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VII. Die fernen Ufer

Ein naßkalter Oktobertag ging zu Ende. Anna legte den Pinsel beiseite und betrachtete erstaunt und ein wenig betrübt ihr Werk. Das war nichts Rares, was sie an diesem langen Nachmittag zusammengepinselt hatte. Aber freilich, es war auch kein leichtes Ding für Hand und Auge, einem Willen zu gehorsamen, der, von lockenden Bildern und Träumen umgaukelt, immer wieder ausglitschte. Die lieben Träume! Anna legte den Kopf zurück und lächelte; dann aber packte sie resolut ihr Malzeug zusammen. Schließlich, hatte sie nicht lang genug dagesessen über der peinlichen Arbeit, jahrelang, und war der Tag, der einem des Liebsten ersten Brief gebracht – ach, einen Brief so voll Liebe und Innigkeit und zartem Feuer – war der nicht feiernswert?

Sie trat ans Fenster und sah in den nassen, von unablässigen Regenschauern durchrieselten Herbstabend hinaus. Ihr Blick fiel auf den Blarerturm, der regenschwer und dunkel mit weinenden Dachrinnen dastand, und da mußte sie an einen andern Abend denken, wo sie gleichermaßen hier am Fenster gestanden und zu dem mürrischen Klotz hinübergeschaut hatte, dannzumal, als sie von Braunfels zurückgekehrt war und ihr die verwaschene Welt und alles so trostlos vorgekommen, so grenzenlos trostlos. Und heute? Hing vielleicht der gelbgraue Himmel weniger tief als damals und waren die Pfützen aus dem unebenen Pflaster der Münstergasse minder schmutzig oder hatte vielleicht der alte verweinte Turm ein freundlicheres Gesicht bekommen? Gewiß nicht, und doch, wie anders das heute aussah! Die kleinen gelben Bächlein, die lustig die Napfgasse herunterstürzten, so eilig hatten sie es, als ob ein jegliches erzählen wollte, wie schnell die Zeit vergeht und daß ein Jahr vorüber, man weiß nicht wie! Aber die tiefhängenden Wolken, die sich fast mühsam über die Giebel schleppten, erzählten sie nicht von jenen andern, die einst die Regensberger Burg einspannen, daß es ganz heimlich wurde drinnen und voller lieblicher Traulichkeiten? Ja, in jenen verschwiegenen Tagen hatte sie den Regen lieben gelernt. Wann man einmal durch den tropfenden Garten huschte, unten an der Ringmauer vorbei, wo es so einsam war unter den efeuverhangenen Erkern, daß kein Mensch einen sah oder hörte, und wann man dann zurückkam mit kalten feuchten Händen, daß man sie sich wärmen mußte – im Jägerstübchen brannte ein kleines Feuer im Kamin, dort roch es seltsam nach Horn und Harz und regendampfenden Kleidern, und gerade war man allein ... Anna lächelte, ja gewiß, er war etwas Schönes, der Regen. Mit weichen Pinseln ging er über die Welt und löschte die Gegensätze und machte alles mild und zart. Das hatte sie nur nicht gewußt, früher, aber jetzo gingen ihr die Augen auf, immer mehr.

Leise schloß sie das Fenster und wandte sich in ihre Stube zurück. Und abermals mußte sie lächeln. War nicht auch hier alles anders geworden? Mit liebkosenden Blicken durchging sie den altvertrauten Raum. Dort hing ihr Kinderbildnis, das sie noch in des Meisters Sulzer Werkstatt gemalt; mit wieviel Innigkeit hatte er es betrachtet, da sie zum ersten Mal selbander dieses Sälein betraten: »So hast du ausgesehn, Liebe?« und dann hatte er ein wenig gelacht: »So streng war die Puppe, daraus mein holder Sommervogel geflogen?« Und hatte sie geneckt, daß sie auf dem jungen Bilde ihr Haar also unter einer schwarzen Kappe versteckt und ihre Brust mit starrem silberverschnürtem Mieder wie mit einem Panzer also streng umschlossen hatte ... Und die Tür dort, konnte sie jemals den erwartungsvollen Bogen betrachten, ohne ihn darunter zu sehn, wie er plötzlich eintrat und seine Augen leuchteten. Ja, und des Onkels Fähndrich Truhe, wie oft waren sie da gesessen mit zärtlichen Worten und zärtlichen Händen, aber in größerer Glückseligkeit nie als damals, nachdem das Sonderbare geschehn, dessen Erinnerung ihr heute noch rätselhaft anlag und mit einem kleinen Schmerz in der Brust trotz der Süßigkeit. Denn heute noch begriff sie nicht, weshalb er solches von ihr verlangte, daß sie die Plän opferte, die lang gehegten, dieweil er es nicht leiden mochte, daß sie den Tod malte, und es nicht leiden mochte, daß sie diesen Blättern eine Liebe gab und einen Eifer, den er für sich allein wollte, ganz allein. Es war so sonderbar und wehtuend. Aber als sie es ihm zugegeben und, den harten Worten und heißen Blicken weichend, die geliebten Blätter weggeschlossen hatte, für immer – wie lieb er da war, wie so ganz voller inniger Zartheit – keine größere Glückseligkeit!

Vielleicht lag alles Glück und Wunder der Liebe darin, daß man geben konnte, rückhaltslos geben; denn da war einer, der alles wollte, und das Größte am liebsten.

So königlich hätte sie geben mögen in der Kunst, aber es war ihr mit nichten vergönnt gewesen. Das Kleine wollte man von ihr, das Gefällige; aber das Große, darein sie ihre ganze Kraft hätt' legen können, wer fragte darnach? Und so war alles verstückelt geblieben, halb und ohne Richtlinien. Jetzt aber konnte es anders werden, und die Ganzheit, darnach sie sich gesehnt hatte all ihr Leben, und das Vollendete, Runde, wohl konnte es noch kommen; nur tapfer mußte man sein, nur hier keine Halbheit, nur in der Liebe kein Markten.

So hatte sie ihre Plän geopfert und die Träume langer Jahre, und so würde sie – wenn es sein mußte – auch mehr noch geben. Ihre Malerei, war das so was Fürtrefflichs? Da hingen die Bildchen rings an den Wänden, größere und kleinere, fertige und unfertige, war da vielleicht ein einziges, das sie so ganz befriedigte? Er aber, da er von ihr ging: »Als ein armer Versprengter bin ich hergekommen, wirr und verstört, als ein Klarer geh' ich zurück und hat mein Leben die Richtung bekommen, so zur Güte führt und zum Glück.« Gab es etwas Herrlicheres als sein dankbares und inniges Gesicht? Und der heutige Brief, hatte ihr ganzes eifervolles Leben etwas gezeitigt, das sich diesem vergleichen konnte an Völligkeit und restlosem Begnügen?

Jetzt erst begriff sie das alte Wort, daß der Weg zum eignen Glück durch des andern Freude führe; aber der Weiser an diesem Weg war die Liebe.

Und die Liebe öffnete die Augen und machte, daß man alles neu sah und wahr. Da wurde der regenschwere Herbsttag schön und sanft und die dunkle Stube froh, und selbst aus jenen Ecken, wo die Nacht schon saß, sah es sie an wie mit zärtlichen Augen.

Aber die Liebe machte auch feinhörig, daß man die sämtlichen Töne vernahm bei sich und den andern. Hatte nicht ihr eigenes Leben früher dem kleinen Betzeitglöcklein geglichen, das dünn und einfältig daherklingt? Nun aber waren die großen Glocken dazugekommen, daß es schwer tönte und voll, mit vielen unterschiedenen Stimmen, wie Sonntagsgeläut des großen Münsters. Aber auch bei den andern lernte man neue unerhörte Tön vernehmen, wenn man nur lauschen wollte, und sie wollte lauschen!

Oft kam es ihr vor, als ob sie mit ihrem Glück wie eine unverdient Bekränzte zwischen den kranzlosen Schwestern ging. Das Glück wollte sie sich abverdienen an den beiden Einsamen, ehe sie ging. Geordnet und hell sollte es werden in dem ernsten Hause und jegliches begnügt und sicher an seinem Platze, daß sie keine Lücke ließ, wann sie ging.

Als ein helles Banner setzte sie diesen Vorsatz vor ihr Leben und folgte ihm mit einem freudigen Glauben durch die kurzen Wintermonate, die sich freundlich und erfolgreich reihten; denn die Liebe war wie ein Zauberstab, und was man anrührte, gelang.

Wie oft hatte sie früher gesucht, den Ihren zu helfen, beides, mit Willen und wider Willen, es war ihr kaum geglückt. Aber nun war die Kraft da. Es war nicht allein ihre Liebe und die häufigen, ach, so herrlichen Briefe, die den Winter hell machten und reich, und nicht allein in ihrer Kammer war es wie milder Sonnenschein, sondern allenthalben, im ganzen Hause ein frisches und neues Leben. Zuerst hatte ihre Sorge für Elisabeth einen neuen lebenskräftigen Weg gefunden. Ganz vorsichtig und allmählich hatte sie der Zögernden einen Plan in den Kopf gesetzt zu einer Tätigkeit, für die sie paßte wie keine andere. Liebte sie die Kinder nicht über alles und hingen ihr diese nicht an wie einem Mütterlein? Und welch feine Hand sie führte und wie schön sie sang! Wie, wann sie sich ganz mit ihrem Können und ihrer Liebe in den Dienst der Kleinen stellte? Und als der Plan zu Elisabeths Kinderklasse schon reif war und allenthalben Gestalt annahm, da hatte Anna schon wieder einen neuen Vorschlag: in einer solchen Schule, ein rechtes Buch sollte man haben und Schreibvorlagen, darnach die Hand aufs beste zu üben. Aber dieser Plan galt nicht allein Elisabeth, sie selber wollte mithelfen an dem Werklein, und es gelang ihr, auch die stille Maria dafür zu gewinnen; daß aber selbst der Amtmann nicht übel Lust zeigte, mitzuwirken, dieweil er sich seiner genugsam bewunderten Schreibkunst nicht zu schämen brauche, das war doch auch für Anna eine Überraschung.

So hub denn ein lustiger und eifriger Wettbewerb an, und die langen Winterabende fanden Anna nicht länger allein in ihrer einsamen Malstube; da saß man drunten um den großen Tisch und schrieb und komponierte. Jegliche Woche ward ein kleines Schiedsgericht aufgestellt, sowohl über die Ausführung als den Text, den man zumeist selbst verfaßte in denen gebräuchlichen Hauptsprachen, und die vorzüglich befundenen Blätter wurden säuberlich beiseite gelegt. Anna aber setzte die schönen Kalligraphien in Kupfer, Marias ein wenig schwere nachdrucksame Schrift, des Vaters scharfe, durchsichtig ausgewogenen Zeilen und die eigenen klaren, schönzügigen Lettern; aber Elisabeths Blätter lagen zwischen den andern ziervoll, wie mit hundert Blumen bestreut.

Und es war, als ob auch Frau Esther diese traulichen Abende wohltäten, an denen ihr gestrenger Eheherr zutunlicher und freundlicher erschien denn je. Ihre ängstliche Bekümmernis löste sich und schwand vor etwas, das schier einer Freudigkeit glich. Noch nie war man so beisammen gewesen, und Anna fühlte mit Staunen, wie eine Schranke, so die Malerin und die Mutter immer getrennt, fiel, seitdem sie Braut geworden. Zuerst freilich war es nur ein Klagen gewesen: »Mußte es grad der sein, wiederum einer ohne die feste Stell und gar so weit weg?« Aber dann hatte sie sich doch darein gefügt, und nun war es wie ein stilles Einverständnis zwischen Mutter und Tochter. Man redete kaum davon; aber wann Anna bisweilen aus einem innigen Blick oder auch wohl aus einem verständnisvollen Wort spürte, wie ihre liebsten Gefühle bei der Mutter Nachklang fanden, war es jedesmal wie ein stilles Wunder und ein stilles heiliges Fest.

Auch zu dem scheuen Heinrich suchte sie einen Weg; aber es war nicht leicht, dem unergründlichen Knaben beizukommen, der sein schwärmerisches Innenleben hinter einem kühlen und abweisenden Äußern verbarg und sich nach Art jener zarten Pflänzlein, die mit fadendünnem Stengelchen und seinen roten Fränschen auf der Sumpfwiese von Rüti wuchsen, bei jeder kleinsten Berührung zuckend und herb zusammenschloß. Aber Anna ahnte, wie dieser unreife Geist von Zweifeln, Sehnsüchten und allerlei sonderlichen Phantastereien durchwühlt war und siech, und sie spürte, daß da kein Forschen am Platz war und kein Mahnen, nur warten mußte man, bis die Stunde kam, da er ihre stumme Sorge begriff und sich ihr offenbarte. Und sie wußte, daß es kommen würde; denn seit sie sehend geworden, war mit jedem Werke das Gelingen.

Nur in der Malstube droben starb nach und nach die emsige Arbeit. Waren des Liebsten Briefe schuld daran, aus denen immer neu die eifersüchtige Sorge sprach, daß Anna durch die Ausübung ihres Berufes ermüdet und von ihm und ihrer Liebe abgezogen werde, oder kam es davon, daß die Aufträge mehr und mehr zurückblieben, dieweil man allbereits mit ihrem Fortgehen rechnete und ihr, die durch die Verlobung aus dem Besondern heraus ins gewöhnlich Alltägliche getreten, einen verminderten Anteil entgegenbrachte? Oder lag der Grund vielleicht tiefer? Wären nicht des Vaters ernstfragende, schier vorwurfsvolle Augen gewesen, sie hätte es kaum gewußt, daß ihr Pinsel so oft ruhte, und sie fühlte keinen Schmerz darüber – kaum eine kleine Wehmut – wann ihre Malstube oft ganze Tage verlassen war, gab ihr doch ihr neues Leben an allen Enden zu schaffen. Es kam der Frühling und brachte die Früchte des Winters. Elisabeth eröffnete ihre kleine Schule, und da sich schon in den ersten Apriltagen die große Stube gegen die Ankengasse hin, die man ihr eingeräumt, mit allerlei kleinen Leuten füllte, ging bald ein lustiges und lautes Leben durch das stille Haus, das manchen altverhockten Schatten und manche eingefrorene Betrübnis zu verscheuchen und schmelzen vermochte.

Und dann kamen die Schreibvorlagen heraus in einem hübschen Gewändlein. Anna hatte selbst das Umschlagpapier gewählt; es zeigte auf sattrotem Grund viel güldene Amoren mit Füllhörnern und früchteschweren Kränzen und erschien ihr recht als ein Symbolum dieser warmen und reichen Zeit. Das schmucke Büchlein aber fand allenthalben so der guten Invention als vorzüglichen Ausführung wegen Bewunderung. Man hatte Ähnliches noch nicht gesehn, und manch freundliches Wort und erfreuliches Lob erreichte die kunstreichen Schwestern, denen sich nun auf eins auch die abseitige Maria zugezählt sah, und unter dem neuen Schein, der dadurch auf ihren mit soviel schmerzhaften Vorstellungen verbundenen Namen fiel, gestaltete sich auch ihr unversehens manches leichter und neu. Und dann wurden ihre Pflichten größer und fester umgrenzt, da Elisabeth ihren Beruf gefunden, und das tat gut, der feste Wirkungskreis, gleich einer festen, hilfreichen Hand, die zur Ruhe zwingt.

Zum ersten Mal wollte der Frühling im Haus zum grauen Mann Widerhall finden. Aber Anna ließ es sich dabei nicht genügen und suchte ihn auch draußen auf, wo er sich mit Vogelsang und jungem Grün darstellte.

Auf dem Lindenhof waren nun die Tage schon weich. Eine grüngoldene Luft lag unter den breiten Ästen der mächtigen Bäume, wenn die Sonne durch die zarten Blättlein fiel, und seine Schatten zeichneten sich auf dem weiten Plan; sie waren durchsichtig und grün wie die Luft, und wann man darüber hinschritt, vermeinte man durch grüne Kronen zu schweben wie die Vögel, die mit den hellen Stimmen soviel Jubel und Sehnen in die blaue Luft verschickten. In den Gärtchen unterhalb der Mauer, die den Lindenhof wie ein Burgfelsen über die Stadt erhob, blühten die ersten gelben Büsche mit zarten, rasch welkenden Sternen, und ganz zu unterst eilte die Limmat vorbei und zerriß mit grünen Wellen die bunten Spiegelbilder der Häuser am Stad.

Das alles hatte Anna auch früher gesehn; aber die zarten Schatten und vergänglichen Lichter, die schnellwelkenden Blümlein und enteilenden Wellen hatten ihr jeweilen Bedrängnis gebracht und Trauer, wie alles an dieser seltsamen rastlosen Jahreszeit, die man nirgends fassen konnte und niemals begriff, die mit tausend holden Verheißungen an uns vorbeirauscht, die ist wie ein hastiger, überstürzter Trunk, der die Kehle durstig macht und den Kopf heiß.

Jetzt aber tat sie ihr wohl, diese enteilende Zeit mit dem jubelnden Drängen nach der Erfüllung.

Die zarten Lindenblättchen – wie bald waren sie dunkel und dicht, und wann erst von den feinen Spitzen ein gelbes Schimmerchen nach den Rispen zufloß – ja dann! Und die gelben Sternlein dort unten, bald fielen sie ab, und kleine grüne Kugelchen erschienen an ihrer Statt; aber wann diese erst groß waren und glänzend und von einem schweren durchscheinigen Not – ja dann – dann ging auch ihr Weg dorthin, wo die rastlosen grünen Wellen strebten, unablässig und sicher.

Aber manches sah sie auch, was sie früher nicht beachtet hatte. Oft schaute sie nun den jungen Müttern zu, die mit ihren Kleinsten auf dem Arm da herauskamen. Mit leise wiegenden Schritten gingen sie der breiten Mauer entlang, hin und her, immer der Sonne nach. Und alle neigten sie die lächelnden Gesichter tief auf die runden flaumigen Köpflein nieder, als ob die ganze Welt draußen nicht da wär', und alle waren sie schön und hatten einen seltenen Glanz in den Augen.

Das hatte sie früher nie gesehen, dieses Versunkensein und stille Begnügen.

Mit zärtlichen Augen sah sie ihnen nach, folgte jeglicher Bewegung und erhaschte jeden leisen Laut jenes ewigen Liedes, das zwitschernd und zart hin- und herwebt zwischen Mutter und Kind. Sie dachte an Enneli, des Bruders junge Frau. Seit einiger Zeit ging sie mit frohen, andächtigen Augen einher und war etwas Reises und Stilles in ihr Wesen gekommen – im Spätsommer würde auch sie so ein Kleines in den Armen halten. Ja, und wann der Sommer sich zum andern Mal neigte ... Ein Schauer lief ihr über die Haut, und ihr Herz erbebte. Allmächtiger, das Wunder, das Wunder! Solches vermochte die große Liebe: aus zweien eines schaffen, das beide vereinigte und keinem gleich war, urvertraut und doch so neu, daß nichts aus der Welt ihm ähnlich, eine Vollendung, heißem Wollen und Wünschen ein neues und besseres Ziel. Das Wunder!

Aber dann fiel ihr ein Wort der Marquise ein, und sie sah das edle Gesicht wieder, wie sich ein scharfer und kalter Zug zwischen die klugen Augen legte, derweil sie sprach: »Leibeskinder, eine Lotterie, denn keiner weiß, welch trübe und unerfreuliche Fäden von Urväterzeiten her heimtückisch in dies neu Gewebe schießen. Ein zufällig, vergänglich Ding, wie alles Fleischliche: aus schwacher Stunde entstanden und der schwachen Stunde verfallen von allem Anfang an. Aber die Geisteskinder, aus Kraft und Willen geboren und zu Kraft und Dauer bestimmt, die sind nicht zufällig und vergänglich nicht, die sind's wohl wert, daß man alles hingibt für sie.« Und dann hatte sie sich ans Clavecin gesetzt und eine Melodie gespielt, süß und heiß erst, aber schließlich mit einem stillen, wehen, entsagenden End. Und als Anna wehmütig und mit stillen schmerzlichen Tränen gelauscht, hatte sie gelächelt: »Siehst du: Rühren, erschüttern und wehmütig Verzichten lehren, das wollte, der dies Lied erdacht, und rühren, erschüttern und zur stillen Entsagung führen wird er, solange es Töne gibt und Hände, solche zu rühren, und Herzen, solche zu verstehen. Und so auch du: Jeden tiefen Gedanken und jegliches Gefühl, das du mit kunstreicher Hand im Bild festhältst, werden alle nach dir, denen dein Werk zu Augen kommt, so denken und so fühlen müssen, wie du es gewollt.« Wie hatte Anna damals die Worte ausgenommen, mit glücklichen und gläubigen Sinnen, und hatte ihr Ziel höher gesteckt über dem freien Weg.

