sagen können: Es kann mir nichts Unerfreuliches zustoßen. Wenn sie dies Bewußtsein hatte, war sie strahlender Laune; wenn es fehlte, war sie indigniert und grollte mit aller Welt. Man konnte also nicht erwarten, daß sie in eine so brenzlige Geschichte tätig eingriff, um »Gott behüte« einen »Eklat« hervorzurufen. Hätte es sich nicht um Ernst gehandelt, an dem sie mit jenem Fanatismus hing, der sich gerade bei so kalten und selbstsüchtigen alten Frauen häufig zeigt, sie hätte wahrscheinlich aus Angst vor Auftritten und Verwicklungen die für den August geplante Badereise schon jetzt angetreten. Jedoch es war ihr nicht vergönnt, sich in Sicherheit zu bringen. Die Umstände zwangen sie zur Anteilnahme, und als sie einmal begonnen hatte, sich einzumischen, stellte sie sich auch mit ihrer ganzen Energie auf die Seite des Enkels, mit der ganzen sittlichen Entrüstung ihrer Kaste, die das Universum gefährdet wähnt, wenn die einfache Bewegung des Lebens an ihre Schwelle dringt. Es hatte bei aller Lächerlichkeit etwas Großartiges.

Sie hatte Ernst ein paar Tage nicht gesehen, und da sie hörte, er sei nicht wohl, ging sie hinauf, um ihn zu besuchen. Er war allein. Seine Verstörtheit beunruhigte sie aufs höchste. Sie brauchte nicht lange zu forschen. Im Lauf von zehn Minuten wußte sie alles. Nach einer weiteren halben Stunde war sie die Herrin der Situation und hatte sich zu seiner Beraterin ernannt. Eine ihrer ersten Fragen galt dem Kind. Als sie vernahm, er wolle es der Ehebrecherin ausliefern, war sie vollkommen außer sich. Sie erklärte, das dürfe um keinen Preis geschehen, nur über ihre Leiche. Habe er Lust, in den Augen der Welt als der Schuldtragende dazustehen, oder, noch schlimmer, als verächtlicher Schwächling, der die ihm angetane Schande gutmütig einsteckt, ja noch belohnt? Solche Torheit könne nur durch eine traurige Geistesverwirrung entschuldigt werden. Sie war keineswegs aufbegehrend, bei aller Empörung blieb sie vornehm und gemessen. Ernst schwieg. Er wünschte, die Großmutter hätte ihn mit alldem verschont. Er hatte nicht die Kraft, ihr zu widersprechen, er fühlte sich auch nicht fähig, irgendwelchen Maßregeln, die sie treffen würde, zu begegnen. Während er still vor sich hin schaute, trat Marie ins Zimmer. Sie kam aus der Stadt, war noch in Hut und Staubmantel. Sie war blaß und erregt: zum dritten Male hatte man sie bei Irlen unten abgewiesen. Vorgestern hatte er sagen lassen, er habe Kopfschmerzen, gestern waren zwei Herren bei ihm gewesen (später erfuhr sie, daß der eine von ihnen jener österreichische Diplomat war, an den sie geschrieben), heute war ihr ausgerichtet worden, der Herr Major sei soeben ausgefahren und habe am Vormittag seine Koffer gepackt, da er am Abend verreisen werde. Sie hatte das Mädchen ungläubig angestarrt. Reisen? Onkel Irlen will reisen? Dann hatte sie noch zur Großmutter hineingewollt, das Mädchen hatte erwidert, die Frau Senator sei oben beim Herrn Privatdozenten. Nun stand sie da, mit zitternden Knien, und wollte von ihr hören, ob es wahr sei, ob es möglich sei, ob Kerkhoven davon wisse (denn von diesem war sie seit gestern ohne Nachricht, er hatte eine schwere berufliche Unannehmlichkeit, wie er ihr mit kargen Worten am Telefon mitgeteilt hatte). Sie hatte kaum den Mund zum Fragen geöffnet, als sie schon vor dem förmlich gefrorenen Blick der Senatorin stutzte. Unwillkürlich und wie ein Automat drehte sie den Kopf und folgte der alten Dame mit den Augen, als diese in majestätischer Haltung an ihr vorbei und zur Tür schritt. »Was bedeutet das, Ernst?« hauchte sie mit einem ratlosen Lächeln. Der zuckte seufzend die Achseln.

Nun stand er auf der obersten Stufe und hielt sich keuchend am Geländer fest. Ja, da war das Schild. Er sah auf die Uhr: dreiviertel vier. Er war nicht verspätet, die Sprechstunde konnte noch nicht zu Ende sein, er mußte ihn noch treffen. Er wartete, bis sich Puls und Atem einigermaßen beruhigt hatten, trocknete das schweißnasse Gesicht mit dem Taschentuch ab, dann läutete er. Eine ältere Person öffnete, eine Zahnarztgehilfin, die ohne Stellung war und die Kerkhoven für ein paar Stunden des Tags aufgenommen hatte. Im Wartezimmer saßen zwei alte Weiblein, die wie Armenhäuslerinnen aussahen, eine Frau aus dem Mittelstand, die einen Säugling auf dem Arm trug, dessen Stirn von einem eitrigen Ausschlag bedeckt war, und ein junger Mensch, der seine grüne Gymnasiastenmütze auf dem Kopf behalten hatte und ungezogen vor sich hin pfiff. Von Zeit zu Zeit warf er einen scheuen Blick auf den Ankömmling, und plötzlich hörte er auf zu pfeifen und nahm sogar die Hände aus den Hosentaschen.

