Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI. Hochzeit

Anna erwachte aus kurzem heißem Schlummer. Ein breiter Lichtschein lief blendend über die geblümte Bettdecke. Erstaunt öffnete sie die Augen – ja, war sie denn im Turmgemach zu Braunfels oder gar im alten Berner Stübchen, daß der leuchtende Morgen zu ihr hereintrat? Aber da kannte sie sich wieder aus: Richtig, heut war ja des Bruders Hochzeitstag, sie lag im Teucherschen Pfarrhaus zu Dielsdorf, und die dort im andern schmalen Bett so friedlich schlief, das war Enneli, die junge Braut.

Anna betrachtete aufmerksam das Mädchen, das mit kindlich geöffnetem Mund und roten Wangen, die weißen warmen Arme unter dem blonden Kopf verschränkt, ruhig atmend dalag. So hatte sie geschlafen, die ganze Nacht, unbeweglich an derselben Stelle, wo sie sich gestern abend mit einem glücklichen Dankgebet hingelegt, während Anna immer wieder zu ihr hinüber hatte lauschen müssen und staunen über die ruhige Schläferin. War es denkbar, gab es wirklich so etwas, eine solch sicher ruhige Liebe, daß man dem großen Tag ohne Bangen und ohne Jubel, mit diesem friedlichen Lächeln und der klaren Stirn entgegenschlafen konnte? War die Erfüllung, das Glück vielleicht etwas so Selbstverständliches? Und tausend Gedanken waren ihr durch den heißen Kopf gejagt und hatten ihr den Schlaf geraubt, sodaß sie erst gegen Morgen in einen kurzen, wilden, ach so seltsamen Traum verfiel.

Sie erhob sich und warf ein paar Kleider über – die Luft, darinnen man geträumt, ist nicht gesund; sie trat ans Fenster, öffnete es leise und beugte sich weit hinaus, daß die Morgenbrise prickelnd über ihr zusammenschlug. Ah, das tat wohl.

Aus erfrischten Augen blickte sie in die stille Welt hinaus. Langsam, mit gelblichen Lichtern breitete sich die Frühe über das zürcherische Land zu ihren Füßen, das unter durchsichtigen Septembernebeln mit herbstlich gelben Ebenen und seinen gleitenden Horizonten weithin erglänzte.

Anna atmete tief. Das war das Freiland, darnach sie sich so oft gesehnt aus ihrer engen dunkeln Gasse heraus, das war die Weite, die irgendwie mit allen glücklichen Zeiten ihres Lebens verbunden war. So groß und glänzend hatte sich der Himmel über ihre Kinderheimat gewölbt, solch freie Morgenluft hatte ihr Berner Stübchen umweht, und also köstlich hatte vor den Blicken der Braunfelsschen Burg das Land sich gebreitet.

Aber sonderbar, heute bangte ihr fast vor dem unbegrenzten Blick.

War sie am Ende selber eng geworden in der engen Gasse, daß sie sie nimmer begriff, die Weite, mußte man vielleicht selbst etwas Großes in sich haben, eine große Hoffnung oder ein großes Wollen, um diese Größe zu ertragen? Sie aber hatte wohl beides verloren. Viel Kleinlichkeit hatte sich in ihr Leben gedrängt, daran war das Große verkümmert. Und all das Kämpfen und Nichtnachgebenwollen, es nützte doch nichts, nur die Unrast blieb einem davon und das schmerzliche Drängen. Freilich, sich nicht ergeben, nicht unterliegen zu wollen, tapfer war es schon und nichts verächtlicher denn Feigheit und lahmes Verzagen; aber man brauchte der Sache bloß einen andern Namen zu geben: sich bescheiden, und dann war es auch köstlich und vielleicht gar letzte Weisheit.

Nachdenklich löste sie den Blick von der glänzenden Ferne und wandte sich der nächsten Umgebung zu. Das stattliche Pfarrhaus lag zwischen der kleinen Kirche und den höchstgestellten Häusern des Dorfes. Zunächst stand eine alte braune Bauernhütte mit wohligen grünsamtnen Mooskissen auf dem breiten Strohdach und mit freundlichen blumenbeschwerten Fensterchen. Vom Hühnerstall her tönte das zufriedene Gackern einer Henne, und aus der schwarz geöffneten Küchentür stieg allbereits ein friedliches Räuchlein aus. Von der andern Seite der Straße aber glänzten die freundlichen, gleichmäßigen Kreuzlein des Totenhofs herüber, der sich um die kleine Kirche zog. Wie ruhig mußte es sich hier leben lassen in der schlichten kleinen Welt, immer in Ansehung des letzten Ziels.

Der Anblick dieses engbegrenzten Seins tat ihr wohl; sie begriff auf einmal den Bruder. Ein eigen Nestchen? Eine Welt, der man gewachsen ist, die einen nicht erstickt und nicht beherrscht, eine Welt, die man ausfüllt – das war es wohl!

Sie sah wieder nach der Ebene hinaus.

Mit der rückenden Sonne hatten sich die seinen Nebelchen gehoben, sodaß nun das Land klarer dalag und wie nähergerückt, und weit draußen aus der Zürcher Straße gewahrte Anna zwei lebendige Pünktlein, die sich dem Dorfe zu nähern schienen. Das war Leben, pulsendes Leben, das die Ferne kürzte! Auf einmal sah alles trauter und froher aus.

Anna betrachtete scharf die beiden Pünktchen und entdeckte bald zwei winzige Reiterlein, die im raschen Herankommen zusehends wuchsen. Waren es am Ende schon Hochzeitsgäste? Aber wozu so früh am Tag?

Mit wachsender Aufmerksamkeit beobachtete sie die beiden – es schienen fürnehme Reiter zu sein, flott im Sattel und von fremdartiger Tracht, der eine bunt, dunkel der andere – und als das nahe Hausdach ihr die Aussicht benahm, horchte sie gespannt auf das Pferdegetrappel, das durch die Stille vernehmlich zu ihr hertönte.

Anna atmete tief aus. Ihre Brust dehnte sich freudig. Oh, das helle Aufschlagen leichter Pferdehufe, wie froh und erwartungsvoll das durch den sonnigen Morgen drang und welch lieben Bildern es rief! Nun waren sie schon nahe – nun mußten sie beim Wirtshaus sein; ob sie wohl da herauskamen oder nach links abbogen? Sie hielt den Atem an. Das Getrappel hatte aufgehört. Lebhafte Stimmen wurden vernehmlich – ob sie mit dem Wirt unterhandelten? Eines der Pferde schien ungeduldig, es schlug fortwährend den Boden. Und nun rannte es davon, gradwegs zu ihr herauf, im nächsten Augenblick mußte es um die Ecke biegen.

Rasch zog sich Anna vom Fenster zurück; aber da ertönte auch schon von unten ein heller Ruf: »Holla, Hans! Nicht dorthin, links halten, sonst gerätst in die Reben!«

Überrascht lauschte Anna aus: Diese Stimme? Die mußte sie schon gehört haben irgendwo! Mit scharfen Gedanken durchforschte sie ihre Erinnerung. Wo war es nur? Etwas Frohes war es, soviel stand sicher – und ein Bild stieg vor ihr auf: Goldgelb Laub vor tiefblauem Himmel und ein müder modriger Duft – ein Herbstwald wohl; aber weiter kam sie nicht.

Nachdenklich wandte sie sich in die Kammer zurück, während das rasch sich entfernende Pferdegetrampel Regensberg zu wehmütig verklang. Sie machte sich an die Morgentoilette, und da sie eben ihr Haar zu kämmen begann, erwachte endlich auch das Enneli. Nach Art von Kindern fing sie mitten aus dem Schlaf gleich munter zu plaudern an: »Ist das Wetter schön?« rief sie fröhlich.

Anna bückte sich über sie: »Ja, kleine Braut, die ganze Welt voll Sonne!« – und sie küßte die Warme zärtlich auf die Stirn – »Glück und Gottes Segen zum heutigen Tag!«

Die andere lachte vergnügt, ein wenig überlegen. Glück? Ja, hatte sie es denn nicht allbereits und sicher in vollen Händen? Dann aber sah sie Anna überrascht an: »Ist's schon spät, daß so weit bist?«

Diese beruhigte sie: »Nein, nein, die erste Tür hab' ich eben gehört im Haus, wart nur ruhig; ich aber muß fertig sein, wenn die Brautkinder kommen,« und sie machte sich wieder an ihre Zöpfe.

»Was für ein Haar du hast!« rief Enneli voller Bewunderung, und sie fügte betrübt hinzu: »Ich, wenn ich nur halb so viel hätt' und nur halb so langes, ich wär' glücklich!«

Aber Anna lächelte: »Frag den Rudolf, welches ihm besser gefällt? Wetten will ich, das deine scheint ihm tausendmal schöner.«

Das Mädchen lachte dankbar, und dann aus dem Bedürfnis, auch der andern etwas Liebes zu sagen: »Du bist allweg schön,« sagte sie ernsthaft. »Nicht begreifen kann ich, daß du keinen Mann bekommen annoch, vielleicht gar bist ihnen zu gelehrte und zu fein! Aber,« fuhr sie dann tröstlich fort, »leicht ist der Recht noch ausgeblieben und kommt er erst.«

Anna lächelte, halb belustigt und ein bißchen wehmütig; denn sie spürte das Mitleid aus den gutgemeinten Worten. Dann vollendete sie rasch die Toilette und brachte Bett und Kammer in Ordnung.

»So, und nun zu der kleinen Braut!« Von einer Sidele nahm sie ein bereitgelegtes schneeweiß und reichbesticktes Leinwat und breitete es sorgfältig über Ennelis Bett, dann zog sie dem Mädchen ein weißes Spitzenhäubchen über den von zahlreichen Papilloten lustig umsteckten Kopf und gab ihr den festen staatsmäßigen Maien in die Hand, den die Pfarrerin am Vorabend gebunden, sinnreich unter Zugabe von allerlei beziehungsvollen und glückbringenden Kräutlein. »Ganz festlich siehst aus,« lachte Anna, während Enneli sich erwartungsvoll aufsetzte; denn allbereits vernahm man ein lustiges Wispern und Kichern die Treppen heraus.

Langsam öffnete sich die Tür, und hintereinander erschienen, feierlich mit ihren Gaben beladen, vier Mädchen, die drei jüngeren Schwestern der Braut und das Estherlein, überragt von der stattlichen Figur der Frau Pfarrerin. Die Teucher-Mädchen hatten alle das rosig vergnügte Stumpfnasengesichtchen der Braut und ihr spärliches blondes Haar, das die älteren bereits zierlich um den Kopf gelegt trugen, während es beim Jüngsten als zwei winzige Zöpflein links und rechts hinter den Ohren hervorstach. Das mehr städtisch gekleidete Estherlein mit den dunkeln Locken, den grünblauen Augen und den roten Lippen im weißen Gesicht erschien daneben recht als ein fremdländisches Pflänzlein.

Nachdem die Kinder sich neben der Tür in einer Reihe aufgestellt, kam eins nach dem andern mit seiner Gabe hervor, die es unter Hersagen eines Sprüchleins auf der weißen Decke niederlegte. Zuerst trat das jüngste Teucherlein heran mit dem bestickten und fein gefältelten Hemd:

»Wir bringen der Brut ihr Hochzytshemd,
Die heilig Sankt Rägel ihr Segen dreinspend.«

Dann folgte die Älteste mit dem schwerseidenen Staatsgewand, das sie auf einer Kleiderstange mühsam vor sich herschob:

»Wir bringen der Brut ihr Hochzytskleid,
Trag alleweil Glück, niemalen keis Leid.«

Sorgsam auf beblümtem Teller bot die dritte den hohen, mit filigranenen Blumen beschwerten Brautkranz dar:

»Wir bringen der Brut die Hochzytskron,
Hat luter Blumen und keini Dorn.«

Das Estherlein aber stellte ein Paar ziervoller Schuhe vors Bett, und seine Stimme tönte um ein Bemerkbares weniger feierlich als die der andern, da es sein Verslein herauswirbelte:

»Wir bringen der Brut die Hochzytsschueh,
Drin lauf sie sälig dem Liebsten zue!«

Dann faßten sich alle bei den Händen, und lustig klang es im ungleichen Vierklang der Stimmen:

»Was hören wir dussen wohl vor dem Tor?
Ein feiner Hochzyter, und der steht davor.
Stand uf, gib dein ledig Bettli frei»
Morndes und so bist du nümmen allei!«

Das Enneli, das all die Zeit mit glücklichem, halbverschämtem und halb neugierigem Gesicht dagesessen, gab nun jedem der Mädchen ein bereitgehaltenes Zuckerplätzlein und einen herzhaften Kuß, worauf diese lachend die Treppe hinunterstoben.

Dann trat die Pfarrerin, ein paar Freudentränen auf dem gesundheitsroten Gesicht, ans Bett der Tochter, Anna aber verließ leise die Kammer.

Sie ging eine Treppe tiefer nach dem Zimmer, wo die Mutter und Elisabeth, die mit ihr zusammen schon gestern hier eingetroffen, genächtigt hatten.

Als Anna eintrat, standen die Frauen bereits festlich gewandet am Fenster und hielten erwartungsvolle Ausschau. Erstaunt blickte Anna die beiden an: wie gut ihnen diese Festtagsfreude stand. Die Mutter in ihrem langen, reichgewirkten Kleid vornehm und adlig trotz ihrer zarten Gestalt; sie hatte einen schönen, seltenen Glanz in den Augen, und Anna fuhr es plötzlich und schmerzlich durch den Kopf: Freude, wann sie mehr Freude gehabt hätte und wann der Vater minder arbeitsstreng gewesen und von minder ernsthafter Zeiteinteilung, vielleicht hätte sie öfter die glänzenden Augen.

Sie trat auf die Mutter zu und küßte ihr voll Zärtlichkeit die Hand. Dann begrüßte sie Lisabeth. Diese trug ein einfaches blaues Seidenkleid und ein ebensolches, mit Silber und Perlen fein besticktes Häubchen aus dem weichen Haar. Kleid und Häubchen hatten die Farbe ihrer Augen, die dadurch noch größer und tiefer erschienen als sonst, und die zarten bläulichen Schatten auf Stirne und Hals, die Annas feines Malerauge oft bewundert hatte, schienen in der Nachbarschaft dieses feuchten Blau noch deutlicher und gingen mit leisem Hauch in die wärmer geröteten Wangen über. Wie lieblich sie aussah unter dieser kleinen, ein wenig aufgeregten Freude – so mochte ihre heilige Namenspatronin ausgesehen haben, als das holdeste Rosenwunder an ihr geschah – und Anna dachte mit wehmütigem Schmerz, wie sehr sich nun der arme Johannes freuen würde an diesem Anblick. Lisabeth aber, als ob sie der Schwester Gedanken erraten hätte, lächelte: »Er hat die blaue Farb immer so gern gehabt an mir, gefall' ich ihm wohl so?«

Und Anna nickte freundlich: »Wohl, wohl mußt du gefallen.« Sie war sich schon so gewöhnt, daß Lisabeth von dem Toten redete wie von einem Anwesenden, daß es ihr selbst schier natürlich vorkam.