Aber heute wußte sie, daß es anders war. Ihre Geisteskinder, verkümmert, von tausend Zufälligkeiten bestimmt, von tausend Schranken beengt, so waren sie entstanden, und der Gedanke schreckte sie, daß diese halbgeglückten Geschöpfe, denen die beste Kraft ihres Herzens fehlte, Dauer haben würden und Bestand, wann sie längst nicht mehr war und mit ihr jene andern, vollkommeneren Seelenkinder gestorben waren, die sie zur Welt zu bringen weder Kraft noch Macht gehabt, noch Gelegenheit.

Gelegenheit? Es durchzuckte sie wie ein schlechtes Gewissen: Hatte sie sich ihr nicht geboten und wie kostbar! Wohl, wohl; aber so spät, da hatte sie sich schon müdgekämpft an den vielen Schranken und müdgedacht an den ungeborenen Werken, und inzwischen hatte das Schicksal entschieden, und Gott hatte es anders mit ihr gemeint.

Eine der jungen Frauen setzte sich neben Anna aus die breite Steinbank, um ihrem Kleinen die Milch zu geben. Sie sah zwei rosenrote Händchen, die mit lieblicher Unbeholfenheit in der Lust spielten, und sah ein rundes Köpflein mit weißlich schimmernden Härchen dran und zwei glänzende Augen unter lustig aufgebogenen Brauen. So ein Geschöpflein, und das sollte zufällig sein und vergänglich! Ja, die Marquise, die aus einer lieblosen Ehe ein undankbares Kind empfangen, das die andersgläubige Mutter schmählich verließ, die konnte wohl so reden, aber das Weib da, wann sie die gefragt hätte: »Wie hast du dein Kind gefunden, da du's zuerst sahst?« würde sie ihr nicht antworten: »Grad so, wie ich mir's gewünscht und gedacht, nur schöner noch und herziger und viel klüger!« Und wie war das mit der Vergänglichkeit? In wenig Jahren, dann würde das kleine Dirnlein schon groß sein und würde da herumlaufen, wie jetzt die vielen Mädchen taten drüben in der andern Ecke des Platzes; sie hielten sich bei den Händen und tanzten mit mehr Würde denn Ausgelassenheit ringsherum und sangen die lieben alten Verslein, solche man unten in der Straße nimmer hören durfte. Aber an diesen Frühlingstagen machte selbst der Profos mit einem versteckten Lächeln einen Bogen um den Lindenhof und ließ das Jungvolk oben nach Herzenslust zwitschern und jubeln wie die Vögel, die bis anhin auch keine Sittenmandat nicht erreichen gekonnt ... Ja, so würde auch dieses Kindlein singen, und wieder um ein paar Jahr später, da würde es heraufkommen mit lächelnden Augen und wiegenden Schritten und würde selber so ein Geschöpflein in den Armen halten, das aus lustigen Augen in die Welt lacht und soviel schöner und herziger und klüger war, als man je gehofft ... Und so ging es weiter und weiter, und wann einst das Rathaus dort unten alt und gebrechlich dastand, zermürbt die festen Mauern, die heut einer Ewigkeit zu trutzen vermeinten, und zerbröckelt und vernichtet die Heldenköpf ringsherum, da würde irgendwo ein junges Menschlein mit ebendiesen glänzigen Augen in die Welt schauen, unter ebenso luftig aufgebogenen Brauen hervor und im warmen Herzchen ein Tröpflein von dem Blut tragen, das jetzt durch diese kleinen Fäustchen schimmerte, die ganz nahe bei ihr mit lieblicher Unbeholfenheit in der Luft spielten. So also stand es um die Vergänglichkeit des Fleisches, daß kein Tod dazwischen Platz fand, dieweil sich überall das Leben erneuerte unter dem großen Wunder der Liebe.

Oh, er hatte recht gehabt damals, wozu den Tod malen, wer die Liebe hat! Denn Liebe ist ewiges Leben. Und Liebe ist Anfang, Erfüllung und Ziel.

Auch dies lernte sie erst jetzt erkennen, in diesem seltsamen Sommer, da ihre wachen Sinne überall im Leben der Natur die heilige Stimme der Liebe gewahrten. Der Sommervögel schimmerndes Gaukelspiel und der kleinen Fische hastige Züge grabenwärts und des Finkleins durchsichtiger Jubel und der Amsel verschleierter Sang, ach, und all der Duft und tausend Liebesaugen der Blumen, hatte das alles nicht einen Sinn und ein Ziel? Und der Lindenblust – nun verstand sie Sibylla, nun fand sie sein Duften nimmer kühl und fromm, wohl aber schwer und betäubend, wie der drängende Atem der Sehnsucht. Oft war ihr, als ob sie durch tausend Fäden mit der ganzen Welt verbunden wäre, daß sie Geheimnis und Größe der Natur und die Schönheit ihrer Heimat zum ersten Mal ganz erfaßte, in diesem seltsamen Sommer, mit dem sie der Erfüllung des Herbstes entgegenreiste.

Aber als die Zweiglein sich der reifen Fülle neigten, da stand ihr Bäumlein immer noch früchteleer.

Kurz vor den Vakanzen, die ihr den Liebsten hätten bringen sollen, war der Brief eingetroffen mit der trüben Nachricht, daß Hans zwar die Stell am Gymnasio bekommen, die ihm lange zugesagt, daß er sie aber annoch mit einem andern teilen müsse, sodaß für ihn zwar mindere Arbeit, aber auch minderer Lohn herausschaue, solcher die Gründung eines Hausstandes noch nicht erlaubte. Es hieß also noch warten, noch ein ganz klein wenig warten; denn lang konnte es nimmer dauern: war er erst einmal da, so wollte er sich seinen Platz schon erobern.

Warten, das war ein schlimmes Wort, sonderlich wann man die Brücken allbereits hinter sich abgebrochen hatte. Mit leisem Frösteln dachte Anna an ihre verlassene Malstube; die hatte ein mürrisches und unbequemes Gesicht bekommen über dem erwartungsvollen Sommer, wie ein erzürnter Schulmeister. Darin mußte sie sich nun wohl wieder einrichten, dieweil sie überflüssig geworden, allenthalben im Haus, wo die Schwestern sich mit neuen Kräften zielvoll zurechtgefunden. Aber dem Liebsten schrieb sie ein gutes Wort: »War es etwan keine schöne Zeit, dieses liebe Jahr mit denen glückhaften Briefen und da jedes, ohngeachtet des weiten Wegs, so zwischen uns lieget, sich dem andern nahe wußte? Wollen wir undankbar sein gegen den gütigen Gott und nicht lieber denken: Das Glück, je schwerer errungen, umso besser verdient!«

Und als die Mutter bei der Nachricht mit zitternden Händen ihr feines Haar unter die Haube schob und ihr die Tränen in die Augen stiegen: »Armes Kind, muß ich's wohl zum dritten Mal erleben!« hatte sie lächelnd geantwortet: »Bin ich Euch allbereits über geworden? Laßt mich noch ein weniges da; wann ich geh', es wird auch noch früh genug sein!« und die andere hatte sich seufzend gefügt.

Nur der Amtmann schien die Kunde gleichmütig aufzunehmen: »So wird dir denn, die verlassene Malerei wieder um ein weniges aufzunehmen, Gelegenheit geboten,« sagte er ernst, und sein prüfender Blick hatte Anna das Blut in die Wangen gejagt, daß sie allsogleich hinging und an Herrn Lukas Hofmann schrieb, ein paar kleine Aufträg, wann sie nicht gar zu zeitraubend, würde sie wohl noch ausführen können. Und Herr Hofmann nahm mit Freuden den Vorschlag an, machte unverzüglich ein paar Bestellungen, äußerte überdies aber auch einen Wunsch: »Wann Euer Liebesglück und zart Herzensangelegenheit Euch etwan zu einer jener Schäfereien, solche Ihr früher mit soviel Kunst und Zierheit zu malen verstanden, zu inspirieren vermöchten, an Käufern würde es uns nicht manglen.«

Das Wort gab Anna zu denken. So hatte sie es früher auch gemeint, daß die Liebe einen zu besondern und großen Werken sollte begeistern können, und aus der Liebe hatte sie ja auch einst einen Aufschwung und eignen Weg in der Malerei gefunden; aber jetzt war es so anders, und des Liebsten Eifersucht war nicht allein schuld, daß sie wie fremd geworden in ihrer eigenen Kunst. Da war etwas viel Größeres und Ungemeines. Wohl hatte Herr Werner recht, Liebe und Kunst, beide hatten nicht Platz in eines Weibes Herzen; doch daran war nicht die Enge des Herzens schuld, wohl aber die Größe der Liebe. Ja, jene helle Jugendliebe, die hatte sich schon vertragen damit. Wie ein frisches Morgenlüftchen war die, das die Augen klärt und die Kräfte stählt; nun aber war es gekommen wie ein Sturm, der Bäume entwurzelt und stille Wasser aufwühlt, und war gekommen wie ein Erdbeben, das Ströme versiegen läßt und Inseln auftauchen über neuen Gewässern. Und da stand sie nun in dieser neuen Welt mit neuen Augen und neuen Händen, zu denen ihre alte Kunst nimmer paßte. Wann sie jetzt an ihre Schäfereien dachte, bloß die Oberfläche hatte sie gemalt, den dünnen Schein bloß der Dinge. Jetzt erst waren ihr die Augen aufgegangen, und sie hatte gelernt, in die Tiefen zu blicken; aber wo war die Kunst, die solches wiedergeben konnte? Mit Händen malte man und nicht mit der Seele; aber die großen Werke kamen aus dem Herzen.

So war ihr die alte Übung kein Ziel mehr, ein Zeitvertreib bloß der Wartenden. Sie malte mit geschickten Händen und fleißigen Augen, zumeist Kopien wie in frühern Zeiten und auch kalligraphische Stücke. Ihre Gedanken aber gingen über das Werk der Hand hinaus und forschten in den Geheimnissen ihres neuen Lebens, und ihr Herz drängte nach dem wahren Ziel, das von Monat zu Monat sich hinausschob.

Schlatters Briefe verloren den glücklichen Ton, und die lieben und zärtlichen Worte vermischten sich mit zornigen Anklagen gegen Widersacher und Schicksal, die ihn mit einem vorgemalten und heimtückisch immer wieder entzogenen Glück als einen zweiten Tantalum zur Verzweiflung brächten. Das war nicht immer ein herzerfreuendes Lesen wie früher. Fast mit Bangen sah Anna oft diesen Briefen entgegen, und wenn sie antwortete, mußte sie sich zusammennehmen, um heiter und gläubig zu erscheinen und nichts merken zu lassen von der eigenen Qual; denn sie schämte sich ihrer Sehnsucht und daß ihr das Warten so lange wurde. Sie schämte sich der dumpfen endlosen Nächte, da sie mit klopfendem Herzen und wachen Augen in den heißen Kissen lag, und der trüben Morgen, da sie matt mit schlaffen Gliedern an ihre Arbeit ging. Sie wollte es sich selbst nicht zugestehen, daß es Stunden gab, wo ihre Liebe wie ein Fieber in ihr war, daß sie nach Zärtlichkeiten dürstete wie ein Baum unter brennender Sonne, dem der Regen lange gefehlt, und wiederum Stunden, schlimmere noch, da die Mutlosigkeit über sie kam und sie kleingläubig wurde an allem. Ach, dazwischen waren ja wieder die hellen Tage, wo sie ihre Liebe stolz und vertrauensvoll trug wie eine Krone und ihr die Zukunft erschien wie ein glänzend geöffnetes Tor, und Augenblicke atemraubenden Glückes, da ihr das Herz stillstehen wollte vor irgendeinem Zukunftsbilde, das sich plötzlich mit überwältigender Gegenwart in ihre Vorstellung drängte. Wer konnte also sagen, daß sie nicht froh war in ihrem Glück, und sicher?

Aber als der Frühling kam, wich sie seinem Jubel aus. Sie fürchtete sich beinahe vor dem Lindenhof, dessen freudige, schnellreifende Herrlichkeit sie im Vorjahr so innig mitempfunden hatte. Lieber ging sie nun vors Tor hinaus an einen stillen Seewinkel, wo das neue Leben zart, mit einer tröstlichen Heiterkeit und ohne Überschwang sich zeigte, wo über noch winterlich blassen Gewässern die letzten Möwen kreisten und kleine schwarze Entlein ernsthaft zwischen totem Schilf durchruderten. Hier war der Lenz kein stürmisches Beginnen. Nur allmählich und mit schier zagen Gebärden tauschte sich der Winter an den Frühling, der sachte mit lichtem Grün und freundlichen Schlüsselblumenkränzen aus dem toten Herbstgras auftauchte. Anna tat dieser stille Übergang wohl, dieses prunklose Ineinanderschmelzen zweier Zeiten, das ihr erschien wie köstliche Gewähr aller Dauer und Kraft des Bestehenden. Die Gesetzmäßigkeit der ewigen Wiederkehr, das war das Große, daran man sich klammern konnte und fest daran halten, wie an der ewigen Güte Gottes. Nur daran nicht glauben, daß es Umsturz gab und Wende und ein sinnloses Aufhören; denn es war häßlich und zerstörte alles und nahm jede Kraft und den verläßlichen festen Boden, daß die Füße straucheln mußten.

Immer mehr suchte sie die einsamen und feierlichen Orte auf, die ihr mit einer kühlen Beschwichtigung über das heiße Herz gingen. Sie liebte es, mit still gefalteten Händen unter den ernsthaften Gewölben des Großmünsters zu sitzen, hart neben einer der schweren Sandsteinsäulen, die eine beruhigende Feuchte ausströmten. Beschützend umhüllten sie die schweren Falten des schwarzen Kirchengewandes, und die feine weiße Leinenhaube umspannte mit stiller Gelassenheit die heiße Stirn. Sie dachte nicht mehr daran, sich über die geistlosen Äußerlichkeiten der Predigt zu ärgern. Der Gleichfluß des grauen Redestromes, der sich von der Kanzel ergoß, tat ihr wohl, wie der Anblick all der stillen schwarzen Gestalten rings ihr wohl tat, all der Frauen, die in ihrer einförmigen Tracht wie Schwestern erschienen, von einem einzigen gemeinsamen Schicksal bestimmt. Das alles war wie eine Beruhigung und gab eine weiche, ein wenig süße Resignation ins Blut, die besser war als die heißen und hellen Stunden des Glückes, von denen sie zum voraus wußte, daß sie doch neue Enttäuschung und neue Qual nach sich führten.

Die Vakanzen kamen und vergingen, aussichtslos, und in die verregneten Gassen schlich der bleifüßige November. Im Waserschen Hause sprach man wenig mehr von Schlatter. Nur Marias wissende Augen redeten: »Ja, ja, ich weiß, wie das tut, das Warten: wie wenn man einem einen Schraubstock in die Herzgrube setzte und zuschraubte, langsam und ruckweise, oder wie wenn einer das Herz anfaßte, an beiden Enden, und es sachte auseinanderzöge, bis es reißen will.«

Aus der Amtmännin Stirn lag wieder die alte Betrübnis: aber sie schwieg, und nur selten strich sie mit besorgter Hand über Annas schmale Wangen: »Solltest dich ausruhen, Kind, daß nicht so blaß wirst; schlechte Nächt, das bringt eine müde Haut und macht früh alt.« Und die Leute aus der Stadt kamen wieder mit Aufträgen, und keiner fragte, wie lange sie noch im Vaterhaus bleibe. Es war etwas in der Luft wie ein Zweifel und Mitleid, das sich erstickend um sie zusammenzog.

Aber das war nicht recht und nicht verdient mit dem Mitleid. Stand ihre Liebe nicht groß da und stark wie immer und waren des Liebsten Briefe, wenn auch vielleicht um etwas weniger zart und ehrfürchtig denn früher, nicht zuversichtlich und so voller Glut? Nur das Warten war schuld daran, daß sie feige schien und wehleidig und wie ohne Glauben, das untätige, unsichere, zermürbende Warten. Ja, wenn sie eine Ausgabe gehabt hätte, ein tüchtiges, anstrengendes Werk, dann hätte sie es wohl besser ertragen, dann wär' sie wohl tapferer gewesen, und kein Mitleid hätte mit klebrigen Fingern an sie gerührt.

Eine Aufgabe! Anna flehte darum, und plötzlich stand sie auch vor ihr, schneller als sie gehofft und anders.

*

Eines Dezemberabends beim Zunachten kehrte sie von einem Gang vor das Kronentor zurück. Noch lag kein Schnee, der Himmel war wolkenschwer mit verirrten gelblichen Lichtern, und der Graben drohte schwarz heraus. Anna beschleunigte ihre Schritte und suchte den kürzesten Weg, um der wachsenden Dunkelheit möglichst zuvorzukommen. Solchermaßen geriet sie unbedachtsam in eine enge, übelriechende Gasse, die sonst das Frauenzimmer, sonderlich zu solcher Stunde, mied. Sie gewahrte indes in der Befangenheit ihrer Gedanken den Irrtum erst, als sie schon mitten zwischen den nahegerückten Mauern der schmalen Häuser stand, die oben in schwindelnder Höhe mit schiefen Giebeln flackerige Zacken in den Abendhimmel schnitten. Links und rechts lauerten schmale Blinzelfenster und neben engen Türen weite runde, bald ängstlich verschlossene, bald schwarzgähnende Torbogen.

Unwillkürlich drückte sie die schwere Pelzmütze tiefer in die Stirn und folgte mit raschen, lautlosen Schritten dem schmalgeführten, schattendunkeln Pfad. Er lief gradwegs auf einen altersschwachen, turmähnlichen Bau zu, der sich, gewaltsam den Blick verrammend, in das Gäßlein vordrängte, dort, wo es in scharfem Winkel abbog.

Ein wenig neugierig und mit einem kleinen Gruseln betrachtete sie das unheimliche Haus, als plötzlich hinter einem seiner spitzbogigen Fensterlein ein mattes Licht aufsprang, dem alsobald ein seltsamer langgezogener Schrei von einer hohen, fast unnatürlichen Frauenstimme folgte. Anna blieb stehen und lauschte beklommen. Einen Augenblick wurde es ganz still hinter dem matten Fenster, nur der Widerhall klagte im engen Gäßchen, als ob der irre Laut alle Grauen dieses unheimlichen Winkels geweckt hätte. Dann folgte ein lebhaftes Stimmengewirr, das zu einem Männerstreit anschwoll und sich bald in lautem Tumult treppabwärts zu bewegen schien, der hohen Tür zu, die über einer unwahrscheinlich steilen Treppe in das Gäßchen mündete.

Erschreckt flüchtete sich Anna in den niedrigen Torbogen, der angesichts des Hauses schwarz geöffnet in einen leeren Schopf führte. Kaum stand sie im schützenden Dunkel, als die Türe gegenüber aufsprang und eine schwarzumhüllte Jünglingsgestalt, von häßlichen Worten verfolgt, herausstürzte und, die schmalen Stufen verfehlend, quer über die Gasse schlug. Anna hörte unmittelbar neben sich an der Kante des Torbogens ein dumpfes, quetschendes Aufschlagen, dann folgte das leise Ächzen einer jungen Stimme, deren Ton ihr das Blut zum Herzen trieb. Sie eilte aus dem Versteck hervor und beugte sich über den Jüngling, der sich mühsam aufraffte.