Die Tür zum Ordinationszimmer ging auf, ein Mann, dessen beide Augen verbunden waren, wankte am Arm eines Soldaten heraus. Kerkhoven stand auf der Schwelle, blickte über die Wartenden, prallte zurück: »Irlen!« Dieser machte eine leicht ungeduldige Geste gegen die Harrenden. Kerkhoven nickte, hastig zustimmend. Zwanzig Minuten darauf waren alle abgefertigt, Irlen trat ins Sprechzimmer. »Das ist also deine Nachricht? Daß du selber kommst?« rief Kerkhoven vorwurfsvoll. Hat das sein müssen? Die steile Stiege ... du bist hoffentlich hergefahren... ich habe gewartet... mußte annehmen, du verzichtest auf meine weiteren Dienste, doch logisch? ... Empfehlenswert finde ich solche Exkursionen nicht...« Aus Nervosität redete er leer. Irlen hatte sich im Sessel vor dem Schreibtisch niedergelassen. Die eine Hand hatte er zwischen die Knöpfe seines Rocks gesteckt, die andre, auf dem Tisch liegend, zitterte so, daß der goldene Kettenring am Finger gegen den Knöchel glitt. (Denn die Finger waren in letzter Zeit erheblich abgemagert.) »Ach, Joseph, keine Strafpredigt«, sagte er mit mattem Lächeln und trocknete abermals das feuchte Gesicht; »es ist ein Versuch. Eine Probe. Muß den widersetzlichen Leichnam vorübergehend zum Gehorsam zwingen. Für die nächsten paar Tage wenigstens. Dann ... na, über das Dann reden wir, wenn es so weit ist.« – »Ich verstehe nicht, Irlen ...« – »Es ist wichtig, daß ich für eine Woche verreise, lieber Joseph.« – Kerkhoven sprang auf. »Wie? Verreisen? In deiner Verfassung? Dagegen protestiere ich nachdrücklich.« – »Leider ist an dem Entschluß nichts zu ändern«, versetzte Irlen mit freundlicher Bestimmtheit; »du mußt dich damit abfinden. Welche Folgen es für mich hat, kann keine Rolle spielen. Du wirst mir ohne weiteres glauben, wenn ich sage ... kurz, es ist eben notwendig. Übrigens werd' ich in den besten Händen sein. Zwei meiner Freunde begleiten mich. Außerdem der Diener des einen, der mal Krankenwärter war. Du bist vielleicht so gut und schreibst einige Anweisungen auf. Für alle Fälle ... Was kann Schlimmeres passieren, als daß sie mich mit dem nächsten Expreß nach Hause schaffen. Du siehst, ich bin nicht allzu optimistisch. Aber ich habe nicht das Gefühl... nein... so was spürt man ja ... ich denke, ich werde durchhalten. Willst du mir den Gefallen tun und ... es ist hauptsächlich wegen unvorhergesehener Attacken ...« – »Gewiß«, versicherte Kerkhoven, bemüht, sich zu beherrschen, »natürlich ...« Er griff nach dem Notizblock, setzte sich an die Schmalseite des Schreibtischs und fing an zu schreiben. Ohne daß er emporschaute, sah er Irlens Gesicht vor sich. Wie ein Phantasma floß es zwischen seinen Augen und dem Papier hin und her. Hager, bleifarben die Haut, die Züge zerwühlt, fast unkenntlich gemacht von Gram und Sorge, die Augen zwei fiebrig lodernde, blaue Flammen in tiefgehöhlten Gruben, von den weißen Brauen finster überbuscht. Alles vergebens gewesen. Alle Therapie, alle Betreuung, alle Mühe, alle Kunst. Ein verlorener Mann. Er erkannte es mit vollkommener Deutlichkeit. Seine Ohnmacht kam ihm mit solcher Wut zum Bewußtsein, daß er aufstöhnte und zweimal mit dem Fuß auf den Boden stampfte. Irlen blickte verwundert auf ihn. Er lachte einfältig, gab vor, sich verschrieben zu haben, riß das Blatt ab, zerfetzte es und begann von neuem. Und dieser Mensch will reisen, dachte er und überlegte, wie er es verhindern könne. Im selben Moment aber begriff er wie durch Erleuchtung das Opfer, das Irlen brachte. Er ahnte, für welche Sache es gebracht wurde. Mit einem Schlag, von einem Atemzug zum nächsten, wurde er in innerster Seele ruhig. Kommt es denn so viel darauf an, zu leben oder nicht zu leben, ging es ihm durch den Kopf, während er emsig schrieb, das Leben ist eine Fiktion so gut, wie der Tod eine ist, vielleicht kommt es bloß darauf an, was man dafür erkauft, denn etwas, das besser ist, muß es ja geben... Er legte die Füllfeder weg. »So. Das ist in ein paar Sätzen das Wesentliche«, sagte er und reichte Irlen das Blatt. »Darf ich erfahren, wohin ...?« – »Nach London«, erwiderte Irlen. – An dem kurzen Ton merkte Kerkhoven, daß er mehr nicht sagen wollte. »Ich hoffe nicht, daß du nur deswegen gekommen bist«, lenkte er ab und deutete auf das beschriebene Papier, »du hättest mich doch einfach ...« – »Ich weiß«, unterbrach ihn Irlen, »selbstverständlich. Aber ich sagte dir ja ... es schien mir ratsam, mit dem gebrechlichen Skelett da einen Versuch zu unternehmen... Außerdem, der Abschied neulich abend war so ... so unverbindlich, daß ich mich verpflichtet fühlte, danach den ersten Schritt zu tun. Es mag dir beweisen (mit einer gelassenen Geste, als schiebe er etwas beiseite), daß nichts zwischen uns steht.« – »Ich könnt' es mir nicht anders denken«, murmelte Kerkhoven. – »Und weil es so ist«, fuhr Irlen ruhig fort, habe ich einiges vorzubringen, was in die bewußte Angelegenheit schlägt. Du verzeihst, wenn ich meine... nun, wie soll man's nennen, meine Bedenken äußere, dem Freund gegenüber ... es ist Schuldigkeit, nicht wahr?« – »Aber bitte, Irlen, ich bitte dich ... von deiner Billigung hängt ja so viel für uns ab.« – Ein unzartes Wort, hier, wo Heikles an Heikelstes stieß; Kerkhoven fühlte es zu spät. Irlen sagte kühl: »Billigung; um die geht es nicht. Ich habe weder zu billigen noch zu richten. Ich möchte dich nur an einige praktische Schwierigkeiten erinnern. Es wird dir bekannt sein, daß Marie gänzlich vermögenslos ist. Du weißt es? Natürlich. Du darfst es aber nicht leicht nehmen. Marie ist an eine gewisse Largesse gewöhnt. Vom Elternhaus her. Professor Martersteig war zwar nicht wohlhabend, hatte aber in den letzten Jahren bedeutende Einnahmen. Nach allem, was ich von ihr weiß, ist sie nicht die Frau, die mit Pfennigen zu rechnen versteht. Sie hat einen starken Willen, vermag viel über sich, aber sie muß von einem großen Gefühl getragen werden. Fragt sich, wie lang ein großes Gefühl vorhält. Ein solcher Mensch geht ein furchtbares Wagnis ein, wenn er den geschützten Bezirk verläßt.« – Kerkhoven blickte, ganz in seiner früheren Weise, an Irlen vorbei. Sein Gesicht hatte sich verdüstert. »Ist mir alles klar«, antwortete er, »hab' ich mir alles selbst gesagt. Trotzdem, Irlen«, er breitete die Arme aus und ließ sie an die Hüften fallen, »es ist, wie es ist, und wir wollen's riskieren.« – »Was? Was riskieren, Joseph? Freies Zusammenleben? Du als bürgerlicher Arzt und verheiratet, sie als geschiedene Frau? Denn die Ehe schließen, das könnt ihr ja nicht, nach unsern Gesetzen, solang deine legitime Frau in einer Anstalt ist. Was also? Wie also?« – Kerkhoven trat ganz dicht an Irlen heran und legte beide Hände schwer auf die Schulter des Sitzenden. »Hör mal zu, Irlen«, sagte er dumpf, »das sind Dinge, wo der Verstand nichts mehr dreinzureden hat. Sonst geht alles in Fetzen. Wenn ich erst nachdenken soll, kann ich einen Darmkrebs nicht von einer Kolik unterscheiden. Ich, ein kleiner Mensch, Irlen, von kleinen Entschlüssen, ein geschobener Mensch. Packt's mich nicht beim Genick und schmeißt mich hinein, dann steh' ich da wie ein dummer Junge und weiß mir nicht zu helfen. Na, und es hat mich gepackt, diesmal. Seh' ich aus wie ein Abenteurer? Da mußt du doch selber lachen. Es hat den Kern getroffen, lieber Freund. Was daraus entsteht? Ich will's nicht wissen. Viel zu lang hab' ich gewußt, was nächste Woche sein wird. Jetzt will ich's anders versuchen, vielleicht ist das das Richtige.« – Irlen hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah nachdenklich aus. Was für eine Lebensfülle, dachte er mit einer Regung schmerzlichen Neids, welch dämonische Kraft. »Das heiß ich tabula rasa machen mit der Vergangenheit«, sprach er vor sich hin. »Ich gestehe, daß ich nicht ganz im Bild war. Nun, du kennst ja meine Ansicht. Jeder wird mit seinem Fatum geboren. Die Bemühung des andern, eingebildetes oder auch wirkliches Unheil zu verhüten, gehört dazu. Ich glaube an dich, Joseph. Ich habe einen unerschütterlichen Glauben an dich. Fast kann ich mit meinen inneren Augen sehen, wie du in deine Bestimmung hineinwächst. Es ist eine der schönsten Genugtuungen, die ich erlebt habe. Freilich, ich hatte mir vorgestellt... es erschien mir zuerst wie ein Abfall... ich habe in gewissen Stunden von einer Zugehörigkeit geträumt... einer ausschließlichen ... Leute meiner Art leiden an einer herrischen Unbedingtheit... wir haben einen intensiveren Begriff von Treue ... Das soll kein Vorwurf sein, Joseph, um Gott nicht, aber (den Kopf hebend, mit einem noblen Lächeln) der andere Weg ist nicht leicht, wenn ich ihn auch, wie du siehst, bereits gegangen bin.« Er stand mühsam auf. »Leb wohl. Ich denke, wir sehen uns bald wieder. Und keine Besorgnisse. Begleitest du mich hinunter? Ausgezeichnet.« – Kerkhoven, außerstande etwas zu sagen, griff mit fahrigen Bewegungen nach seiner Tasche. Im Vorplatz nahm er Hut und Stock vom Halter und legte seinen Arm unter den Irlens. Da spürte er, daß dieser zusammenzuckte. Er sah ihn erschrocken-fragend an. Irlen wies mit dem Kopf gegen den Spiegel im Kleiderständer. »Sonderbar«, sagte er, »mir war, als könnt' ich mich im Spiegel nicht sehen. Mein Bild war nicht drin. Das ist mir schon einmal passiert. Vor der Reise nach Afrika. Im Hotel in Marseille. Unheimliche Sache ...«