Mit Hilfe der Frauen legte nun auch Anna ihr Festkleid über. Es war von einem weichen und seltenen Grün, dessen Widerschein Hals und Arme mit zartem Perlmutterglanz überhauchte. Haar und Augen jedoch erschienen im Widerspiel dazu heller als sonst, und wann etwa ein Sonnenstrahl die Locken traf, die links und rechts unter der goldbordierten Haube aus die Schultern niederfielen, meinte man bisweilen ein rotes Fünklein darin aufsprühen zu sehen.

Nachdem sie mit der Pfarrersfamilie und der noch ungeschmückten Braut ein schnelles Frühstück genossen – in der hinteren Laube, denn die großen Stuben im Erdgeschoß waren allbereits zu Morgensuppe und Hochzeitsmahl festlich gerichtet – half Anna beim Anziehen der Braut, die sich nicht ohne Mühe in die ungewohnten steifen und schweren Kleider pressen ließ.

Eben hatten sie Enneli die gewichtige Krone auf das nun schöngelockte Köpflein gesetzt, sodaß sie darunter hingebungsvoll aussah, wie ein duldend und schmuckreich Opferlämmlein, als von der Straße, allwo sich viel Volk besammelt hatte, ein aufgeregtes Rufen hertönte: »Sie kommen, der Hochzeiter! Der Hochzeiter!«

Anna trat ans Fenster. Vom Dorf herauf gesprengt erschienen Vater und Brüder. Zu Mitts Rudolf, hochzeitlich gekleidet, mit leuchtenden Augen und rötlich die gebräunten Wangen. Noch nie war er ihr so stattlich erschienen wie jetzt, da er hochaufgerichtet zwischen dem blassen ergrauten Vater ritt und dem schmalen Heinrich, der, hochmütig und lässig im Sattel sitzend, trotz der schlichten Studententracht recht als ein feinblütiges Junkerlein sich dartat.

Vor dem Gartentor sprangen die Männer ab und übergaben ihre Pferde dem herbeigeeilten Pfarrhausknecht. Kaum aber hatte Rudolf den Boden gewonnen, als sich auch schon ein dichter Kreis von Kindern um ihn bildete, die ihn, den Eintritt verwehrend, mit festverschränkten Händen umringten:

»Die Brut, die Brut, die geben wir nit,
Und bis Ihr drümal umesyt,
Dann lah wir die Brut la gah!«

Dreimal mußte der Hochzeiter mit Austeilen von Nüssen, Zuckerzeltlein und Münzen die Runde machen, ehe ihm der Weg freigegeben wurde, den er – nicht ohne dem Vater den Vortritt zu lassen – rasch betrat.

Als Anna seine ungestümen Schritte auf der Treppe hörte, öffnete sie weit die Türe und führte den Bruder herein. Voll Bewunderung betrachtete er das reich ausstaffierte, von Freude und Erregung rote Persönchen, und nachdem er der Pfarrerin ehrerbietig die Hand geküßt, umarmte er mit heißer und andächtiger Zärtlichkeit seine Braut. Anna schien er nicht zu bemerken.

Still begab sie sich nach unten, und etwas zuckte ihr schmerzlich durch die Brust: Ja, das war wohl ein Abschiedstag für sie; der Rudolf – so innig hatten sie einst zusammengehalten und nun – aber, wann er nur glücklich wurde, lieber Gott, wann er nur glücklich wurde!

Unten waren bereits Gäste eingetroffen: Esther und Dietschi, beide vergnügt und mit dem Abglanz bevorstehender Freude auf den behaglichen Gesichtern, der Onkel Pfarrer aus Dübendorf, korrekt und wie immer ein wenig bedrückt neben seiner hartkantigen Frau, der gefürchteten Tante Regula. Dann ein paar Vettern und Basen von Waserscher und Teucherscher Seite, fast alles ältere Leute, die sich, steif oder munter, je nach ihrem Temperament, aber jedenfalls unter vielen und komplizierten Scharringgeln ins Haus hinein komplimentieren ließen und die alle auf einem dazu bestimmten Tischlein unter mehr oder weniger vielversprechenden Mienen ein verschwiegenes Päcklein niederlegten. Das waren die Arten, die Geschenke, damit man an jeglicher Hochzeit die Beteiligten zu überraschen pflegte und gegen welche die hohe Obrigkeit in ihren Sittenmandaten so streng und so erfolglos zu Felde zog.

Anna sah mit Betrübnis, daß Maria nicht da war, und wenn sie auch kaum mehr geglaubt hatte, daß die Schwester sich nachträglich noch zum Kommen entschließen könnte, ihr Fehlen tat ihr nun doch neuerdings leid, und schmerzlich gedachte sie der Einsamen.

Endlich erschien auch das Brautpaar, und nachdem es allseitig mit viel Herzlichkeit, Rührung und Neugier betrachtet und begrüßt worden, schickte man sich eben an, Platz zu nehmen, um der Morgensuppe, die als Warmwein mit Käse und allerlei Gebäck appetitlich hereingetragen wurde, zuzusprechen, als das erneute Anfahren einer Kutsche wiederum alle ans Fenster und vor die Türen rief. Und diesmal lohnte es sich, Ausschau zu halten, zeigte sich doch den erfreuten Augen ein gar stattlicher Aufzug: die landvögtliche Kalesche von Regensberg mit zwei flotten, fremdländisch gekleideten Vorreitern, militärisch, junkerlich der eine, der andere mehr ernsthaft gewandet nach Art ausländischer Gelehrter und Praeceptores.

»Ei was der Tausend,« rief Rudolf überrascht, als er die Reiter gewahrte, »das sind ja meine Hänse!« Und völlig uneingedenk seiner hochzeitlichen Würde stürzte er zur Türe hinaus, den beiden entgegen. Auch Anna fühlte sich bei deren Anblick freudig überrascht, da sie in ihnen ihre frühen Reiter unschwer erkannte und alsobald auch des Rätsels Lösung für jene Stimme fand: Der flotte Junker, der Rudolf eben lachend und mit Herzlichkeit umarmte, das war ja der junge Hans Schmid von Wollishofen, der lustige Offizier, mit dem sie einst an einem goldigen Herbsttag durch die Braunfelsischen Wälder gejagt. Ja, und der war es auch gewesen, der dem Bruder zuerst die Freude am Kriegswesen in den Kopf gesetzt und der ihn später auch nachzog nach Holland.

Der andere aber, der Schlanke mit den schlichten dunkeln Haaren und den langgeschnittenen Augen unter den festen Brauen, den kannte sie nicht, nein, den hatte sie nie gesehen, und doch umhalste er den Bruder nicht minder herzlich als der Junker, ja schier mit einer brüderlichen Zärtlichkeit. Und Rudolf nannte ihn Hans Schlatter, seinen lieben Hans ... Hatte sie den Namen wohl schon gehört?

Inzwischen war auch die schwere Kutsche zum Stehen gekommen, und dem rasch geöffneten Schlag entstieg mit einer bei der Stattlichkeit seiner Figur erstaunlichen Behendigkeit Herr Heinrich Holzhalb, der Landvogt von Regensberg. Dann hob er ritterlich zuvorkommend seine junge Gattin aus dem Wagen und lotste unter gutmütigem Spott endlich auch Herrn Ulrich Weggler, den jungen Dielsdorfer Vikar und Präzeptor zu Regensberg aus der Tiefe des Kastens, allwo der Schüchterne ängstlich und unbeholfen mit zwei riesigen Päcken unter den Armen sitzen geblieben war.

»Da hat man's,« rief der Landvogt gutgelaunt, während er den verlegenen Vikar an die pralle Sonne stellte, »dem gelehrten Volk ist's alleweil am wohlsten in der Trucke! Euch ausgenommen, vielwackerer Herr und Meister aller Theologi,« fügte er lachend bei, während er dem herzugeeilten Pfarrer Teucher, seinem getreuen Jagdfreund, herzlich und mit vielwissendem Augenzwinkern die Hand drückte. Und dann ging's an ein lustig sprudelndes Begrüßen nach allen Seiten. Frau Esther Dietschin erhielt von dem leutseligen Landvogt gar einen Kuß auf ihre einladenden rosigen Wangen unter dem Vorwand, daß sie sein Gotteli sei. In Wahrheit aber war sie bloß seines Vetters Patenkind.

Anna betrachtete die etwas turbulente Begrüßungsszene vom Fenster aus. Ihre Blicke fielen aus die junge Landvögtin, die heiter lächelnd am Arme ihres Gatten ging. Wie viel hatte man geschwatzt, dazumal, als die schöne junge Margaretha von Muralt den ältlichen Witwer heiratete. Nun aber schien sie doch zu gedeihen unter ihres Eheherrn zärtlicher Fürsorge. Nur Zufriedenheit, nur das Glück konnte eine solch ruhige Heiterkeit verleihen, wie sie in dem schönen Gesicht der Landvögtin sich spiegelte. Die Ankunft der Regensberger Gäste war wie ein Wirbelwind unter die Gesellschaft gefahren, und als man sich endlich zur Morgensuppe beisammenfand, zeigte es sich, daß es höchste Zeit war, wenn man den Sigristen nicht eine Halbstund lang wollte läuten lassen, und schließlich mußte manch eines mit unverschlucktem Bissen im Mund dem Brautzug sich anschließen. Anna ging mit dem Hochzeiter, während Heinrich die Braut führte, und der Zug war so stattlich, daß, als der voranschreitende Pfarrherr bereits unter der Kirchentür stand, die den Beschluß bildenden Kinder eben erst vom Pfarrhaus weggingen.

*

»Ich ermahne euch hoch und teuer, o ihr Töchteren Jeruselems, bei den Rehen und Hirschen des Feldes, daß ihr die Liebe nicht ohnruhig machet oder erwecket, bis sie selbst wolle.«

Mit ruhiger, unpfarrlich natürlicher Stimme las Herr Teucher den Text seiner Hochzeitspredigt.

Anna schrak leise zusammen. Salomonis Lied! Da war keine Seite in der ganzen Heiligen Schrift, die ihr also das Innerste aufwühlte und sie mit süßem Weh also peinigte, wie diese unergründlichen, vieldeutigen Worte der sehnenden Sucht. Wie oft hatte sie sich angestrengt, darin das Symbolum der himmlischen Liebe so recht zu erfassen. War es ihr je geglückt? Immer hatten sich seltsame fremde Gedanken dazwischen gedrängt – unverständlich und bang – und doch war es schön über alles Sagen und ein Glaube darin, so fest, daß es ihr fast das Herz abdrückte.

Nur heute hätte sie diese Worte nicht hören sollen, heute nicht, da ihre Seele weich war und locker wie Erdreich, durch das der Pflug gefahren und das sich nach Regen sehnt.

Sie zwang sich zu klaren Gedanken und versuchte emsig, den Worten des Pfarrherrn zu folgen, der sich in etwas lederner, wohl in Hinsicht auf den theologischen Schwiegersohn mit Gelehrsamkeit reichlich gespickter Rede anstrengte, die irdische Ehe der himmlischen Verbindung mit Jesu zu vergleichen.

Es waren Worte, wie sie solche hundertmal vernommen hatte. Im selben grauen Gleichstrom flossen sie auch von den zürcherischen Kanzeln; aber wann er hier und da im Wandel der Abhandlung aus den Text zurückkommend einen Vers des Hohen Liedes zitierte, war ihr jeweilen, als ob es purpurn aufleuchtete wie der Ritz am Granatapfel, und es durchschauerte sie, daß sie sich zusammennehmen mußte, um die Bewegung des Innern nicht nach außen treten zu lassen; denn unter der Kanzel, ihr gegenüber, saßen die beiden Reiter. Der Fremde hatte den Kopf zurückgeworfen, und ihr schien, als ob er sie unter gesenkten Wimpern unablässig betrachtete. Der, wann er etwas erraten hätte von der zitternden Bedrängnis ihrer Brust, so peinvoll, nicht zu ertragen wär' es gewesen!

Indessen schickte der Pfarrherr sich gemächlich zu landen an und sammelte sich zu einem etwas gesalbteren Schluß, den er also einleitete:

»Ein jede Creatur liebet und suchet ihre Ruh! Und wann sie je aus ihrem Element getrieben ist, ringt und dringt sie so lang nach ihrem Ruhpunkten, bis sie denselben erreicht hat. Eine Magnetnadel zittert so lang, bis sie den Nordpol gefunden; also kann die Seel eines Gläubigen nicht zufrieden sein, bis sie den Polum ihrer süßen Ruh in der Liebesgemeinschaft Jesu gefunden hat.«

Auch dieses, der Vorratskammer kanzelrednerischer Gleichnisse entnommene Bild war keine Absonderlichkeit; aber es traf Anna wie eine Erleuchtung. Wie Antwort erschien es ihr aus die quälenden Fragen der durchwachten Nacht und die drängenden Empfindungen der Frühe. Ja, der alleweil abgelenkten Magnetnadel gleich war ihr Leben gewesen bishero, und den festen Punkt hatte sie wohl noch nicht gefunden; nun ging das Wort vom Pol der süßen Ruh ihr schmerzhaft durchs sehre Herz wie eine wehmütige Verheißung.

Anna neigte ihr Gesicht tiefer, um die sich feuchtenden Augen nicht zu Verrätern werden zu lassen.

Die Trauung ging vorüber. Die Neuvermählten verließen das Kirchlein, mild und strahlend wie der Herbsttag draußen. Die Dorfleute kamen mit Felicitieren und Geschenken. Und dann saß man an den langen Tafeln, Reden stiegen, Hochzeitscarmina wurden verlesen und die Arten verteilt, die Freude ging hoch; aber Anna stand immer noch unter dem Eindruck jener Worte, und alles Nahe schien ihr wie entrückt. Sie machte nicht mit innerlich und auch äußerlich kaum; denn da sie als Brautjungfer an den Ehrenplatz, den Hochzeitern gegenüber, neben den Landvogt zu sitzen kam, wurde sie durch des alten Herrn Gesprächigkeit vielen Redens enthoben.

Sie atmete auf, als die Gesellschaft sich endlich erhob und man beschloß, der Einladung des landvögtlichen Ehepaars folgend, samt und sonders zu einem Nachtrunk nach Regensberg hinaufzufahren.

