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II. Kameraden

An einem der freien Nachmittage, die Herr Werner ab und zu seinen Schülern gewährte, saß Anna allein in ihrer Turmkammer. Die andern waren alle ausgeflogen, zu Bekannten vor der Stadt oder irgendwo in die Wälder. Es war köstlich in der dämmerigen Einsamkeit des Stübchens, in das die halbgeschlossenen Läden gerade soviel Licht einließen, als man benötigte, um schwarze Buchstaben vom weißen Papier unterscheiden zu können. Und köstlich die große Stille rings, in die nur das kühle ferne Lied der Aare hereinklang und das leise Knistern der mächtigen Feder, die Annas Hand in schlanken Zügen über einen großen Papierbogen führte. Hier und da legte sie den Kiel behutsam auf einen Federwisch, um das eben Geschriebene nochmals zu überlesen, und dann wurde es so still, daß man meinte, das Verrieseln der letzten Rosen zu hören, die vom Garten her ihren müden Atem heraussandten, oder das zierliche Huschen der Eidechschen, so die Julisonne auf das Mäuerchen herausgelockt hatte.

Als Anna mit dem umfänglichen Schreiben zu Ende war, entnahm sie einer kleinen Schatulle einen Stoß Briefe, die mit grüner Seidenschnur kreuzweise sorgfältig zusammengebunden waren. Einen Augenblick betrachtete sie zärtlich das kleine Bündel. Es waren die Briefe, die ihr die vierzehn Monate ihrer zurückgelegten Berner Zeit eingetragen hatten. Sie kannte sie alle auswendig. Die meisten davon trugen des Vaters strenge und klare Schriftzüge, seine knappen Berichte, diskreten Ermahnungen und kargen Lobesworte, die jedoch, wie sein spärliches Lächeln, einen ins Innerste hinein erwärmten, und hier und da, meist nur als Nachschrift zu des Vaters Brief, die zarte, etwas unsichere Hand der Mutter, die kleinen, von mehr Angst denn Zuversicht getragenen Wünsche, die doch so liebevoll waren, daß man sich zusammennehmen mußte, um nicht zu weinen darüber aus lauter Liebe und Rührung und einem eigenen zitternden Gefühl, das man nicht erklären konnte und das einen zärtlich machte und still und ein wenig traurig. Einige davon aber trugen Rudolfs, des älteren Bruders, lebhafte und krause Schrift; die waren die umfänglichsten unter allen und vielleicht die liebsten, denn Anna konnte nicht ohne Herzklopfen an sie denken. Darin stand, was sie am meisten zu wissen verlangte, von der Geschwister Leben und Treiben, von ihren Wünschen und Plänen, von des kleinen Heinrich sonderbaren Einfällen, von Lisabeths stillem und sinnreichem Wirken und dann von seinen, des Bruders eigenen Schmerzen und Freuden, den vielerlei inneren Kämpfen, solche dem jungen Theologen nicht erspart blieben, und den kühnen jubelnden Hoffnungen, die er auf seine und Annas Zukunft setzte. Alles das wußte der im Leben nicht Wortreiche in seinen Briefen mit Herzlichkeit und Farbe hinzuschreiben, daß man es sehen und spüren konnte. Auch von Lisabeths seiner Hand waren ein paar Worte da, immer voller Zärtlichkeit und voll selbstlosen Glückes über der älteren Schwester Erfolge. Von Maria nur ein einziger karger Zettel mit einem Neujahrswunsch; der war seltsam steif und nüchtern, und man meinte, etwas Müdes, Ersticktes daraus zu hören.