»Heinrich, du? Allmächtiger, ist es möglich!«

Der andere war zuerst erschreckt zusammengefahren, als ob er hätte fliehen wollen; dann aber lehnte er sich wie ermattet gegen den Torpfosten und neigte mit einer müden Gebärde das schmale Gesicht, darüber ein breites Blutband niederfloß. Zart und gebrochen, ein verhetzter Knabe, stand er vor der älteren Schwester. Anna fragte nicht weiter. Sie faßte ihn leise unter dem Arm und führte ihn von der schlimmen Stelle weg. Im letzten verborgenen Winkel des Gäßchens, das unweit vom Waserschen Hause mit einem blinden Ende in die Hauptgasse führte, trocknete sie dem jungen Bruder das Blut von den Wangen, verband mit ihrem Tüchlein die Stirnwunde und zog ihm das Barett so tief als möglich über den Verband. Er ließ alles mit sich geschehen wie ein Kind, ließ sich von Anna im Schatten der Häuser nach der Wohnung und über die vielen Treppen hinaus nach seinem Dachstübchen geleiten, wo er erschöpft auf sein Lager hinfiel.

Schweigend besorgte Anna den Bruder, der mit geschlossenen Augen wie erloschen dalag; während sie aber die Wunde auswusch und den festen Verband anlegte, gewahrte sie, daß die Verletzung geringer war, als sie geglaubt hatte, und daß sie des Bruders Erschöpfung nicht erklärte. Da mußte etwas anderes vorliegen, eine Wunde tieferer Art, die ihn solchermaßen niederwarf.

Sie setzte sich an sein Bett und forschte in dem farblosen Gesicht, das in seiner Hilflosigkeit unter der weißen Binde seltsam an den kleinen Heinrich erinnerte, an den Heini im blauen Kittelchen und Seidenlöcklein, mit dem sie die Sterne betrachtet und der so innig an ihr gehangen. Wie lang war der Weg von dort und wie ganz hatte sie ihn verloren, über ihrer eignen Welt, wo war es nun hinverirrt, das große seltsame Kind? In stillem Erbarmen und wie abbittend streichelte sie seine schmalen Hände. Sie dachte daran, wie verändert sein Wesen in der letzten Zeit, wie er oft mit verträumten fernen Augen herumgegangen, darin etwas Besonderes glänzte, und wie er allezeit mit dem jungen Beat Holzhalb, dem schwärmerischen Studenten, zusammengesteckt hatte und wie man sie oft in der merkwürdigen Gesellschaft eines fremden deutschen Gesellen gesehen, über dessen Herkunft man nichts wußte und dessen Umgang ihm der Vater zu mehreren Malen untersagt hatte.

Als ob Heinrich ihren stillen Gedanken gefolgt wäre, öffnete er plötzlich die Augen angstvoll: »Der Vater,« sagte er leise mit einem schmerzlichen Zucken um den bartlosen Mund, »der Vater, was wird er sagen?«

Anna drückte beruhigend seine kalten Hände: »Ich werde ihm erzählen, daß wir beisammen waren, als du den ungeschickten Fall tatest,« sagte sie ernst, und da er mit einem erlösten Blick dankte, fuhr sie fort: »Zum Essen brauchst nicht zu kommen, ich bring' dir nachher einen Tee, das wird dir gut tun; ich will auch dafür sorgen, daß die andern dich nimmer aufsuchen heut abend; aber beim Frühstück wirst du wieder dabei sein.«

Sie erhob sich ruhig und verließ mit dem Öllämpchen das Zimmer, den Bruder der Dunkelheit und den eignen Gedanken überlassend. Als sie später wiederkehrte, fand sie ihn immer noch in derselben Stellung, matt und teilnahmslos. Widerwillig nahm er den warmen Trunk zu sich und legte sich alsobald wieder zurück mit krampfhaft geschlossenen Augen.

Anna betrachtete ihn eine Zeit lang, dann sagte sie gelassen: »Damit ist es nicht getan, Heinrich, mit dem Augenschließen und Schweigen und Nichtgestehenwollen. Du hast's ja eben gesehn: genau anschauen muß man eine Wunde und hineingreifen und sie auswaschen, ehe man verbinden kann und heilen.«

Einen Augenblick sah er sie entsetzt aus aufgerissenen Augen an. Dann deutete er mit abgewandtem Gesicht nach dem Tisch hinüber und zog ein Schlüsselchen hervor und reichte es ihr mit unsicherer Hand. Anna schloß die Schieblade auf. Viel überschriebenes Papier lag darin, obenauf verschiedene kleine Zettel mit wirrem, hastigem, schier unleserlichem Gekritzel, daneben ein großes sauberes Heft, sorgsam beschrieben, offenbar eine Reinschrift nach jenen Entwürfen. Dieses nahm sie auf und führte es nahe an das flackernde Lämpchen. Sie las:

»Siebenzehente Inspiration, am 17. Dezembris Anno 1709.

Ein fremder, unstäter Tag. Am Morgen ging die Sonne mit einem schier mörderischen Feuer auf, darvon die schneelose Erde fast in einen Brand geriet. Hernach erschienen schwere Wolken mit gelben Schößen, so den ganzen Tag einen schweren und herzbedrückenden Dunst in die Stadt warfen. Zur Mittagsstund erhielt ich von G. das Zeichen, sollten uns zur Betzeit bei seiner Schwester einfinden, wovon ich den übrigen Tag in großer Erregte wartend und mit schier unerträglichem Herzklopfen verblieb.

Als ich hinkam, lag die Magdalene schön mit weißem Gesicht da wie eine Tote, nur die blauen Adern am bloßen Hals pochten vernehmlich. G. erzählete flüsternd, wie sie schon den ganzen Tag in Verzückung gelegen und auch schon einige convulsiones gehabt. Wir setzten uns um das Lager G. hielt ihren Puls zu Wahrnehmung ihrer Blutsbewegungen, derweil Beat und ich beides, Worte wie äußer Gebaren, zu notieren uns anschickten. So saßen wir etwas Zeit, als plötzlich eine seltsame Veränderung mit ihr vorging. Die Pupillen, so bislang ohnverrückt unter den dünnen Lidern gelegen, fingen an mit starkem Hin- und Herrollen, dabei oft ein Glanz wie von einem geheimen Feuerlein unter den roten Wimpern herfürsprang. Alsbald aber breiteten sich die convulsiones weiter aus mit Verrenkung des roten Mundes, und war es nicht anders, als ob die brennenden Lippen von einer großen und fremden Macht gepeinigt würden zu Formung unvertrauter und gewaltiger Worte. Jedennoch waren es zuerst zarte und schier gurgelnde Laute, so sich, dem Gurren von denen Täubchen nicht unähnlich, unter heftigem Erzittern des ganzen Leibes entrangen. Plötzlich aber warf sie sich mit einem großen und furchtbarlichen Schrei hintüber und ging ein Schrecken durch das Gemach, woraus wir wohl fühlten, daß die göttlich Inspiration in sie gefahren. Mit weiten Augen, so in dieser Verzückung völlig grün erschienen, starrte sie über sich und warf die weißen Ärm in einer unerhörten Heftigkeit gen Himmel mit einer hohen, außermenschlichen Stimme zu unterschiedenen Malen rufende: ›Herr, Herr, wie du willst, wie lang du willst, durch diese Flamme muß ich!‹ Dann schier geheimnisvoll und unter heftigem Zupfen der Finger: ›Ah, sehet an das Feuer, rot ist das Feuer, oh, der große Fresser kommt über mich,‹ und dann lauter und wie Gesang von denen Katholischen: ›Der Wald ist verzehret, das Gras ist verdorrt, die Herrlichkeit der Schwanen ist dahin! Heulet, ihr Tiere, dann das Gras des Feldes ist verbrennet, und das Kraut des Waldes ist verzehret, der schwarze Vogel wird dich deiner Kleider berauben und deine Geschmeide den Hummelen zur Beute geben. Oh, oh, oh!‹ Dabei griff sie in ihr mächtig rot Haar, daß es sich alsobald lösete und gleich dem Feuerbrand um sie her loderte.

Dann lag sie wiederum etwas Zeit, still zuerst mit starkem und schnellem Atem. Dann aber alsgemach fast leblos und wie eine Tote, und war es so still im Zimmer, daß ich vermeinete, mein eigen Blut zu hören. Plötzlich aber richtete sie sich auf, mit ganz großen Augen, und ihre Stimme zitterte als wie eine Windharfe, da sie mit langen und säligen Seufzern rief: ›Seht, seht, der Herr Jesus zu der Rechten Gottes, welch eine Herrlichkeit, die Engel beten ihn an!‹ Voller säligen Fiebers streckete sie die Hände gen Himmel und in solcher Heftigkeit, daß man vermeinete, sie auffliegen zu sehen und G. und Beat sie kaum zurückhalten konnten. Endlich schlug sie die Hände zusammen und rief laut staunende: ›Ah, ah, ah!‹ Dann leise: ›Es läuft alles zu ihm und fällt vor ihm nieder!‹ Darauf neigete sie ihr Haupt und lag wieder wie tot. Es hatte sich aber von der Heftigkeit und Ringen ihr Gewändlein also verschoben, daß sie halbnackt dalag mit entblößter Brust, weiß wie ein Leinwat in dem roten Haar und wie eine Ilge zart, und es wär' ein sündhaft Schauen gewesen, hätte man nicht den Geruch der Heiligkeit so stark an ihr verspürt, darvon kein irdisch, sondern allein himmlisch Feuer entflammet und ein verklärter zu Gott gerichteter Sinn.

So lag sie lange, schön und wundersam wie ein Engel, und glaubeten wir sie in tiefem Schlaf. Da aber Beat und G., durch ein verräterisch Geräusch vor der Tür angelocket, auf einen Augenblick das Gemach verließen, öffnete sie plötzlich die Augen, und mit einem raschen und glühenden Blick zu mir sagte sie kaum hörbar, sodaß ich mich über sie beugen gemußt: ›Oh, du Auserwählter des Herrn, der Herr wird dir ein Zeichen geben, daß du mich allein suchest in meiner Verzückung, und werden wir selbander den Weg zur Säligkeit finden.‹ Dabei ergriff sie meine Hand, und ihre fiebrigen Finger gaben mir einen solchen Jast ins Geblüt, daß ich von einem schier schmerzhaften Schlag bis ins Herz getroffen zitternd dastand, wovon ich denn auch deutlich merkte, daß sie in eines andern Auftrag redete und daß sie nicht bloß eine Inspirierte ist, wohl aber eine große Heilige. Sie wollte noch ein Mehreres sagen, wie mich bedünkte, mit näherer Angabe von Zeit und Gelegenheit; aber da kehrten die andern, die ihre Furcht unbegründet gefunden, zurück, wobei sie alsobald wieder in schweren Schlaf verfiel, nicht ohne mir noch ein Zeichen zu geben, daß ich ihre Worte verschweigen sollt', und ist sie aus solchem Schlummer den ganzen Abend nicht mehr erwacht.

Mir aber ist von jenem himmlischen Auftrag die Hitze geblieben im Geblüt und das Zittern, sodaß ich Tag und Nacht an sie zu denken nicht unterlassen kann, jeden Augenblick vermeinend, jenes Zeichen zu verspüren, auf das hin ich, ohngeachtet G.s Verbot, seine Schwester zu einer andern denn der von ihm bestimmten Stunde zu besuchen, mich ohnverzüglich zu ihr verfügen werde.

Wann wird es kommen, Herr, Herr, und bin ich würdig solcher Weihe? Oh, sie ist eine große Heilige.«

Anna ließ das Blatt sinken, ihre Hand zitterte. Das also war es! Sie hatte schon von jenen merkwürdigen Menschen reden hören, die, von Staat und Kirche verfolgt, auf absonderlichen und unnatürlichen Wegen nach dem rechten Glauben stöberten; aber sie hatte wenig darauf geachtet, denn das war ihr wie alles Unklare und Ungesunde in der Seel zuwider. Und nun war ihr Bruder auf die krummen Weg geraten und hatte von dem trüben Quell getrunken! Ihr Heini, der Sohn ihres Vaters und Zwinglis Enkel! Scham und Zorn wallten in ihr auf bei diesem Gedanken, das hatte er gekonnt, der dort! Aber da sie ihn nun sah, wie er dalag, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und ihm ein schmerzliches Zucken über den schmalen Rücken lief – ach, das war doch recht herzzerreißend, und man fühlte es, der so bitter darniederlag, er verdiente nicht Zorn und nicht Vorwürfe, bloß Erbarmen.

Sie setzte sich wieder zu ihm, ergriff tröstend seine feuchte Hand und bezwang ihre Erregung, daß es milde klang, wie sie nun sprach: »Dort also warst du heute, bei der Tremulantin?« Ein Seufzer antwortete ihr, oder war es ein Schluchzen, das halb unterdrückte, verzweifelte Schluchzen großer Kinder? Sie drückte seine Hand fester: »Ja, und da hast du wohl erfahren, daß sie keine Heilige ist?«

Mit einer heftigen Bewegung richtete der Bruder sich auf und starrte sie aus rotgeränderten Augen an: »Woher weißt du das?«

Sie lächelte ein wenig: »Weil ich weiß, daß es keine Heiligen gibt, am allermindesten unter denen Leuten, so ihre Frommheit mit lauten und absonderlichen Gebärden und mit Verrenkungen dartun, und dann, weil ich wohl verspürte, daß es kein heiliger Ort war, von wannen du mir heute kamst.«

Heinrich schlug die schlanken Hände vor das schamrote Gesicht: »Ich kann nimmer leben,« sagte er dumpf.

Sie betrachtete den Gebrochenen, und wiederum übertönte ein schmerzliches Mitleid den aufsteigenden Zorn: »So,« sagte sie ruhig, aber in etwas strengerm Ton, »deshalb also, weil du durch gütige Fügung noch rechtzeitig zur Erkenntnis deiner falschen und verwerflichen Weg gekommen, deshalb willst du nimmer leben?« Und sie zog ihm die Hände vom Gesicht und blickte ihm fest in die Augen; aber der andere schüttelte traurig den Kopf:

»Wie könnt' ich noch leben, da ich an nichts mehr glauben kann? Nicht an die Menschen; denn ach, wann du wüßtest, wie sie war, hold, hold, wie ein Maienblust und rein wie die Ilgen und voll himmlischen Feuers wie Engel des Paradeises, und dann das von heut abend! Oh, werd' ich's nicht immer vor mir sehn, das Abscheuliche? Soll ich nun glauben, daß alles ein Trug, ihre inspirationes und göttlich Wunder, oder aber, daß Gott sich für seine Offenbarungen eines unwürdigen Gefäßes bedient? Beides ist so furchtbar, so furchtbar!« Er seufzte, und dann fügte er leise hinzu: »Und wie kann ich an mich glauben, wenn all das inner Feuer und himmlisch Seligkeit, so ich in denen Zeiten verspürt und davon ich meine Seel gleichsam durchleuchtet und sublimiert fühlte, nichts ist als Trug und eitel Gaukelspiel? Worauf soll ich mich dann verlassen, wann selbst die innere Stimm für nichts mehr zu halten ist, bin ich nicht selbst schon verworfen und dahin?« Und wieder setzte er mit fast eigensinniger Betrübnis hinzu: »Ich kann nimmer leben.«

Anna sprang auf. Sie ballte ihre Hände, daß die seinen Knöchel scharf aus der glatten Haut hervorsprangen. Einen Augenblick war es totenstill im Zimmer. Dann setzte sie sich wieder neben den Bruder: »Was du glauben sollst?« – ihre Worte waren betont – »Das sollst du glauben, daß du, ein argloser, unerfahrener Knabe, unter die unreine Influenz eines betrügerischen Menschen geraten, der durch das Mittel einer armseligen, innerlich zerrütteten und deshalb zu allerlei paroxysmi geneigten Person auf dich wirkte. Nun aber dir die Augen aufgegangen, sollst du für alle Zeiten wissen, daß Gott nicht durch verrenkte und armselige Menschen zu uns redet – ob sie sich nun als Betrüger so gebaren oder als durch ihre eigne krankhafte Constitution Betrogene – und daß er Mittel ganz anderer Art hat, um die Wunder seiner Weisheit zu künden.«

»Und die Heiligen, die Apostel, all die Gottgeweihten und Inspirierten früherer Zeiten, an denen ebensolche Wunder geschahen?« Heinrich sah die Schwester von unten herauf forschend an.

»Das waren Emblemata,« erwiderte sie rasch mit einer heftigen Gebärde, »Emblemata zur Zeit, da Gottes Volk noch ein Kind war. Heut aber, wo die Kirche ein Mann geworden, handelt Gott nicht mehr durch Gesichte, Träume und Weissagungen, am allermindsten in Zwinglis wahrer und klarer Kirche.«

Heinrich legte sein Gesicht zur Seite und lächelte, wehmütig und altklug wie ein Kind, dem man Märchen erzählt, daran es nimmer glaubt. »O ja, du redest wie die andern,« sagte er leise, »wie sie alle reden, die Gerechten: Zwinglis wahre und klare Kirche, weilen sie nicht spüren, wie das ist, wenn man verhungert auf dem trockenen Boden und versengt in der klaren trockenen Luft.«

Anna senkte den Kopf und betrachtete ihre verschlungenen Hände. Da hatte sie sich zu einem raschen und gewöhnlichen Wort hinreißen lassen, und nun spürte sie selbst, daß es nicht stimmte. Jener ferne Abend stand vor ihr – ach, wie innig und weh war das Rückwärts denken an jugendfrühe Zeiten – da sie mit Rudolf und Lisabeth über den roten See gefahren mit heißen Herzen und heißen Köpfen. Hätte sie damals so vernünftige und unwahre Worte gefunden? Hatte ihr nicht die Seele gebrannt unter des Onkel Fähndrichs rebellischer Rede, und mußte sie ihr nicht heute noch zustimmen?

Sie sah Heinrich voll an: »Du hast recht,« sagte sie einfach, »es ist wohl nicht so, wie ich sagte, und die zwinglische Kirche ist nimmer Zwinglis Kirche und die christliche Religion auch wohl nimmer Christi Religion; aber so du vermeinst, auf verworrenen und vermessenen Wegen aus der Öde auf gesund Land zu gelangen, so irrst du. Oder ist es etwa nicht Vermessenheit, wann ein Mensch sich über die bestehenden menschlichen und göttlichen Gesetze hinaus zu einem göttlichen Instrumente erkoren glaubt? Wunder, ja, und welch herrliche und unerfaßliche Wunder! Aber nicht für den Wundersüchtigen, für den allein, der stillhalten kann und aus sich selbst vergessen und lauschen. Denn die allergrößten Wunder kommen ganz schlicht, ohne Überschwang und ohne Gepränge ... Der Heiland, als er auf den Berg stieg, um jene Worte zu sprechen, die alle Herrlichkeit der Welt zunichte machten und alle Seligkeit der Himmel erschlossen – siehst du ihn? Ganz allein auf dem kahlen gelben Berg, allein unter der gewaltigen Menge, und wie schlicht er dasteht, wie ruhig und unverstellt. Und da er sprach, ganz ohne hinweisende Gebärden und alles dunkeln und vieldeutigen Wesens bar, aber die Worte still und klar, wie der Morgenstrahl über der Sommerflur und mächtig wie Donnerschlag und unerschöpflich wie purpurne Wasser über den Tiefen des Meeres. Und jedes Wort ein neu Wunder, darob alle Welt sich entsetzte, und jedes eine neue Seligkeit. Aber das Schönste vielleicht dieses: Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«

Anna erhob sich und trat ans Fenster. Einen Augenblick folgte sie den schwanenweichen Wolken, die schwer über die dunkeln Dächer hinstrichen; dann fuhr sie leise fort, mit fernem Antlitz, und es war ein seltsames Zittern in ihrer Stimm und ein ungewohnter weicher Klang:

»Ja, das ist es wohl, das reine Herz; aber die Kraft des reinen Herzens ist die Liebe. Sie macht, daß man Wunder sieht, oh, solche Wunder allenthalben, und daß man Gott schaut allenthalben und nicht zuletzt im eignen Herzen.«

Sie wandte sich wieder dem Bruder zu: »Siehst du, die Liebe, das solltet ihr lernen, ihr Gottesgelehrten, dann erst würdet ihr wahre Gottsucher und Gottfinder. Wahr ist es ja, unsere Kirche, ein öd' Land ist sie geworden und ein rechter Holzboden vielerorten; aber die Liebe, so den dürren Stab begrünen konnt', wird es wohl auch zustand bringen, daß wieder Pflanzen aufsprießen aus dem hölzernen Grund. Rebellion und wundersüchtig Wesen kann nur Verderben bringen und Zerstörung, die Liebe aber pflanzet nicht allein, sie gibt auch das Gedeihen dazu.«

Heinrich sah sie aus flimmernden Augen an: »Du, wann du früher so zu mir gesprochen hättest, leicht wär' alles anders geworden; aber jetzt, jetzt ist's zu spät!« sagte er mühsam.