(Irlens englische Reise war ebensosehr ein Akt stoischer Selbstverleugnung, namentlich in Anbetracht seines physischen Zustands, als sie sich auf ein tiefes, bei einem solchen Kopf beinahe unbegreifliches Mißverstehen dessen gründete, was persönlicher Einsatz und private Initiative am Gang welthistorischer Geschehnisse zu ändern vermögen. Allerdings hatte er eine große Zahl einflußreicher Freunde dort, teils in politischen Stellungen, teils in der Geschäftswelt und der Rüstungsindustrie, manche gehörten sogar zu seinem engeren Kreis. Vor seiner Tätigkeit in den Kapellerwerken hatte er ein halbes Jahr drüben gelebt. Er war einige Zeit der Gast Lord Haldanes gewesen, den er von Göttingen her kannte und als redlichen Mann und passionierten Verehrer deutscher Philosophie schätzte. Damals hatte Haidane als Kriegsminister die Umgestaltung der Armee begonnen, Irlen hatte ihm durch seinen fachmännischen Rat nützlich werden können. Sie hatten später noch lange korrespondiert. Er wußte um die Verläßlichkeit des englischen Charakters. Errungenes Vertrauen bleibt bestehen wie ein Baum mit tiefen Wurzeln. Er und seine Begleiter hatten gewichtige Empfehlungen. Trotz seiner genauen Kenntnis der internationalen Interessen und Verwicklungen, trotz des niederdrückenden Gefühls von der Unaufhaltsamkeit der Katastrophe gab sich Irlen über den Erfolg der selbstauferlegten Mission einer Täuschung hin, die an Verblendung grenzte. Gewiß, in Deutschland war für ihn nichts zu hoffen. Dort, wo er hätte eingreifen müssen, war sein Name verfemt. Selbst bei Männern, an die er vor einem Jahrzehnt noch geglaubt hatte, vermißte er die höhere Verantwortlichkeit, jene Zauberstimme, die in die Zukunft hinaustönt, auch wenn sie nur dem Tag zu gelten scheint. Sie hatten keine Demut mehr, warum nannten sie sich dann noch Deutsche; sie erlagen einem Lügentraum von der Macht des Schwerts. Drüben aber hatten sie gelernt, mit Tatsachen zu rechnen und Geschichte zu leben; es schwebte ihm etwas wie Gewissensweckung vor, Appell an den europäischen Geist. Er überschätzte seine Kraft, die Kraft des einzelnen überhaupt, und er unterschätzte die Elementargewalt, vor der die Führer und Schürer hilflos standen, während sie sich noch zu kommandieren wähnten. Er wollte sie nicht spüren und wissen. Weil er prophetisch alle Folgen voraussah, schloß er in verzweifelter Auflehnung die Augen davor. Es hatte ihn nicht mehr im Winkel gelitten. In drei Wochen hatte er alles in allem kaum dreißig Stunden geschlafen. Die Nerven versagten den Dienst, jede Speise mußte er erbrechen, die Gedanken stoben gespenstisch formlos durch sein Hirn, Krankheit des Körpers und Krankheit der Seele schlugen ineinander über wie zwei Feuersbrünste, deren Wut sich nach der Vereinigung nicht bloß verdoppelt, sondern verzehnfacht. Die Reise überstand er leidlich. Verstärkte Injektionen und große Dosen von Stimulantien ermöglichten annähernd die Durchführung des Programms. Aber schon nach den ersten Schritten wurde ihm die Vergeblichkeit klar. Es war alles zu weit gediehen. Man nahm ihn achtungsvoll auf, man hörte ihn artig an, man schien gewillt, einiges zuzugeben, anderes nicht, die Reinheit seiner Motive stand außer Frage, allein über die Verbindlichkeit einer Klubunterhaltung ging es nicht hinaus, niemand glaubte im Ernst, daß der Krieg zu verhindern sei, hinter aller Freundlichkeit war ein vorsichtig zugeknöpftes Wesen. Bei Lord Haidane saß er eine halbe Nacht, mitten im Depeschensturm. Das Ergebnis war gleich null. Zuletzt hieß es immer: Die Deutschen wollen den Krieg. Der junge Viscount S., Parlamentsmitglied, einer seiner leidenschaftlichsten Anhänger, sagte zu ihm am Schluß eines aufwühlenden Gesprächs: »Ungewiß ist, ob es dreihundert Jahre zu spät oder dreihundert Jahre zu früh ist, daß du dich auf den Weg gemacht hast; gewiß ist nur, daß der jetzige Augenblick der unglücklichste ist.« Dann kam der Zusammenbruch. Die Freunde mußten ihn auf einer Tragbahre ins Coupé bringen lassen. Am Nachmittag des 31. Juli kam er schwerkrank, hochfiebernd zu Hause an.)

Zu den wenigen Familien, in denen Kerkhoven bis vor einem Jahr noch (jetzt nicht mehr) freundschaftlich verkehrt hatte, gehörte die des Baumeisters Frickart, sehr wohlhabende Leute, alteingesessen, von patriarchalischen Lebensformen. Manchmal im Sommer hatte sie ihn und Nina auf ihr nahe gelegenes Gut eingeladen, er hatte sich in dem anspruchslosen Kreis behaglich gefühlt, von der andern Seite war es auch ein Dankbarkeitsverhältnis, die ältere der beiden Töchter hatte eine Zeitlang an einer schweren Hysterie mit sensorischen Störungen gelitten, und es war ihm gelungen, sie völlig davon zu heilen. Diese Helene Frickart war ein auffallend schönes Mädchen von echt fränkischem Typus, ernst, bildsam, ziemlich begabte Bildhauerin und schon ihres Vermögens halber viel umworben. Sie hatte aber alle Anträge ausgeschlagen, worüber Mutter und Schwester recht unglücklich waren, denn das Oberhaupt der Familie hielt an dem Brauch fest, daß die jüngere Tochter nicht vor der älteren heiraten durfte, wenigstens vor einer gewissen Zeit nicht. Kerkhoven hatte das Mädchen liebgewonnen, vielleicht war es sogar ein tieferes Gefühl, das ohne sein Wissen in ihm entstanden war, jedoch als er zu merken glaubte, daß auch er Helene nicht gleichgültig war, bekam er es mit der Angst und brach unter dem Vorwand beruflicher Überbürdung die Beziehung ab. Darüber war ein Jahr vergangen. Eines Tages, zu Anfang Juli, war Frau Frickart in seiner Sprechstunde erschienen, um ihn wegen irgendeiner unbeträchtlichen Beschwerde zu konsultieren. Ihr frohes Gesicht fiel ihm auf, er brauchte gar nicht viel zu fragen, nach den ersten Worten schon berichtete sie, Helene sei verlobt. Natürlich erkundigte er sich, wer der Erwählte sei, sie nannte den Namen samt allen empfehlenden Eigenschaften des Betreffenden, ganz junger Mann noch, Sohn eines Spinnereidirektors, Jurist vor dem Staatsexamen. Kerkhoven stutzte. Er ließ sich den Namen wiederholen und hatte Mühe, seinen Schrecken zu verbergen. Derselbe Mann war vor kurzem mit einer syphilitischen Infektion bei ihm gewesen, und zwar einer ungewöhnlich bösartigen Form davon, mit Exanthem über den ganzen Körper. Da er für solche Fälle nicht die erforderlichen Hilfsmittel zur Verfügung hatte und alles, was an Halbheit und Pfuscherei nur streifte, immer mehr zu verabscheuen begann, hatte er ihn an einen spezialistischen Kollegen verwiesen. Verwechslung war nicht gut möglich, trotzdem vergewisserte er sich noch am gleichen Tag, er hatte die Adresse in seinem Buch, eine Anfrage genügte: ja, Spinnereidirektor Soundso war der Vater. Die Hochzeit sollte schon im September stattfinden, also Helene sollte geradezu einem Verbrecher in die Arme geworfen werden. Wie sich später ergab, steckte der junge Mensch bis über den Hals in Schulden und konnte sich nur durch eine schleunige Heirat mit dem reichen Mädchen vor seinen Gläubigern retten. Er erinnerte sich das Mannes ganz gut: eleganter Windbeutel, selbstsicherer Durchschnittsverführer. Daß ein Geschöpf wie diese Helene nicht mehr Instinkt besaß ... oder sah es so aus, wenn sich eine schließlich begnügt? Nachdem er ernsthaft mit sich zu Rate gegangen war, bat er Frau Frickart brieflich um eine Unterredung, und als sie zu ihm kam, teilte er ihr ruhig mit, wie die Dinge lagen und daß er als Hausarzt gegen die Eheschließung ohne Karenz Einspruch erheben müsse. Die entsetzte Frau hörte gar nicht mehr, als er die Bitte hinzufügte, seine Eröffnung nach außen hin geheimzuhalten, sie lief einfach davon. Das Verlöbnis wurde am selben Tag gelöst. Wahrscheinlich hatte der Ex-Bräutigam darauf bestanden, den Grund zu erfahren, Frau Frickart mochte ihm seine bodenlose Frivolität vorgeworfen und, als er frech zu leugnen versuchte, sich auf Kerkhoven berufen haben, die Folgen ihrer Indiskretion bedachte sie nicht. Nun erhob sich der Lärm. Der schimpflich Zurückgewiesene, wütend, daß seine Hoffnungen zu Wasser geworden, zeigte Kerkhoven bei der Ärztekammer wegen Verletzung der Schweigepflicht an. Er wurde vorgefordert, er sollte sich rechtfertigen, er rechtfertigte sich auch, viel konnten sie ihm nicht anhaben, doch hatte er den Standesvorschriften zuwidergehandelt und mußte sich ein Tadelsvotum gefallen lassen. Die Sache wirbelte immer mehr Staub auf, einige Zeitungen schrieben darüber, es gab Leute genug, die sich auf seine Seite stellten, sogar Kollegen, aber die Angelegenheit bereitete ihm bitteren Verdruß, sie hatte ihn in den letzten Wochen um alle Sammlung gebracht und ihn bei wichtigen Studien gestört. Ein Glück, daß das öffentliche Interesse sich auf einmal ganz andern Ereignissen zuwandte, wovon er freilich auch wenig Notiz nahm. Er wußte kaum, was in der Welt vorging, in den Tagen, da eigentlich niemand mehr richtig arbeitete und die Straßen wie überfüllte Versammlungslokale aussahen, beschäftigte ihn unter vielen andern Problemen ein entwicklungsphysiologisches; anderthalb Jahrzehnte bevor die offizielle Wissenschaft sich damit befaßte, unternahm er den Versuch der Transplantation von Ei-Teilen, um die Organgestaltung beim Tier-Embryo zu ermitteln. Außerdem glaubte er gegen die Trypanosomiasis endlich ein bedeutend wirksameres Präparat als die bisherigen gefunden zu haben.