Anna löste die Schnur und entnahm dem Bündel den obersten, zuletzt eingetroffenen Brief ihres Vaters und las ihn sorgsam durch, um sich zu überzeugen, daß sie keine seiner Fragen unbeantwortet gelassen hatte. Befriedigt legte sie ihn zurück und nahm den eigenen Brief noch einmal vor. Ja, es stimmte, keinen der wichtigen Punkte hatte sie übergangen. Da stand alles, was er zu wissen verlangte: der genaue Bericht über den Fortgang ihrer Arbeit, der Malerei wie der andern Studien, das Verzeichnis der zuletzt gelesenen Bücher, die kleine Abrechnung über die Auslagen des letzten Monats, die lückenlose Reihe von Aufträgen und Grüßen an unterschiedliche Verwandte und Bekannte und über alles hinaus die Nachricht von einem ersten wichtigen Auftrag, den der hochgelehrte Herr Andreas Morell ihr gegeben in der Form von Kopien nach antikischen Münzen und Gemmen, an deren Ausführung sie morgen schon gehen würde. Schließlich noch ein paar Mitteilungen, die dem Vater nicht gleichgültig sein mochten: daß Herr Werner sein über die Maßen schönes Gemälde, Adam und Eva im Paradeis, worin das Gesicht der Eva ihrer Freundin Sibylla nachgebildet sei, dem berühmten Chirurgo Bauernkönig abgetreten habe, daß in der Stadt viel Geschrei und Aufregung von wegen der französischen Flüchtlinge sei, weil man hoffe, etliche Hundert nach Irland oder sonstwohin verschicken zu können, ansonst eine Teurung und Hungersnot prophezeit werde, und daß man unterschiedenen Exulantinnen, die sich durch ausfallende Trachten hervorgetan, auf dem Spaziergang bei der großen Kirche, allwo man sich an schönen Abenden zu ergehen pflege, öffentlich und vor allem Volk den übertriebenen, mit großen Spitzen, Bändern und heraushangenden Fontanges geschmückten Kopfputz abgenommen habe. Wozu Anna die altkluge Bemerkung gefügt, daß es sich wenig schicke, durch übertriebene Kleiderhoffart der Ehrbarkeit Ärgernis zu geben, wenn doch man um des Glaubens willen von einer hohen Obrigkeit unterstützt werde.

Ja, es war alles da, und doch stimmte es nicht ganz. Anna sah den Bruder mit neugierigen Augen den Brief durchforschen und ihn enttäuscht wieder weglegen. Es führte durch dieses wohlerwogene Schreiben kein Weg zum Herzen der Geschwister, vielmehr war er wie eine Mauer, die sich glatt und kalt zwischen sie hineinstellte. Das durfte nicht sein. Anna griff nach einem zweiten Bogen und ließ die Feder weniger bedachtsam als vorher darüber hinspringen. In einem Zuge überschrieb sie die großen Seiten, und als sie zu Ende war und den Brief überlas, da nahm er sich neben dem andern aus wie eine lustige Wildnis neben einem wohlgepflegten Garten, so bunt und fröhlich kollerte es durcheinander von Fragen und Erzählungen und kleinen Neckereien und Herzlichkeiten. Erfreut legte sie die engbeschriebenen Blätter zusammen, vierfach, sodaß sie sich in den andern Brief leicht hineinschieben ließen, und adressierte mit fester Hand: »An meine lieben Geschwister Maria, Rudolf, Elisabeth und Heinrich der Waseren«; denn sie dachte sich, der verheirateten Schwester werde der elterliche Brief wohl genügen. Dann faltete sie auch diesen sorgfältig, gab ihm seine lange und umständliche Adresse und setzte endlich zwei große dunkelblaue Siegel darauf.

Wohlgefällig betrachtete sie den Stempel, der sich scharf dem weichen Wachs einprägte. Sie hatte dieses Wappen immer geliebt wie etwas Persönliches, und kein anderes war ihr je so vielsagend und schön vorgekommen. Man konnte lange darüber nachdenken, und man fand die ganze Welt darin. Vor allem war da der schöne blaue Grund mit dem goldenen Ruder und Stachel; da mußte man an den lieben blauen See daheim denken, wie er weithin in die dunstigen Berge verrinnt, und an das lustige Treiben der Seebuben, wann die Segelschiffe mit gelben und weißen Flügeln dahinschieden und die Nauen mit purpurnen Verdecken mitten in einer güldenen Sonnenbahn unter dem Grendeltor hervortreiben und flinke Ruder kleine glänzende Wellen aufplätschern lassen. Und da waren die vier klaren Sterne so leuchtend im Blau, daß man an eine Sommernacht denken mußte, wann der Himmel tief ist und durchsichtig und die Sterne ganz still und ohne Gefunkel darin stehen und man meint, durch ebensoviele Fensterlein in den ewigen Glanz hineinzublicken. Aber wann sie die beiden Hirschgeweihe betrachtete, die der Besitz der Herrschaft Lufingen dem Waserwappen eingetragen, dann mußte sie immer an den tiefen Wald von Rüti denken, wann sie den Vater aus seinen Forstgängen begleitete, oft bis ins ängstliche Dickicht hinein, wo es nach Moos und toten Blättern roch. Dann geschah es wohl, daß ihre leisen Schritte plötzlich ein Tier aufjagten, sodaß es mit fliegenden Schenkeln durch die Büsche brach und man hier und da einen schlanken Leib oder köstlich Geweih zwischen den Stämmen aufleuchten sah. Das kleine Kleeblatt zu unterst am Wappen endlich erinnerte an das weite herrliche Feld, das sich smaragden über den Talgrund ausbreitete, dort, wo der Mühlbach in die Jona fließt. Im Mai war es immer übersät mit den lustigen Kugelchen seiner weißen und roten Blüten, und der süße Honigduft rief von weither die Hummeln, daß die ganze Luft von vergnügtem Summen erfüllt war. Dort hatte sie auch den Vierklee finden gelernt, den sie seither auf allen Wegen entdeckte, wo nur ein Kleestäudelein hingelangte, und die einen prophezeiten ihr ein glückhaftes Leben davon, die andern aber einen frühen Tod.