Zu spät? Es gab Anna einen kleinen Stich; aber dann lächelte sie: »Nein, nein! Nicht zu spät, Heini, da ist lange noch Zeit zum Umkehren und Erkennen!« Und sie wollte ihm begütigend die Wangen streicheln; er aber fuhr zurück und warf beide Hände vors Gesicht und stöhnte:

»Oh, wann du alles wüßtest! Oh, solches hab' ich getan, und wann's auskommt, dann ist doch alles fertig und zu End, und es muß auskommen, es muß!« Die Tränen stürzten hervor, und da er ihnen nimmer wehren konnte, brach er zusammen, kraftlos und elend wie ein angeschossener Vogel.

Es war schon tief in der Nacht, als Anna auf vorsichtigen Sohlen ihr Zimmer aufsuchte. Die Sorgen lagen ihr schwer auf dem Herzen wie eine schwarze formlose Masse; aber allbereits blitzte ihr daraus etwas entgegen, scharf und fein wie ein tapferer Entschluß: Dem armen mißleiteten Knaben mußte geholfen werden, um jeden Preis, und sie mußte helfen.

Am andern Morgen verließ Anna zu früher Stunde das Haus. Sie hatte die Pelzmütze ins Gesicht gezogen und ein unscheinbares dunkles Tuch übergelegt, darunter sich ein schwarzes Kästlein wohl verbergen ließ. Ihre Augen waren heiß von durchwachten und durchrechneten Stunden: aber ihr Blut hatte einen starken und hohen Schlag, und davon flammten ihr die Wangen.

Die Nacht hatte einen mächtigen Schnee auf die Erde gelegt, sodaß ihre raschen Schritte ungehört im weichen Grund versanken, und emsige Flocken verwischten die schmalen Spuren, die sie durch einsame Gäßlein trug. Vor dem letzten, baufälligen Hause einer gedrückten Hintergasse blieb sie stehen und maß zögernd die dunkel geöffnete Haustüre. Ein großes Mädchen mit verwirrtem schwarzem Haar und schwarzen Augen schlurfte ihr durch den nassen Gang entgegen.

»Wohnt hier der Proselyte Christian Felix?« fragte Anna und richtete sich hoch auf. Aber nachdem die andere mürrisch, mit neugierigen und mißtrauischen Blicken bejaht, zögerte sie immer noch, denn aus dem Hause schlug ihr mit dem Geruch von Unsauberkeit und unbestimmbaren Gewürzen ein heißer stickiger Dunst entgegen, und der Ekel schnürte ihr die Kehle zusammen. Dann aber raffte sie sich auf und setzte entschlossen den Fuß über die ausgetretene, schlüpfrige Schwelle.

Und der Ekel schüttelte sie immer noch, als sie nach geraumer Zeit das Haus wieder verließ. Sie lüftete das enggeschmiegte Umtuch von den Schultern und ließ eine Handvoll frischgefallenen Schnees durch die Finger stäuben, wie um sich zu reinigen. Wie das beschmutzte, Umgang und Handel mit solchen Menschen! Und solchen Orts hatte der Bruder Hilfe gesucht! Jetzt erst fühlte sie, wie tief Schwärmerei und Unwissenheit den Knaben in Gefahren verstrickt hatten, und die Eindrücke der dumpfen Gäßlein legten sich ihr schwer aus. Was mochte der Bruder alles gesehen haben, hier in der übeln Wirtschaft des Wucherers und gestern abend in dem verruchten Hause, und mußte solches nicht schaden und wie ein Gift bleiben in der jungen Seele, davon man nimmer gesundet?

Aber da fiel ihr Adam Mörikofer ein und wie sie einst gelitten unter seiner täppischen und gierigen Verliebtheit und wie sie vermeint, das Häßliche nie mehr abwischen zu können und es gleich einem Flecken durchs ganze Leben tragen zu müssen. Und heute? Dachte sie anders als mit einem Bedauern an den armen, unfreien Menschen zurück, heute, da sie sein Leben zum Teil überblicken konnte und wußte, wie der von versteckten Wünschen und Mißerfolg Gepeitschte endlich an der Seite einer braven Frau die Ruhe und in der Ausübung eines schlichten Handwerks Genügen und eine gewisse Freiheit gefunden? Schließlich, man überwand manches, und man wurde älter, und dann kam die Erkenntnis und brachte das Versöhnende. Aber zur Erkenntnis bedurfte es der Erfahrung, und dazu gehörte wohl auch das Häßliche, so sehr sich alles dagegen sträubte.

Auch Heinrich mußte darüber hinwegkommen, und was in ihren Kräften stand, sie wollte ihm helfen. Das eine war ja allbereits getan, aus den Händen des Wucherers hatte sie ihn befreit, und daß jener schweigen würde, auch dafür war gesorgt, denn sie hatte ihm aus dem unerlaubten Geldleihen an einen Unmündigen einen bösen Strick gedreht. So würde denn niemand davon wissen, was der verblendete Knabe getan und daß er, von schlechten Menschen mißbraucht, auf einen Weg geraten war, der ihn um Ehre und Zukunft hätte bringen können.

Und niemalen brauchte es der Vater zu erfahren.

Freilich, ihre Ersparnis, die sie für allerlei Anschaffung drüben in der neuen Heimat zusammengelegt, die war nun dahin. Sie wog das leicht gewordene Kästchen in der Hand. Ja, wann jetzt der Bräutigam gekommen wäre, wie der törichten Jungfrauen eine stünde sie da, und wär' kein Öl in dem Lämpchen. Sie lächelte wehmütig; am Ende mußte sie noch froh sein, daß er nicht kam; aber dabei fuhr ihr auch ein Gedanke durch den Kopf, der ihr seit gestern schon oft mit einem Trost gekommen: Das lange Warten, nun hatte es einen Sinn; alles war nun wie notwendig, versöhnlich und gut. Und bis er kam – sie hatte ja so genau gerechnet diese Nacht – wann sie recht tüchtig an der Arbeit war, bis dahin mochte das Lämpchen wieder gefüllt sein, und keiner wußte davon, daß es nicht immer so gewesen.

Als Anna die Treppen zu Heinrichs Kammer hinaufstieg, eilte ihr von oben der junge Beat Holzhalb entgegen. Sie wollte ihn aufhalten und einen Gruß an die Eltern auftragen; aber er rannte mit dunkelm Gesicht und flüchtig grüßend an ihr vorbei treppabwärts.

Den Bruder fand sie in großer Erregung: »Sie sind fort!« rief er ihr entgegen, und sein Gesicht flammte: »Beide zusammen, heut morgen in aller Früh, und keiner weiß wohin.«

»Gottlob, die Luft rein!« Anna atmete befreit auf.

»Beat zürnt mir,« fuhr der andere hastig und ohne ihrer Worte zu achten fort. »Er sagt, ich sei schuld daran, hätt' sie erschreckt mit meinem Tun gestern, daß sie Verrat befürchtet und Anzeige beim Vater. Mich beherrschen hätt' ich sollen, meint er, kein Geschrei machen; denn so oder so, eine wunderbare Person sei sie in alle Wege, der man hätt' Sorg tragen müssen. Denk, Anna,« er sah die Schwester aus den übernächtigen Augen entsetzt an, »alles hab' ich ihm erzählt, all das Abscheuliche von gestern abend, und dennoch sagte er solches ... Oh, nun hab' ich auch Beat verloren!«

Er seufzte und ließ kraftlos die Hände sinken.

Anna betrachtete ihn ernsthaft. Die beiden Jünglinge tauchten wieder vor ihr auf, wie sie sich zuerst getroffen in Regensberg und gleich mit soviel Schwärmerei gefunden – ja, der schicksalsschwere Tag ... »So mußte es wohl kommen,« sagte sie dann gelassen, »das Alte muß abgetan sein, ganz und gar, wann du Weg und Wille zum Neuen, Echten und Ehrlichen finden sollst. Auch das mit Beat, wenn anders er nicht herausfindet aus der Wirrnis, auch ihn mußt du wohl ziehen lassen, ein Stück Wegs zumindest, bis ihr beide festen Fuß gefaßt.«

Und dann erzählte sie von ihrem Gang zu dem Proselyten.

Heinrich horchte erst ungläubig aus; als er aber alles erfaßt hatte und sich auf einmal von einer schweren Last und all der Angst vor drohender Gefahr befreit sah, kam es wie ein Rausch über ihn, daß er die Schwester umhalste und lachte: »Ja, vorbei, alles soll fertig sein, alles!« Und er eilte auf den Schrank zu und nahm Bücher heraus und Schriften, ganze Stöße: »Das soll in den Ofen, alles zusammen in den Ofen, daß es aus ist und zu End!« Aber Anna wehrte es ihm: Wohl verwahren und beiseite legen die verführerischen, verbotenen Bücher und unheilvollen Schriften, das möge er schon tun, aber zerstören nicht. Dadurch, daß man die Spuren einer Tat verwische, sei diese nicht ungetan, und ein gewaltsam zerstörter Feind sei am allermindsten ein toter Feind, sondern stehe immer wieder auf mit tausend Fragen und Versuchungen wie das bös Gewissen. So man ihn aber im Auge behalte, bleibe er zwar ein steter Mahner, aber zugleich verliere er die Kraft der Versuchung und liege eines Tags machtlos da, nicht als ein Zerstörter, wohl aber als ein Überwundener.

Sie half dem Bruder alles in eine Kiste packen, obenauf den Schein des Wucherers, und verwahrte sie dann im Kastenfuß. Ängstlich betrachtete Heinrich den kleinen Sarg so vieler Phantasterei, Seligkeit und Verzweiflung: »Aber wann man einmal darüber käme, um Stelle und Amt könnt's mich bringen.«

»Nun,« antwortete Anna ernst, »wann du dich dann nicht zu rechtfertigen vermöchtest, wohl ertragen müßtest du's.«

Er sah sie erschreckt an und ohne Verständnis; dann aber fiel er ihr plötzlich mit Ungestüm um den Hals: »Du, du! An dich will ich mich nun halten, an dich glauben, wann nur du mir bleibst!«

Und Anna fühlte seine Wange naß an der ihren, und der kleine Heini fiel ihr ein, wie er ihr die tränenfeuchten Händchen um den Hals geworfen, damalen an jenem kaltklaren Wintermorgen, da sie Braunfels zufuhr, und wie er bat: »Geh nicht, Anna, bleib' bei mir!« Aber sie war gegangen – so weit, so weit – und darüber war er an den Abgrund geraten.

»Heini, Heini, großer Bub,« sagte sie bewegt und küßte ihn und streichelte den noch zarten Nacken. »Ja, ich bin da, und nicht eher als du stark geworden und gesund und du den klaren Blick hast, verlaß ich dich.«

Als sie jedoch auf ihrem Zimmer war, allein, und sich die Gedanken von den wirren Erlebnissen klärten, fiel es ihr schwer aufs Herz, daß sie nicht sah, wie ihm zu helfen war. Sie wußte es wohl, mit der Erkenntnis des Übels waren die Mächte noch nicht abgetan, die solches herausgeführt. Wie sollte sie den Träumling von der Schwarmsucht befreien? Und vor allem: die Leere, die nun in dem Knaben entstehen mußte, da alle Hoffnungen, Wünsche und Glauben weggefegt waren, wie sollte man die ausfüllen?

Aber zu Mittag kam die Esther Dietschin gelaufen, strahlend, und warf schon unter der Tür die Hände hoch und lachte: »Wißt ihr's Neust? Das Estherlein kommt zurück, in zwei Wochen schon, unser Estherlein, denn eine Reisgelegenheit hat sich gefunden!« Und lachte wieder und sprudelte tausend Dinge herfür, was schöne Sachen die Frau Bas aus dem Welschen von dem Kind geschrieben, daß es nicht allein die Sprache aufs erstaunlichste gelernt, sondern auch in denen Koch- und Haushaltungskünsten eine solche Tüchtigkeit an Tag gelegt, daß man gar einen Stolz mit ihm haben könne, und wenn sie ihm auch das wild und fast unberechenbar Wesen nicht grad hab' abgewöhnen können, so denk' sie, daß solches als in der Natur begründet auf spätere Reise zu verschieben sei. Dafür sei es ja auch ein rechts Herrgottskind und ein Sonnenschein, der ihnen allenthalben bös fehlen werde.

Das war nun eine wahre Freudenkunde, und wenn die andern nach ihrer stillern Art auch nicht gleich mit der fröhlichen Esther herausjubelten, es trug doch jedes den Abglanz eines Glückes auf dem Gesicht; denn das Estherlein, es hatte einem arg gefehlt all die Zeit, das fühlte man erst jetzt so recht, wo die Nachricht von seiner Rückkunft wie verfrühter Amselsang durch die Stube ging.

Aber Anna war es wie ein leises Dankgebet im Herzen: Gottlob, das Kind, das mußte ihr helfen, das war wohl geschaffen, um Lücken auszufüllen. Allerlei Pläne gingen ihr durch den Kopf von gemeinsamer Arbeit, und zu Esther sagte sie: »Daß es seine Kenntnis in der Sprach nicht verliert, sondern sie befestigt, dafür laß mich sorgen.«

Und die Schwester lachte gutmütig: »Kann's mir denken, daß das wieder anfangen wird mit der Gelehrsame, wie früher auch schon. Aber sobald es die häuslichen Pflichten nicht verachtet, wann du daneben noch eine Gelehrtin aus ihm machen willst, kann's mir gleich sein; man weiß allweg nie, zu was heutigstags die Meitlein noch gut sind.«

Nun hatten Annas Pläne einen sichern Weg. So mußte es sein: Die beiden wollte sie zusammenbringen, und das heiße rasche Estherlein mußte den Grübelsinn des Bruders aufstöbern und an die Helle reißen. Ja, und arbeiten wollte sie mit den beiden, etwas lesen mit ihnen, etwas Herrliches, ganz Großes, daran man sich und die Welt verlieren konnte, etwas, das vermochte, aus Nebeln herauszuleiten auf klar jung Land, und wiederum, was den Flattersinn in die Tiefe zog und ihm Wurzeln gab und Tüchtigkeit. Etwas Klares und Tiefes mußte es sein, mächtig und doch einfach und voller Weihe.

Sie dachte an Homer, und ein Schauer überzitterte sie. Wie hatte er einst in ihr Leben eingegriffen, so gewaltig und mit solch sichern Richtlinien, daß sie bis heute das Wunder an sich verspürte, und hatte doch so lange seine Sprache nicht mehr vernommen. Aber irgendwo in ihrer Seele, ganz zu innerst in einem kleinen verborgenen Winkel, ruhte etwas Köstliches unverlierbar, wie ein Schatz geheimer Kräfte, und irgendwie hing er mit jenen Jugendtagen zusammen, über denen der große griechische Dichter gestanden wie ewige Gestirne, und irgendwie wurzelte er in jenen Stunden, da sie Herrn Morells Worten gelauscht und vermeinte, Türen sich öffnen zu sehen, eine nach der andern, die zum Allerheiligsten führten und zu jedem tiefsten Geheimnis. Wohl hatte sie lange nicht daran gedacht, und oft war es wie verschwunden im Drängen und Geschäftigkeit des Alltags. Aber es war ihr wie Gewißheit, daß es in jeder trübsten Zeit sich regen müßte und ihr aus jenem geheimen Schatz, wie aus einem Wunderborn, in jeder schwersten Stunde eine Kraft zuströmen mußte, daß sie nimmer zugrunde gehen konnte – nimmer.

Aber den Bruder jenem Gewaltigen zuzuführen, das ging wohl nicht an. Der Grund war noch zu locker, um solch mächtigen Baum zu halten, und die weiche Scholle verlangte annoch süßere Nahrung. Und gar das Estherlein! Wie eine blauschillernde Wasserjungfer über das Wiesenbächlein, so würd' es über die purpurnen Tiefen gaukeln und sich daran genügen, wenn ihm die unendlichen Fluten sein eigenes Flimmergewändlein und ein Stück Blauhimmel vorspiegelten. Oder tat sie ihm unrecht, dem wilden raschen Kinde?

Nein, mit dem großen Griechen ging es nicht. Doch da war ein anderer Großer, der war auch klar und tief und ewig, aber die eigne Zeit, ihre Schmerzen und ihre Sehnsucht spiegelten sich in ihm, und auch er hatte den Zauber der Sprache, und er hatte die Weichheit des Herzens und Zweifel und Erlösung zerrissener Seelen.

In das Reich Racines wollte sie die beiden führen, daß sie unversehens in einen starken und guten Strom gerieten, darin sie beide fanden, was ihnen not tat, Tiefe und ein größeres und gestärktes Wesen.

Sie sah so deutlich, wie es kommen würde: Zuerst wollten sie nicht gern dahinter und sträubten sich wohl gar gegen das gemeinsame Arbeiten; denn sie hatten sich nie so recht vertragen, und jedes möchte sie allein haben. Und so ganz verschieden würden sie es angreifen, das Estherlein mit raschem Verständnis, leidenschaftlich erfassend, was ihm zusprach, und das andere überhüpfend, Heinrich aber still, mehr zuwartend und gründlich. Aber dann kam der Augenblick, wo sie beide an denselben Worten sich entflammten – vielleicht war's einer jener himmelschönen Chöre, daraus alle Kraft eines naturseligen zu Gott strömenden Gefühls klang – ja, und dann las eins die eigne Begeisterung in den Augen des andern, und wann zwei junge Herzen erst einmal über derselben Schönheit höher geschlagen, wo waren dann alle Zweifel und Hadergelüste? Dann war es auf eins nicht mehr das alte Estherlein mit dem frechen roten Zünglein und nicht mehr der Träumerbub, der untapfere; einfach zwei junge Menschen waren sie dann, gewillt, nach dem Schönen und wahrhaft Wertvollen zu fahnden. Wann es aber einmal so weit war und die junge Freundschaft zwischen ihnen stand, das gab eine Kraft und eine Helligkeit beiden; dann kam wohl die Zeit, wo sie gehen konnte, sie bedurften ihrer nicht mehr.

Denn Altersgemeinschaft war eine große Macht, und man brauchte gar nicht alt zu sein, um zu erkennen, daß keine Schranke das Jugendland härter abschließt denn Erfahrung und Einsicht. Sie wollen nicht geleitet werden, die ganz Jungen, selbander suchen, tasten und finden wollen sie, und das ist recht und ist das Gesunde; denn nur das Selbsterrungene gibt Kraft und hat Bestand. Alle geborgte Weisheit ist hinfällig, sie trägt kein Licht in sich, wohl aber die grauen Schatten der Langeweile, die sich so gern verdunkelnd und mißleitend über die naturgewollten Wege legen.

Nur zusammenbringen mußte sie die beiden; aber bis man so weit war, lag ihr allein des Bruders Leitung an, und dazu bedurste es wohl einer starken Hand.

Sie fühlte es in den kommenden Tagen, da bei Heinrich nach dem ersten beglückten Aufatmen die alten Nöte wiederkamen, Kleinmut und Zweifel und wohl auch Verlangen nach den frühern Zuständen. Da mußte sie mit aller Zartheit und Stärke zugegen sein, um den Schwachen zu stützen, und durfte ihn nimmer aus den Augen lassen, ob sie gleich zur selben Zeit auch ihr Malwerk wieder mit erneutem Eifer ausnehmen mußte.

So waren die Tage auf eins wieder voll geworden und bunt, und als sie eines Tags einen Brief des Geliebten in der Hand hielt, bemerkte sie mit Staunen, daß es der erste war, den sie nicht unter hundert Wünschen herbeigesehnt, und der erste, den sie ruhigen Herzens öffnen konnte. Die bedeutsame Gegenwart hatte die große Frage abgerückt, das Warten war zu einem Wirken geworden.

Aber gerade dieser Brief brachte die große, schmerzlich erwartete Kunde.