Die Wagen wurden vorgeführt und stellten sich ranggemäß ein auf der breiten Straße, die sich in angenehmer Windung um den Berg herum nach Regensberg hinaufzog. Als man sich aber zum Einsteigen anschickte, zeigte es sich, daß für die Kinder kein Platz da war, und da man entschied, das Kleinvolk solle zu Fuß hinauf gelangen, bot sich Anna erleichterten Herzens an, sie zu begleiten. Nach vielen Widerreden wurde es gewährt; doch da sie sich eben mit der kleinen Schar auf den schmalen Pfad begab, der hinter dem Pfarrhaus durch Wiesen und Rebberg geraden Wegs ins hochthronende Städtchen hinaufführte, gewahrte sie, wie Schlatter plötzlich vom Pferd sprang und mit den Worten: »Tut mir den Gefallen und reitet an meiner Statt!« dem verdutzten Vikar die Zügel in die Hand warf. Der Wollishofer aber erhob scherzhaft drohend den Finger gegen den Freund. In ein paar Sätzen hatte er sie eingeholt.

»Darf ich, und seid Ihr mir nicht böse, da ich mich Euch also ungebeten zum Geleit anbiete?«

Anna sah ihn kühl an. Eigentlich war sie ein wenig erzürnt über sein eigenmächtiges Vorgehen, sie hatte sich so gefreut, allein zu sein mit den Kindern und mit sich selbst. Da sie nun aber den bittenden, schier unterwürfigen Blick seiner schmalen Augen gewahrte, mußte sie lächeln.

»Ich dank Euch,« sagte er leise und lächelte wieder, und dann stiegen sie nebeneinander den steilen Weg hinauf, der unter schwerbehängten Obstbäumen hervor in den Rebberg führte.

»Da wär' ich heut schon mal beinahe hineingeraten,« nahm Schlatter wieder das Wort, und dann erzählte er von ihrer frühen Kavalkade, wie sie, vor zweien Tagen in Zürich eingetroffen, von Rudis Hochzeit vernommen und sich alsobald entschlossen, ihn dabei zu überraschen. Beim Wirt in Dielsdorf hätten sie sich zu früher Stunde schon über das Nähere erkundigt und seien dann, um die Zeit zu kürzen, noch nach Regensberg hinaufgeritten, allwo sie später mit der befreundeten Familie Holzhalb zusammengetroffen. Er redete hastig, ein wenig zerstreut, als ob er nicht recht bei der Sache wäre; dann schwieg er plötzlich wieder. Und auch Anna sagte nichts davon, daß sie um den frühen Ritt wußte und mit wieviel Anteil sie ihn beobachtet hatte.

Sie blickte den Kindern nach, die vor ihnen den Weg hinauftollten, allen voran das Estherlein. Wie ein Geißlein sprang es bergan, dahin und dorthin mit lustigen Einfällen, und die andern alle, der halbwüchsige Pfarrsbub nicht ausgeschlossen, gehorsamten ihm blind. Hier und da aber warf es einen zornerfüllten Blick auf Schlatter. Anna mußte im geheimen lächeln: so war es nun, das heiße, wilde Ding, so eifersüchtig in seiner schwärmerischen Liebe zu ihr, daß sie mit keinem andern mehr hätte gehen sollen. Aber Schlatter schien nichts zu bemerken von dem Zorn des Mädchens; überhaupt schien er nichts zu sehen. Mit gesenktem Kopf lief er neben ihr her und betrachtete den Boden, als ob sich nicht rings die Welt in ihrem goldigen Reichtum vor ihnen aufgetan hätte.

Auf einem Känzelein blieb Anna stehen und blickte nach der Ebene zurück. Die Sonne hatte mit der feuchten Luft milde Schleier über das Land gelegt, daraus aber zu fernst die dunkeln und weißen Berge mit scharfen Horizonten hervorbrachen. »Die schöne silbrige Ebene!« sagte sie erfreut.

»Die Ebene?« Der andere lachte. »Ein Holländer, wann er das sähe: ›Die wilden grausamen Berg!‹ würde der ausrufen.«

»Liebt Ihr Eure neue Heimat?« fragte Anna. Er zuckte mit den Achseln: »Vielleicht, ich weiß es nicht. Das ist mir heut alles so fern und alles gleich.«

Anna blickte ihn erstaunt an. Der sah doch nicht aus, als ob er gleichgültig wäre! Und dann suchte sie ihn aufmerksam zu machen auf die Schönheiten rings.

»Ja, schön!« sagte er leise; aber seine Blicke gingen nicht in die Ferne, sondern hafteten an Annas Händen, derweil sie sich die Haube abnahm.

Sie gingen wieder bergan. Der Pfad wurde schmal, daß sie hintereinander schreiten mußten. Ein kleiner Wind spielte um Annas freien Kopf und wehte ihr schmeichelnd die Haare über die Wangen, daß sie unter der feinen Liebkosung warm wurden.

Plötzlich hörten sie das Estherlein schreien: »Feuerblumen, schaut die Feuerblumen!« und jubelnd sprang es in eine kleine Grube, die sich seitlich in den Rebberg drückte. Zwischen rötlich lehmiger Erde und gelbem Gestein flammte es überall von verspäteten roten Mohnbüscheln.

»So kommt doch!« rief das Estherlein ungeduldig und gebieterisch den erstaunten Kindern zu. »Ihr sollt mir pflücken helfen! Die alle sind für das Tanti, alle, alle für die Anna, weil die sie doch so scheußlich lieb hat.« Nun folgten auch die andern, und während Anna ihnen Anweisung gab, wie man die Feuerblumen pflücken müsse, ohne sich Hände und Kleider zu beschmutzen mit dem räßen Saft der Stengel, und daß man vor allem nur die halberschlossenen nehmen soll und nicht die hellen, kränklich blassen, sondern die dunkeln, glutroten, sah sie voller Verlangen nach den lieben lockenden Blumen. Hätte sie nicht ihr schweres Staatskleid getragen, sie wäre selbst hinuntergesprungen mit den Kindern.

»Liebt Ihr die Feuerblumen?« fragte Schlatter im Weitergehen. »Die Frauen, so ich bisher gekannt, liebten wohl Rosen, Ilgen, Levkoien und andres gartenmäßige und duftende Gewächs, ich glaub' aber, daß sie für dieses heiß und wilde Unkraut kaum mehr denn ein verächtlich Nasenrümpfen übrig gehabt hätten.«

»Nennt es immerhin Unkraut,« antwortete Anna lachend; »mir ist's die allerliebste Blume: feurig und zart mit den seidnen roten Blättern und tapfer mit den feinen stachligen Stengeln. Und wie sie sterben! Welken nicht und faulen nicht; aber wann der Abendwind kommt, dann geben sie ihm still und froh die roten seidnen Blättchen mit: ›Da nimm sie!‹ und stehen dann ruhsam und starr, die Köpfchen, so sie am Morgen noch bescheidentlich neigten, stolz gehoben – denn sie dürfen's, da sie ihr Ziel erreicht. Das ist kein Unkraut nicht, ist eine gar köstliche Blume, recht als ein Vorbild und Exemplum könnten wir sie nehmen mit ihrer edeln Art, bescheiden und stolz zur rechten Zeit: modesta iuventis, honesta senectusBescheiden die Jugend, ehrenvoll das Alter.

Schlatter sah Anna von der Seite an. »Den Spruch hab' ich allbereits gelesen, war auf dem Bildnis einer edeln Jungfrau – feurig und zart, tapfer und fein, bescheiden und stolz,« er lächelte, »ich hab' es gut betrachtet, das Bildchen – Rudolf hat es mir gezeigt – aus Hunderten hätt' ich Euch wiedererkannt!«

»Rudolf hätte Gescheiteres tun können, als mein Contrafetchen andern zu zeigen, so unnütze Spruch dazu machen,« sagte Anna barsch und ärgerte sich darüber, daß ihr unter der Schmeichelei des Fremden das Blut in die Wangen gestiegen. Er hatte solch merkwürdige Stimme, schwebend und leichthin, aber mit einem Unterton, der allen Worten einen besonderen und tiefen Sinn zu verleihen schien.

»Wenn Ihr wüßtet,« fuhr er unbeirrt fort, »wie ich darauf gebrannt hab', Euch kennen zu lernen! Rudolf hat mir viel von Euch erzählt, mir und den andern. Damalen, nichts Höheres hat er gekannt als Euch. Und wann wir andern von den Frauen redeten, nicht immer fein und nicht immer schön, dann hat er Euern Namen genannt und uns alsobald zum Schweigen gebracht.«

Anna lief schneller voran, ohne zu antworten. Nach einer Weile fuhr er fort:

»Als ich heut die Braut sah, eigentlich erstaunt hat es mich, daß er schließlich an einer so kindlichen und unbedeutenden Person sein Begnügen finden gekonnt.«

Anna krauste die Brauen: Was hatte der Fremde ihre Gedanken zu teilen und gar sich ein Urteil über des Bruders Braut anzumaßen! »Enneli ist ein liebes und gutes Kind, wohl geschaffen, den Bruder glücklich zu machen,« gab sie rasch zurück.

»Ihr sagt es,« antwortete der andere nicht ohne einen leisen Spott, »lieb und gut – aber – ein Kind! Können wir aus der Hand eines Kindes jene Ruh und den sicheren Polum erwarten, darnach unsre arme Seel – um Herrn Teuchers Bild zu gebrauchen – wie die verstörte Magnetnadel zeitlebens zittert?«

Anna erschrak: das waren wiederum ihre Gedanken. Hatte er etwas erraten, unten in der Kirche? Sie warf den Kopf zurück: »Den sicheren Polum, ein andrer wird ihn uns kaum geben können, und auch sonst – braucht man in alle Umständ einen solchen zu haben? Sind wir alle Magnetnadeln gleich und gibt's bloß Polarstern? Leicht könnt' sich einer lieber den Planeten angesellen, oder dem lieben Mond, der wandert immerzu und ist kein Tag wie am andern.« Sie sprach schnell, ein wenig herausfordernd wie einer, der an die eignen Worte nicht recht glaubt, und ihre Schritte wurden noch schneller, da jetzt auf dem sich weitenden Wege Schlatter wieder neben sie trat.

»So hab' ich auch gedacht, früher,« fuhr er ruhig fort. »Das Wanderblut ist ohnehin in unserm Stamm, wie denn auch mein Oheim, der Hans Caspar vom Beckenhof, so aus dem Berg Zion begraben liegt, all sein Leben gewandert und kein Ruh nicht gefunden und kein Ziel bis zum letzten. Und so bin auch ich ausgezogen, halb noch ein Kind, mit dem Vetter Leutnant nach den Niedern Landen, und war mir kein Ziel zu fern und kein Weg zu lang und keiner zu heiß – und keiner zu tief. Aber endlich hab' ich's gewußt: All das Reisen war doch ein Suchen nur nach dem festen Ruhpunkt, wie denn auch die Wanderstern ein fest Centrum haben in ihrer Bahn, und die Flüss' streben zum Meer, und selber der Sturm sucht die Stille ... Ja, der fest Punkt – vielleicht kann ich suchen mein Lebtag und find' ihn doch nimmer.«

Die letzten Worte klangen matt, fast schmerzlich, sodaß Anna ihn anblicken mußte. Er hatte den Hut abgenommen, eine Strähne des dunkelblonden Haars war vornüber gefallen und beengte die hohe Stirn, daß er auf eins merkwürdig jung aussah, fast jungenhaft mit dem leisen Zucken um den Mund.

»Eure Mutter,« sagte Anna weicher, »hat sie's über sich gebracht, Euch ziehen zu lassen, so jung und in das fremd Leben?«

»Meine Mutter!« Er warf die Strähne aus der Stirne und lachte bitter. »Meine Mutter, wann ich zu ihr wollte, mußt' ich auf ein Grab gehn, und eine Fremde stand daheim in des Vaters Haus.«

»Armer,« sagte Anna einfach. Sie waren auf die Höhe des Weges gekommen, allwo er plötzlich in das Städtchen mündet, und da die Kinder noch nirgends zu erblicken waren, schlug Anna vor, sie hier zu erwarten. Sie setzte sich auf ein niedriges Mäuerchen, und Schlatter, der sich mechanisch ihrer Anordnung fügte, nahm neben ihr Platz. Dann fuhr er fort, langsam, mit dumpfer Stimme und tiefen Pausen:

»Ja, die Mutter, die hat mir gefehlt in meinem Leben, wie überhaupt alle stille und reine Güte. Wild war alles, ziellos und ohnsinnig. Und der feste Punkt, darnach ich gesucht all die Zeit ohn Bewußtsein, heut denk' ich, daß er vielleicht nichts anders war als solch eine liebe, gütige Frauenhand. Oh, wie stark sie einen halten muß, wann man am Abgrund steht und dort, wo die Wege schlüpfrig sind und abwärts gleiten, und wie kühl sie über die heiße Stirn gehen muß, wie beschwichtigend über das wild Herz, daß es ganz rein wird, ganz still.« Seine Blicke glitten auf Annas Hand, die neben ihr auf dem Mäuerchen lag. »Ihr müßt eine sehr kühle Hand haben,« sagte er dann leise, wie zu sich selbst. »Sie ist weiß und seidig wie das Blatt einer Magnolia und voller Seel bis in die Fingerspitzen hinaus.«

Anna war aufgesprungen. »Die Kinder, dort kommen sie!« sagte sie mit belegter Stimme. »Bis wir beim Schloß sind, haben sie uns eingeholt!« Und ohne zu sprechen, traten sie selbander ins hohe Burgstädtchen, das sich, einer geräumigen Stube vergleichbar, mit seinem traulichen, von saubern Häusern und Türmen umringten Platz lustig vor ihnen auftat.

Als sie eben das mächtige, vom Schloßturm überragte Burgtor, das den Platz auf der entgegengesetzten Seite abschloß, durchschreiten wollten, stand plötzlich das Estherlein vor ihnen. Mit beiden Händen hielt es Anna einen gewaltigen Mohnstrauß entgegen: »Der ist für dich, ganz für dich,« sagte es und fügte dann mit gedämpfter Stimme bei und einem fremden Blitzen in den grünblauen Augen: »Aber mit dem dort sollst nimmer gehn, weil – weil ich ihn nicht leiden kann!«

Anna bemerkte, wie ihr Begleiter bei diesen Worten zusammenfuhr. Mit den aufeinander gepreßten Lippen und gesenkten Lidern sah er zum Erbarmen verletzt aus.

»Ich aber sage dir,« wandte sie sich strengen Tons an das Mädchen, »daß ich deine Blumen nicht eher annehm', als du dem Herrn deine schlimmen Wort abgebeten.«

Da biß sich das Estherlein mit den weißen Zähnen in die blutroten Lippen, und plötzlich, mit einer jähen Kraft, schlug es den Strauß ein paarmal gegen die Tormauer, daß die roten Blüten zerfetzt und traurig zu Boden fielen. »Da!« Seine Augen funkelten vor Befriedigung.

»So,« sagte Anna ruhig, »die armen Blumen hast getötet und mir die Freud genommen, aber dem Herrn hast immer noch nicht abgebeten; bevor du das getan, werd' ich nimmer mit dir reden!« Und ohne sich weiter um das Kind zu kümmern, durchschritt sie neben Schlatter, der ihr mit einem Aufleuchten dankte, das Tor.