Er erzählte Marie den Hergang der Frickart-Geschichte und vor welchen inneren Konflikt ihn die Entscheidung gestellt. Marie begriff nicht, daß er nur einen Augenblick habe schwanken können, wo das Rechte zugleich das Anständige und die Menschenpflicht sei. Sie hörten von der Straße herauf die Extrablätter ausrufen. Kerkhoven sagte: »Alles wird verkuppelt, eins ans andere verraten, Freiheit und Dienst, Gesetz und Einsicht. Die Menschen sind eine armselige Gesellschaft. Nicht bloß, daß sie ewig unmündig bleiben, sie wollen auch keinem die Mündigkeit zugestehen. Daß einer was ist und was leistet, das mochten sie schon, dabei soll er ihnen aber den Kuli machen. Du siehst, wie es geht, Liebste. Ich hab' keinen Boden mehr unter den Füßen. Irgendwas hat mich in die Luft hinaufgewirbelt. Ganz spaßig. Ich fühlte, es ist was in mir, was mein Leben aus den Fugen reißt und durch und durch schüttelt, aber was es ist, das könnt' ich dir nicht sagen. Als ob ich in der Schmiede-Esse hinge und in andere Form geschmolzen würde.« – »Und ich? Was geschieht mit mir derweil?« flüsterte Marie nah an seinem Mund. – »Du? Du bist dabei. Du bist in mich hineingeglüht.«

Als Marie in fast feierlich gehobener Stimmung heimkam, ging sie eine Weile im Garten auf und ab. Es hatte geregnet, Wege und Büsche waren noch naß, betäubender Blumengeruch stand in der Luft schier sichtbar wie Rauch. Behutsam brach sie eine voll erblühte Rose ab und preßte ihr Gesicht hinein, auch die Augen, als wolle sie sich mit allen Sinnen drin lösen. Ein zärtliches, zärtlich-trunkenes Lächeln wich nicht von ihren Lippen, ihr Blut war schwer von Glück, jeder Tag sammelte so viel an, daß sie auch der Nacht noch davon abgeben konnte, oft war's, als fühle sie sich süß werden wie eine Frucht in der Sonne. Die Sturmflut war noch nicht an die Uferstelle gelangt, wo sie sich für eine kleine Weile geborgen hatte, für die Dauer eines Traumes nur.

Am zweitfolgenden Tag kam sie später als sonst aus der Stadt, und nachdem sie in ihrem Zimmer Hut und Handschuhe abgelegt, beeilte sie sich, Aleid gute Nacht zu sagen. Sie hoffte sie noch wach zu finden, manchmal wartete die Pflegerin, wenn sie sich verspätete. Das ängstliche Gesicht der Jungfer fiel ihr nicht weiter auf, sie fragte nur, ob Ernst zu Hause sei. Ja, hieß es, er arbeite in der Bibliothek. Als sie die Tür des Kinderzimmers geöffnet hatte, blieb sie mit einem Laut des Erstaunens auf der Schwelle. Es war niemand da. Die Fenster weit offen, auf dem Bettchen die blaue Atlasdecke noch, ein paar Spielsachen auf dem Boden, eine Puppe, kleine hölzerne Häuser. Niemand. Die Jungfer war ihr gefolgt. Sie sagte scheu: »Die Frau Großmama war Nachmittag oben und hat Aleid und das Fräulein mitgenommen. Sie sind im Auto weggefahren. Die gnädige Frau sagte, Aleid müsse einige Zeit aufs Land.« Marie starrte sie an. Wortlos kehrte sie um und lief mehr als sie ging in die Bibliothek. Ernst erhob sich vom Schreibtisch, als sie hineinstürmte. Seine Stirn faltete sich wie bei einem alten Mann. »Wo ist Aleid?« stieß sie bebend hervor, und als er nicht antwortete: »Rede, Mensch, wo ist Aleid? Was habt ihr mit dem Kind gemacht?« – Er brachte stockend hervor: »Großmama wünschte ...« – Sie, halbverrückt vor Ungeduld: »Was? So sprich doch endlich um Gottes willen ... wünschte ... was, wünschte? Wo ist mein Kind?« Sie rüttelte ihn an der Schulter. – Ernst sagte gedrückt: »Ich weiß es nicht, Marie. Sie wollte es mir noch mitteilen. Sie sagte ... Sie ließ mir keine Ruhe ...« Er brach ab. Er konnte Marie nicht in die Augen blicken. Er hatte seine Frau noch nie so gesehen. Phantasielos genug, daß er nicht darauf gefaßt war, sie so zu sehen, das muß man sagen. Marie schwieg lange. Die »blassen Blumen« blieben groß geöffnet, kaum daß die Lider zuckten. Einen Moment überlegte sie, ob sie nicht Kerkhoven verständigen solle, wies aber den Gedanken unwillig zurück. Nein, man wird nicht gleich zum Beschützer laufen und ihm mit seinem Jammer in den Ohren liegen, dazu ist er nicht da, dazu hat er selber zuviel auf sich, man wird allein fertigwerden. In hartem Ton und mit einer kleinen, verächtlichen Kopfbewegung sagte sie: »Komm«, und als Ernst sie unschlüssig anschaute, nahm sie ihn bei der Hand. »Wir gehen zu ihr hinunter«, befahl sie, »ich habe mit ihr zu reden, und du wirst dabeisein. Ich will sehen, ob du mich auch vor ihr im Stich läßt.« Er leistete keinen Widerstand. Mit gesenktem Kopf folgte er ihr. Das Mädchen unten sagte, die Frau Senator sei noch nicht zu Hause. »Dann warten wir«, erklärte Marie. Sie schritt voraus in den Salon. Der Raum war von der Röte der untergehenden Sonne erfüllt. Sie spürte, daß das Haus ohne Irlen war. Als sei der legitime Herr nicht mehr zugegen und habe Unordnung hinterlassen. Ernst setzte sich ans Fenster und starrte in den Garten, Marie ging auf und ab. Der schwere Teppich machte ihre Schritte unhörbar. Endlich vernahmen sie die Stimme der Senatorin. Es dauerte noch mehrere Minuten, bis sie kam. Sie hatte wohl keine Eile, obschon ihr das Mädchen gesagt haben mußte, daß sie erwartet wurde und von wem. Marie blieb in der Mitte des Zimmers stehen und blickte gegen die Tür. Als sie der alten Frau ansichtig wurde, erblaßte sie jäh. Die Senatorin teilte ein konventionelles Lächeln aus wie bei einem Empfang. Sie glich einer weißhaarigen Puppe. Ihre Wangen waren glatt wie Porzellan. Sie trug das Witwenhäubchen und einen Spitzenumhang. Sie sah gewinnend und vornehm aus. Als Marie eine Bewegung zu ihr hin machte, nahm sie eine steife Haltung an, und das Königinnenlächeln erlosch.

Marie sagte: »Ich hoffe, wir werden uns verständigen, Großmama. Du erlaubst mir doch die Anrede noch. Verständigen heißt, ich will das Geschehene als nicht geschehen betrachten, wenn es sofort gutgemacht wird. Durch Gewalt bin ich nicht einzuschüchtern. Du vergißt, daß ich noch die Frau deines Enkels bin. Ich habe noch nie gehört, daß man Eltern das Kind wegträgt, weil sie beschlossen haben, sich zu trennen. Komisch. Wenn es eine Pression sein soll, ist sie verfrüht. Was soll damit erreicht werden? Ich verlange, daß Aleid geholt wird, auf der Stelle, wo sie auch ist. Ich bleibe in dem Zimmer, bis man sie mir bringt. Und wenn es die ganze Nacht dauert und morgen den ganzen Tag. Willst du so gütig sein, Großmama, und das Nötige veranlassen?« Die Senatorin rührte sich nicht. Sie war ziemlich perplex. Eine solche Sprache, was sich die Person herausnahm. Der Mut, die Festigkeit Maries verfehlten ihren Eindruck auf sie nicht. Sie war ihrer Sache nicht mehr sicher. Sie glich jemand, der einen Schreckschuß abfeuert und zu seinem Unbehagen merkt, daß er sich selbst getroffen hat. Diese Art Frauen, da sie in einer Scheinwelt leben, spielen sogar das Böse, ohne sich die Folgen klarzumachen, und handeln dann mehr eigensinnig als planvoll, mehr verworren als schlecht. Alte Kinder. So war es der pure Eigensinn, der sie mit ihrer hellen, wehleidigen Stimme erwidern hieß: »Wir durften dich nicht in dem Wahn lassen, als könntest du das unschuldige Kind in eine fragwürdige Existenz verschleppen.« – »Wir?« gab Marie erstaunt zurück. »Warum wir? Ernst war es selbst, er selbst hat mir angeboten ...« – »Das ist nicht wahr, in einer Situation wie der seinen kann man auch keine bindenden Zusagen machen«, schnitt ihr die Senatorin das Wort ab; »im übrigen ist er ja viel zu arglos, um deinen Künsten gewachsen zu sein.« – Marie hob wie frierend die Schultern und wandte das Gesicht langsam ihrem Mann zu, der aufstand, ein paar Schritte machte, plötzlich mit der Hand an seinen Hals griff und stumm blieb. Da sagte Marie: »Ich sehe, ich bin allein. Ich hab' mich immer als Gast hier betrachtet. Hab' es auch Ernst nie verschwiegen. Vielleicht hab' ich einen Augenblick zu lang gezögert, das wirklich sehr, sehr gastliche Haus zu verlassen. Das muß ich eben büßen. Ist denn das dein letztes Wort, Ernst, dieses nichtgesprochene jetzt, mit dem du dich zum Feigling und mich zur Lügnerin machst? Das ist doch unmöglich. Das bist ja nicht du.« – »Es ist nicht zu ertragen«, sagte Ernst gequält, »Marie ist im Recht, Großmutter ... tausendmal im Recht ... ich bitte dich, verzeih mir, Marie ... nein, ich bin es nicht, noch immer nicht ... ich sehe den Menschen zu, ich höre die Menschen an und weiß nichts, weiß nichts, begreife nichts ... Sei ganz sicher, Aleid wird noch heute zurückgebracht werden ... ich bürge dafür, du kannst ganz beruhigt sein.« Er trat zu Marie, beugte sich nieder und küßte ihre Hand. Die Senatorin blickte von einem zum anderen, äußerlich kalt und hochmütig, jedoch mit dem Gefühl einer Frau, der für ihre Pflichttreue übel gedankt wird. Sie hatte das Kind zu einer ihr befreundeten Dame gebracht, die sie vorher ins Geheimnis gezogen. Sie hatte damit gerechnet, daß Marie dann nicht länger bei ihrem Mann bleiben und sie Ernst leicht würde überreden können, mit ihr und dem Kind irgendwohin zu reisen. Der Plan war schmählich gescheitert. Marie entließ die Pflegerin noch am selben Abend, Aleids Bett wurde in ihr Schlafzimmer geschafft. Sie lag die Nacht über wach und lauschte dem friedlichen Atmen des Kindes. In ihr war kein Frieden. In ihr war Aufruhr wie da draußen. Jetzt fing sie an zu wissen. In ihrem Ohr war ein düsterer Rhythmus:

Ihm ward gegeben an keiner Stätte zu ruhn...

Und mir, dachte sie furchtlos lächelnd... Gleich nach Irlens Ankunft war Kerkhoven bei ihm gewesen. Es sah bös aus. Kompletter Verfall. Erst gegen neun Uhr abends erwachte er aus schlafsüchtiger Lethargie. Hände, Hals und Brust bedeckte eine Art Aussatz. Schenkel und Arme waren geradezu entfleischt. Fieber 39,9. Beim Liegen die Knie hoch an den Leib gezogen. Das Herz hüpfend wie ein Gummiball. Eine halbe Stunde lang war Kerkhoven am Telefon gestanden, um eine Diakonissin aufzutreiben. In der allgemeinen Verwirrung und Aufregung war keine zu bekommen gewesen. Die Senatorin war am Morgen aus Groll gegen den Enkel nach Homburg gefahren, nur Marie war zur Bewachung und notdürftigen Pflege da, natürlich wollte sie bleiben, bis Kerkhoven zurückkam, wie spät es auch werden mochte. Ernst war bei einer Kundgebung in der Universität. »Gerade jetzt will's das Mißgeschick, daß ich ein paar schwere Fälle habe«, sagte Kerkhoven unter der Tür zu Marie; »gib nur acht, darfst ihn keine Minute allein lassen, und ruf mich um elf Uhr an, die Nummer hab' ich aufgeschrieben.« Irlen winkte ihn mit einer schwachen Geste zurück. Als er am Bett stand, zwang ihn ein Blick noch näher. Er beugte sich über ihn. Irlen sagte lallend: »In drei, vier Stunden, ich weiß es genau, bin ich wieder... kann ich bestimmt mit dir... Es ist... immer so. Die Pausen freilich... kürzer. Wir haben zu sprechen, Joseph. Viel zu sprechen ... Was wollt' ich nur sagen ... du hast doch immer alles bei dir ... für Injektionen und so ... der Vorrat ist aufgebraucht ... auch Morphium, wie? Also schön, lieber Freund ... Wenn du kommst ... zögre nicht gar zu lang ... kann ich dir sicher entgegengehen ...« Er lächelte schattenhaft und drehte den Kopf zur Wand.

Es wurde viertel eins, bis Kerkhoven frei war. In den meisten Straßen brannten keine Laternen. Er mußte zu Fuß gehen, weit und breit kein Wagen. Er schritt rasch aus, die Tasche mit Instrumenten und Verbandszeug wurde ihm schwer, obwohl er gewohnt war, sie zu tragen. Warmer Staub wehte ihm ins Gesicht. Er hörte von fern den Stampfschritt von Infanteriekolonnen, das Rumpeln von Trainfuhrwerk. Trompetensignale geisterten. Sirenengeheul. Auf einer Alleebank eine weinende Frau. Die Nacht hatte etwas vom Innern eines Ungeheuern Maulwurfshaufens. Endlich war er am Ziel. Marie stürzte ihm entgegen: »Denk dir, er ist aufgestanden!« Und so war's. Irlen saß im Sessel. Er nickte Kerkhoven mit einem Ausdruck kläglichen Triumphs zu. Er hatte seinen Mantel über den Schlafanzug geworfen. Das mächtige Haupt über den mächtigen Schultern, alles eingefallen, die Hautsäcke, das Ruckhafte der Bewegungen, dabei die blaue Flut der Augen ... Marie stand an der Tür und mußte sich festhalten, so zitterte sie. Mit einem hastigen Gute Nacht, das wie Schluchzen klang, verschwand sie.