Als Anna ihn zu Ende gelesen, wußte sie einen Augenblick nicht, ob es unsinnige Freude war oder Schreck, was ihr das Herz in den Hals drängte und machte, daß die runden Fensterscheibchen sich vor ihr drehten wie Räder eines Uhrwerks; aber als die Rädchen wieder stillstanden und das weiße Winterlicht unbewegt hereinließen, wußte sie, daß es die große Angst war, die ihr die Brust zusammenschnürte, die Angst, Unrechtes zu tun. Da wäre nun das Glück, so nahe, daß man es mit Händen greifen konnte; aber davor stand die Pflicht und hielt ihr das grausame »Noch nicht« entgegen.

Was tun?

Um Lichtmeß wollte er kommen – schnell, schnell; denn im Frühjahr hatte er mit Übernahme der Rektorstelle, die ihm unversehens, aber nicht unverdient zugefallen, dermaßen zu tun, daß an ein Reisen nicht zu denken war, dann hätte man warten müssen bis zu den Vakanzen; aber das konnte kein Mensch, deshalb lieber jetzt gleich, wann auch in aller Eile.

War das ein Jubel in seinen Worten! Wie ein heißer Hauch ging es ihr über die Wangen, daß sie die Augen schließen mußte und vermeinte, seine Nähe allbereits zu spüren. Und er war ja auch so nahe – sie brauchte bloß zu wollen – vier Wochen kaum, und dann – war solches zu fassen!

Aber – durfte sie wollen? Stand dort nicht der Bruder, ach, auf so unsicherm Boden, und war nicht ihre Wange noch feucht von seinen Tränen, und hatte sie nicht noch seine Bitte im Ohr, und ihr Versprechen, hatte es nicht groß und fest geklungen wie ein Schwur? Wie ein Schwur! Und nun wollte sie ihr Wort brechen?

Und dann war noch das andere: Sollte sie mit leeren Händen Einkehr halten im eignen Haus? Und wann sie das nicht wollte, dann mußte sie sich dem Vater offenbaren, ja, und dann kam alles aus, und ihr Opfermut war dahin wie eitel Blendwerk. Und Heinrich – »An dich will ich glauben, an dich mich halten ...« War das nicht eines Ertrinkenden Greifen nach der rettenden Hand, und die wollte sie ihm entziehen, so nah am Ufer?

Aber der Geliebte, hatte er nicht das erste Recht auf sie? Und ihr Herz, das mit solcher Gewalt zu ihm drängte, daß es fast sehr geworden darüber mit unregelmäßigen und unsichern Schlägen, konnte es die neue Qual ertragen? Und ein Zorn wollte sie ankommen gegen den Knaben, der auf verbotenen und unbraven Wegen vertan, was ihr nun zur Erfüllung fehlte.

Doch dann schämte sie sich wieder einer Verzeihungskraft, die so gering, daß sie vor dem eignen Mißgeschick gleich dahin war. Und die Vernunft regte sich: Nachher gehört man sich ja für immer, unverlierbar, und was bedeuten die paar Monate vor dem ganzen langen Leben? Dem Bruder aber können sie zum Heil werden.

Freilich dieser Frühling, den man zuerst zusammen erleben würde, das neue Leben in all dem Blust, und der große goldne Sommer – alle Macht der Welt konnte das nicht wiedergeben. Ihre Seele war bereit gewesen wie ein Myrtenbaum am tauigen Morgen. Mit tausend bebenden Knösplein harrt er der Sonne entgegen, daß sie ausbrechen möchten den tausend drängenden Strahlenkelchen, und konnte man der springenden Knospe das Blühen verbieten, wann die Sonne kam?

Es war ein schlimmer Tag und eine schlimme Nacht. Aber am Morgen schrieb sie, daß es nicht sein konnte, jetzt noch nicht. Und sie sagte die Wahrheit, aber schonte des Bruders.

Die Pflicht hatte gesiegt und die Vernunft; aber als der Brief weg war, fühlte sie sich als eine Geschlagene und Schuldige. Sie hatte gegen ihr eigenes Wünschen gehandelt und so, wie die tapfere Stimme es ihr eingegeben; aber da war eine andere Stimme, die tadelte und quälte und war nicht minder gut; denn sie kam aus dem Innersten und hatte keinen falschen Ton. Wo war nun das Gewissen? Wie einer, der sein Kind gestraft hat, vorsätzlich und mit Überlegung und im Bewußtsein, recht und nützlich zu handeln, und dem dabei doch elend ist, daß er sich schlecht vorkommt und sich schämt vor dem eignen Herzen, so war ihr zumute.

Aber da sie nun gehandelt hatte, galt es tapfer sein und aus der Qual den Nutzen ziehen. Der Erfolg mußte für die Notwendigkeit des Opfers zeugen, so dachte sie und arbeitete und richtete sich ein in des Bruders Leben, daß sie Ordnung schaffen konnte in dem Wirrsal und die festen Balken zimmern zum neuen Fundament. Die eignen Qualen aber und des Liebsten Schmerz und Vorwurf trug sie standhaft und schließlich schier gelassen wie jene Märtyrer, die auch zusammenzuckten, als der erste Stein sie traf, aber für die spätern hatten sie nur mehr ein Lächeln.

*

An einem hellen Mainachmittag kehrte Anna mit Heinrich und dem Estherlein aus Zollikon zurück, wo Bruder Rudolf seit einiger Zeit im neu erworbenen Pfarrhaus der Gemeinde wohnte. Sie nahmen nicht den gewöhnlichen Weg dem See entlang, sondern den vielgestaltigen über den Berg, der sich mit schmalen, dunkeln Tobeln und sehr hellen Hügeln zwischen die feste Stadt und das Dörfchen drängte. Oben auf der Höhe hielten sie Rast. Anna fühlte sich vom steilen Weg, den sie in raschem Anstieg, Hand in Hand wie drei fröhliche Kinder genommen, ermüdet. Sie setzte sich unter einen der weißüberschäumten Birnbäume, während die andern durch die goldig gesprenkelten Wiesen hin den Blumen folgten.

Gedankenvoll blickte sie den beiden nach, wie sie, ihrer Anweisung gemäß, mit sorgfältig hochgehobenen Füßen, Sumpfvögeln gleich, durch das blumige Gras stiegen, erst nach verschiedenen Richtungen, dann aber auf sich nähernden Pfaden, bis sie sich schließlich mitten in der goldenen Wiese fanden und ihre gelben Ranunkelsträuße lachend aneinander maßen.

Anna nickte: Ja, so war es gekommen, ganz, wie sie es gehofft hatte; die gesonderten Wege hatten sich gefunden, und nun band sie bereits die junge gute Freundschaft aneinander. Verschieden waren sie ja auch heute noch, und neben dem blühend hellen Estherlein sah der Bruder immer noch zart und schmalbrüstig genug aus; aber die Haltung war doch kräftiger als früher, und dem schmalen Gesicht gab die gebräunte Haut ein gesunderes und männlicheres Ansehen. Jetzt eben, da er lachte und die Lippen über den weißen Zähnen fast rot erschienen, hatte er beinahe etwas Sorgloses. Anna betrachtete ihn zärtlich: die liebe braune Haut, die von Bergluft erzählte und viel Sonnenschein, die hatte er von der Exkursion mit Professor Scheuchzer zurückgebracht, dazu viel seltsamer Erlebnisse und einen hellern Blick und ein fröhlicheres Wesen. Es hatte zwar viel gebraucht, bis sie ihn zum Mitgehen gebracht; denn die abenteuerlichen, schier berüchtigten Bergfahrten des Gelehrten waren nicht nach des blassen Stubenhockers Sinn. Auch beim Vater hatte es der Überredung bedurft; aber schließlich hatte es sich doch geformt, daß er die Reise mitmachte. Erst widerwillig, dann mit immer größerem Anteil und schließlich mit einem heißen und wachen Eifer. Scheuchzer hatte es ihr selbst nachher erzählt: »Habt kein Kummer, mit dem Heinrich kommt's allweg gut. Ist wie ein Pflänzlein, so allzulang am Schatten gesteckt, allwo es weiße und ungesunde Keim getrieben; nun aber es Licht geschmeckt, sollt sehn, wie freundlich es gedeiht. Und wann er auch nicht Ruedis Feuergeist hat, ein Flämmlein ist doch in ihm, und zwar kein verflackerndes, wohl aber eins, das kräftig werden wird und stät, wenn man es von denen Stürmen bewahren kann, die kleine Feuer erlöschen und große zum gefährlichen Brand schüren.«

Heinrich selbst hatte nach seiner verschlossenen Art wenig davon erzählt; aber als sie ihn jüngst über seinen gesammelten Pflänzlein traf: »Weißt,« hatte er leise gesagt, »der Professor, der hat auch die große Liebe, daß er allenthalben Wunder sieht, die wahren göttlichen Wunder,« und dabei hatte es seltsam gezuckt in seinen Augen. Ja, der war nun in guten Händen und aus Pfaden, die von Tremulanten und Wucherern, von jeglichem unlautern und ungesunden Wesen so mächtig wegführten, daß keine Versuchung und keine Umkehr mehr zu fürchten war.

Mit erleichtertem Seufzer lehnte sich Anna an den kühlen Stamm zurück. Ihr war so dankbar zumute wie einem, der aus bangen Irrwegen den rechten Pfad erkennt, oder einem, der eine schwere Last von sich ablegen darf. Sie ließ sich den kleinen Wind über die etwas zu heiße Stirn streichen und sah mit einem stillen Wohlgefühl auf das sonnig gebreitete Land. Noch hatte die Maienpracht nicht ihre Höhe erreicht, Blust und Blumen steckten noch halb in Knospen, und die kleinen, schmächtig entfalteten Blättchen der Bäume warfen nur dünne Rieselschatten über den Weg, die ganze Welt war erfüllt von tausend kleinen Zierlichkeiten.

Anna lächelte: Der Frühling war recht wie ein Miniaturist, der mit zu kleinem Pinsel aus großer Fläche arbeitet, sodaß nun alles in lauter kleine Pünktlein aufgelöst erscheint, die ganze Welt in Millionen kleiner farbiger Pünktlein, weiß und grün und gelb, die lustig nebeneinander fürsprangen, wie Triller des Buchfinks oder wie die hüpfenden Töne jenes Mailieds, das die Kinder vor den Haustüren sangen am ersten des Monats, wann sie mit dem Maibaum herumzogen und den Städtern verkündeten, daß draußen vor den Mauern der Maien aufgestanden.

Ein Sonnenstrahl, der durch die leise bewegten Äste des Birnbaums herunterglitt, legte sich über Annas Gesicht. Sie schloß ein wenig die Augen und blickte unter den gesenkten Lidern hervor in die Ferne. Da zeigte sich ihr plötzlich eine seltsame Erscheinung: Zwischen den dunkeln, sonnenbestrichenen Wimpern hindurch sah sie die Welt wie in einen köstlichen saphirblauen Schleier gehüllt, märchenhaft und großartig. Es war, als ob der tiefe Himmel niedergesunken und alle Kleinlichkeiten der Welt in sich aufgenommen hätte. Die Zierlichkeiten waren verschwunden, das Unterschiedliche aufgelöst, alles wie umfaßt von einem mächtigen Willen, alles wie aus einen gewaltigen Grundton gestimmt, der tausend Töne zum Einklang brachte.

Es war wie eine Bezauberung; aber nur für einen kurzen Augenblick, dann glitt der Sonnenstrahl weiter, und Anna sah wieder klar. Aber dennoch, war nun nicht etwas von den blauen Schleiern hängen geblieben? Sie beugte sich vor und schaute aus weitgeöffneten Augen erstaunt, als ob sie die Welt zum ersten Mal erblickte. Daß der Ütliberg, der dort drüben über dem tiefblauen See ausstand, blau war an solch duftigen Tagen, fast so blau wie See und Himmel, das hatte sie früher wohl auch gesehn,' aber sonst, war ihr nicht eben noch die Welt bunt wie ein Maibaum erschienen mit harten lustigen Farben, weiß die Bäume und gelb und grün die Wiesen und grün der Wald dort drüben am Hang? Aber das Estherlein mit weißem Gesicht und roten Lippen und braunschwarz das dichte Haar, und so würde sie es auch gemalt haben, bunt und hell und aufgeklärt. Aber nun? Schwammen nicht die weißen Gipfel der Birnbäume mit blauen Lichtern im Himmel und lagen nicht blaue Schatten auf Estherleins schwarzem Haar und auf dem hellen Gesicht, das sie eben erhob, blaue Schatten, ganz leicht wie ein zarter Schmelz? Und drüben aus dem Wald und allenthalben, war es nicht, als ob ein seiner Hauch über allem lag, liebevoll alles Gegensätzliche verschmelzend, wie der Odem Gottes!

Sie mußte tief ausatmen. Die von den herben Wohlgerüchen der tausend Blütchen durchstäubte Luft ging ihr würzig in die Brust wie ein feiner Maitrank. Die Luft wie ein würziger Maitrank! Anna staunte wieder – hatte sie daran nie gedacht, daß das etwas war, die Lust, etwas, das man fühlen konnte, das uns die Brust wonnig füllte, und etwas, das man sah! Und was man sah, konnte man das nicht auch malen?

Sie sprang aus, ihr Herz zitterte wie unter der starken Freude einer plötzlichen Erkenntnis.

Die Lust, die weiche blaue oder die goldig durchsonnte oder die feuchte, silbrig durchwebte, sie war wie die Liebe Gottes, die Gegensätze verbindet und alles umhüllt wie mit zarten gütigen Händen. Aber ihre Malerei, war sie ihr nicht deshalb so kalt vorgekommen und liebelos, weil sie die Dinge nach der eignen Kenntnis und gleichsam nackt hingestellt? Wann man nun aber das malen konnte, was sie mit plötzlich geöffneten Augen sah, dann mußte alles anders werden: die Kunst kein bloßes Contrafet der Dinge, zu einer Offenbarung mußte sie alsdann werden, zu einem Symbolum jener Liebe, die alles vereint.

Worte des armen Giulio fuhren ihr durch den Sinn und wie er einst über Herrn Werner gespottet: »Wann Tiziano Engel malt, dann steigen sie aus dem Himmel nieder, mit blaugüldnem Gefieder aus dem blaugüldnen Schoß; aber Meister Werners Flügelknaben sind mit unsichtbaren Schnüren an Papierwolken ausgehängt.« Anna blickte in den Himmel. Engel? Gewiß keine rotbackigen Kinder mit Vogelflügeln; wie jene halbverflüchtigten Wölklein, die dort gen Abend zogen, müßten sie gebildet sein, aus blauen und rosigen Lichtern, zärtlich enttaucht der unendlichen Bläue und halb noch mit ihr verschmolzen.

Anna fuhr leise zusammen. Die beiden andern standen vor ihr, und das Estherlein lachte: »Als ob du Gesichte hättest, so siehst du aus!«

»Es war auch so etwas,« sagte Anna leise, und dann suchte sie ihnen davon zu erzählen mit noch unklaren und überstürzten Worten; aber das Estherlein begriff sie dennoch.

»O du,« rief es und fiel Anna um den Hals, »das ist gewiß grad eine Entdeckung; nun wirst du so etwas wie ein Columbus in der Malerei und dann wirst keine schäbigen kleinen Helglein mehr malen, aber etwas ganz Großes und Herrliches!«

Anna wehrte ihr; des Mädchens Überschwang beängstigte und ernüchterte sie. »Ach, was meinst,« sagte sie fast bekümmert, »da müßt man vor allem arbeiten, viel und lang, bevor etwas würde, ja – und dann ...«

Sie hielt plötzlich inne; das Estherlein hatte sie losgelassen und stand nun heiß vor ihr, und die blauen Augen sprühten: »Ja, und dann, dann wär' der Herr Liebste nicht zufrieden und der Eheherr erst recht nicht; denn der will doch nichts anders als aus der großen Malerin eine kleine Hausmutter machen!« Sie stampfte auf den Boden und ballte die Hände, daß die Blumenstengel knisternd zusammenquetschten. »Meinst, ich hab's nicht gesehn, wie du deine seinen Plan hast liegen lassen und hast wieder geringer Werk herfürgeholt und bist immer langweiliger geworden in deiner Arbeit, immer öder!«

Anna war blaß geworden: »Schäm dich,« sagte sie streng; »du weißt, ich will solches nicht hören, das verstehst du nicht.«

Aber die andere ließ sich nicht beirren: »Ich bin auch kein Kind mehr,« rief sie, »und so viel versteh' ich: Die einten und die meisten, die sind wohl gut für die Heirat! Das Enneli, wie der Spatz im Weizen sitzt das in der Eh'; aber der Rudolf? Aus einem geiststarken und feurigen Jüngling ist der ein breiter Pfarrherr geworden, daß man meinen sollt, das Feuer war' all abgetan und erstickt in lauter Zufriedenheit. Aber warum hat er sich alsdann ein neu Taubenhaus bauen lassen aus die alte Scheuer, mit einem rechten Gemächlein dahinter und einer inwendigen verborgenen Treppe, daß es die Bauern nicht gleich sehen, wenn der Herr Pfarrer halbe Tag dort oben verbringt mit seinem Viehzeug? Liebhaberei! So alt bin ich auch und so witzig, um zu merken, daß derlei nichts anders als schäbige Abläuf für die großen Leidenschaften. Ja, so: ein Ablauf für alles Große und Ungewöhnliche, das ist die Ehe, und darum passest du nicht dazu, Anna, und erst für den – den – tausendmal zu gut bist für ihn!«

»Estherlein!« Heinrich ergriff das Mädchen heftig bei der Hand, und da erst sah es, daß Anna ganz weiß war, mit merkwürdigen großen Augen. Es hielt erschrocken inne, und dann schossen ihm auch schon die Tränen hervor:

»Sei nicht bös, Anna,« sagte es kleinlaut, »ich hab' dich drum so lieb, und du reust mich so.«

Anna versuchte zu lächeln: »Geh, Kind, und sag nie mehr so etwas.«

Sie schickte die beiden um ein weniges voran, dann folgte sie ihnen. Das Gehen fiel ihr fast schwer, so müde war sie auf einmal. Ob die Welt da draußen in tausend bunten Zierlichkeiten glänzte oder in himmlischer Bläue schwamm, was bedeutete es ihr jetzt? Sie wußte nur das eine, daß des Estherleins wilde Worte einen Ton in ihr geweckt, der sündhaft war für eine, die den Bräutigam erwartete.

Aus den hellen Wiesen glitt nun der Weg in den Wald hinunter. Die grünen Schatten schlugen tiefatmend über ihnen zusammen. Anna blieb einen Augenblick stehen. Sie schloß die Augen und sog den moosigfeuchten Geruch ein. Waldduft, der war so voller Erinnerung; er mußte ihr den Geliebten an die Seite zaubern, daß sie selbander diesen verschwiegenen Pfad wandelten und sie ihm abbitten konnte.

Aber da geschah es ihr, daß sie sein Gesicht nicht zu finden vermochte. Giulios Züge stellten sich davor, und Lux' brennende Augen erschienen; aber sein Antlitz wollte sich nicht formen. Es war wie ein Bann: Aus kurze Momente sah sie seine Augen, sein Haar, sie hörte auch wohl den Ton seiner Stimme; aber dann war es wieder vorbei und floh vor den Gesichtern der andern und wollte sich nicht zum Ganzen fügen.

Anna erschrak. Solches war ihr in letzter Zeit etwa vorgekommen, daß sie seine Gegenwart nicht leicht gewann, aber noch nie so beklemmend wie jetzt. Sie dachte nach: Kam es vielleicht vom Frühling? Die fröhliche zwitschernde Jahreszeit glich ihrer großen Liebe wenig, die der reisen goldenen angehörte. Vielleicht war es das helle Buchengrün, das die Erinnerungen aus frühen und maienhaften Zeiten so mächtig heraufführte, daß sie die Gegenwart verdeckten. Aber hatte es in den andern Maien nicht auch Buchengrün gegeben, und war ihr da solches vorgekommen? Immer hatte der Geliebte neben ihr gestanden, so klar und so deutlich, nicht einmal zu rufen brauchte sie ihn. Aber das andere: Hatte er nicht in einer schlimmen Verzweiflung geschrieben in diesen Tagen: »So lange Trennung, es ist nicht gut. Die alten süßen Erinnerungen, schier zu Tod gedacht sind sie, so oft hat man sie durchgekostet, man hätte Neues erleben sollen. Ich hätt' Dich unter den Blütenbäumen haben mögen, nun welkt der Pracht ungenossen, und das will mir fast die Brust versprengen. Oft aber auch hab' ich ein plötzliche Angst, daß der allzu straff gespannt Bogen lahm werden könnt'. Doch will ich nicht daran glauben, solcher Gedanke ist wohl aus der Höll geboren.«

Ja, die lange Trennung. Und plötzlich fiel ihr bei: Das mit der Erkenntnis vorhin, das war vielleicht auch solch eine Versuchung der Hölle, daß sie einen Augenblick lang alles vergaß und von sich warf, wie in einer Berauschung, die mit ihm nichts zu tun hatte und mit ihrer Liebe.