Die Gesellschaft fand sich im großen Saal des Erdgeschosses wohlig besammelt an zwei riesigen Tischen, daraus mattblinkende Weinkrüge und hohe Türme der tellergroßen hellgelben Eieröhrlein gar einladende Nachbarschaft pflegten, und allbereits ging ein vergnügliches Knuspern und Becherklingen ringsherum. Als die beiden eintraten, wurden sie allseitig mit Lachen empfangen; der Landvogt aber rollte die runden blauen Augen schalkhaft im rötlichen Gesicht herum:

» Lupus in fabula!« rief er schmunzelnd ihnen entgegen. »Oder eigentlich besser: Leo in fabula, maßen uns der wackere Junker eben erzählt, welch tapfere Löwin sich unter Eurer scharmanten Außenseite verbirgt, holde Waserin, und wie Ihr, der verrühmten orleansischen Jungfrau vergleichbar, einstmalen mit tapferer Hand in den Kampf der Männer eingegriffen und zwar zugunsten eben des Herrn, an dessen Seite Ihr jetzt also lieblich erscheinet, daß meinem wackern pfarrherrlichen Freund allbereits die Zunge nach einer zweiten Copulationspredigt jucket.«

Erstaunt und völlig verständnislos sah Anna um sich. Aber der Wollishofer, der bei ihrem Eintreten aufgesprungen war, fuhr erklärend dazwischen:

»Ihr müßt um etwas zurückdenken, Fräulein, und an den großen Platz vor dem Collegio, allwo die Buben sich zu balgen pflegen.«

Anna sann nach, und da ging ihr aus ferner Kindheit eine blasse, lang vergessene Erinnerung auf: Ein sommergreller Morgen und zwei Buben, die zusammen ringen, grad oben an der Römergasse, wo es schier gefährlich ist vonwegen der großen Steile. Und der eine, der Feste, der ihr den breiten Rücken zukehrt, will den andern zu Boden werfen, den feinen, schlanken, grad hinunter durch die Gasse – herrje! Sie stellt ihr Körbchen ab, läuft herzu, gleitig und leis' wie ein Mäuslein, faßt den Breiten in den Kragen und reißt, so stark sie kann, daß er vor lauter Schreck hintüber fällt auf den platten Rücken – der ander aber flieht davon, federleicht, und das blond Haar flattert hinter ihm drein.

»Ja, war't Ihr das?« fragte Anna voller Verwunderung, und es schoß ihr seltsam durch den Kopf, daß er also doch kein Unbekannter war, der andere, und ein warmes Gefühl stieg ihr auf beim Gedanken, daß sie einst dem Mutterlosen beigestanden.

»Waren wir, wir beiden Hänse,« entgegnete der Junker mit komischer Betrübnis. »Aber er hat es Euch schlecht gedankt, der dort! Hat sich späterhin geschämt, daß ihm ein Mädchen hab' helfen müssen, derweil mir, dem armen Gebodigten, in Erinnerung des zarten Pfötchens, das mich also kräftig im Nacken gefaßt, noch lang ein wohlig Gruseln über den Rücken lief. Ihr seht also,« fuhr er dann ernsthaft fort, »es ist nichts als billig, daß Ihr heut dem Undankbaren die gerechte Straf, mir aber etwelche Entschädigung gönnt durch freundliche Gewähr Eurer holden Gesellschaft, so jener sich eben für eine kleine Stunde kühnlich gestohlen.« Mit diesen Worten bot er Anna den Arm und führte sie an den Tisch, während die Landvögtin dem vereinsamten Schlatter neben sich Platz machte. »Wann Euch die Jugend verschmäht,« sagte sie mit einem schalkigen Blick ihrer schönen jungen Augen, »müßt Ihr mit dem Alter vorlieb nehmen.«

Nun tollten auch die Kinder herein, halb schüchtern, halb gierig angesichts der reichlich getürmten Küchlein. Das Estherlein aber fehlte, und da man nach ihm fragte und die Pfarrskinder nur mit Kichern und Ellbogenstupsen antworteten, berichtete Anna, daß es etwas mit sich auszufechten habe und man es besser allein lasse.

So nahm die Gesellschaft mit vielfach geteilten Gesprächen ihren Fortgang.

»Wißt Ihr etwas von Braunfels?« fragte Anna den Junker, sobald sie neben ihm saß.

»Wohl manches,« erwiderte er vielversprechend, »ich war unlängst aus meiner Herreis' dort; was ich Euch aber zu erzählen hab', sollt Ihr ein andermal anhören, dieweil ich mir die wohlbegründete Gelegenheit zu einem Besuch nicht so unvorsichtig vorwegnehmen will.«

Enttäuscht, schier ein wenig erzürnt sah ihm Anna ins frische Lachgesicht, und während er ihr allerlei Lustiges und Artiges vorerzählte, sann sie auf ein Mittel, ihm sein Wissen doch abzulätscheln.

Aber da griff die Dübendorfer Pfarrerin, die dem Paar gegenüber saß, in des Junkers Geplauder und Annas Sinnen hinein: »Die Maria ist nicht gekommen,« sagte sie mit gedämpfter, aber scharfer Stimme, und ihr Gesicht erschien gelber und die Gestalt geradliniger als sonst.

Anna fuhr leise zusammen. Die Tante Regula, wann die den Mund öffnete, etwas Unliebes kam allemal heraus.

»Sie meint, daß sie nicht hingehöre zu den lustigen Leuten,« antwortete sie tonlos, »und wer weiß, es ist besser so, leicht hätt' es ihr wehtun können.«

»Aber paßlich ist es nicht,« gab die andere zurück und juckte ihre rechte Schulter abwehrend nach hinten. »Weder, die heutige Jugend weiß allerdings nimmer, was sich schickt, und zusammennehmen kann sie sich erst nicht.«

»Ja, früher war man wohl klüger,« sagte Anna ein wenig spöttisch; denn sie dachte daran, wie klug die junge Regula Egli es einst eingefädelt mit dem Onkel Pfarrer und daß man erzählte, sie hätte sich bei der Beerdigung seiner Braut, der schönen Margarete, auf der andern Seite des Grabes dem Bräutigam gegenüber aufgestellt, um solchermaßen durch einen alten Glauben ihre Pläne zu fördern, demzufolge einem Witwer diejenige vorbestimmt war, auf die sein erster Blick übers Grab hin fiel. Die andere fühlte irgendwie Annas geheimen Spott. Sie biß sich auf die dünnen Lippen. »Es geht ungleich,« fuhr sie dann mit wohlgezieltem Seufzer fort, »wenn ich denk', wie unsere Kinder alle bereits versprochen, wenn nicht gar verheiratet sind, ob sie wohl allesamt jünger als ihr ... Deine Mutter hat kein Glück mit ihren Töchtern.« Anna antwortete nicht mehr, und ein Wort des Onkels Fähndrich fiel ihr ein: Die Regula, die kann ihren Namen auch mit dreien Buchstaben schreiben, und kommt zuvörderst ein H, zuletzt aber ein x.

Da sie stumm blieb, fuhr die andere spitziger fort: »Was macht eigentlich deine verrühmte Miniatur? hab' lang nichts mehr davon gehört? Das mit der Hofmalerin war auch eine kurze Herrlichkeit, ist alleweil so mit den großen Herren, und das Frauenzimmer, sobald es seine Natur verleugnet, wird schon gar nimmer geschätzt.«

»Da irrt Ihr Euch!« rief der Junker mit heißem Gesicht zu der Pfarrerin hinüber. »Was die Hofmalerin anlangt, so hat mir noch jüngsthin der gräflich Herr eine große Jeremiade angestimmt darüber, daß er eine so vorzügliche Meisterin also früh hätt' verlieren müssen, und gar sehr bedauert, daß die Waserin mit ihrer Wissenschaft und Künst auf einem Boden zu leben verurteilt sei, allwo das Frauenzimmer gemeiniglich noch zurück und also die richtige Schätzung kaum werde vorhanden sein.«

Er hatte in seiner Entrüstung so laut gesprochen, daß die Worte über die plötzlich verstummte Gesellschaft hin allen vernehmlich klangen. Die Pfarrerin war sprachlos, dafür aber wehrte sich der Landvogt:

» Parbleu,« rief er erbost, »da soll der hohe gräfliche Herr sich doch zusammennehmen, was er sagt, als ob wir eine so feine Kunst nicht zu verstehn und eine so fürtreffliche Person, wie die Waserin, nicht zu ästimieren wüßten!« Und dann sprudelte er hundert artige Lobsprüche hervor und Beweise des großen Ansehens, das sie genoß, und schloß endlich mit dem Lob eines jüngst entstandenen Kontrafetes: »Wie Ihr den gewissen Junker vor dem Lindentor gemalt – ein Meisterstück ist das, so Euch die großen Holländer kaum nachgetan hätten. Heilige Rägel, habt Ihr ihn herfigürt, den guten pflichtvollen Spitzkopf mit seiner bedenklichen Stirn und trübsinnigen Nasen – wahrlich, wie er leibt und lebt – oder besser gesagt ablebt, trotz seiner Vielgeschäftigkeit, maßen ihm das Blut nicht heiß und rot durch hundert Äderchen zu springen, wohl aber schwer und kühl den vorgezeigten Weg abzuwandeln scheint. Mit viel Kunst habt Ihr das getan, aber – mit Verlaub – auch mit einiger Malicen, sodaß ich mir geheimlich schwor, niemalen meinen Vollmond einer so wahr- als boshaftigen Hand anzuvertrauen. Dafür aber möcht' ich mir nichts Liebers wünschen, als meine Frau Eheliebste von Euerm kunstvollen Pinsel verewigen lassen.« Mit großer Lebhaftigkeit nahm er diesen plötzlich hervorgesprungenen Gedanken auf und spann ihn mit viel Begeisterung weiter bis zu der Bitte, Anna möchte bei ihnen bleiben, heroben in Regensberg, grad jetzt, und alsobald das Bildnis seiner viellieben Frauen in Angriff nehmen. Mit Jubel pflichtete ihm die Landvögtin bei, und da auch der Amtmann mit geschmeicheltem Lächeln seine Zustimmung gab, nahm Anna an, mit freudigem Herzklopfen; denn der Gedanke, etwelche Zeit in dieser freien und sonnigen Welt zu verbringen, war über die Maßen verlockend. Ihr Blick ging durchs Fenster, das zu ihrer Linken sich auftat, auf den freien Lägerberg hinaus; freundlich geschmiegt und kräftig getürmt stand er gegen den grünlichen Himmel. Wie die Sonne aus den sanft übergoldeten Wäldern lag, so mild, so liebevoll! Es war dieselbe Sonne, die ihr vom rückwärtigen Fenster her mit warmen Fingern über den Rücken tastete und ihr leise duftend durchs Haar schien. So wohl war ihr auf einmal, so warm und frei die Brust.

»Du solltest aus der Sonne rücken, Anna,« sagte plötzlich Tante Regula mit vernehmlichem Flüstern, »man sieht sonsten zu gut, daß dein Haar eigentlich rot ist!«

Aber der Landvogt gab eine Lachsalve los. »Laßt der Sonnen die Freud, edle Pfarrerin, daß sie das Gold aus diesem sonderbarlichen Haar herfürzieht; rothaarig ist deshalben Eure schöne Nichte mit nichten. Sonst wird Euch ein Vergleich mit unserm lieben Herrn Vikar eines Bessern belehren.«

Er wies auf Herrn Weggler, der unten am Tisch stumm hinter einem langsam abnehmenden Turm von Eieröhrlein saß, deren Farbe mit seinem Schopf wetteiferte. Erschreckt sah der Jüngling, der plötzlich alle Blicke fühlte, auf, und während seine Hände hilflos nach den gelbroten Strähnen griffen, die das erglühende Gesicht einrahmten, stotterte er verlegen: »Am Kopf schon – aber – aber an den Beinen hab' ich dann schwarze.«

Eine lautlose Stille folgte dieser wunderlichen Selbstverteidigung. Dann erhob sich die Landvögtin brüsk: »Ich denk', wir gehen noch auf die Terrasse!« Und mit zusammengezogenen Brauen und stolz zurückgeworfenem Kopf verließ sie aufgebracht den Saal. Ihr Eheherr folgte ihr auf dem Fuß, während sich auch die andern gemächlich aufmachten.

Als Anna über die kleine Treppe auf die Terrasse trat, sah sie, wie Frau Holzhalb mit erregtem Stampfen des kleinen Fußes auf ihren Mann einredete, der sie vergeblich zu begütigen suchte. »Da hast du es,« rief sie mit schlecht gedämpfter Stimme, »und so etwas soll unsere Söhn erziehn, und dann wunderst dich, daß der Hansheinrich ein Wildfang, der Beat aber gar ein Schwärmer und Pietist wird? Schau den dort an, so einen sollten wir haben, dem fehlt's auch nicht an Gelehrte, und ist dabei doch ein Weltmann und voller Cavalier.« Sie wies nach Schlatter hinüber, der abgewandt, die Hand leicht in die Hüfte gestützt, an der äußersten Mauer lehnend eine elegante Silhouette in den hellen Himmel schnitt.

Anna schämte sich, daß ihr feines Ohr sie zum ungewollten Zeugen dieses Gespräches gemacht hatte, und da sie eben oben an der steilen Treppe, die in den Burggraben führte, das Estherlein erblickte, ging sie zu ihm hinüber. In trutziger Haltung stand das Mädchen da; aber als Anna sie näher betrachtete, sah sie, daß ihre Lider dick und rot waren. Sie hatte eine kleine rote Rose in der Hand und hielt sie nun Anna halb bittend, halb störrisch entgegen. Aber diese schüttelte den Kopf: »Nein, Kind, damit ist's nicht getan, deine Beleidigung abbitten sollst.«

Da warf das Estherlein mit einer zornigen Bewegung die Locken aus dem heißen Gesicht:

»Ich kann es nicht sagen, ich kann nicht, lieber über die Mauer da hinabspringen, tausendmal lieber!«

»Weißt was,« sagte Anna, milder gestimmt – das Mädchen erbarmte sie in seinem verzweifelten Trotz – »weißt was, so bring du ihm die Rose; brauchst weiter nichts zu sagen, und ich komm' noch mit dir, wenn d' willst.« Auch dagegen wehrte sie sich; aber da nun Schlatter, nach einem lebhaften Gespräch mit dem Landvogt, selbst raschen Schrittes zu ihnen herüberkam und Anna sie mit den Worten: »Da ist eine, die wieder gutmachen möchte!« dem andern zuschob, drückte ihm das Estherlein mit plötzlicher Bewegung die Rose in die Hand und stürzte dann davon.