Ich sehe voraus, daß die Wiedergabe des folgenden Gesprächs zwischen den zwei Männern über mein Vermögen und fast über die Mittel der Sprache geht. Was sich andeutungsweise festhalten läßt, der Verlauf, das Pragmatische, Stücke von Rede und Gegenrede, wird aufzuzeichnen versucht; die tieferen Hintergründe entziehen sich, fürchte ich, dem Wort, an manchen Stellen vielleicht sogar dem Verständnis. Da erscheint Kerkhoven nicht mehr als bewußt handelnder Mensch, sondern eher wie das Werkzeug eines solchen oder wie einer, der durch eine Art von Zauberei veranlaßt worden ist, aus dem Rahmen seiner Persönlichkeit herauszutreten und für eine Weile auch, halb körperlos gleichsam, in diesem Zustand zu verbleiben. Schon am Anfang zeigte sich eine auffallende Gehemmtheit an ihm; zum Beispiel, als ihn Irlen bat, nachdem sie einander ungefähr zehn Minuten schweigend gegenübergesessen waren, er solle im Nebenzimmer nachsehen, ob wirklich niemand mehr dort sei, erhob er sich erst nach einer weiteren Minute und ging dann zur falschen Türe, nicht zu der, durch die Marie gegangen war. (Offenbar fürchtete Irlen, Marie habe es nicht über sich gewinnen können, nach oben zu gehen, und sitze noch nebenan im Finstern. Das war aber bei ihr ganz ausgeschlossen. Unter keinen Umständen, selbst unabsichtlich nicht, hätte sie es riskiert, zur Lauscherin zu werden.) Eine weitere Sonderbarkeit lag darin, daß es der todkranke Irlen war, der die meiste Zeit sprach, trotzdem jede Miene und Bewegung verriet, welche Anstrengung es für ihn bedeutete, während Kerkhoven etwas zusammengekrümmt im Sessel kauerte und sich erst allmählich aus seinem. Brüten aufraffte. Gleich die erste Frage Irlens hatte ihn in Bestürzung versetzt; er zog es vor, in sich zu versinken statt zu antworten, und statt über die Antwort nachzudenken, beschäftigte er sich in Gedanken mit dem physischen Problem Irlen, ob die Natur oder der Geist das Wunder an ihm bewirkt hatte, daß er sich überhaupt aufrecht erhielt, zu schweigen von der Allüre, von der Freiheit des Ausdrucks (wenn man die Augen schloß, konnte man glauben, er mache Konversation). War es nicht die Gnade der Stunde, Euphorie, so war es der Wille, der den Dämon der Krankheit niederhielt, eine ins Mark gedrungene Zucht und die Tapferkeit einer männlichen Seele. Die heimlich gefürchtete Frage, mit der Irlen begann, ließ sich nicht einfach ignorieren. Sie klang nicht, wie aufgegebene Kranke manchmal zu fragen pflegen, um Mut und Fassung zu heucheln, indes sie die Angst vor dem Tod würgt, sondern sie wurde in einer sehr durchsichtigen Absicht gestellt, nämlich zu erfahren, ob er, der Arzt Kerkhoven, es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, den Leidensprozeß abzukürzen. Er gab es auch dann mit dürren Worten zu. Wie lange hab' ich noch zu leben? Das fragen viele. (Hand aufs Herz, Doktor, und zwinkern vertraulich und werden um die Nasenflügel bleich.) Allein hier lag ein Beschluß vor. Ein gefälltes Urteil geradezu. Es hat keinen Zweck weiter. Schluß. Erledigter Fall. »Wir stehen heut auf einer andern Plattform, Joseph, als bisher. Wir müssen absehen vom Üblichen, vom Persönlichen, absehen vom Gefühl und einem oberflächlichen Begriff von Pflicht. Du kannst nicht hoffen, mich durch Argumente zu erschüttern, die bei jedem Pastor zu haben sind. Also verrate mir deine Meinung: Wieviel Tage oder Wochen gibst du mir noch? Ohne Umschweife.« Kerkhoven will entschlüpfen. Das ließe sich nicht vorausbestimmen, kein Diagnost der Welt könne es auf sich nehmen; etwas der Art stottert er. Unwirsch, wie beleidigt. Der Augenschein zeige ja die Labilität des Zustands, im unerwartetsten Moment könne sich alles zum Bessern wenden, auch zur Genesung, jawohl, auch zur Gesundung. In die Fügung eingreifen? Gefahr laufen, den Funken zu zertreten, der die Flamme wieder anfachen kann? Aberwitz. Aberwitz. (Das alles natürlich in Fragmenten, in Silben, in Interjektionen hervorgestoßen.) Er umschlingt seine Knie mit den Armen und schweigt böse. Geisterhaftes Lächeln huscht über Irlens Gesicht. Dieser Mann, dieser Freund begreift und begreift nicht; er hat nicht den blassen Schimmer. Wie borniert solche genialen Leute oft sind. Und als ob er das vernichtende Urteil noch eigens bekräftigen wollte, fügt Kerkhoven trotzig-murrend die Erwähnung des Präparats hinzu, das er in den letzten Tagen mit Hilfe eines ausgezeichneten Pharmakologen hergestellt. Er verspreche sich eine sichere Wirkung davon. Traurig über dieses Geschwätz senkt Irlen den Kopf. Er kann sich eines leisen Lachens nicht enthalten. Kerkhoven schaut ihn erstaunt an. Selten hat er Irlen in dieser Art lachen hören, so richtig kichern. Irlen denkt lange nach. Rührung überkommt ihn. Es ist ein neues Gefühl, das er für Kerkhoven in sich entdeckt. Wie für einen jüngeren Bruder, mit dem man Nachsicht haben, den man belehren muß und deshalb nicht weniger liebt, eher mehr als den starken Gefährten und Helfer, der er eben noch war. Er beugt sich vor und legt die Hand auf Kerkhovens Knie. Er spricht von seinem Leben. Überblick im Telegrammstil. An der Idee zum Narren geworden. Der Prophet hat die Zerstörung des Tempels verkündigt, die Trümmer sind sein Grab. Großer Anlauf, jämmerlicher Sturz. Der Wahn, mit der Nation bis in den Herzgrund verbunden zu sein, hat ihn zu spät erkennen lassen, daß er dem Volk ein Fremdling war. Gemeinschaft mit den Besten, Haß und Hohn von den vielen. Töricht, Lohn zu erwarten für Opfer oder Dienst. Aber eine Folge hätte sein müssen, irgendeine, die allerkleinste. Nein, keine. Was hat denn Folge? Doch nur, was weder Wurzel noch Gestalt hat. Deutschland ist verloren; er ahnt's, er fühlt's, es kommt eine Zeit, die nicht zu erleben gut ist. Verloren. Kerkhoven kann nicht ermessen, was das bedeutet. Dazu muß man den Traum von der Sendung geträumt haben. Alles umsonst. Zwanzig Jahre lang Brücken gebaut für nichts. Morituri te salutant, Europa. Was soll er tun? Zwischen die Laken kriechen und die Zeitungen lesen? Wenn er sich auf ein Pferd setzt, kann es passieren, daß er an der nächsten Straßenecke unter dem Gelächter der Rekruten in den Dreck purzelt. Bleibt er in seiner Höhle und füttert den morschen Kadaver noch eine Weile mit Medikamenten, so verkommt er vor Scham und Qual. Warum denn leben? Warum es hinschleppen? Um schließlich mit dem Gefühl, daß man den letzten Preis doch nicht hat zahlen können, einen Altweibertod zu sterben? Pause. »Verstehst du mich jetzt besser, Joseph?« Kerkhoven war wie nicht vorhanden, ausgelöscht. Dann, in verändertem Ton, nüchtern: »Du kannst einwenden: Wozu braucht er mich, wenn er ohnehin entschlossen ist, den Schritt zu tun? Wozu die ganze Erörterung, es gibt bewährte Methoden genug, nichts hindert ihn, eine zu wählen, gegen die vollendete Tatsache gibt's keinen Appell. Sehr schön. Aber erstens möchte ich den schnellsten, den schmerzlosesten und den sichersten Weg gehen. Sozusagen unter fachmännischer Leitung. Muß man mir zugute halten. Zweitens muß die Sache so arrangiert werden, daß kein Außenstehender auf den Verdacht kommt, ich hätte etwa nachgeholfen. Es wäre mir unangenehm. Der Ausgang wird niemand überraschen, bei einem solchen Aspekt ... Und drittens, Joseph, wäre es ein freundlicher Abschiedsgedanke für mich, den Tod als Geschenk aus deiner Hand zu empfangen. Was natürlich nicht au pied de la lettre zu verstehen ist. Die letzte Manipulation, die macht mir keine Sorge, aber um die Gabe handelt sich's ...«

Kerkhoven hat sich schwerfällig erhoben, er geht zweimal durch das Zimmer und bleibt jenseits der Schattenlinie der Lampe stehen. Das Ungeheure der Forderung fällt mit voller Wucht in sein Bewußtsein. Das Vorherige ist nur ein Spiel mit Worten gewesen, das da der Griff an die Kehle. Es gibt kein Entweichen mehr. Er will etwas sagen, die Stimmbänder sind wie zerschnitten. Er räuspert sich, er fängt an zu husten; die Anstrengung, den Reiz zu bekämpfen, treibt ihm die Tränen in die Augen. »Was würdest du vorschlagen?« fragt Irlen leise, förmlich rücksichtsvoll. »Morphium? Eine Mischung? Morphium und Skopolamin? Dacht' ich mir. Spritze natürlich. Du hast alles mit? Ich bat dich ja darum. Du legst es dann einfach auf den kleinen Büchertisch, bevor du weggehst.« Der Hustenanfall ist Gott sei Dank vorüber. Kerkhoven denkt: Was redet er? So weit sind wir noch nicht. Gleichwohl hat er zu den verschiedenen Fragen Irlens genickt oder den Kopf geschüttelt, je nachdem, also seine Willfährigkeit bekundet. Waren zwei Kerkhoven im Zimmer, einer, der sich hat überzeugen lassen und die schaurige Notwendigkeit einsieht, oh, nicht nur das, der schon längst zu dem Liebes- und Bruderdienst bereit gewesen, bewegt vom biblischen Leiden dieses wundersamen armen Lazarus, und einer, der sich sträubt und wehrt, weil es seines Amtes ist, das Leben wider den Tod zu verteidigen, bis aufs Messer, bis auf den allerletzten Atemhauch? Ja, da sind sie also alle beide da, der Mann der Barmherzigkeit und der Mann der Gerechtigkeit. Sie liegen sich in den Haaren, sie können sich nicht schlüssig werden über das Problem der Probleme, und vor dem Fenster singt schon eine früh erwachte Amsel. Ein bißchen verschlafen noch, aber sie singt. Irlen späht in den Schatten hinüber, in den Kerkhoven wie in ein Versteck geflüchtet ist. »Ich möchte wirklich wissen, was dir so viel Kopfzerbrechen macht«, sagt er achselzuckend. – »Es ist wider die Natur, Johann.« – »Was heißt das. Unser ganzes Leben ist wider die Natur.« – »Nein. Oder vielleicht ja. Aber es hat etwas von einem grausigen Betrug. Wie wenn ich die Uhr dort zerschlage, weil ich die Zeit aufhalten will.« – »Kein Verbrechen weiter, wenn die Uhr bloß noch eine Attrappe ist. Der Tod nimmt mich ja aus der Zeit.« – »Was weißt du vom Tod. Was weiß ich davon. Wenn ich wenigstens was vom Leben wüßte. Nicht einmal das weiß ich, ob der Blutdruck zentral oder peripher, chemisch oder reflektorisch, von der Niere oder vom Gehirn reguliert wird. Nicht einmal das.« – »Jaja, von dem Pelz, in dem wir brabbeln, sehn wir gerade noch die Haarspitzen.« – »Man bildet sich ein, der Krankheitswille der Organe könnte gebrochen werden«, warf Kerkhoven scheinbar ohne Zusammenhang hin; »keine Idee. Jedes Organ hat das Bestreben zum Martyrium, so auch der ganze Mensch. Er merkt es nur nicht. Da steckt ein großes Geheimnis.« – Irlen nickte. »Ich habe mir einmal ausgedacht«, sagte er, »daß das Leben dort entsteht, wo im Kosmos Stoff und Geist einander in zerstörender Absicht durchdringen. Und da der Stoff viel mächtiger ist, könnte man folgern, daß wir nur von Gnaden des Todes leben.« Kerkhoven bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort heraus. Was soll mir das, wenn ich ihn morgen nicht mehr sprechen höre, ging es ihm durch den Kopf. Irlen wandte sich ihm mit aufgehellter Miene zu. »Erinnerst du dich, Joseph, daß du mir vor langer Zeit sagtest, es fehle dir das – wie drücktest du es aus? – das Doppelte. Ja. Das Doppelte. Wenn du mich noch in dir hättest, sagtest du, könnte was Großes, in deinem Sinn Großes, aus dir werden ... oder so. Es war jedenfalls schmeichelhaft für mich. Ich antwortete, scheint mir, man könne nicht wissen, darin hätten wir vorläufig kein Erfahrungsmaterial, oder so ähnlich ...« – »Ja, ich erinnere mich« (Kerkhoven trat endlich aus dem Schatten hervor), »wie kommst du darauf?« – Sie sahen einander stumm in die Augen. »In den alten Büchern der Parsen ist viel von den Fravashis die Rede«, begann Irlen und drückte die Lider mit den Fingern zu, »die Fravashis der Reinen ist ihr voller Name. Sie sind ein Teil der menschlichen Seele, doch vom Körper unabhängige Wesen. Es heißt, daß sie in einem der Vernichtung preisgegebenen Körper nicht verweilen können, sie gehen heraus. Sie sind nicht vernichtbar wie das Gewissen und das Bewußtsein – die sind vernichtbar, heißt es –, sie sind auch nicht auf ein und denselben Leib angewiesen, sie dürfen sich eine andere Behausung suchen, vorausgesetzt, daß sie einem Reinen gehört. Wenn sie das tun, ist es ein freiwilliges Opfer. So hat man mich belehrt. Wundervoll, hör zu. Der Gott schickte sie erst auf die Erde, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie lieber in die Körper einziehen und mit den Drujas, das sind die Geister des Bösen, kämpfen wollten, um zuletzt, wenn sie die besiegt hätten, wieder unsterblich, unalternd, oppositionslos zu werden, oder ob sie vorzögen, im Himmel zu bleiben, dann müßten sie freilich bis in alle Ewigkeit den Kampf mit den Drujas führen. Nun, da waren sie einverstanden, eine Zeitlang in der materiellen Welt zu dienen. So hat jedes lebende Wesen einen Fravashi, aber es gibt Auserwählte, die haben auch zwei, sogar drei. Merkwürdig, nicht?« – »Ja, sehr merkwürdig«, wiederholte Kerkhoven mit angehaltenem Atem. Dann tiefes Schweigen.