So war es wohl: einen Augenblick hatte sie ihm nicht mehr gehört, und deshalb hatte sich das geliebte Gesicht ihr entzogen. Das war die Strafe. Sie atmete fast erleichtert auf. Und da sah sie ihn plötzlich wieder vor sich, wie er auf dem Mäuerchen gesessen, damals, als ihr zuerst seine Stimme zum Herzen ging; oh, so deutlich sah sie ihn, die Strähne fiel ihm in die Stirn, daß er fast knabenhaft schaute, aber die Augen waren dunkel, und um den Mund lag es herb, schier schmerzlich. Und nun hörte sie auch seine Stimme, ganz lieb und weich, und wie sie nun mit leisen Füßen über den weichen Waldboden schritt, fühlte sie da nicht seine Hand an der ihrigen mit zartem Druck, daß ein Schauer über sie ging und ihr Herz stockte?

Als sie die andern wieder erreichte, konnte sie dem geknickten Estherlein ohne Zwang zunicken, mit einem ruhigen, fast frohen Lächeln. Sie wußte wohl, das wilde Kind war nicht schuld an ihrem Schmerz, der Feind saß anderswo, und wann sie ihre Liebe ungekränkt lassen wollte und die Ruhe des Herzens wahren, dann mußte sie jene Stimmen fliehn, die das ander, das einstige Ziel ihres Lebens anriefen.

Indes konnte sie es nicht hindern, daß sie von diesem Tag an die Welt in einem neuen Lichte sah und daß ihr bislang auf das Kleine und Einzelne gehetztes Auge allenthalben in der Natur nach den großen Zusammenhängen suchte, nach den Geheimnissen des Lichtes und der Farbe. Und bisweilen, wann sie unter mildem Frühsommerhimmel die Welt in zarten und schmelzenden Tönen sah, silbern umdampft der Berg und die reifen Wiesen wie von blaßvioletter Seide überwogt, oder wann der Hochsommer Feld und Himmel mit goldigen Pinseln malte, dann kam sie etwan ein heißes Verlangen an, eine Gier fast, irgendwie dieser Betörung von Licht und Farbe und den seltsamen Gesichten Gestalt zu verleihen. Doch sie wies die Versuchung jeweilen von sich, standhaft aus der Kraft ihres sehnsüchtigen Herzens. Ihre Malerei aber hatte sie kurz nach jenem Maientag, sobald das schwarze Kästchen seinen Inhalt wieder besaß, endgültig beiseite gelegt. Sie hatte es mit trüben, doch unschmerzlichen Gefühlen getan, als ob sie ein lange Totes hätte begraben müssen. Denn das war ihr aus der neuen Erkenntnis klar geworden: Was sie in den letzten Jahren geschaffen, war keine lebendige Kunst mehr gewesen, bloß gewohnheitsmäßige Arbeit, die Hände allein hatten geschafft, derweil die Seele auf den Pfaden der Liebe Neuland eroberte. Und also hatte sie am unrühmlichen Ende mit den stolzen Planen ihres Lebens abgeschlossen, ohne Schmerz, denn die blutwarmen Wünsche des Herzens waren darüber hinausgewachsen.

Und diese letzte Wartezeit war nicht mehr qualvoll wie die frühern; denn vom sichern nahen Glück beschienen, ging sie schnell vorüber, wie in einer sanften Betäubung. Oft meinte Anna, daß die Welt ihr nur deshalb so neu vorkam und in diesem weichen aufgelösten Farbenprunk sich zeigte, weil in ihr selbst alles weich war und aufgelöst und voller Farben. Sie konnte träumen wie ganz junge Mädchen und konnte sich tausendfach und unter tausend bangen Wonnen die eine große Stunde des Wiedersehens ausmalen. Wann würde er wohl kommen? Würde sie es wissen, ganz genau, oder würde er sie überraschen? Und welches würde das erste Wort sein und wie der erste Blick? Alles in ihr war Erwartung.

Aber als sie eines Abends, da sie mit dem Ölkrug vom Keller heraufstieg, im dunkeln Gang unvermutet mit einem Manne zusammentraf, der mit stattlichen, fremden Umrissen vor dem flackernden Treppenlicht stand, und dieser sie mit des Liebsten Stimme anredete, erschrak sie dermaßen, daß ihr der Ölkrug aus den Händen glitt, und die andern, von dem Lärm herbeigerufen, fanden Anna mit ölübergossenen Händen und triefendem Kleide und mit dem erschreckten Ausruf: »Aber ums Himmels willen, Hans, trägst du nun eine Perücke?«

Da gab es ein allgemeines Gelächter, und so war denn das einzige eingetroffen, daran sie nie gedacht, das Wiedersehen war zum Lachen und von kleinen äußerlichen Verlegenheiten gepeinigt.

Auch das hatte sie nicht erwartet, daß man die erste Stunde unter munterm Geplauder am Familientisch verbringen würde und daß der Geliebte, aufgeräumt, ein wenig selbstzufrieden und mit viel amüsanten Worten von seinen Campener Erlebnissen, Kämpfen und Siegen erzählen würde, derweil sie still lauschend und nur von seinen Blicken ausgezeichnet unter den Schwestern saß. Aber daß aus dem schlanken, ein wenig knabenhaften Jüngling ein kräftiger Mann geworden und daß statt des schlichten natürlichen Haars mit der lieben, widerspenstigen Strähne über der Stirn ein stattlicher Lockenschwall das kräftigere Gesicht umgab, das war doch das Allerunerwartetste und gab ihr eine schier schmerzliche Überraschung. Was half es, daß Mutter und Schwestern sie nachher beglückwünschten, da Schlatter so männlich und schön geworden? Den Stich einer leisen Enttäuschung ließ dieser erste Abend doch zurück.

Aber am andern Tag, als sie zusammen in ihrer Malstube waren, allein, und sie seine heimliche Stimme wieder erkannte und seine zärtlichen Hände und man sich einen Augenblick wieder eins fühlte, ganz eins – ach, da war es so schön und so voller Glück, wie sie es sich schöner nie geträumt. Leider nur einen Augenblick; denn dann kam das Estherlein, und wenn es auch bei Schlatters Anblick betreten, erschreckt, nach einem kurzen trotzigen Gruß gleich wieder davonstob – nachher war es doch nimmer dasselbe. Des Mädchens unfreundliche Art hatte den Geliebten wohl verletzt, daß er einsilbig blieb und zerstreut und den alten innigen Ton nicht mehr fand, und dann mußte man zu den Eltern und hatte wichtige Dinge zu bereden.

Auch ein nächstes Mal war wohl wieder das Estherlein schuld daran, daß ein Schatten in ihr Zusammensein fiel. Am frühen Morgen kam es herangestürmt und suchte Anna in ihrem Zimmer auf: »Du, meine Bücher möcht' ich nun zurück und meine Arbeiten, dahier hab' ich doch nichts mehr zu schaffen!«

Anna suchte ihr den schlimmen Trotz auszureden und sie zu besänftigen; aber noch ehe sie zu Ende gekommen, vernahm man Schlatters Tritt auf den Stiegen. Da war das Mädchen auch schon davon, und Anna hörte, daß die beiden unten auf der Treppe zusammentrafen und wie das Estherlein nach einem kurzen, seltsamen Gespräch, das ihr unverständlich blieb, weiterstürmte. Aber als Hans oben ankam, hatte er ein gerötetes Gesicht und schmale flimmernde Augen: »Sieh, was sie gekonnt hat, die kleine Hexe!« rief er und hielt Anna mit ärgerlichem, zu lautem Lachen einen blutigen Finger entgegen. »Ich wollt' sie auffangen, wie sie die Treppe herunterrannte, zum Scherz bloß, da hat sie mich gebissen, die Katze – die Katze!«

Anna erschrak, mehr über des Liebsten verändertes erbostes Wesen als über die kleine Verletzung. Sie zog ihn herzlich neben sich auf die Truhe und versuchte unter liebevollen, fast mütterlich zärtlichen Worten den Finger wieder in Ordnung zu bringen. Aber plötzlich entriß er ihr die Hand. »Laß das,« rief er mit unterdrückter Stimme, »ich mag das nicht, das weiche und bemutternde Tun; ich bin kein Bub nicht und du nicht meine Mutter, wohl aber mein Liebchen, du!« Und plötzlich riß er sie an sich, zog sie auf seinen Schoß und warf die ganze Flut einer rücksichtslosen Zärtlichkeit über sie. Anna war wie betäubt. Als eine Wehrlose ließ sie den Sturm über sich ergehen, zuerst wie etwas Banges, schier Süßes, dann aber wie etwas Furchtbares, und als sie sich endlich loswinden konnte, war ihr wie einer Gepeinigten.

Sie wich hinter den Maltisch zurück mit bebenden Gliedern. »Nie, nie mehr,« klagte sie, während sie den Geliebten aus großen fremden Augen anstarrte. »Oh, das war schlimm, das war entsetzlich, als ob ein Fremder mich geküßt hätte, nicht du!«

Auch Schlatter war aufgestanden. Er wandte sich dem Fenster zu und klopfte mit erregten Fingern gegen die Scheibchen. Sie sah, daß auch er zitterte. Da traten ihr die Tränen in die Augen: »Hans,« bat sie leise, »tu's nicht mehr, sei wieder wie früher; früher, da warst auch nimmer so wild.«

Der andere wandte sich brüsk nach ihr um: »Früher,« rief er mit einem kurzen, unnatürlichen Lachen, »früher, wohl, da war ich ein elender Junge, müd und abgehetzt von einem rauhen Leben, da sehnte ich mich wohl nach kühlen mütterlichen Händen! Aber jetzt, jetzt bin ich ein Mann, und die langverhaltene Sehnsucht ist wie ein Strom in mir und Gewitter, das hinaus muß, wenn ich nicht bersten soll!«

Und dann fand er Worte, viele und heiße Worte über die Sehnsucht und Nöte seines liebesehren Herzens, die Anna zwar nicht glücklich machten, die ihr aber ein Verständnis gaben, darin sie Verzeihung fand und eine gewisse Beruhigung.

Aber die Erinnerung an seine wilde Zärtlichkeit blieb doch als etwas Schreckhaftes zurück, und das Bewußtsein, daß sie einander nie fremder gewesen als in jenen Augenblicken der Leidenschaft, war das Schreckhafteste daran und warf auch über die folgenden Tage, die doch ein ruhigeres und innigeres Einverständnis brachten, einen fremden und betrüblichen Schein. Manches an Schlatter kam ihr jetzt verändert vor und neu, und oft war ihr, als ob sie neben dem alten Geliebten, der jahrelang ihre Seele erfüllt hatte, noch einen neuen müßte lieben lernen, und das war beängstigend und schmerzhaft und störte den stillen Frohmut und verscheuchte manche Nacht den Schlaf von ihrem Lager.

Auch daß das Estherlein sich mit Hans nicht versöhnen wollte, schmerzte sie; es war kläglich, die Zweiheit der beiden geliebten Menschen zu sehen, und dann erschien ihr oft in besonders bangen Stunden des Mädchens Abneigung wie ein böses Omen. Deshalb trachtete sie emsig darnach, eine gute, ehrliche Versöhnung herbeizuführen, und als sie eines Tages, aus der Stadt zurückkehrend, zu ihrer Überraschung die beiden allein in ihrer Malstube traf und sah, daß sie wie grollende Kinder abgewandt und mit roten Köpfen an den zwei Fenstern standen, suchte sie die Sache mit einem muntern Griff zu Ende zu führen. Sie zog die Unversöhnlichen, die sich ihr gleichzeitig zuwandten, bei den Händen herbei und versuchte, sie mit der fröhlichen Aufforderung: »So, nun gebt euch einen tapfern Versöhnungskuß:« aneinander zu bringen.

Aber Schlatter riß sich mit einer zornigen Bewegung von ihr los. »Mach keinen Unsinn!« rief er ungeduldig, während seine Brauen sich schwarz zusammenzogen. Das Estherlein aber warf einen wilden, fast grünen Blick nach ihm hinüber, während das heiße Rot ihm vom Gesicht über den weißen Hals hinunterschoß. Dann stürzte sie mit solcher Heftigkeit davon, daß man nach wenigen Augenblicken schon das Zufallen der schweren Haustüre vernahm.

Schlatter hatte das eine Fenster aufgerissen und sah nun in die Straße hinunter dem Mädchen nach, das mit raschen Füßen durch die steile Napfgasse entfloh.

Als das letzte Endchen von Estherleins bauschigem, blaßfarbenem Gewand oben an der Ecke des Hauses zum blauen Himmel verschwunden war, wandte er sich zu Anna zurück. Sein Gesicht war wieder ruhig, und seine Stimme tönte fast weich, als er zu ihr sprach: »Es gleicht dir, das Estherlein, merkwürdig, wie es dir gleicht, fast so mußt du ausgesehen haben, als du jung warst – so jung wie sie. Nur herber ist sie und heißer mit den schwarzen Haaren und dem aufreizenden blauen Blick. Und dann die Hände, braun und schlank mit eigensinnigen Fingern und kurzen Nägeln, die Füß aber kurz und bodenfest mit starken trutzigen Hacken.«

Anna lachte überrascht: »Sieh einer, wie scharfäugig die Abneigung macht!«

Doch der andere ließ sich nicht beirren: »Aber deine Füße, Anna, schmal und hochgeschwungen, als ob sie jeden Augenblick den Boden fliehen und aufschweben möchten, und die Hände weich, weiß und schmiegsam und so gut.«

Er griff nach ihrer Rechten, und während er sich mit Anna auf der Truhe niederließ, streichelte er die weißen Finger behutsam und ehrfürchtig.

»Weiht du, in sie hab' ich mich wohl zuerst verliebt, ganz zuerst,« sagte er mit einem innigen, fast wehmütigen Ton. »Ganz zuerst in diese weißen, sanften Hände.« Und während er unablässig und zart darüber strich, legte Anna den Kopf an die Wand zurück, mit geschlossenen Augen und ließ seine sanfte Zärtlichkeit wie etwas Süßes, Wehmütiges, unsäglich Beglückendes über sich hinströmen.

So saßen sie lange, regungslos und ohne ein Wort zu sprechen. Dann legte er ihre Hände in ihren Schoß zurück, ganz zart, wie eine Mutter das besänftigte Kindlein in die Wiege legt, und erhob sich.

»Willst du mir nicht einmal etwas von deiner Malerei zeigen, Anna?« Er hatte immer noch dieselbe stille Stimme.

»Was ist wohl aus denen Entwürfen geworden, die du mir früher einmal gezeigt? Es war wohl etwas Seltsames, vom Tod oder so, aber gewiß voll Bedeutung.«

Anna sah ihn erstaunt an: »Aber, Schatz, die Entwürf – sie auszugeben hab' ich dir ja versprechen müssen, und so tat ich auch.«

»So, so!« Er strich sich über die Stirn: »So ernst war's doch wohl nicht gemeint.«

Anna sprang auf, ihr Gesicht färbte sich. »Nicht, nicht ernst gemeint? Und ist mir doch nicht gar leicht gefallen, glaub's nur!«

»Ich glaub's,« antwortete er nachdenklich, »nicht leicht gefallen, ich glaub's, das war wohl auch eins von denen Opfern, die du mir gebracht.«

»Opfer?« Anna sah ihn erstaunt an. »Davon redet man doch nicht, wann man sich liebhat.«

Aber der andere schüttelte den Kopf schier eigensinnig: »Ja, ja, Opfer, und wie viele! Das mit Paris, wann ich nicht gekommen wär', eine große Meisterin wärst wohl jetzo, von Königen belobt, und dann das lang Warten und das Ungewisse und all's, und weißt, das kommt nicht umsonst, die Schatten unter den Augen und die schmalen Wangen und die müde Stirn.«

Anna wollte ihm wehren und seinen Worten; aber er fuhr unbeirrt fort in einem selbstquälerischen und harten Ton: »Allweg gewiß, mir fällt das zu; aber weißt, man sollt' keine Opfer bringen, nichts Gutes kommt da heraus, nimmer nichts Gutes. Und grad hier drücken sie auf mich wie eine Last. Meinst, ich seh' es nicht? Der Vater und Heinrich, als einen Räuber sehn die mich an, der ihnen das Best nimmt. Wenn du wüßtest, wie mich das wurmt. Und dann die Leut: ›Unsere Malerin nehmt Ihr uns weg! Das ist nicht recht von Euch, und habt ihr Sorg, so eine gibt's nicht eine Zweite!‹ Herrgott, daß ich es aushalten soll in dem engen Nest und in der engen Stube da mit der Opferluft!«

Er stieß einen Stuhl, der ihm zwischen die Finger geraten, mit Ungestüm von sich und schritt erregt im Zimmer auf und ab.

Anna sah ihn erschreckt an; aber dann kam es wie ein Mitleid über sie, und sie suchte ihn zu beschwichtigen, daß dies doch alles Redensarten seien und dumm Geschwätz, daß die Leute sie ja nichts angingen, sondern allein ihre Liebe, mit der sie so bald schon, in dreien Wochen schon, entfliehen konnten aus all der Enge. Aber das Haus und die Stube, wann es ihn bedrückte, auch jetzt schon wollten sie hinaus, einmal in die liebe Gotteswelt hinaus, wie damals in Regensberg, da sie so glücklich gewesen. Und sie schlug ihm vor, am andern Tag, da ja der zwanzigste des Monats sei und also des Bruders Hochzeits- und ihr eigner Glückstag, selbander nach Zollikon hinauszugehen. Oh, wie schön das sein mußte, allein in der schönen Welt und einmal einen ganzen Tag draußen, vom Morgen bis zur Betzeitstunde, und wie gut das seinem erregten und erhitzten Gemüt tun mußte!

Er stimmte bei: »Ja, ja, das wird gut tun!« und ward plötzlich wieder ruhiger und heller und versprach, sie morgen außerhalb des Lindentors zu erwarten, damit die Leute kein unnützes Geschwätz anstellten, wann sie zwei so allein übers Feld ziehen sahen.

Als Anna andern Tags unter dem hochgelegenen wuchtig getürmten Lindentor hervortrat und ihr der dunstige Septembermorgen mit einer breiten Helligkeit entgegenwallte, mußte sie stillstehen, so feierlich und groß dünkte sie dieser Augenblick, da sie gleichsam auf der Scheide zwischen Vergangenheit und Zukunft stand; denn war dieser kleine Ausflug nicht das Vorspiel des großen, der sie dem neuen Leben zuführte? Und lag dieses Leben nicht ebenso hell vor ihr wie der Morgen, der hinter dünnen Schleiern soviel verheißungsvollen Glanz und duftige Bläue barg? Ja, nun kam es, nun kam es, und dort unten, wo die großen Linden standen – sie trugen allbereits viel Herbstlaub auf breiten Ästen – dort harrte ihrer der Geliebte. Schnellen Fußes wollte sie hinuntereilen über die Grabenbrücke dem engen Hottinger Pförtchen zu, das den Weg durch den Schanzenwall ins Freie führte; aber da schaute sie der Totenhof an, der mit seinen stillen Kreuzen dem Lindengraben anlag, und es war wie ein Mahnen und Aufforderung, auch der Vergangenheit ihr Recht zu geben an solchem Glückstag.