Schlatter zuckte ein wenig zusammen; dann zeigte er Anna seinen schmalen langen Finger, daraus ein kleiner Blutstropfen langsam hervordrang. »Es hat mich gestochen, das Teufelchen,« sagte er und lachte dann plötzlich heraus, so hell und jungenhaft, daß Anna erstaunt aufhorchte. Wie paßte dieses junge, ungebändigte Lachen zu dem ernsthaften Menschen mit der verschleierten Stimme und dem verhaltenen Schimmer in den langen Augen? Sie vermeinte, auf einmal wie durch ein Fensterlein in eine Zweiheit seines Wesens geblickt zu haben, und derweil sie das Estherlein entschuldigte, daß es sonst ein gar herzig aufgewecktes Persönchen, bloß seiner Kleine wegen zu sehr als Kind behandelt und deshalb etwas verwöhnt sei, forschte sie in seinem Gesicht nach einem Zug, der ihr irgendwie dies Seltsame seines Wesens erklären konnte, und da entdeckte sie, daß der große Mund um ein weniges weicher gebildet war, als man es gemeinhin bei Männern gewohnt ist. Vielleicht auch waren die merkwürdig weißen Zähne schuld daran, daß er so jung erschien und so beweglich, als ob er nicht ganz hineingehörte in dieses hagere Gesicht mit den ernsten Brauen.

»Ich muß Euch etwas mitteilen,« sagte Schlatter, während er des Estherlein Rose auf seinen Hut steckte: »Herr Holzhalb hat mich gefragt, ob ich hier bleiben könnt' für meine Vacanzen, damit ich seinem Praeceptori mit meiner hofmeisterlichen Erfahrung etwas nachhelfen könnt', und weilen mich ja doch kein Vaterhaus erwartet, hab' ich angenommen. Tut's Euch leid, daß Ihr für etwas Zeit die Einsamkeit heroben mit mir teilen müßt?«

Forschend, mit einem schier ängstlichen Blick sah er Anna an. Sie blieb ihm die Antwort schuldig; denn sie wußte nicht, ob das, was ihr bei seinen Worten mit einem ganz kleinen Schmerz durch die Brust gefahren, bloß Überraschung war oder Freude oder am Ende gar Schreck... »So wünsch' ich Euch einen frohen und ersprießlichen Aufenthalt heroben,« sagte sie leichthin und wandte sich dann mit flüchtigem Kopfnicken von ihm weg, den andern zu, die unter der mächtigen Burglinde um das Brautpaar versammelt standen.

Als es gegen Abend ging, brach die Gesellschaft auf, Onkel Pfarrers und Dietschis, die Amt und Geschäft riefen, sowie auch die beiden Reiter geradewegs nach Zürich. Die andern erwartete das Abendbrot in Dielsdorf, allwo das freundliche Fest sich noch in die Nacht hinein erstrecken sollte. Es dauerte geraume Zeit, bis man sich mit viel wohlgesetzten und herzlichen Worten geziemend von den Gastfreunden verabschiedet hatte, und als die Kutschen endlich vollgestopft und die Pferde vorgeführt waren, zeigte es sich erst noch, daß Heinrich fehlte, der seit mehr als einer Stunde verschwunden war.

Endlich erschien auch er, Arm in Arm mit dem jungen Beat Holzhalb. »Ist er etwan auch ein Schwarmgeist, der Heinrich?« wandte sich der Landvogt an Herrn Waser, als er die Jünglinge mit den heißen Köpfen und glänzenden Augen gewahrte. »Dann tätest mir leid, Amtmann, maßen mir mein Bub viel Kummer macht mit seinem überspannten und pietistischen Getue!« Und da nun die beiden mit einer schier mädchenhaften Zärtlichkeit sich verabschiedeten, sahen ihnen die Väter kopfschüttelnd und mit sorgenhaften Augen zu.

Anna hatte sich entschieden, auch diesmal mit den Kindern zu gehen, und während der Zug, voran die Reiter und die landvögtliche Kalesche mit dem Brautpaar, schwerfällig unter dem festen Kronentor neben der Burg verschwand, schritt Anna leichten Fußes durch das abendlich leuchtende Städtchen. Das landvögtliche Ehepaar gab ihr das Geleit bis dorthin, wo der Weg, hinter der schön gebauten Präfektur mit dem mächtig gewölbten Tenntor, von der flachen Höhe plötzlich und unvermittelt ins Rebgelände hinabsank. Mit herzlichen Worten und einem frohen: »Auf Wiedersehen morgen!« nahm man Abschied.

Langsam folgte Anna den voraneilenden Kindern und blickte in die rötlich dampfende Ebene hinaus, die sich in dunstenden Fernen mit dem Himmel verband. Sie blieb einen Augenblick stehen und suchte die Zürcherstraße, auf der sie auch bald die beiden Reiter gewahrte, die raschen Flugs den langsamen Kutschen vorankamen. Da hielt der eine der beiden, und Annas scharfe Augen gewahrten, daß es der dunkle war und daß er mit gewendetem Pferd nach dem Berg hinaufschaute. Einen Augenblick später aber jagte er wieder gestreckten Laufs neben dem andern dahin, und Annas Blicke folgten ihnen, weithin, bis zwei kleine Pünktchen sich in der Ferne verloren. Und als sie nun dachte, daß der eine von den beiden morgen schon von dort zurückkommen würde, da wußte sie plötzlich, daß das kleine Zucken in ihrer Brust nicht bloß Überraschung gewesen und auch nicht Schreck.

Der Abend glutete voller und verwandelte das nebelnde Land in ein rotes Meer. Mächtiger und unbegrenzter als am Morgen erschien die Welt, und doch fühlte Anna kein Bangen mehr vor dieser Weite; ihr war, als ob auch sie getragen würde von den roten Fluten fernhin an ein glänzendes Gestade.

Sinnend stieg sie tiefer. Die Kinder waren nicht mehr zu sehen. Da fiel ihr ein, daß das Estherlein wohl auf sie warte, unten bei der Grube, mit einem Mohnstrauß in der Hand, und still lächelnd beschleunigte sie den schlanken Schritt.

*

Unter der hellen Fensterreihe ihres Giebelzimmers saß Frau Margarethe Holzhalb in einem erdbeerfarbenen Samtkleid, daraus ihr mattschimmernder bräunlicher Hals weich und stolz hervorwuchs. Ein resedenfarbener Teppich hing hinter ihrem schönen Kopf und zog bläuliche Lichter auf ihrem glänzend schwarzen Haar. Mit Befriedigung betrachtete Anna die feine Farbenstufung, die ihr Pinsel allbereits mit zartem Schmelz festgehalten hatte. Nur hie und da war ein Schatten noch etwas zu schwer, ein Übergang zu hart. »Ihr könnt Euch um ein weniges ausruhen, edle Frau,« sagte Anna, während sie mit dem fein gespitzten Pinselchen behutsam den Fehlern nachging.

Die Landvögtin seufzte erleichtert auf, warf sich anmutig im Sessel zurück und schlug die schmalen Füße wohlig übereinander. Dann blickte sie belustigt nach Schlatter hinüber, der in der tiefen Fensternische sitzend unverwandt Annas emsige Finger betrachtete. »Ihr seid ein schlechter Unterhalter,« rief sie mit übermütigem Lachen, »und wenn Ihr's nicht besser versteht, einer armen sitzenden Frau die Langeweile zu verkürzen, dann mag die gute Meinung, so ich von Euern Cavalierstugenden gehabt, um ein Gewaltiges sinken!«

Schlatter fuhr auf und warf die Strähne, die ihm übers nachdenksame Gesicht gefallen war, jäh aus der Stirn. »Zu Euern Diensten, vieledle Frau,« sagte er mit liebenswürdigem Lächeln und etwas übertriebener Reverenz; »was aber kann Euer schönes Ohr zu hören wünschen?«

»Was Ihr wollt! Erzählt uns von Holland!«

Schlatter zuckte die Schultern und machte ein gelangweiltes Gesicht; dann fing er an aufzusagen im einförmig singenden Ton der Schulbuben: »Holland ist ein helles flaches Land mit schwerfälliger Luft und seichten nutzbringenden Gewässern, und die Menschen sind ebenso.«

»Schlingel,« rief die Landvögtin vergnügt, »wartet nur, ich will Euch ein ander Sujet geben, daraus Ihr Euch nicht so leicht werdet ziehen können! Wann man von den Männern etwas Besonderes hören will, muß man sie über das Frauenzimmer befragen. Also, erzählet uns von den holländischen Frauen. Sie sollen schön sein, mit einer Haut wie Apfelblüten und stattlich gebaut.«

Schlatter überlegte einen Augenblick, während Anna ihren Kopf tiefer auf die Arbeit neigte. »Apfelblüt,« sagte er dann gedehnt, »ist wohl ein gar zu zartes Wort, ehnder möcht' ich ihre gesunde Haut jenen Frühlingsprimeln vergleichen mit dem rohen und unverhüllten Rot, das mit der Zeit gern ins Bläuliche überspringt. Stattlich? Ja, viele von ihnen sehen aus wie Stadtgöttinnen, daß man ohnwillkürlich nach einer Mauerkron auf den Köpfen sucht, und auch sonsten überall harte Mauern und Bollwerk an ihnen vermutend ist.« Und während die Landvögtin sich leise kichernd weicher in ihrem Stuhle rekelte, fuhr er fort: »Ihre Gesichter aber haben gemeiniglich diesen Fehler, daß sie zuviel Maul zeigen und zuwenig Stirn; ich aber kann ein Gesicht niemalen schön finden, darin die Kinnlade über den Schädel, das Eßinstrumentum über die Denkmaschine sieget. Und dann haben sie zumeist breite und rötliche Händ, wie ausgeweitet und aufgeweicht vom vielen Scheuern, dieweil die Holländerinnen sich mit der Fegbürsten ins Paradeis hineinzuputzen vermeinen. Ich aber,« fügte er leiser hinzu, »könnte niemalen eine Frau lieben, so breite und rosenrote Händ hat.«

Befriedigt betrachtete Frau Margaretha ihre feinen bräunlichen Finger. »So sagt uns denn, wie die Frau sein soll, die Ihr zu lieben wünschtet?« fragte sie mit einem schnellen Aufblitzen ihrer schwarzen Augen.

Aber Anna fuhr ein wenig hastig dazwischen: »Darf ich Euch, eine Zeit lang ruhig zu sein, wieder bitten? Sonderheitlich den Mund sollt' ich in seiner Ruhe betrachten können.«

»Sobald der dort redet,« sagte die andere schalkhaft, und während Schlatter zu erzählen begann, setzte sie sich in Position. Anna aber erbebte leise: Das war wieder die besondere, verschleierte, untertönige Stimme, die sie damals im Rebberg zuerst an ihm vernommen hatte und die er in den acht Tagen, so sie selbander hier verbracht, nur selten hatte hören lassen und zumeist, wann sie allein waren.

Er sprach: »Es gibt Frauen, die sind stolz und kühl wie Tulipanen; solche haben einen hohen Gang und überlegene Augen und sind wie ein Tag im Jänner, hell und gleißend; man kann sie wohl bewundern, aber lieben nicht; denn ihre weißen Händ, wann man sie berührt, sind leblos und hart wie ein Stück Marmelstein.

Und solche gibt's, sie sind bunt und lustig wie ein Stiefmütterchenbeet im Frühling, darin die hundert Immen summen. Daran hat man seine Freud und sein Vergnügen, aber lieben kann man sie nicht, maßen ihr bunt und offenbar Gesicht ohne Tiefe und ohne Geheimnis.

Und Mädchen gibt es, die sind fein und hold wie Röslein und haben einen süßen Duft. Die mag man wohl lieben, einen Tag oder zwei; aber dann ist es vorbei mit beidem, mit der Liebe und mit dem Duft, und weiß man kaum, daß man sie je gesehen.

Und es gibt Feuerlilien. Die leuchten und locken, und ihr Atem ist heiß und geht einem schwer zu Kopf, folgt aber ein arms Imblein dem betörsamen Duft und will gar trinken aus dem Flammenkelch, dann schlagen die roten Blätter darüber zusammen und weiß keines, wie es wieder Herfürkommen mag und ob's noch herfürkommt. Die Feuerlilien, die möcht man wohl lieben, aber man sollt' nicht, dieweil solche Liebe nicht Labsal gibt und Trost, wohl aber Glut und verderbendes Feuer ... Nun hab' ich einmal eine Blume gesehn, fein und feurig, herb und süß, stolz und zart, klar und doch voller Rätsel, die möcht' ich wohl lieben.«

»Ihr redet zu dunkel,« sagte Frau Margaretha etwas ungeduldig. »Ich hab' Euch nach dem Frauenzimmer gefragt, Ihr aber sprecht wie ein Gärtner von seiner Serren. Genaues möcht' ich wissen: Wie sollen ihre Augen sein, wie ihre Gestalt, wie das Haar? Blond oder braun oder gar schwarz?«

»Das Haar?« Schlatter sah sinnend vor sich hin: »Keins davon und alls zugleich: braun, wann der matte Morgen heraufzieht mit der tauigen und verdeckten Lust, schwarz, wann die Nacht die dunkeln Schatten breitet, aber wann der helle Mittag scheint, blond schier mit roten und güldenen Lichtlein... Die Augen aber müßten offen sein und still und so tief, daß einer, sobald er hineinschaut, sich von einer stillen und klaren Luft ganz eingehüllt vermeint, darin seine Seele klar wird wie ein Kristall oder ein fein durchsichtig Lüftlein.«

Die Landvögtin lachte: »Ihr seid ein Phantast, aber es hört sich wohl an. Fahret fort!«

»Der Mund ist beides, herb und süß, mit schmaler Linie, aber blühend die Farb, und die Füße schmal und hochgeschwungen. Wie kann man eine Frau lieben, so auf niedrigen und breiten Füßen geht? Aber hoch und leicht wandelt es sich auf diesem schmalen stolzen Fuß ... Das Schönste aber sind die Hände. Wie Blumen wachsen sie aus den schlanken Armen heraus, und weiß sind sie und zart, wie die Blätter der Magnolia, aber voll Leben und voller Seel bis in die Spitzen der schmalen Finger.«

Schlatter sprang auf und bückte sich nach dem Pinsel, der Annas Hand mit leisem Klirren entfallen war.

Frau Margaretha dehnte sich. »Seltsam,« sagte sie mit einem kleinen verstohlenen Blick nach den beiden hin, und dann befahl sie: »Fahret fort, Herr Hofmeister, von ihrer Gestalt sollt Ihr uns reden.«

»Die Gestalt?« Schlatter trat wieder ins Fenster und sann einen Augenblick nach, als vom Burghof herauf ein starkes Getrampel und Räderrollen vernehmlich wurde.