Es wurde schon hell draußen. Der Ruf der einsamen Amsel war zu einem hundertstimmigen Vogelkonzert geworden. »Du mußt jetzt gehen«, sagte Irlen. »Wir wollen uns adieu sagen, wenn du ... wenn jene Kleinigkeit erledigt ist.«

Als die »Kleinigkeit« getan war, reichten sie einander beide Hände. Irlen hatte sich erhoben. Sie standen Blick in Blick, bis Kerkhoven sich losriß. Gesprochen wurde nicht mehr. Im Hausflur, wo es noch dunkel war, stützte Kerkhoven die Stirn an die Mauer und weinte lautlos. Nur das Zucken der Schultern verriet es.

Hier wäre, was diese Lebensepoche Joseph Kerkhovens betrifft, zu enden. Der Vorhang könnte zugezogen werden. Zu verfolgen, wie die äußern Geschehnisse, die sich an den Tod Johann Irlens knüpften, in die allgemeinen Weltgeschehnisse mündeten, in denen alles private Schicksal spurlos zerging wie eine Handvoll Salzkörner in einem grundlosen Wasser, könnte kein tieferes Interesse erwecken. Nur von einer eigentümlichen Geistes- und Seelenverfassung Kerkhovens muß noch berichtet werden, in die er fast unmittelbar nach dem nächtlichen Zwiegespräch mit Irlen verfiel und die ungefähr bis zu seiner Einberufung als Militärarzt dauerte, also annähernd fünf Wochen. Ohne merkbaren Übergang zeigte sich danach ein gänzlich verwandelter, beinahe gegensätzlicher Zustand, obwohl später, im Feld, hie und da noch Rückschläge eintraten. Das Phänomen scheint nicht eben häufig. Bei der Durchsicht der einschlägigen Literatur fand ich nur spärliche Angaben darüber, die sich durchaus nicht in allen Punkten mit dem Fall deckten. Am ehesten ließ sich an eine Apraxie denken, eine krankhafte Sinnesveränderung, aufgehobenes Verständnis für den richtigen Gebrauch der Dinge, verbunden mit der Unfähigkeit, bestimmte Bewegungen auszuführen. Zeitweilig schien es sogar Ähnlichkeit mit einem halluzinatorischen Stupor zu haben, obschon die Bewußtseinstrübungen nur vorübergehend waren. (Mit einer einzigen Ausnahme, wo sich eine solche über vier Tage erstreckte.) Von einem eigentlichen Leiden konnte nicht die Rede sein, eben wegen des episodenhaften und einmaligen Charakters. Von außen gesehen glich er in jenen Wochen einem Mann, der in einer unbekannten Gegend bei eingebrochener Dunkelheit den Weg verloren hat. Oder als erlösche in gewissen Abständen die Wirklichkeit in ihm wie ein mangelhaft unterhaltenes Feuer. (Damit hing auch die Vernachlässigung seiner ärztlichen Tätigkeit zusammen, so daß sich seine Klientel schließlich vollständig verlief. Dieses berufliche Versagen hätte eine schlimme Wendung nehmen können, die Ersparnisse waren ja geringfügig, wenn das großartige Legat aus Irlens Testament nicht gewesen wäre; es kam freilich erst viel später zur Auszahlung.) Von innen gesehen, als inneres Erlebnis gefaßt, stellt sich der Vorgang jedoch in Dimensionen und Formen dar, die über die pathologische Umgrenzung weit hinausreichen. Wenn die Seele, wie die fortgeschrittensten Gelehrten behaupten, wirklich nichts weiter ist als eine Summe chemisch-physikalischer Reaktionen, dann steht man hier ohne Frage am Ende aller Weisheit.

Das Entscheidende spielte sich zwischen zwei Besuchen bei Nina wie zwischen zwei Kontrollstationen ab, und zwar in dem erwähnten Zeitraum von fünf Wochen. Innerhalb dieser Zeitspanne lag der Schlüssel des Geheimnisses, aber niemand, Kerkhoven selbst am wenigsten, wäre imstande gewesen, darüber Auskunft zu geben. Es war, von einem Besuch zum zweiten, genau wie eine Reise, von der man scheinbar als der nämliche, in Wirklichkeit aber als ein ganz anderer an den Ausgangspunkt zurückkehrt.

Am Tag von Irlens Begräbnis, am späten Nachmittag, fuhr er in die Anstalt hinaus. »Man muß doch seine Toten in Evidenz halten«, äußerte er zynisch. Der Abteilungsarzt teilte ihm mit, Nina sei seit einiger Zeit für keinerlei äußere Eindrücke mehr empfänglich, sie brüte ununterbrochen still vor sich hin, reagiere auf keinen Anruf und sei kaum zu bewegen, die notwendige Nahrung zu sich zu nehmen. Kerkhoven meinte, daß sich dieses Verhalten ihm gegenüber wohl ändern werde, aber er täuschte sich. Sie schien ihn gar nicht zu gewahren. Als er eintrat, hob sie nicht den Kopf. Sie saß auf dem Rand des Stuhls in einer Art wie jemand, der bereit ist, beim geringsten Alarm aufzuspringen und zu fliehen. Doch das geschah niemals, obwohl sie immer so saß. Der Rumpf war ein wenig verdreht, die Hände hatte sie flach auf dem Tisch vor sich ausgebreitet wie Gegenstände. Die Augen wanderten langsam über die Fingernägel hin und her, sonst schienen sie nichts zu sehen. Kerkhoven rief sie beim Namen. Nichts. Nicht die leiseste Regung. Er hatte einen Strauß Nelken mitgebracht und legte ihn vor sie hin. Nichts. Kein Zeichen, sie starrte nur auf ihre Fingernägel, automatisch liefen die Pupillen hin und her. Zart berührte er mit der Hand ihre Schulter. Er hätte ebensogut die Stuhllehne anfassen können. Ihr Mund lächelte nicht mehr. Sie erkannte ihn nicht mehr. Es war wie eine Szene aus der Unterwelt, trostlos und finster. Er wandte sich ab. Während der Rückfahrt blieb er verstört.

Nun begann dieses halbtraumartige Dämmern in Teilnahmslosigkeit und Selbstentfremdung. Dies Warten auf ein Unbestimmtes. Herumirren ohne Ziel, mit Menschen reden, ohne sie recht zu verstehen. In seiner Haltung war manchmal etwas Unsicheres, Lauschendes wie bei einem Medium, das unter Fernhypnose steht. Für Stunden versagte das Gedächtnis, er vergaß, was er sich vorgenommen, ging zum Beispiel zu einem Patienten, der seit langem geheilt war, und versäumte den Besuch bei einem andern, der dringend seiner bedurft hätte. Es kam vor, daß er beim Schreiben eines Rezeptes, beim Verbinden einer Wunde in ein starres Besinnen verfiel, zwei, drei Minuten lang, zur ängstlichen Verwunderung derer, die gerade zugegen waren. Dann griff er sich mit scheuem Lächeln an den Kopf und mußte sich erst wieder in einer Wirklichkeit zurechtfinden, die ihm abhanden gekommen war wie der vergangene Tag. Dabei bemühte er sich, Marie die Sorge auszureden, von der sie bisweilen erfaßt wurde und die sich nur in einem angstvollen Blick, einem Zucken des Mundes verriet. Es waren ja im Grunde keine Anhaltspunkte für Befürchtungen da, wenn man ihn nicht gerade beobachtete, schien er wie jeder andere Mensch, doch weil er in ihren Augen niemals einem andern Menschen geglichen hatte, merkte sie die Veränderung um so deutlicher. Sie hatte in dieser Zeit einen Traum, der beinahe den Charakter eines Kommentars hatte, so unmittelbar drückte er ihr ahnungsvolles Gefühl aus. Sie sah ein stattliches, schönes Haus, das einsam in einer abgelegenen Gegend stand und das sie, wie ihr der Traum bewußt machte, schon oft gesehen hatte und das ihr vertraut und lieb war. Seltsamerweise hatte es keine Fenster, nur ein mächtiges eisernes Tor, sonst erhoben sich auf allen Seiten die glatten Steinmauern ohne Unterbrechung. Während sie nun das Haus lange und mit intensiver Aufmerksamkeit betrachtete, verspürte sie eine beständig wachsende Unruhe, die ihr zunächst unerklärlich war, bis sie endlich dahinter kam, was es war: im Innern des Hauses war Feuer, es wurde innen von einer Feuersbrunst verzehrt. Weder am Dach noch an der Fassade, noch am Tor gewahrte sie das geringste Zeichen davon, trotzdem wußte sie: im Innern des Hauses war Feuer. Mit diesem Alpdruck-Wissen wachte sie auf.