Sie wandte sich zur Rechten, öffnete die Gittertüre und ging mit gedämpften Schritten durch einförmige Reihen dorthin, wo drei erinnerungsreiche, liebe Gräber nahe beisammen lagen. Wehmutig grüßte sie die blumengeschmückten der beiden armen Jünglinge, die das Leben so grausam um das höchste Glück betrogen hatte; aber beim Onkel Fähndrich verweilte sie länger. Sie pflückte gedankenvoll ein paar welke Blätter von dem Rosenstrauch, der zwischen festen Buchsbüschen ein paar helle verspätete Blüten trieb. Dann strich sie leise liebkosend über den rauhen Stein. Da waren nun schon viele Gräber, die ein Teil ihrer Vergangenheit verschlungen – Giulio und Andreas Morell und nun auch Joseph Werner, der nach enttäuschungsreichem Lebensabend in ungeliebter Erde lag – soviel warme Erinnerungen hatten sie mitgenommen – aber keins, in das ein so breites Stück ihres eigensten Lebens versunken war, wie in dieses schlichte Grab. Und ihre Gedanken gingen wieder zu dem einsamen Manne mit dem großen heißen Herzen, und der sie so tief verstanden hatte.

Es war immer wie eine Andacht, wann sie mit diesen Erinnerungen geheime Zwiesprache hielt, und ein Abglanz davon lag noch auf ihrem stillen Gesicht, als sie später weiter unten mit dem Geliebten zusammentraf.

»Ich habe gewartet,« sagte Schlatter ein wenig ungeduldig.

»Ich war noch auf den Gräbern,« entschuldigte sie sich; »es war mir, daß ich nicht vorbei konnte, ohne sie zu grüßen. Grad wann das Glück zu einem kommt, soll man ihrer am mindsten vergessen.«

Er lächelte ein wenig bitter: »Das ist edel, viel edel – aber die Lebenden warten lassen um der Toten willen? Hast wohl nie daran gedacht, daß man auch zu edel sein kann, Anna? So edel, daß es den andern schier erstickt!«

Sie sah ihn betroffen an: »Nein, Hans, daran hab' ich nie gedacht; ich hab' auch jetzt nicht vermeint, edel zu sein, ich tat einfach, wornach mich verlangte.« Dann schwiegen sie beide und folgten wortlos dem Weg, der heiter und voller Anmut zwischen dem hellen See und dem schwachübergoldeten Berg in die Ferne ging.

Später hub Schlatter von der nächsten Zukunft zu reden an mit viel Sachlichkeit und einigem Eifer, von der Hochzeit und der Reise und wie sie sich einrichten wollten drunten im schöntorigen Campen und was für Menschen Anna dort finden würde in der vergnügten und witzreichen Stadt und was für Verhältnisse. Sie hörte zu. Es war wohl nötig und auch wichtig, daß man von diesen Dingen redete; aber eigentlich – solches konnte man zwischen den vier Wänden auch sehr wohl tun, und war es nicht schade um den glänzenden Herbsttag und die süße Einsamkeit zwischen rotverbrämten Weißdornhecken und blonden Weinstöcken und dem hellen Blick in die zitternde Ferne, daß man von diesen äußern und gewöhnlichen Dingen redete?

Einmal blieb Anna auf einer kleinen Anhöhe stehen, wo das Auge weit über den silbrig umsponnenen See nach den hochgerückten Höhen der fernen Alpen ging, die wie durchsichtig in den zarten Himmel verschwebten.

»Das ist der September,« sagte sie innig; »weißt du noch, Hans, damalen, wie du mir seine feine Art priesest und ich dich nicht verstehen konnt' und vermeinte, der rotgüldne Oktober mit seinem Glanz und Pracht und Todesjubel sei mir lieber, und scheint mir doch heute auch nichts schöner als diese zarten, wehmütigen Tage mit ihrem Abschiedslächeln und Glückverheißen.«

Da warf Schlatter den Kopf wild zurück und streckte die Arme aus mit einer seltsamen Gebärde, als ob er irgend etwas hätte umfassen wollen, das weg war, weit weg: »Mir aber ist heut der rotgüldne heiße Tag tausendmal lieber als all die milde kühle verheißende Stille!«

Anna sah ihn verwundert an, und es wurde ihr traurig ums Herz, sie wußte nicht recht warum. Dann schwiegen sie wieder beide.

Der Weg führte sie in einen kleinen Birkenforst, der, schon ganz im gelben herbstlichen Gewand, von der kräftigern Sonne mit einem betörenden Schwall goldenen Lichtes erfüllt wurde. Anna lächelte: »Da hast du ihn ja, deinen goldigen heißen Tag!« Aber Schlatter sah sie fremd an, als ob er sie nicht begriffe, und schritt stumm weiter, mit gesenktem Kopf, wie wenn alle Pracht ihn nichts anginge.

Und der Weg schlüpfte aus dem gelben Birkenhain in einen dunkeln, tief verhängten Tannenwald und wurde so schmal, daß man hintereinander gehen mußte. Anna ließ Schlatter voran und folgte ihm mit weiten, traurigen Augen; versunken und wie abwesend schritt er durch all die stille Heimlichkeit. Ja, fühlte er denn nicht die Verlockung dieser innigen Pfade und fühlte er denn nicht, wie sie sich nach ihm sehnte, nach einem lieben Wort, nach einem warmen Blick, der ihr gesagt hätte, daß sie eins waren? Oder waren sie es nicht mehr? Was war das, daß sie nebeneinander gehen konnten und doch zweierlei denken und zweierlei sehen, und hätte sie es je geglaubt, daß man so hingehen konnte, selbander und doch mit diesem schweren, schweren Herzen ...

Als der Wald zu Ende war und die weithin sichtbare Straße sie wieder aufnahm, ging auch Anna mit gebeugtem Kopf und ohne der Schönheit und des freudigen Lebens rings zu achten.

Plötzlich fuhr Schlatter auf, als ob er aus einem Traum erwachte: »Wie gehst du auch dahin,« rief er schier ärgerlich, »als ob es einem Leichgang gälte! Sind wir denn nicht zwei Liebesleute, so sich freuen sollten?« Und er versuchte, sie an sich zu ziehen.

»Nicht hier, Hans, nicht an der gemeinen offenen Straße!« Anna wehrte ihm. Da wurde er eigensinnig:

»Was geht's mich an, die Leut, wann ich mein Liebchen küssen will?« und zog sie mit heftigen Händen in den Schatten eines Holderbaums, der breitästig am Wege stand, und preßte sie an sich mit einer hastigen Glut. Anna ließ es geschehen, ohne sich zu wehren, aber auch ohne die Zärtlichkeiten zu erwidern; denn ihr Herz, das vorhin noch so innig nach seiner Liebe verlangt hatte, zog sich unter diesen heißen, herrischen Liebkosungen fröstelnd zusammen.

»Siehst du, wie kalt du bist!« Er ließ enttäuscht die Arme sinken und trat einen Schritt zurück: »Wie ein Steinbild kalt!« Und dann kam ein unschöner Zug in sein erhitztes Gesicht, derweil er sie mit scharfen Augen maß: »Was ist es mit dir, daß du dich so verändert hast?«

Anna sah ihn nur groß an; aber er fuhr heftiger fort, mit einer ungeduldigen Gebärde und redete sich in Eifer wie durch Widerspruch gereizt: »Wohl, wohl hast du dich verändert, früher warst du beides, heißer und trutziger, nun ist alles weich in dir geworden, aber auch das Feuer ist dahin. Schon selbigsmal hab' ich's gefühlt, da du mir's schriebst wegen Heinrich: Wann die Liebe so in ihr wär', hätt' sie's nimmer gekonnt, aus Edelmut mich opfern, so hab' ich mir gesagt, hundertmal des Tags, wann die Leidenschaft in mir brannte und der Zorn – sie weiß nicht, was Liebe ist, sie weiß nicht, was Liebe ist!«

Er brach ab. Seine Stimme war plötzlich unsicher geworden, Anna stand groß vor ihm. Sie regte sich nicht, nur die Hände glitten in einer unsäglich wehen Bewegung am Körper nieder, sie schimmerten von krankhafter Blässe. Und in ihren Augen lag etwas, das er früher nie an diesem klaren Blick gesehen, schmerzhaft und unergründlich und so, daß es alle seine eifrigen Worte Lügen strafte.

Da stürzte er vor ihr nieder und barg sein Gesicht in ihren Kleidern und stöhnte: »Anna, Anna, eine Heilige bist du, ich aber bin schlecht, so schlecht!« und sprang auf und eilte davon mit der Straße über das offene Feld.

Anna aber folgte ihm müden Fußes, wie eine, die sich mit Wunden schleppt.

Auf der Straße kam er ihr wie demütig entgegen: »Verzeih,« sagte er leise und zog ihren Arm mit einer zarten Bewegung durch den seinen und behielt ihre Hand mit einem innigen Druck: »Schau, das ist nun so in mir, wirr und aufgeregt und voller Widerspruch: aber wann wir einmal beisammen sind und alles sicher und abgeschlossen, dann wird's wohl anders werden.«

Und nach einer Weile: »Das denk' ich mir schön, in deinen Armen sterben, in deinen milden, guten Armen möcht' ich einmal sterben.« Aber da Anna ihn fragend und schmerzlich anblickte, suchte er sich zu erklären: »Derlei Gedanken, der Hans Schmid, der Wollishofer, hat mich daraufgebracht. Voriges Jahr, da er vor Mons auf die Brust blessiert ward und man ihn für einen Toten gehalten: ›Alles macht nichts,‹ hat er mir nachher gesagt, ›Schmerzen vergehn und Wunden heilen, und auch die lang Nacht auf dem Schlachtfeld, da man als ein Halbtoter zwischen Toten lag und einem das fremd Blut am eignen Leib harschte, all's vergißt man; aber daß man nun weiß, wie einem zumut ist, der sterben muß, ohne eine liebe Hand, die ihn pflegt und die ihm letzte Kühlung gibt und letzte Wärme – das könnt' einem doch schier das Leben verleiden!‹ Da ich ihn aber aufmuntern gewollt, solches könnt' er wohl noch finden, eine liebe Hand, hat er mich nur so angeschaut: ›Ja, du kannst reden, du bist allweg frei von derlei Nöten!‹ und hat sich dann abgewandt und eins gepfiffen.« Schlatter versuchte zu lächeln: »Weißt, er hat es noch nicht verwunden, der denkt immer noch an dich, es hat ihm bös zugesetzt selbigs Mal.«

Anna wußte, daß Hans derlei nicht gern sagte und daß er es jetzt tat, um sich zu strafen; aber es berührte sie kaum. Sie sah stumm vor sich hin. Alles in ihr war unklar und weh, und wie nun das Pfarrhaus vor ihnen auftauchte und über dem schwarzen mächtigen Dach der Scheuer das neue Taubenhaus erglänzte, hell und lustig umflattert und alles mit soviel Traulichkeit, fühlte sie schmerzhaft, wie sie beide unnatürlich durch die sonnige Welt gingen, mit gequälten Herzen, und vom Sterben redeten.

Aber unter der Türe des langen, wohlig gelagerten Pfarrhauses kam ihnen das frohe Leben entgegen: Enneli mit den beiden Kindern und neben ihr im hellen Sommerkleid das Estherlein.

Anna erschrak, als sie das Mädchen hier fand, und sie fühlte, wie auch Schlatter bei seinem Anblick leise zusammenfuhr. Es sah auffallend weiß aus und älter als sonst – oder kam es nur daher, daß es neben der kleinen und rotwangigen Pfarrerin stand? Es hielt auch den Kopf so hoch mit unmutig aufeinander gepreßten Lippen und machte verschattete, grünliche Augen. Aber Enneli brachte die Sache ins Gleis, erzählte lachend, daß ihr das Jüngferlein gestern unerwartet ins Haus geflogen sei, wie so ein verscheuchter Vogel, und daß es ein wenig hier zu bleiben vorhabe. Eben jetzt hätte es zum See hinuntergehen und nach dem Casparli sehen wollen, dem Fischerbuben, ob er was gefangen fürs Essen, und da sie noch grad in der Küche zu tun habe und sie dabei nichts anderes, weder Hilfe noch Unterhaltung brauchen könne, wäre es ihr wohlanständig, wann sie das Mädchen begleiten wollten.

So stiegen sie denn selbdritt den steilen Pfad hinunter nach dem See, und Anna fiel es auf, daß Schlatter plötzlich lebendiger wurde, fast fröhlich, und einmal hörte sie sogar das helle Jungenlachen an ihm, das sie lange nicht mehr vernommen hatte; aber es schnitt ihr seltsam ins Herz, sie wußte selbst nicht, warum. Das Estherlein jedoch blieb stumm und steif, und nur die schwarzen Locken tänzelten um sein Gesicht wie aufgeweckte Schlänglein.

Als sie unten anlangten, besichtigte es den Fischkorb. »Du hast wenig gefangen,« herrschte es den Buben an; »aber kein Wunder, wenn man so faul am flachen Ufer hockt! Dort hinaus solltest stehen, wenn was Rechts an die Angel kriegen willst!« Und es wies auf einen schmalen, altersgrauen Steg, der etwas weiter unten in den See hinausgebaut war und einen langen, freischwebenden Balken über das Wasser streckte.

Der Bub zog den Mund in die Breite: »Versucht Ihr's, Jungfer, selb ist morsch und alt und die Stütze abgefault, das trägt keine Ente mehr; aber wenn Ihr mir's vormacht, dann kann's mir gleich sein.«

»Gut!« Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und schritt nach dem Steg hinüber. Aber Anna hielt sie fest: »Du wirst doch nicht,« rief sie erzürnt, »das ist kindisch, hörst!«

Da wandte sich das Estherlein nach ihr um und sah sie groß an mit einem eigentümlichen, schier überlegenen Lächeln. »Kindisch? So habt ihr mich immer genannt!« Und warf den Kopf abermals zurück und schoß einen schillernden Blick nach Schlatter hinüber.

Der aber stand da mit ganz schmalen weißen Augen, das Kinn vorgeschoben mit einem fremden, grausamen Zug. Anna erschrak, so hatte sie ihren Liebsten noch nie gesehen – und über dem Anblick vergaß sie einen Augenblick das Mädchen, und als sie sich wieder nach ihm umsah, stand es schon mitten auf dem Steg.

Es wandte den Kopf nach ihnen zurück und lachte ein kurzes, übermütiges Lachen; dann schritt es langsam weiter auf den schmalen Balken hinaus, hoch aufgerichtet und mit ausgebreiteten Armen, wie ein Seiltänzer. Und Anna sah ihm nach, wie gebannt, und fühlte das Herz im Hals, daß sie weder sich regen noch einen Laut von sich geben konnte, und stand immer noch so da, als das Estherlein schon lautlos im Wasser verschwunden war und Schlatter, der fast gleichzeitig mit ihr in den See gestürzt, mit größter Anstrengung den leblosen Körper zum Ufer zwang. Und erst als das Mädchen schon neben ihr im Grase lag, schneeweiß und mit geschlossenen Augen, fand sie Bewußtsein und Willen wieder, daß sie neben ihm niederknien konnte und nach dem Herzschlag forschen, den sie auch alsobald mit unbeschreiblicher Freude in zarten, aber bestimmten Takten wahrnahm.

Aber im gleichen Augenblick riß Schlatter mit einem kalten Griff ihre Hände von dem Estherlein los. »Laß das!« rief er heiser, und dann warf er sich neben die Regungslose hin und zog das weiße Gesicht in seine Arme: »Du, du, Liebstes, Liebstes! Sterben wollen hast du für mich! Aber nun ist es vorbei, nun können wir nicht mehr, nun gehören wir zusammen, ganz und für immer! Hörst? Hörst? Ganz und für immer!«

Und Anna sah, wie er jene wilde Zärtlichkeit, die ihr so schreckhaft gewesen, über die andere ausströmte und wie diese, erwachend, mit einem heißen Jubel in dem Strom untertauchte – und dann zogen auf einmal kleine graue Wellen über die Ebene – tausend kleine graue Wellen und drangen nach ihrem Herzen und schlugen über ihr zusammen; aber sie ging nicht unter in den tausend grauen Wellen, und als diese zurückgeebbt waren, stand sie immer noch da, halb gestützt von den Zweigen eines Uferbusches, und die blutenden Hände voll zerrissenen Buschwerks. Aber die beiden hielten sich immer noch in den Armen; die triefenden Kleider vermischten sich, und die Augen lagen ineinander und feierten jenes höchste Fest, das auch sie einst gekannt und davon sie geträumt hatte, jahrelang.

Sie wandte sich und floh, landeinwärts, über die erloschene Flur, auf Pfaden, die so weich waren, daß der Fuß bei jedem Schritt einzusinken vermeinte, vorwärts, vorwärts, durch die unendliche tote Welt – wohin?

Ein Wagen holte sie ein. Rudolf sprang heraus und half ihr in das schlichte Gefährt. »Ich muß in die Stadt zu Dietschis um trockene Kleider,« sagte er und zwang sich zu einem gleichgültigen Ton.

Anna setzte sich neben ihn, wortlos; es tat ihr fast wohl, die müden, müden Füße nicht mehr bewegen zu müssen. Er sah ihr voller Betrübnis in die Augen, und dann zog er sie plötzlich an sich, und sprangen ihm die Tränen hervor: »Schwesterlein, armes, armes du!« Und streichelte ihr die kranken Hände: »Es ist so furchtbar, aber sieh, es tut ihnen leid, wissen selbst nicht, wie es gekommen: das Estherlein weint und will ihn auf eins nimmer sehen und sagt, keinen Blick geb's ihm mehr, ehe du ihnen verziehen; aber der Hans, wie ein Verzweifelter redet der viel schlimmes, schier sündiges Zeug, er sei ein Unglücksmensch von allem Anfang an, den schon die Mutter hätt' mitnehmen sollen, damalen, als sie an ihm starb, und daß es das Best wär', wenn er es machte wie der Jacob Cramer... Sieh, die sind auch nicht glücklich, die zwei.«

Da legte Anna die Hände ineinander, ganz fest, und ihre müde Stimme tönte fast streng, als sie sprach: »Sie sollen aber glücklich werden, Bruder, da ist nichts zu verzeihen und nichts zu erklären, da hat ein anderer entschieden.«

Und Rudolf schloß sie in seine Arme und küßte sie andächtig auf die bleichen Wangen: »Du großes Herz!« Dann schwiegen sie beide.

Anna blickte vor sich auf den weißen Weg, der sich mählich zusammenzog unter den schnellen Rädern, und blickte aus die Stadt, die mit vielen grauen Türmen am Himmel herauswuchs, und da schoß es ihr durch den Sinn, daß sie schon einmal so neben dem Bruder durchs Land gefahren, an jenem kaltklaren Jännermorgen und hatte vermeint, daß es hinausginge in die große schöne Welt. Nun aber kehrte sie zurück mit gebrochenen Flügeln, zurück in die enge Stadt, die ihr mit schwarzgeöffneten Toren entgegengähnte, wie mit dem Nachen eines beutegierigen Tieres, und keinen gibt es mehr frei, den es einmal verschlang.

Als das Gefährt vor Dietschis anhielt, stieg Anna rasch aus, die weitere Begleitung ablehnend; aber während sie dem Bruder die Hand zum Abschied reichte, sagte sie in einer scheinbar ruhigen und sachlichen Art: »Der Esther kannst du sagen, was die Aussteuer betrifft, dafür ist dann gesorgt,« und wandte sich schnell und ging davon, ohne sich nach der heraustretenden Schwester umzusehen. Und keiner sah es, wie sie daheim ins Haus trat, keiner gewahrte es, wie sie mit todmüden Füßen sich die endlosen Treppen hinaufschleppte und wie sie in ihrem Malstübchen zusammenbrach ...