»Was ist, wer kommt?« rief die Landvögtin unangenehm überrascht. Schlatter beugte sich zum Fenster hinaus und gab Auskunft:

»Eine fürnehme Kalesche – steigt eine Dame aus – eine alte, das Gesicht – mit Verlaub – einer Enten nicht unähnlich und ebenso der Gang!«

»Heiliger Felix,« rief Frau Margaretha mit komischer Verzweiflung, »das ist die Tante Ursula, nun ist es fertig mit unsern Sitzungen! Bis ich die Zeitungen alle vernommen – heut und morgen läßt sie mich nimmer aus. Ihr aber, wenn ich euch raten kann, fliehet, daß ihr nicht auch noch hereingezogen werdet in die Klappermühle!« Sie nickte den beiden mit einem übermütigen Blick zu und verschwand.

»Wie schade, nun ist das Bild wieder nicht fertig geworden, und fehlt doch so wenig mehr,« seufzte Anna, während sie ihre Sachen zusammenpackte.

»Ihr habt doch noch ein ander Werk unterhänds, wie wär's, wann Ihr solches fürnähmt? Es ist noch früh am Nachmittag und das Wetter schön.«

»Ihr meint das Schloß?« Sie schüttelte den Kopf: »Nein, da doch Frau Holzhalb mitzukommen verhindert ist.«

»Und ich?« Schlatter sah sie dringend an: »Kann ich Euch in gar nichts dienen? Was soll ich anfangen mit der Zeit, da die andern alle weg sind?«

Anna zögerte einen Augenblick, dann sah sie ihn groß an: »Ich lieb' es nicht, wenn Ihr so redet, wie Ihr es vorhin getan.«

»Dann soll es nimmer geschehen,« sagte der andere ernst. »Seid Ihr nun nicht mehr bös, und darf ich Euch begleiten?« Er blickte bittend, fast ein wenig verlegen, aber gut und grad. »Wohl,« sagte sie bestimmt, »mein Geräte könnt Ihr tragen.«

Sie machten sich auf den Weg.

Der Ort, von wo aus Anna auf der Landvögtin Wunsch das Schloß malte, lag in halber Höhe am steigenden Lägerberg, durch ein schmales Tälchen von dem vorgelagerten Hügel getrennt, darauf Burg und Städtchen thronten. Der Frühnachmittag füllte das baumreiche Gelände mit einer warmen, etwas feuchten Sonnenluft, durch die schon hie und da mit seinem Modergeruch ein wehmütiges Herbstmahnen ging. Rüstig durchschritten die beiden die schmalen Pfade, die von der Burg niederwärts, über etwelche die Ringmauern verbindende lustige Trepplein hinunter und aus der andern Seite zwischen Wald und Wiesen aufwärts führten. Mit heißen Wangen und klopfenden Herzen erreichten sie die kleine Wiese, wo Anna ihre Staffelei aufzupflanzen pflegte. Unter einer breitschirmigen Esche, deren schon etwas gelichtete Zweige ein feingoldenes Geäder über den blaßblauen Himmel zogen, ließen sie sich nieder.

»Wie gut haben wir es getroffen,« sagte Anna freudig, während sie ihr Malgerät hervornahm, »so schön war es noch nie!« Und sie maß mit entzückten Augen das glänzende Bild, das sich ihnen bot. Über dem dunkeln Rahmen eines nahen Tannensaumes stieg das hochgetürmte Städtchen mit seiner mächtigen Feste unvermittelt auf, von der sonnenfeuchten Luft seltsam fern und hoch gerückt. Dahinter aber schwamm die silbern duftende Ebene, zufernst in den zarten Himmel verklingend.

Schlatter, der sich neben Anna in die Wiese gesetzt, folgte ihren Blicken. »Das ist der September,« sagte er nachdenklich, »der liebe, silberige September, und dünkt mich doch kein Monat schöner als er. Wie mild legt er seine kühlen Nächte und zarten Tage über die Gluten und Schmerzen des Sommers. Alles ist fein an ihm und sanft, der blasse Himmel, die sterbenden Wiesen mit den verlöschenden Flämmlein der Herbstzeitlosen, die weich vergilbenden Bäum – und gar die Luft, von Silberschleiern durchzogen, mild, mild, wie das gütige Lächeln einer schönen Frau, die ganze Welt wie ein Herz, so den Frieden gefunden und sich nun langsam der Erfüllung neiget.«

Anna sah über sich: »Ja, so blaß der Himmel, und über ein kleines wird er wieder dunkel sein und leuchtend, und die goldnen und roten Bäum stehen vor der Bläue, und in den Rebbergen ist der Jubel, und die ganze Welt in der Fülle ... Vielleicht lieb' ich den Oktober zumeist, dieweil er so tapfer und schön dem Tod ins Auge schaut, und man weiß auf einmal: Sterben ist nichts Schlimmes, ist eine Erfüllung, ein Ziel!«

Schlatter schüttelte lebhaft den Kopf: »Nein, nein,« rief er fast heftig, »die jubelnde Erfüllung, so den Tod nach sich bringt, ist grauenhaft! Ich liebe die milde Gegenwart, die spätere Fülle verheißt.«

Er warf sich ins Gras und blickte unter halbgesenkten Wimpern zu Anna auf: »Wißt Ihr, wie ich Euch nun sehe?« fuhr er leiser fort. »Wie einer der Cherubim, also blickt Euer Gesicht aus der freien Luft zu mir herab. Euer Haar aber schwimmt in der zarten Bläue wie jung Eichenlaub im Lenzhimmel ... So werd' ich Euch immer sehen, wann ich an diese Tage zurückdenke, mild und voller Güte, wie ein Engel in der milden Septemberwelt, und in mir alles licht und gut... Ich werde viel Kraft ziehn aus dieser Erinnerung, aber – auch viel sehren und schweren Mut, auch leiden werd' ich nachher...«

Nachher? Anna erschrak. Ja richtig, das alles hatte ein Ende, diese sonnigen, lieben Tage, und dann kam das Nachher, und das war eine dunkle Stube und ein einsam Werk, etwas Leeres, etwas grausam Leeres nach der vollen Gegenwart.

»Und Ihr,« fuhr der andere fort, »werdet Ihr auch ein wenig an mich denken, hie und da einmal, wann die kühleren Herbsttage kommen oder – oder sonst, wann all meine Gedanken zu Euch gehen und um Einlaß bitten wie ausgeschlossene Kinder, werdet Ihr etwas spüren und ihnen auftun?«

Anna sah ihn unsicher an, seine Augen schimmerten unklar. »Wohl werd' ich etwan Euer gedenken,« und sie zwang ihre Stimme zur Ruhe.

»Ich dank' Euch,« sagte er einfach, aber durch das hagere Gesicht lief ein eigenes Leuchten.

Später erzählte er von seinen Plänen, daß er seine Stell bei dem holländischen Grafen bald einmal zu quittieren und sich um eine andere am Gymnasio zu Campen, allwo der greise Rektor ihm gar wohlgesinnt sei, zu bewerben gedenke. Er sprach mit großer Lebhaftigkeit und baute mit freudiger Zuversicht ein schönes Zukunftsgebäude; je höher aber seine Pläne stiegen, umso größere Traurigkeit legte sich über Anna. Ja der, die Zukunft lag vor ihm, und alles fügte sich zu einem Ziel, sie aber – seit die Brücken abgebrochen und sie den weiten Boden verlassen gemußt, war ihr ganzes Leben nicht ein großes graues Nachher?

Schlatter war aufgesprungen und stellte sich vor Annas Staffelei. »Oh,« rief er voller Bedauern, »schon so weit! Ihr solltet Euch nicht dermaßen eilen; wann Ihr fertig seid, dann geht Ihr, und dann, ja dann ist alles zu End!« Das tönte leidenschaftlich, fast schmerzlich. Ja, gab es etwa auch für den ein Nachher? Anna sah ihn verwundert an. Sein Gesicht war plötzlich dunkel geworden, und es war etwas Fremdes in seiner Stimme, wie unterdrückter Zorn schier, als er fortfuhr: »Früher, wann ich Eure Miniaturen sah, oh, wie ich sie bewundern könnt' und mich freuen daran, und hab' mir allezeit die Hand vorgestellt, wie fein und zart sie sein müßt', um so Feines zu schaffen; nun aber, da ich Euch selber seh, nun hass' ich sie fast, jene feinen Werke, weilen ihnen alles gehört, die Hand und die Augen und – und alles; ich aber kann betteln und warten um einen Blick, einen einzigen flüchtigen Blick. Eure Hand, Eure Hand!« Seine Stimme zitterte, und plötzlich kniete er neben Anna und hielt ihre Linke zwischen seinen bebenden Händen. Anna wollte sie ihm entziehen, aber er hielt sie fest: »Nein, nein,« rief er flehend, »laßt mir sie, laßt mir sie, einen Augenblick bloß!« Und Anna fühlte, wie von seinen heißen Fingern her ein seltsamer, lähmender Schmerz ihr durch alle Glieder ging; sie wollte aufspringen, sie wollte sich entziehen, sie wollte schelten, wollte hundert Dinge tun, um sich zu befreien aus dieser Qual, und blieb doch reglos, wie gebannt von einer fremden Macht, und ließ es geschehen, daß er ihre Finger an seine heißen Schläfen preßte, daß sie vermeinte, das Hämmern seines Blutes wie eine betäubende Musik im eigenen zu spüren.

Es war wie eine Schwäche, aber einen Moment bloß, dann fand sie Widerstand und Kraft. Rauh entzog sie ihm die Hand und sprang auf. »Ich mag das nicht,« sagte sie streng, während sie vor Erregung zitterte. »Ihr sollt nicht knien wie ein Franzos und nicht Wort machen wie ein solcher.« Schlatter erhob sich langsam. Er war blaß; aber auf seinem Gesicht lag es wie der Abglanz eines Lächelns.

»Ich habe etwas entdeckt,« sagte er leise, wie abwesend. »Euer Händchen – wir haben denselben Herzschlag, Anna, genau denselben Herzschlag, und wißt Ihr, was man sagt? Menschen, die denselben Herzschlag haben, sind füreinander bestimmt, von Uranfang füreinander bestimmt, und ist nichts, was sie zu trennen vermag.«

Wieder streckte er die Hand nach ihr; aber Anna trat zurück: »Wollt Ihr, daß ich es bereuen muß, Euch mitgenommen zu haben?« Sie warf den Kopf in den Nacken, die Augen sahen dunkel aus dem weißen Gesicht. »Wir gehen,« sagte sie dann schroff, und rasch Bild und Farbenkästchen zusammenraffend, wandte sie sich, ohne zurückzusehen, dem steilen Pfad zu, der unter schattigen Bäumen niederwärts führte. Schlatter folgte, stumm, mit hängendem Kopf, Staffelei und Feldstuhl unter dem Arm; aber der letzte Schimmer eines Lächelns lag immer noch in den schmalen Augen.

Früh am Abend zog sich Anna in ihre Kammer zurück. Mochte man glauben, daß sie durch ihre Anwesenheit den Besuch der Tante Ursula nicht stören wollte. Ohne Licht zu machen, setzte sie sich in den Sims ihres hochgelegenen Fensters und sah zu, wie die Nacht zuerst mit schwarzen Schatten am Lägerberg hinausschlich und dann wieder mit bleichen Strahlen vom Gipfel niederglitt. Sie schmiegte die heiße Schläfe an den kalten Fensterstein und ließ sich die nachtfeuchte Kühle über den Körper rieseln. Kühl und klar wie das weiße Mondlicht draußen mußte sie werden, damit sie nachdenken konnte, unerbittlich nachdenken.

Was sie heut dort oben erlebt unter der goldenen Esche, das hatte ihr die Augen geöffnet über Dinge, an denen sie bis dahin wie blind vorbeigegangen und ohn Bewußtsein.

Aber nun wollte sie sehend werden, ganz sehend und ganz bewußt.

Sie zog ihre Gedanken zusammen, daß sie hart wurden und scharf wie eines Messers Schneide, damit sie alle die Erlebnisse der letzten Tage klar und grausam auseinanderlegte.

Ja, so war es: von der ersten Stund an war er ihr besonders gewesen und anders als die andern. Schon damals in der Kirche und dann im Weinberg, da sie sich über seine Anwesenheit zu ärgern vermeinte, war es nicht, weil sie fühlte, daß er ihre Gedanken anzog, mehr denn jeder andere? Und dann später, diese ganze Woche, die ihr schön erschien wie ein hold Geträumtes, wußte sie nicht heute jedes Wort zu wiederholen, das er zu ihr gesagt, und jede Gelegenheit, die sie zusammengeführt hatte? Und in den Stunden, da er mit den Söhnen des Landvogts war und mit ihnen über Land ritt, hatte sie nicht auf seine Rückkehr gelauscht, unablässig? Und wann er kam, hatte sie nicht sein Nahen gefühlt, ohne sich nur umzusehen?

Und heute, da ihre Hände das heiße Blut seiner Schläfen spürte, war es nicht einen Augenblick über sie gekommen, daß sie sich hätte niederbeugen mögen und ihre Wange an sein glühendes Gesicht legen ... Allmächtiger, so weit war es! Entsetzt sprang sie aus; aber dann sank sie wieder aus den Sims zurück und drückte ihren heißen Kopf härter gegen den Stein, daß die Stirn schmerzte. Was nun, was nun?

Sie dachte weiter, an Lux. War es möglich, konnte es noch einmal kommen, nachdem es so schmerzlich zugrunde gegangen? War das wiederum die Liebe? Aber da fiel ihr ein, das mit Lux, das war doch ganz anders gewesen: stark und froh, wie wenn einer das erste Schneeglöcklein sieht und aus einmal spürt, nun kommt das große Wunder, der Frühling kommt, und er sich nicht zu fassen weiß vor unbändiger Freud, so war es damals, aber heute? Da war kein glänzendes Land, das sich vor ihr auftun wollte mit lichten Höhen und dünner Lust, wohl aber stand sie am Eingang eines Gartens, der war dunkel verhängt und geheimnisvoll die Wege, und kam ein Duft heraus, süß, süß, aber so schwer. Es war wie eine Betäubung.

Sie aber wollte nicht betäubt sein, nie, niemals. Wohl war es seltsam zu denken, daß man nur hineinzutreten brauchte in diesen Garten – so leicht ging es, die Tür stand schon halb offen – und auf eins war es verschwunden, all das Leere und Einsame und Schmerzliche, und das Leben hatte die Fülle gefunden und den tiefen Ton – und vielleicht den festen Pol ...

Aber war sie nicht schon zu weit gegangen auf der andern Bahn? Wär' das nicht ein Umkehren auf halbem Weg, sodaß ihr Leben am End aussehen mochte wie jenes Bildnis von des armen Giulio Hand: Unvollendet, in Halbheit erbärmlich und haßbar!