Sie konnte sich Kerkhoven nicht zu allen Stunden widmen, in denen sie wünschte, ihm nah zu sein. Unermüdlich in ihrer Liebe zu ihm, war sie auch unermüdlich in jeder andern Liebe, sie stand vielen Menschen bei, die Freundinnen erinnerten sich ihrer nie mit sich selbst sparenden Tatbereitschaft. Daß sie viele Nächte schlaflos zubrachte, den blutigen Visionen ausgeliefert, die ihre Phantasie heraufbeschwor, und angesichts des Schreckens, der die Menschheit heimsuchte, das schmerzliche Verlangen nach einer klösterlichen Abgeschiedenheit kaum unterdrücken konnte, sah man ihr am Tage nicht an, wenn sie sich allem Ungemach gewachsen zeigte und jedem Dienst stellte. Ernst Bergmann, der Offizier der Reserve war, hatte schon in der ersten Woche ins Feld gemußt, die bereits eingeleiteten Scheidungsverhandlungen waren sistiert worden. (Sie brauchten nicht mehr aufgenommen zu werden, denn im Oktober fiel er an der belgischen Front.) Ende August wurde es notwendig, daß sie zur Ordnung von Familienangelegenheiten nach Dresden fuhr, wo sich gegenwärtig ihre Mutter befand. Kerkhovens wegen entschloß sie sich äußerst ungern zu der Reise, die sie immerhin acht bis zehn Tage von ihm trennte. Er begleitete sie auf den Bahnhof; während sie vor dem Zug auf und ab schritten, erzählte sie ihm ihren Traum. Er hörte mit gesenktem Kopf zu. Dann blieb er stehen und faßte ihre Hand. »Weißt du, was das Feuer bedeutet?« sagte er. »Nichts weiter, als daß alles alte Gerümpel in dem Haus verbrennt.« Sie antwortete nichts. Sie schaute ihn nur bebend an, in den Majaschleier ihrer Liebe gehüllt.

Er ging vom Bahnhof nach Hause, es war schon gegen Abend, rosige Dämmerung hing über den Häusern und Höfen, er machte alle Fenster zu, weil er die Geräusche nicht hören mochte, die noch dazu von den hastigen Schlägen eines Maschinengewehrs wie vom Getack eines Mammut-Bohrwurms übertönt wurden. Er stand im Sprechzimmer und griff geistesabwesend nach allerlei Dingen, bald nach dem Bunsenbrenner, bald nach dem Mikroskop unter der Glasglocke; er nahm den Sterilisator vom Rost und starrte hinein, blätterte im Krankenjournal, alles mit einer müden Neugier, wie wenn es unbekannte, aber keineswegs anziehende Gegenstände wären. Der Raum hatte was Entlegenes, was Gemiedenes fast, eine Hexenküche ohne jeden Spuk, nur noch mit den ernüchternd wirkenden Requisiten. Er riß ein Blatt vom Notizblock herunter und schrieb mit großen Buchstaben: Dr. Kerkhoven ist verreist. Dann ging er hinaus und heftete das Papier mit vier Reißnägeln an die Eingangstür, die er von innen verriegelte. Hierauf begab er sich ins Sprechzimmer zurück, legte sich auf den Diwan, streckte die Glieder wie zu tiefem Schlaf und sah zu, wie es finster wurde. Ein schmaler Lichtschimmer an der Decke bewegte sich hin und her wie ein okkultes Pendel. Nach einer Weile verlosch dieses Licht. Und dann auch der Raum, das Drinnen wie das Draußen. Denn so, ohne Regung, ohne Blick, nur als schlagendes Herz und atmende Lunge, lag er vier Nächte und vier Tage. Er vermochte später nichts darüber auszusagen, als daß er fortwährend die dumpfe, aber durchaus nicht quälende Empfindung gehabt habe, in einem undefinierbaren Element, nicht Luft, nicht Wasser, etwas gänzlich Fremdartigem mit einem Wort, zu schweben, und zwar mit dem vollkommen klaren Bewußtsein der vergehenden Zeit; er könne sich vorstellen, daß so ungefähr das Lebensgefühl eines Baumes beschaffen sei. Als er in seinen gewöhnlichen Zustand zurückkehrte, stand die Sonne hoch, es mußte Mittag sein, er nahm in Eile irgend etwas zu sich, was sich in der Küche vorfand, gleich darauf stand es für ihn fest, daß er zu Nina in die Anstalt hinausmüsse. Warum sich ihm gerade dies als gebieterische Notwendigkeit aufdrängte, als etwas, das zuallererst getan werden mußte, blieb vorerst auch ihm selbst ein Rätsel. Er hatte es nicht im mindesten überlegt, er handelte einfach unter einem Befehl. Ganz begriffen hat er es auch später nicht; wenn er den Versuch machte, seine Gedanken darauf zu konzentrieren, wurde ihm sofort unheimlich zumut, und er gab es auf. »Ich konnte mir doch nicht einbilden«, sagte er zu Marie, als er ihr nach ihrer Rückkehr das Geschehene erzählte, »daß ich ihr armes, krankes Gemüt heilen könnte. So was wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, da wäre ich ja selbst ein halber Narr. Ich weiß nur, daß es mir immerfort im Kopf herumging, wie erbärmlich ich mich fühlte, als ich vor ihr stand und sie überhaupt keine Notiz von mir nahm. Ich habe mich unmenschlich geschämt dabei. Ich sagte mir, so traurig ist es bestellt um deine innere Gewalt, daß ein Geschöpf, mit dem du Jahre und Jahre gelebt hast, nicht das geringste von deiner Nähe spürt, daß du nicht einmal ihren Blick zu dir zwingen kannst? Das hat nichts mit dem Sensorium zu tun, das ist Sache des Bluts. Und wenn mir das Blut in einem Menschen auf meinen Ruf nicht antwortet, was habe ich dann zu suchen auf der Welt? Wahrscheinlich deshalb hat es mich wieder hingetrieben, verstehst du? Wegen der Probe. Und die ist ja gelungen. Für ein Intervall. Gewiß. Aber ein Intervall herauszaubern aus der anima nocturna war schon viel. Eine Sekunde lang schien's, als bitte einen die Natur wegen ihrer Grausamkeit um Verzeihung. Kannst du es verstehen? Das Eis war durchgestoßen, das war's.« Marie packte ihn jäh bei den Schultern und schaute ihn tiefbetroffen an. Das Irlensche Wort in dem Augenblick! War es Zufall, daß er es gebrauchte? Wir unsererseits müssen es annehmen. Das Motiv, mit dem er Marie gegenüber seinen Impuls erklärte, klang jedenfalls plausibel, obwohl er den wichtigsten Umstand dabei außer acht ließ, nämlich aus welchem Grund er sich an diesem Tag einen Einfluß oder, wie er es nannte, die innere Gewalt zutraute, die er vier oder fünf Wochen vorher nicht besessen hatte. Darin eigentlich lag das Geheimnis, und diesen Punkt berührte er mit keinem Wort.

Als er sich auf den Weg machte, fühlte er sich unsäglich leicht gestimmt, auch physisch ohne Schwere. In der Anstalt draußen mußte er ziemlich lange auf den Abteilungsarzt warten, der teilte ihm dann mit, im Befinden wie im Gehaben Ninas habe sich nicht viel geändert, nur etwas lenksamer sei sie geworden. Doch spreche sie weder noch zeige sie irgendwelches Interesse, noch sei sie zu einem Gang ins Freie zu überreden. Mitten in seinem Bericht stutzte er und blickte Kerkhoven forschend an. »Was gibt's, Herr Kollege«, fragte dieser freundlich, »hab' ich was an mir?« Der junge Arzt errötete flüchtig. Es war ihm allerdings etwas aufgefallen, aber was es war, konnte er nicht sagen, ein Ausdruck in den Augen vielleicht, eine nicht bezeichenbare Veränderung in der Haltung. Sie gingen dann hinauf. Kaum daß sie eingetreten waren, geschah das Unerwartete, schier Ergreifende. Beim Klang seiner Stimme, zuckte Nina zusammen. Sie schaute empor, schaute ihn an. Groß, groß erstaunt, als ob er eine Erscheinung für sie sei. Auf einmal ging ein Leuchten über ihr Gesicht, sie erhob sich, schritt zögernd auf ihn zu, verneigte sich erst wie eine Dienerin, sehr tief, und während ein Schauer merkbar über ihre Glieder rann, schmiegte sie sich mit einer halb ehrfürchtigen, halb kindlich getrösteten Bewegung in seine Arme.


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