Elisabeths Meitlein verließen schon mit schlecht gedämpfter Fröhlichkeit die Nachmittagsschule, als Anna sich endlich aus ihrer dumpfen, tränenlosen Verzweiflung aufraffte. Mit verlorenen Augen sah sie sich in der verödeten Malstube um; da blieb ihr Blick an ihrem Jugendbildnis hangen, das mit seinen dicken und lebhaften Farben stattlich neben dem grünglänzenden Ofen hing. Und wie ihre heißen Augen den frischen, sicheren, schalkhaften des jungen Bildes begegneten, geschah es, daß plötzlich in ihrem gemarterten Hirn Gedanken aufsprangen, scharf und unerbittlich, wie sie solche seit langem umsonst gesucht, und ihr all ihr seltsames Leben, Ursprung, Zusammenhang und Notwendigkeit des leidvollen Endes in klares, unzweideutiges Licht setzten. Neue heiße Schmerzen fuhren ihr durch die Brust; aber sie fand doch in der schneidenden Klarheit einen Halt, daß sie auf sicheren Füßen das Zimmer durchschreiten konnte und daß ihre Finger nicht zitterten, als sie das schwere Bild von seinem Platze hob und es in einer dunkeln Ecke gegen die Wand stellte. Es war wie Vorsatz und Ruhe in ihren Bewegungen, als sie nun nach der Truhe ging und aus ihrem Schoß ein anderes Bildnis hervorholte, um es an der leeren Stelle anzubringen. Und da nun von der dunkeln Wand Giulios schmerzhaft unvollendetes Werk herniederblickte, atmete sie auf wie eine Erlöste und grüßte mit einem matten Lächeln die weichen, tränenfeuchten Augen und den schmerzlichen, unsicheren Mund: So war es nun, alle Verheißung Trug, und dieses arme Bild allein behielt recht; solches aber war Sinn und Ziel ihres Lebens, unvollendet, abgebrochen auf halbem Weg. Ihre Kunst hatte sie sterben lassen, ihre Liebe hatte man ihr getötet, alle Ganzheit war zerstört, mußte nun nicht auch der letzte elende Rest ihres Daseins zu Ende kommen? Wäre es sinnvoll und recht, daß nun der seelenlose Körper so hätte weiterleben müssen? Nein, sie fühlte es ja mit einer befreienden Sicherheit, daß es nun auch mit dem andern ein Ende haben mußte. Irgendwoher würde er kommen, der stille Erlöser, an dessen Erlöserkraft sie so fest glaubte, irgendwoher und sicher.

Ein Eifer kam über sie wie über einen, der sein Tagewerk noch vollenden will, ehe er sich zur Ruhe legt. Mit emsigen, fast leichten Schritten ging sie nach der kleinen Bodenkammer hinüber und holte Körbe herbei, einen nach dem andern, und dann öffnete sie den großen Wandschrank, schier hastig, daß die schweren Türen leise ächzten, und hob geschäftig das lastende Leinenzeug herunter, das sorgfältig geschichtet zwischen den dunkeln Brettern lag, und legte es behutsam in die weißen Körbe, und wann ihr der müde Lavendelduft und der Anblick so vieler inniger Arbeit mit überwältigenden Erinnerungen ins Herz stach, dann preßte sie das kühle Zeug heftig an die heiße Brust und ließ keinen einzigen Schmerzenslaut über die schmalen Lippen.

Als der Schrank leer war, legte sie das kleine schwarze Kästchen zu oberst auf den größten der Körbe, daß es auf dem weißen Linnen stand wie ein schwarzes Siegel auf einem Trauerbrief, und dabei fuhr es ihr durch den Kopf: Das, wann es nicht gewesen wär' mit dem Heinrich und seine Sehnsucht nicht also gemartert und abgespannt worden durch das Warten, leicht wäre es anders gekommen. Aber sie verscheuchte den Gedanken – Vorbei – vorbei ... Dann sank sie erschöpft in ihren Stuhl zurück und faltete die Hände und nickte nach den hohlen Augen des ausgeraubten Schrankes hinüber. Wie oft hatte sie diese Stunde herbeigesehnt, nun war es eine andere Reise, auf die sie wartete, und sie war bereit zum Aufbruch.

Da öffnete sich die Türe, und Heinrich trat herein. Mit verstörtem, umschattetem Gesicht, blasser noch als in jener schlimmen Nacht. Er sah sich erschrocken in dem durchstöberten Raum um; dann trat er zu Anna mit unsicheren und schier verlegenen Schritten: »Ich war in Zollikon,« sagte er tonlos, »um das Estherlein.«

Anna sah ihn voll an: »So weißt du es denn,« erwiderte sie still.

Er nickte, und plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und schluchzte auf: »Oh, ich hab' an sie geglaubt, so felsenfest, und nun konnte sie das tun, dir und mir, das Schändliche, das Abscheuliche!«

Aber Anna wehrte ihm: »Nicht so,« sagte sie sanft und zog ihm die Hände herunter. »Nicht anklagen, schau, sie haben sich gewehrt, keiner weiß es wie ich, wie sehr sie sich gewehrt haben; aber nun hat das Schicksal geredet, und, glaub mir, nie hat es zwei zusammengefügt, die inniger zueinander paßten.«

Heinrich sah die Schwester voller Staunen an, aus großen, wie von innen erleuchteten Augen: »So redest du, du, der sie alles genommen?« Und dann warf er sich vor ihr nieder und barg das Gesicht in ihrem Schoß und küßte ihre Hände: »Anna, nun weiß ich, daß es Heilige gibt und göttlich Wunder, so groß, in der Heiligen Schrift stehen keine größeren verzeichnet!«

Sie aber dachte daran, daß schon einmal an diesem endlosen Tage einer dermaßen vor ihr gekniet und sie eine Heilige genannt hatte, und ein Grauen schüttelte sie.

»Nein, nein,« rief sie erschreckt, »das redest du sündhaft, keine Heilige nicht, bloß ein armer, verwirrter Mensch, der sich vom rechten, vorgezeigten Wege verlor und also an einen Abgrund, an ein betrübt und falsch Ende geraten ist!«

Sie richtete den Bruder auf und erhob sich: »Nun müssen wir hinunter, es ihnen sagen, bevor es ein anderes mit häßlichen Worten fürbringt!« Und sie faßte Heinrich unter dem Arm und schritt mit ihm nach der Türe, und da dieser fragend auf die gefüllten Körbe deutete, lächelte sie ein wenig: »Für das Estherlein,« und verließ dann still das Zimmer.

Aber unten auf der zweiten Treppe mußte sie einen Augenblick anhalten, und ihre Hand zitterte auf des Bruders Arm. Da hatte es den Anfang genommen, das war die Stelle, wo die beiden sich zuerst umfangen, im Scherz noch und vermeintlichen Haß; aber dann war es gekommen, unaufhaltsam. Noch einmal zog sich die Brust zusammen im heftigsten Schmerz. Mußte sie nun über diese grausame Stelle gehen, jeden Tag, jeden Tag? Aber die tröstliche Gewißheit stand wieder auf, daß den Tagen ein Ende war und der stille Erlöser kommen mußte, irgendwoher und bald – und ruhigen Schrittes ging sie die Stufen hinunter, wie eine, die ihres Weges sicher ist.

Aber der Erlöser kam nicht. Wohl neigte sich der schwarze Vogel über sie, von dem Maria einst geredet, mit ungeheuren Schwingen, darunter der Atem vergehen wollte, und mit grausamen Krallen, darunter das Herz zu verbluten meinte, und die schlaflosen Nächte und langen trostlosen Tage ermatteten ihre Kraft, daß sie welkte wie eine Blume ohne Wasser; aber keine Krankheit kam aus den Qualen und zog sie trostreich in ihre löschenden Arme. Und als ein Fieber im stillen Hause Einkehr hielt, ging es an ihr vorüber und ergriff die zarte, schwer heimgesuchte Mutter und setzte Anna als Pflegerin ans Krankenbett. Und als die Mutter sich wieder erholte, da fiel es Anna auf, wie gebückt der Vater einherging und wie alt er geworden in der letzten Zeit, und es kam ihr zu Sinn, wie ihm mit neuen Würden immer neue Arbeiten auferlegt worden und daß er wohl der Hilfe bedurfte, und daraus verstand sie, daß ihre Zeit noch nicht gekommen war.

Viele Stunden des Tages saß sie nun in des Vaters Arbeitsstube und schrieb für ihn, ohne Trieb und ohne Freude, aber mit einem steten Fleiß, darin das gemarterte Herz nach und nach eine Ruhe fand, und wenn es auch keine schöne Ruhe war, sondern die stumpfe Stille des Totenhofes, es bedeutete doch einen Stillstand und ein Ausspannen, darin die entwurzelten Kräfte allgemach wieder einen Boden fanden.

Aber einmal im Frühjahr begab es sich, daß Elisabeth auf ein kurzes, ungefährliches Krankenlager kam und Anna an ihrer Statt vorübergehend die Schule übernehmen mußte. Fast erschrak sie darob; denn seit jenem Tage hatte sie allen Verkehr geflohen, wie sie die freie Natur geflohen und ihr eigenes verödetes Malzimmer, wo die Farben eintrockneten und die Geräte verstaubten. Doch der Schwester zuliebe übernahm sie die Arbeit. Erst zaghaft, aber dann mit wachsender Teilnahme und einem schier freudigen Staunen. Nach und nach erkannte sie im Verkehr mit diesen kleinen Menschen, die dem Leben frisch und mit unwissenden Augen gegenüberstanden, daß es noch Neuland gab, von Erlebnissen ungepflügt und von keinerlei Erinnerungen überwuchert. Eine Ahnung kam ihr von der neuzeugenden Kraft der unbepflanzten Scholle und rührte etwas auf, daß es nicht ganz so tot mehr war in ihr, und einmal, an einem ganz hellen und lachenden Tag, ließ sie sich von der kleinen Schar zu einem Spaziergang vor die Tore bewegen. Und wenn auch beim ungewohnten Anblick des blühenden Landes viel Schmerzhaftes über sie hereinbrach, daß sie zuerst beinahe zurückgeflohen wäre, die Macht des Gegenwärtigen fand schließlich doch die Oberhand, und da sie unwillkürlich mit den Augen der Kleinen schaute, die sie mit viel Fragen und Hinweisen umdrängten, entdeckte sie selbst in der erinnerungsschweren Welt allerlei Neues, Ungetrübtes, das mählich das Andenken köstlicher, unverbrauchter und unverletzter Zeiten aus ihrem Leben herausführte, und vor ihren erstaunten Augen reihten sie sich zu einer schönen, unverbrüchlichen Kette.

Als Anna am Abend dieses Tages unversehens durch ihre Malstube ging, zog sie ihr Jugendbildnis um ein weniges aus der dunkeln Ecke hervor und betrachtete es eine geraume Weile, und wann sie es auch mit einem stillen Seufzer wieder zurückschob und dann mit trübem Lächeln an Giulios Bild hängen blieb, der erste Gedanke an die Möglichkeit eines Anschlusses an frühere, unverdorbene Zeiten und eines neuen Anfangs war ihr doch an diesem Abend ganz leise durch den Kopf gegangen. Und keine zwei Monate gingen ins Land, als Elisabeth eines Tages mit freudigem Schreck das verschmähte Bildnis wieder an der Wand entdeckte, und wenn es auch nicht an der alten Stelle hing, sondern neben Giulios unheimlichem Gemälde, es war doch wieder da und blickte einen mit schalkhaften Augen an und warf mit dem roten Röcklein und hellen Mieder einen freundlichen Schein in die Stube, und war die alte Anna mit dem klaren Blick und dem klugen Mund und mit den kunstreichen, malfreudigen Händen.

Als Elisabeth es Heinrich erzählte, ganz im verstohlenen und ohne daß die Schwester es ahnte, da lachte er wie ein Junge, und sie küßten sich und sahen sich voller Hoffnung in die Augen und voller Glück. Wann sie erst wieder malen würde, ja, dann!

Indes Pinsel und Farben hatten lang Ruhe. Wohl weilte Anna nun ab und zu wieder in ihrer alten Stube, sodaß es bewohnter aussah droben und freundlicher, aber ihr Malgerät blieb unberührt. Sie stöberte dann etwa in altem Kram und Büchern, mit einer hastigen, verstohlenen Art von einem zum andern gehend, und bloß wann ihr das gewichtige weißlederne Büchlein in die Hand kam, das ihr Herr Morell verehrt hatte an jenem schneeschweren Neujahrstag, verweilte sie wohl ein wenig länger, und es mochte geschehen, daß sich ihre schmalen Wangen leise röteten ob solchem Tun und daß sie nachher mit nachdenksamen Augen und tieferem Atem die stille Stube verließ.

Bei einer solchen Gelegenheit war es auch, daß ihr einmal ihre alten Entwürfe in die Hände kamen. Zögernd breitete sie die gelblichen Blätter vor sich aus; während sie aber hineinschaute, erst flüchtig und dann mit immer gespannteren Blicken, und die zarten und heftigen Linien vor ihr zu leben begannen und die Formen sich füllten mit altem verlorenem Gut, geschah es, daß ihr plötzlich mit einer unbegriffenen Freude ein Strom lange versiegter Lebenskraft durch die Brust ging mit solchem Ungestüm, daß ihr die Tränen hervortraten und sie die Hände aufs Herz pressen mußte, und wußte doch nicht, woher dieses plötzliche und starke Gefühl kam und ob die Macht alter, lange vergessener Erinnerungen schuld daran war oder die Ahnung einer neuen Erkenntnis.

An diesem Abend aber war es, daß Anna zum ersten Mal jene seltsame, kurze Bitte unterließ, die sie sonst seit ihrer Leidenszeit jedem stillen Gebet angeschlossen – erst heiß, wie eine flehende Forderung, dann stiller und schließlich schier gewohnheitsgemäß –und daß sie die ganze Inbrunst ihres Herzens in das eine Wort legte: »Dein Wille geschehe.«

Und manches ward anders seit jenem Abend, und eines Tags begab es sich, daß sie an Giulios Bildnis eine Entdeckung zu machen vermeinte und mit freudigem Staunen gewahrte, wie es kein Zerstörtes, noch Abgebrochenes zeigte, wohl aber ein gefangenes und verhülltes Leben, sodaß man bloß die Schleier zu heben brauchte, die den Anblick trübten, um ein Frisches, Lebendiges und Vollendetes zu befreien, und ein starkes Gelüste kam sie an, solches vorzunehmen. Indes hinderte sie daran ein abergläubisches Gefühl, das ihr verbot, das Werk des Toten anzutasten. Aber es zwang sie von nun an doch, daß sie immer wieder in dem rätselhaften Bilde verweilen und darnach forschen mußte, welcher Art es anzustellen wäre, um das Verborgene ins Leben zu ziehen und Vorgedeutetes auszuführen.

Solchermaßen kam es, daß sie sich schier unbewußt und ungewollt wieder mit Pinsel und Farbe beschäftigte, und wenn es auch bloß in Gedanken geschah und sie mit keinem Finger die brachliegenden Geräte berührte, ein Weg hatte sich doch geöffnet, und es bedurfte bloß des Anlasses, damit sie ihn auch wirklich betrat.

Inzwischen aber war es Winter geworden, und aus der farblosen Welt kam kein Ansporn, und die dunkeln Stuben und langen Abende brachten viel trüber Gedanken und Rückfälle in alte schlimme Leiden. Zudem ging in dieser Zeit durch die Vaterstadt ein aufgeregter Lärm von kommenden Kriegsläuften des Toggenburgs wegen, und man redete viel von Auftrag und von Rache für Villmergen und Kappel, und der Lärm fand auch im Waserschen Hause Widerhall und führte manche Vermehrung amtlicher Arbeiten herbei.

Anna half ihrem Vater treulich, und dieser gewahrte in geheimem Staunen, wie sie mit immer wacherm Anteil und lebendigerer Sorge ihr Wert tat, und freute sich an der klugen und einsichtigen Art, damit sie auch denen politischen Ereignissen folgte, umsomehr, als er mit seinen beiden Söhnen davon zu reden nur wenig Gelegenheit fand; denn auch Heinrich, der seine Examen mit Auszeichnung bestanden hatte und nun vielerorten im Land herum aushelfender Weise bei kranken und sonst verhinderten Pfarrherren betätigt wurde, war im väterlichen Haufe nur mehr ein seltener Gast. Der Amtmann aber liebte es, auch in der eigenen Stube von den äußern wichtigen Begebenheiten Anklang und Wirkung zu verspüren und ein Urteil zu hören, das über die gewöhnlichen Klagen, Neugierden und Befürchtungen hinausging, darin sich sonst das Frauenzimmer erschöpfte, sobald von Krieg und Waffenlärm die Rede war. Und bei Anna fand er solches und mehr noch, eine sichere, selbständige Meinung, die ihn erstaunte, wenn sie ihn auch nicht immer freute; denn als sie über die Wahl des edeln Obmann Bodmer zum Oberbefehlshaber der zürcherischen Truppen ein besorgtes Gesicht machte und meinte, an solch verantwortungsvollen Posten sollte man klare Leut stellen und keine Schwarmgeister, kam ihm derlei Kritik dem hochmögenden Manne gegenüber doch vermessen vor. Denn Anna verschwieg es, daß sie von Heinrich her wußte, wie dieser einflußreiche Mann insgeheim den Pietisten und Tremulanten ein eifriger Anhänger war. Insbesondere aber fühlte sich Herrn Wasers zürcherisches Herz verletzt durch die Art, wie Anna denen Bernern die Stange hielt zu einer Zeit, da doch wegen ihrer Saumseligkeit und langsamen Zurüstung ganz Zürich aufgebracht war und man allenthalben viel Spott und Verdächtigung gegen die langsamen Bundesgenossen ausstreute. »Schnell fertig sind sie wohl nicht, die Berner,« hatte sie einmal gesagt, »aber auch leichtfertig nicht, und daß sie keine Arbeit nicht lassen, sie seien denn ganz fertig, daraus kommt's doch wohl an.« Ganz schlimm aber war, was sie über die zürcherischen Truppen redete, selbigsmal, da man einem Auszug beiwohnte: »Seht, Vater, wie untapfer sie schreiten,« hatte sie gesagt, mit einem Ton, daß der Amtmann seines seligen Bruders gedenken mußte, ob diese Worte gleich aus einem zarten Mund kamen, »und wie die Musica klingt, weiß Gott, zögernd und trübselig wie Abschiedsgesang. Wann da nicht bald der Bernermarsch hineinfährt und die schlampigen Schritt richtet und die Köpf klärt, dann gnad Gott unserer Sach!« Grad weil er fühlte, daß eine bittere Wahrheit drin war, gaben dem Amtmann diese Worte schier einen Zorn gegen die Tochter.

Aber als die Ereignisse ihrer Meinung mehr und mehr Recht gaben, als man in den unsichern Frühlingstagen wohl Grund bekam, die Wahl des obersten Leiters zu bereuen, und als es schließlich eine Berner Faust war, die das Siegesbanner von Villmergen aus einem bösen Kampf herauszog, sah der Amtmann oft mit stillem Staunen aus seine Tochter und in einem Stolze, von dem freilich keiner was bemerkte.

In eben jenen bangen Frühlingstagen aber war es, daß Anna plötzlich und wie aus einem notwendigen Vollzug unbewußter geheimer Vorgänge den Mut zum alten Leben und zu neuem Tun fand; denn als einmal zwischen endlos gereihten naßkalten Maientagen unversehens ein sonnenheller Morgen erschien, kam es sie auf eins an, daß sie mit zitternden Händen ihr altes Elfenbeinkästchen und Rohr und Papier hervorsuchte und verstohlen und ohne daß jemand es gewahrte, aus der Stadt entfloh, nach jenen Höhen des Zürichberges, wo ihr einst an einem blütenüberströmten Maitag eine neue Erkenntnis aufgegangen war.

Als sie freilich zur Kollation zurückkehrte, schon wieder unter neuen drohenden Regenwolken, klopfte ihr Herz minder freudig als bei dem heimlichen Ausgang am Morgen. Der erste Versuch hatte bloß Enttäuschung gebracht und die schmerzliche Einsicht, daß man nicht ungestraft solange von vertrauter Übung abläßt. Entmutigt ließ sie eine Weile die Dinge wieder ruhen. Aber dann versuchte sie es neuerdings, ruhiger und mit mehr Ausdauer und an vertrautern Segenständen, und als der Sommer aus der Höhe stand und die ganze Stadt erfüllt war vom Jubel über den Ausgang des Krieges und den endgültigen Sieg der Reformierten, der im Aarauer Frieden sauber und glänzend besiegelt lag, schämte sie sich schier, daß ihre eigne stille Freude, die so natürlich mit der allgemeinen ging, weniger den großen äußern Ereignissen entsprang als einem persönlichen Erlebnis.

Zum ersten Mal war es ihr gelungen, in einem kleinen, noch unscheinbaren, aber für sie umso wertvollem Werklein etwas von der neuen Anschauung auszudrücken, die ihr an jenem Maientag ausgegangen und die sie, wie ihr nun klar wurde, schon früher vorgeahnt hatte, damalen schon, als sie unter Luxens Augen im grünhallenden Walde ihr erstes selbständiges Bild geschaffen.


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