Sie richtete sich straff aus: Nein, das war vorüber, mußte vorüber sein. Mochte ihre Kunst auch bisweilen eine harte Herrin sein und eine karge, die ihr nicht immer gab, was sie erhoffte – zu lang schon war sie in ihrem Dienst, um nun alles abzutun, und zum Neuanfangen war sie zu alt. Denn – das fühlte sie mit sonderbarer Sicherheit– mochte er bergen, was er wollte, jener geheimnisvolle Garten, die Kunst gedieh nicht darin und die Freiheit nicht und auch jene Kraft nicht, die sie bis jetzt in Händen gehabt wie einen festen und verläßlichen Stab.

Der Mond schwamm schon mit bläulichen Schatten im westlichen Himmel, als Anna endlich den Schlaf fand; er kam ihr aus einem festen, tapferen Entschluß: Es mußte zu Ende gehen, so schnell wie möglich. In den nächsten Tagen wollte sie die Bilder vollenden und dann fliehen, unverzüglich fliehen in die sichere Einsamkeit ihrer stillen Malstube.

Aber als sie am Morgen vor dem Frühstück den Landvogt traf, der – ein großer Frühaufsteher – schon von einem Forstgang zurückkam, blickte er sie gar seltsam an:

»Was ist mit Euch,« rief er bedenklich, »daß Ihr ein weißes Gesicht habt und Schatten unter den Augen? Überarbeitet, gelt?« Und dann schimpfte er gutmütig: »Sacrebleu, so ist es, das Frauenzimmer, alleweil zu hitzig bei der Sach! Daß Ihr mir heut kein Pinsel nicht anrührt, hört Ihr!« Und er schlug mit dem Stock auf den Boden und rollte die blauen Augen, daß Anna lachen mußte. Aber an seinem Verbot ließ er nichts abmarkten, vielmehr mußte sie ihm versprechen, sich am Morgen auszuruhen, um dann nachmittags einmal einen Ritt zu tun. »So ein wenig das Blut durcheinander, das wird Euch bekommen, und da die Buben ohnedies der Tante Ursula die Ehr werden erweisen müssen, weilen sie schon auf den Abend das Feld zu räumen beabsichtigt, sind die beiden Praeceptores ledig und zu einem Begleit sicherlich mit Freuden bereit.«

Die beiden, Anna atmete auf. Wann Weggler mitging, dann war sie ruhig.

Gleich nach dem Mittagessen machte sie sich bereit; sie kleidete sich in ihr braunfelsisches Jagdgewand, das die Mutter auf der Landvögtin Wunsch geschickt hatte, und legte damit ein schönes und frohes Stück Erinnerung um sich. Leichtfüßig lief sie die steilen Treppen zum Burghof hinunter, wo der Landvögtin Zelter bereitstand. Das klare Denken und der feste Entschluß hatten ihr Herz leichter gemacht, sodaß sie nun Schlatter frei und freundlicher entgegentreten konnte. Er aber schien stiller und verschlossener als sonst.

Der Landvogt war ihr beim Aufsteigen behilflich.

» Parbleu,« rief er fröhlich, »was haben wir für ein schönes Edelfräulein!« und küßte scherzhaft ihre behandschuhte Rechte. Anna lachte herzlich. Es war ihr auf einmal merkwürdig froh zumute. Das alte geliebte Kleid, der scharfe Geruch des Pferdes und der warme, leise schauernde Pferdeleib unter sich, es war wie eine kleine köstliche Berauschung. Und dann ging es los, mit lustig klingenden Hufen unter dem Kronentor durch ins Land hinaus.

Aber wie sie da den Lägerberg, freundlich hingelagert, mit sanften und einladenden Steigungen vor sich sahen, kam es Anna aus eins an, daß sie dort hinausreiten möcht'. »Traut Ihr Euch, es ist kein so leicht Stück?« fragte Schlatter ernst, und da sie ruhig zusagte, trieb er alsobald seinen Braunen waldeinwärts. Herr Weggler aber folgte mit einem betrübten und nachdenklichen Gesicht. Aus angenehmen Pfaden gelangten sie zu der kleinen Wiese unter der Esche. Einen Augenblick hielten sie wie aus Verabredung ihre Pferde an, um nach dem besonnten Städtchen hinüberzublicken.

Plötzlich wandte sich Schlatter an den Vikar: »Seht, unter dieser Eschen,« sagte er mit gemacht ruhiger Stimme, »ist mir jüngst ein seltsam Gesicht erschienen; mag sein, daß Ihr aus Eurer Gelehrsame eine explicationem dafür findet.«

Herr Weggler sperrte die Augen groß aus und spreizte die Nasenflügel, er war ganz Aufmerksamkeit. Mit seinem Lächeln gewahrte es Schlatter, dann fuhr er fort: »Dort im Gras lag ich, wie Ihr an den betrübten Herbstzeitlosen noch ersehen möget, die meines Leibes Last erdrückte, als mir aus eins ein Wesen erschien, war über die Maßen hold und einem Engel nicht unähnlich und hielt etwas in seinen Händen mir entgegen, das ich nicht erkennen konnt'. Da ich aber mit fragenden Augen darnach sähe: ›Das ist die Güte,‹ sagte es lächelnd, ›so du lange gesucht, das ist die Reinheit, daran du nimmer geglaubt, das ist die Ruh und das Glück, so dein arm Herz umsonst erstrebet – da nimm!‹ Und wie ich darnach greisen wollt' mit zitternder Hand, sieh, da erhielt ich einen Nasenstüber, und alles war weg.«

Herr Weggler machte ein stumpfes Gesicht: »Mit Verlaub, ist Euch solches bei wachenden Sinnen geschehen oder im Traum?«

»Im Traum,« sagte Schlatter mit einem Seufzer, »natürlich im Traum.«

»Da muß ich denn doch gestehn,« fuhr der Vikar bedenklich fort, »daß es mir höchst unklug erscheint, da außen und gar in der Nähe eines großen, nicht immer geheuerlichen Waldes einzuschlafen.«

»O ja,« rief Schlatter spöttisch, »sehr unklug!« Und dann lachte er laut auf und gab dem Pferd die Sporen, daß es davonraste, quer über die Wiese in den Wald hinein. Die andern folgten langsam.

»Es ist äußerst merkwürdig,« sagte der Vikar mit wichtiger Umständlichkeit, »wie dieser Herr bei seiner großen Gelehrte und vielen Gereistheit ein oft kindisch und sonderbar Wesen an den Tag zu legen nicht verschmähet, solches unsereiner bei aller Bescheidenheit als unter seiner Würde zu erachten nicht umhin könnte.«

Anna schwieg; mit starker und aufmerksamer Hand faßte sie in die Zügel ihres Pferdes, das dem Davonjagenden nachzueilen bestrebt war. Nicht ohne Mühe hielt sie das vor Erregung bebende Tier im Zaum. Auf der andern Seite der schmalen Waldzunge, am Saum einer mächtig gebreiteten, nur sachte ansteigenden Wiese erwartete sie Schlatter, und während sie alle drei nebeneinander weiterritten, Hub er mit Weggler ein sachliches Gespräch über seine Schüler an.

»Auf den Beat sonderlich,« sagte er ernst, »solltet Ihr acht haben. Er zeigt ein schwärmerisch und überspannt Wesen, wie es mir an einem jungen Menschen nicht bloß gegen die Natur, sondern auch äußerst gefährlich erscheinet. Seht zu, daß er nicht der schlimmen Pietisterei verfällt.«

Der Vikar sah halb demütig, halb gereizt auf: »Glaubet Ihr, daß ein jung Gemüt je zuviel von jenem Durste verspüren kann, der nach dem ewigen Leben dürstet?«

»Es handelt sich nicht darum,« erwiderte der andere ruhig; »aber so ein junger Mensch in seltsamen und gehirnverrenkenden speculationibus sein Heil sucht und darüber die gesunde Welt und die klaren Zusammenhäng verliert und so er über das göttlich Wort hinaus nach dunkeln und vieldeutigen mystica suchet, leicht kann ihm der gesund Verstand, die klar Wissenschaft und der gut Glaube darüber verwirrt werden.«

Überrascht horchte Anna aus. Das waren Dinge, die auch sie nahe angingen, da ihr der Bruder Heinrich mit seiner Wundersucht und Pietisterei viel Kummer und schwerer Gedanken verursachte. Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte sie Schlatters Worten, der klar und mit einer seltenen Kenntnis von Dingen, die ihr fremd waren, über das Wesen und die Gefahren der Pietisterei, die sich überall im Land wie eine kontagiöse Krankheit regte, sprach und auch für des Bruders Liebling, den Angelus Silesius milde, aber träfe Worte fand. Während er sprach, sah er ernsthaft vor sich hin mit gefurchten Brauen. Alles Weiche und Traurige war von ihm gewichen. Klar, männlich und reif wie seine Worte war auch sein Äußeres. Anna fühlte, daß sie in diesem Moment nicht mehr da war für ihn, und bei dem Gedanken gab es ihr einen plötzlichen feinen Schmerz. Im gleichen Moment zuckte auch das Tier unter ihr zusammen, als ob es eins wäre mit ihr, und jagte dann jählings in wilder und ungebundener Raserei über die weite Wiese hin. Anna, die im ersten Augenblick erschrocken war, fand sofort die sichere Hand wieder, und da sie das Tier in ihrer Gewalt wußte, war es ihr eine prickelnde Lust, so dahinzujagen durch die frische Lust und über das kurze Gras, daraus die Heupferdchen schwarmweis hervorstoben. Köstlich, wie jeder Nerv sich spannte und das Blut heiß und fröhlich ging. Ach, das war Leben! Sie hätte jauchzen mögen wie als Kind, wann sie mit Casparli Billeter über den Wiesenbach sprang, oder wie damals in Braunfels, wann sie mit dem gräflichen Herrn durch den Forst ritt und sie ihm aus schweizerisch singen gemußt; dann kam wohl ein lustiges Echo von der Burg zurück oder aus dem tiefern Wald, und war des Bruders Stimme. Ach, wie leicht es da zu leben war, wie frei.

Am andern Ende einer Wiese blieb das Pferd stehen. Als Anna sich wandte, war ihr Schlatter schon aus den Fersen. Er sah erregt aus: »Ihr solltet nicht dermaßen davonjagen,« sagte er mit heißem Atem, »es hätte ein Unglück passieren können.«

Anna sah, daß er sich geängstigt hatte, das freute und reizte sie zugleich. »Da ist keine Angst nicht zu haben,« sagte sie lachend. »Ich hab' eine sichere Hand und weiß, was ich tu'.«

»Ja,« sagte der andere nachdenklich, »eine sichere Hand und wißt, was Ihr tut, das stimmt.«

Ein kleiner Wald nahm sie auf. Die Wege wurden zusehends steiler und schmaler. Nun hieß es aufpassen und sie erweisen, die sichere Hand. Mit scharfen Augen maß Anna den schwierigen Pfad, man mußte sich sorgfältig aufwärts tasten, zwischen Stämmen durch, über starkes Wurzelwerk, aufwärts. Später holte sie der Vikar ein. »Ihr seid falsch geritten, mit Verlaub!« rief er ärgerlich. »Da kommen wir nicht weiter, wir können ja doch nicht auf den Gipfel!«

»Warum nicht?« fragte Schlatter hochmütig zurück.

»Ihr werdet es sehn, sobald wir aus dem Forst heraus, das sind doch keine Saumpferd!«

Und wirklich, als sie den Wald durchquert hatten, zeigte es sich, daß an ein Weiterreiten nicht zu denken war, da jenseits einer kleinen, ziemlich ebenen Terrasse der Pfad auf eins ganz steil wurde und völlig unkommlich für den Reiter.

»Wie schade, so nah am Ziel umkehren zu müssen!« sagte Anna betrübt.

»Das ist nicht gerade nötig,« entgegnete Schlatter; »die kleine Strecke könnte man ja auch zu Fuß zurücklegen, was meinet Ihr?«

»Das wär' schon schön, aber die Pferde?«

»Die lassen wir hier!« rief Schlatter erfreut, während er schnell von seinem Braunen sprang und das Tier an einem Baume festband. »Und der Herr Vikar, der tut uns am End den Gefallen und hält derweil Wache hier?« Mit einem etwas kläglichen Gesicht stimmte Weggler bei.

Auch Anna schickte sich an, abzusteigen. Aber da war schon Schlatter neben ihr. »Wartet,« befahl er, »ich helf' Euch!« Und ehe sie's hindern konnte, faßte er sie mit starken Händen und ließ sie langsam niedergleiten.

Einen Augenblick lang fühlte sie seinen Herzschlag, einen Augenblick lang sah sie sein Auge ganz nahe an dem ihren, daß sie meinte, den Hauch seiner Wimper zu verspüren, dann stand sie schon auf dem festen Boden. Langsam wandte sie sich ab und ging dem aufwärtsführenden Pfad zu, mit unsichern Füßen; denn sie zitterte am ganzen Leib, und ihr Herz stockte. Wie gejagt floh sie die steile Höhe hinan – nur jetzt ihn nicht sehen, nicht sprechen; aber als sie oben ankam mit heißem Blut und schwimmenden Augen, schämte sie sich ihrer Flucht – wann er es bemerkt hätte!

Rasch holte Schlatter sie ein: »Ihr seid geflogen wie ein Sommervogel!« Er sah sie still an, und in seinen Augen glänzte etwas wie bei einem Menschen, dem ein Wundersames widerfuhr. Dann führte er sie aus einen kleinen Vorsprung, von wo aus der Blick ungehindert in die Runde ging.

Anna dachte, daß es wohl schön sein müsse, das Land dort unten, das ihr wie etwas Fremdes und Unwirkliches in die Augen gleißte; aber sie sah nichts, sie fühlte nur, daß er neben ihr stand, ganz nahe, und daß sie seine Nähe hätte fliehen sollen, und da er nun mit ausgestreckter Hand ihr die Gegend erklärte und dabei sein Arm ihre Schulter berührte, fuhr sie leise zusammen.

Schlatter hielt ein in seiner Erklärung. Er griff nach ihrer Hand und sah ihr forschend in die Augen: »Warum,« fragte er leise, und seine Stimme schwankte, »warum habt Ihr gezittert vorhin, als ich Euch vom Pferde hob?«

Anna erschrak. Sie biß sich in die Lippe, dann aber hob sie stolz den Kopf: »Glaubt Ihr, es sei angenehm, also zwischen Himmel und Erden zu schweben und ohne den festen Boden unter den Füßen?« Ihre Stimme klang fast gleichgültig.

»Ach so!« Er ließ enttäuscht ihre Hand fallen. »Angst also, bloße kindische Angst! Und ich Narr,« fügte er bitter bei, »hatte an ein Wunder geglaubt, an eine Offenbarung von Seele zu Seele, da in Eurer zitternden Nähe und unterm Schlag Eures Herzens alles Große und Heilige in mir zu klingen begann, daß mein armer Leib von Seligkeit und himmlischem Wohlklang also erbebte wie der Dom unter Orgelrauschen. Ihr aber hattet keinen Anteil daran, Ihr bangtet bloß, daß Ihr den Boden gewännet?« Er lachte bitter aus; aber dann griff er wieder nach ihrer Hand: »Ist es möglich, die Augen lagen ineinander und die Herzen fühlten sich und Ihr spürtet nichts? Oh, so seht Ihr nicht aus, so fühllos nicht!« Und er flehte: »Sagt mir die Wahrheit, in Gottes Namen sagt mir die Wahrheit.«

Anna wollte etwas entgegnen, sie suchte nach einem kalten tapfern Wort; aber die dumpfen Schläfen und der jagende Herzschlag fraßen ihr jeden klaren Gedanken und jede sichere Kraft, und da war etwas in seinen Augen und im Klang der Stimme, was der Verstellung trotzte. Ihre Hand zitterte in der seinen und leise neigte sie den Kopf.

»Anna!«

Und da fühlte sie seine Arme und fühlte seine Lippen auf den geschlossenen Lidern, und dann zart und schier ehrfürchtig auf dem eigenen bebenden Mund und fühlte, wie es über sie hinströmte, fremd, voller Bangnis und doch so süß ...

Leise zog er sie aus einen kleinen Felsensitz und kniete vor sie hin: »Anna, ist es wahr, kannst mich liebhaben, ein ganz klein wenig liebhaben?«

Die Frage verhauchte. Es ward still, nur das Waldweben umschlang sie mit weichen summenden Wellen und entrückte sie und löste allen Zusammenhang, daß sie einsam waren und auseinander gewiesen, wie am Anfang der Welt.

Da beugte sie sich lächelnd zu ihm nieder: »Lieber!« und strich ihm das wirre Haar aus der Stirn.

»Du!« Er barg seinen Kopf in ihrem Schoß und seine Gestalt zuckte. Als er das Gesicht wieder zu ihr erhob, waren seine Augen feucht.

»Du, und willst mich hineinnehmen in deine reine Welt und willst mir die Güte geben, die ich nie gekannt, und die Stille und die Ruh?«

Er drückte sein Gesicht in ihre Haare: »Wie es duftet!« flüsterte er. »Dein Haar duftet wie ein Maienforst, wann der Waldmeister blüht, und wie weich es ist!« Und er küßte die seidenen Locken.

Dann zog er ihr die Handschuhe von den Händen und küßte die weißen Finger und preßte sie gegen seine heiße Stirn.

Und Anna ließ es geschehen und fühlte, wie sich langsam etwas in ihr löste – war es eine Kraft, war es eine Qual? – und wie alles weich in ihr wurde und sanft und warm, wie die dürstende Scholle unter dem Maienregen.

»Du, du!«

*

Und wieder stand sie an ihrem Fenster, als die Nacht niederstieg. Heute war es dunkel draußen; denn tausend kleine Wolken waren plötzlich über den Himmel gekommen und zogen nun mit rötlichen Mondrändern leise dahin. Ein kleiner Wind wisperte im Garten, wühlte die herbstlichen Düfte auf und trug sie zu ihr empor. Mit tiefen Zügen sog Anna die müde Luft ein. Dann beugte sie sich vor und betrachtete ein helles Lichtviereck, das aus einem halb abgewandten Fenster auf die Ringmauer fiel. Ein hoher schlanker Schatten stand in dem unsichern Schein.

Anna lächelte: »Du, du!« Und sie dachte, wann es Giulio wäre, seine Laute würde er nun holen und singen, so süß und selig, daß einem das Herz zerflöße, und wann es Lux wäre – in seiner Kammer auf und ab stürmen würde er, rastlos, und die Mauer hinabklettern und zu ihrem Fenster hinaufstarren, und Verse würde er ersinnen, heiße, jubelnde Verse. Der dort aber, wie still er stand in dem stillen Schein, doch seine Gedanken gingen zu ihr, daß sie sie spüren konnte, innig und zart wie Küsse auf der zitternden Hand, und waren tausendmal süßer denn Giulios Lieder und tausendmal inniger denn Lukas' Verse.

»Du, du.«

Ihre Stirn berührte den Fenstersims, er war kalt und feucht. Sie schauerte leise zusammen: Hatte sie nicht einmal da gestanden, die Schläfen an den kalten Stein gepreßt, und hatte Vorsätze gefaßt, große, tapfere und kalt und hart wie der Stein da? Wohl, wohl; aber wie fern das lag, kaum daß man es noch erspähen konnte mit seinen Augen. Das war ja noch in jenem andern Leben gewesen, damals, als sie noch draußen stand, frierend und einsam mit dem harten Willen in der Brust und dem toten Herzen. Jetzt aber hatte er sich aufgetan, der geheimnisvolle Garten, und sie stand mitten drin, und die Geheimnisse öffneten sich, süß und kostbar wie dunkle Rosen und wie die verschwiegenen Lilien der Nacht.

Draußen wurde es dunkler und dunkler; heftiger wehte der Wind und voller frostiger Schauer. An der Mauer verschwand das freundliche Licht. Anna schloß das Fenster und legte sich zu Bett. Es war kalt geworden auf einmal, die ganze Feuchte der Nacht saß in der Kammer und durchdrang das glatte Leinwat ihres Bettes. Anna fröstelte, und da tat sie, was sie früher so oft getan, um sich vor der Kälte zu schützen, die zuzeiten die Wände ihres Berner Stübchens verzuckerte: sie löste ihre Haare und legte sie wie einen Mantel um Brust und Arme.

Das war das Haar, das er geküßt, heute! Und war das nicht der liebe Waldsonnenschein, der sich mit warmen Wogen über sie legte?

Selig, selig.

Sie schloß die Augen und hielt der süßen Wärme still, die sie umfing wie mit liebenden Armen und wie mit liebenden Worten zum Herzen drang. Der Nachtwind hatte den Regen heraufgebracht. Ein paar Tage lang hing das hohe Städtchen wie ein Adlerhorst in den Wolken, und graue, undurchdringliche Fetzen hängten sich allenthalben vor die Fenster der Burg und drängten das Leben drinnen zusammen, daß es heimlich wurde, die Zimmer von winterlicher Traulichkeit erfüllt und traulich und lang die dunkeln Abende. Als aber eines Tages ein rascher Wind vom Süden kam und die Fetzen zerriß, leuchtete die goldenrote Ebene reingefegt von den Septemberdünsten mit heißen Farben nahe heraus, und dunkelblau ergoß sich der Oktoberhimmel.

An einem sommerlich warmen Morgen verließen Anna und Schlatter Regensberg. Herzlich wie von lieben Freunden schieden sie von der landvögtlichen Familie. Frau Margaretha küßte Anna wie eine Schwester: »Viel Glück, Liebe, viel Glück!« und in ihren schönen Augen war eine kleine Feuchtigkeit. Als aber die beiden den Wagen bestiegen, warnte der Landvogt: »Seid mir schön fürsichtig bis morgen, wann ich nachkomm', damit der gestrenge Herr Waser sich keine vorzeitigen Gedanken macht. Und vor allem, Herr Hofmeister, vergesset nicht auszusteigen vor den Porten, zu Vermeidung unnützen Aufsehens!«

Sie versprachen alles, und Schlatter lachte: »Wann Ihr den Freiwerber machen wollt, wie könnt' mir bange sein!«

Aber der Landvogt zwang sein rundes Gesicht zu einiger Bedenklichkeit: »Immerhin, immerhin, glaubet wohl gar, es sei ein Leichtes, einem Vater sein Liebstes abzulätscheln und seinen Stolz, für einen jungen Springinsfeld, der noch keinen festen Boden unter den Füßen hat?« Als er jedoch Schlatters plötzlich verdüstertes Gesicht sah, lachte er beschwichtigend: »Wird schon gehn, wird schon gehn, nur übermütig werden sollt Ihr mir nicht, vorher!«

»Nun ist es vorbei,« sagte Anna wehmütig, als sie unter dem Kronentor durch die unebene Gasse hinunterpolterten. »Es war so schön!«

Aber Schlatter preßte ihre Hand: »Schön war es, ja, aber schön wird es sein auch fürderhin und immer schöner. Hast mir ja den Himmel aufgetan, du, und eben stehn wir erst unter der Pforten.« Und als sie vom Städtchen niederwärts durch die einsamen Felder fuhren, zog er sie mit zärtlichen Händen an sich. Sie schwiegen und sahen sich in die Augen, ganz nahe, daß jedes sein Bild in der Pupille des andern gewahrte.

»Wann ich das gewußt hätt',« sagte er leise, »daß sich mein schlimm Gesicht einstmalen in diesen Augen spiegeln dürft', wohl wär' vieles anders gewesen in meinem Leben, schöner und reiner.«

»Still, still davon, nun ist es vorbei.« Ein schmerzliches Lächeln ging um Annas Mund; dann zog sie sein Gesicht an ihre Schulter und streichelte es, wie man mit Kindern tut.

Schlatter aber fuhr fort: »Deine Augen, das ist wohl das Schönste auf der Welt. Klar, klar, wie ein tiefer köstlicher Bronnen, daraus die arm Seel alle Reinheit schöpft und alle Kraft, daß sie blank herfürgehet und gut wie am ersten Tag. Und alles, was wild und weh war, ist abgetan, wann man in diesen Quell getaucht.« Und mit andächtigen Fingern strich er über Annas Hand.

Sie aber löste sich sanft aus seinen Armen. »Das liebe Regensberg,« sagte sie ablenkend und beugte den Kopf, rückwärtsblickend zum Wagenfenster hinaus. Stolz und hell glänzte die kleine Stadt von der Höhe nieder, und vor dem Burgfried wie ein seines Feuer leuchtete der gelbe Gipfel einer Birke. »Wie das mich an Braunfels erinnert,« sagte Anna lächelnd; »grad so steht auch dort das Schloß über der Weite, nur all's gewaltiger, die Burg und das Land.«

»Ja,« fügte Schlatter bei, »und das Schloß mit vielen mächtigen Türmen statt des einen stumpfen Klotzes.«

»Kennst du Braunfels?« fragte Anna erstaunt und setzte sich in den Wagen zurück.

»Ja,« entgegnete der andere kurz; sein Gesicht wurde hager, und eine seltsame Verschlossenheit malte sich darin. »Ich war mit Hans Schmid dort.«

»Du?« Voller Verwunderung betrachtete sie ihn. »Und hast mir niemalen davon erzählt? Und weißt am End gar um jenen Auftrag, den der Junker mir verheißen und nun seiner plötzlichen Reis' wegen nicht hat bringen können?«

»Wohl,« entgegnete Schlatter düster, »aber in zweien Tagen kommt er zurück, dann mag er dir selber berichten.«

»Lieber möcht' ich's von dir hören.« Eine plötzliche Unruhe und ein Befremden hatte Anna erfaßt beim Gedanken, daß er ihr etwas verschweigen konnte, und sie drang in ihn mit beweglichen Worten, bis er schließlich erzählte: In Braunfels hätten sie bei den gräflichen Herrschaften auch die Marquise getroffen, die, seit geraumer Zeit aus Italien zurück, sich eben anschickte, in die Heimat zu reisen, dieweil ihr solches auf Fürsprache einer hochmögenden Verwandtin und gegen Zusage eines völlig zurückgezogenen, unauffälligen und schier verborgenen Lebens vom großen König zugestanden worden. Da sie nun aber solche Zurückgezogenheit von der Gesellschaft nicht hindern werde, ihren Neigungen zu leben und sie vielmehr beabsichtige, all ihre Zeit denen schönen Künsten und solchen Menschen, die darin exzellieren, zu widmen, habe sie den Wollishofer beschworen, nicht eher abzulassen, als bis er Anna bestimmt hätte, zu ihr nach Paris zu kommen, allwo in höherm Grad denn in Italien die Malerei einen unerhörten Aufschwung zu nehmen im Begriff stehe.

Stockend und mit vielfacher Unterbrechung kam dieser Bericht heraus, und Anna lauschte mit stockendem Atem. Einen Moment war ihr schier schwindlig. Sie mußte denken: Diese Nachricht, wann der Junker damals gesprochen hätte, der Himmel, hätt' sie gemeint, war' zu ihr herabgestiegen, und jetzt: »Was meinst du dazu?« sagte sie zögernd.

»Ich?« Der andere warf den Kopf zurück, seine Augen wurden schwarz, und die Hände ballten sich: »Ich, wann ich mir dich dort denken müßt', in der üppigen Stadt und mit all dem Künstlervolk, und ich denken müßt, wie du aufgehst in deiner Malerei und daß sie all deine Gedanken fressen würd' und dein Herz und all's – verrückt werden müßt' ich, oder – eine Kugel durch den Kopf!«

Anna sah ihn groß an: War das nicht schön, die sprühenden Augen und die heißen Wangen, um sie, alles um sie. »Ich bleibe,« sagte sie lächelnd, »und warte auf dich!« Und während er sie in seine Arme schloß, voll Dankbarkeit und voller Jubel, kam ihr zu Sinn, daß sie schon einmal dieses Wort gesprochen: »Ich bleibe!« und daß es ihr damals schier das Herz zerrissen hatte, heute aber ging es ganz leicht. War es nicht schön, dem Liebsten ein Opfer zu bringen und ihm die heißen Wünsche langer Jahre zu Füßen zu legen wie Blumen, die sterbend die süßesten Düste geben? Und so war nun alles anders geworden. Leicht das Schwere, das Gewöhnliche besonders, das Kleine groß, und was flächenhaft gewesen und dünn, das hatte nun die Tiefe bekommen.

Eng verbunden saßen sie nebeneinander und blickten in den leuchtenden Tag hinaus. Die erste schwere Probe hatte ihre Liebe bestanden. Nun war sie nimmer so jung, und die Porte hatten sie wohl durchschritten. Schlatters Augen schimmerten. Er war wie befreit von einer Angst, und mehr als einmal erklang sein frohes Jungenlachen, während er voller Zuversicht an der Zukunft baute: Übers Jahr, wer weiß, da fuhren sie vielleicht wieder so zusammen durchs Land, aber nicht dem Abschied entgegen. Oh, der erste Winter, da man sich ganz gehörte, der Winter mit den stillen Stuben und den langen Abenden, wann im Kamin das Feuer sang und das Lämpchen der Nacht entgegenstarb und man lachte: »Stirb nur, wir brauchen dich nicht, wir fürchten keine Dunkelheit nicht; denn für uns ist nun der ewige Tag angebrochen, und uns geht die Sonne niemalen unter!«

Anna lauschte den leisen Worten, die wie eine ungewohnte Musik ihr betörend ans Herz gingen. Als sie aber wieder einmal zum Fenster hinausblickte, Regensberg zu, da waren Städtchen und Burg lange versunken in der waldreichen Weite.

»Wie schade,« seufzte sie enttäuscht, »nun ist es verschwunden, und ich hab's nimmer gesehen!« Und es kam wie eine Traurigkeit über sie: eine Tür war zugefallen, etwas Herrliches war vorüber und würde solchergestalt nimmer wiederkehren.


 << zurück weiter >>