Anna strich mit liebkosender Hand über das blaue Siegel. Mit welchen Gefühlen sie es wohl erbrachen daheim? Ob sie sich darüber freuten und ob die Geschwister lachen konnten, so recht von Herzen lachen über ihren bunten Brief? Ach, den andern Freude zu machen und sie zum Lachen zu bringen, das gehörte ja vielleicht zum Schönsten im Leben. Das hatte sie früher nicht so recht gewußt. Das hatte sie erst hier gelernt, in diesem Haus, das so froh an der Sonne stand und das den ganzen Tag von Sibyllas trillernder Stimme erklang, von Frau Werners herzlichem Lachen, von Giulios Neckereien und des Meisters gutgelaunten Witzen, in diesem Haus, wo die Tage von frischer Arbeit und die Abende von fröhlichem Gespräch und Musik erfüllt waren.

Daheim war das so anders. Vielleicht kam es von des Vaters strenger und knapper Art, vielleicht von der Mutter ängstlichem und schwarzseherischem Wesen, vielleicht auch von dem Hause mit den steilen dunkeln Treppen und den großen ernsthaften Stuben, wo die schwarzgrundigen Bildnisse ihrer Voreltern hingen – Zwingli mit dem scharfen überbeißenden Kiefer und seine Tochter, ernst und streng, wie aus Holz geschnitzt, Josias Simmler mit den dringlichen Forscheraugen und dann der Waseren Reihe: Bürgermeister, Professor, Antistes und Amtmann, alle mit den erstaunten, ungleich geschwungenen Augenbrauen und feierlichen Bärten – diese Stuben, die so wenig Sonne tranken und die mit ihrem dunkeln geschnitzten Hausrat fast andächtig gewesen wären, wann nicht ein immerwährender Lärm von der stark belebten engen Gasse her jegliche Stille zerrissen hätte. In Rüti war es doch noch anders gewesen, frohmütiger und heller als in dem Stadthaus, das wohl nicht umsonst den fröstelnden Namen »zum grauen Mann« trug.

Aber vielleicht lag es auch an ihnen selbst, vielleicht hatten sie eine Art, die nicht so recht zum Frohsinn taugte. Sie dachte an Marias seltsames, wie von einer verhaltenen Glut durchströmtes Wesen. An des Bruders tiefsinnige Art, die immer besondern Geheimnissen nachzuhängen schien, an Lisabeths weißes, wie von innen erleuchtetes Antlitz mit den großen blauen, ein wenig bangen Augen der Mutter. Und an Heinrichs zartes Kindergesicht mit den blaudurchäderten Schläfen, dem ernsthaften, dunkel unterstrichenen Blick und dem blassen rötlichen Haar, das sich anfühlte wie Seide und nach reifem Korn duftete. Hatten sie nicht alle etwas an sich von jenen zartfarbigen Nachtfaltern mit den weichen Flügeln und großen Augen, solche die Sonne scheuten und sich nur abends hervorwagten, wann die Linden über der Limmat der Nacht entgegendufteten? Nur Esther war anders; die hatte ein kräftiges und taghelles Wesen und hatte sich damit frühzeitig in eine glückliche Ehe gesetzt, wo sie der Sonne nicht ermangelte.

Von diesem Wesen hatte auch sie ein Teil; das fühlte sie erst, seitdem sie in diesem jungen und fröhlichen Hause lebte. Oh, sie wollte es groß ziehen und soviel Sonne in sich aufsaugen, daß sie dereinst auch ihren Geschwistern das Leben fröhlicher und heller machen konnte!

Anna sprang auf, reckte die Arme, daß die feinen Gelenke krachten, und stieß den Fensterladen zurück, daß ihr ein breiter Lichtstrahl in die geblendeten Augen fiel, und ein paar Fliegen, die bisher verschlafen an der Wand gehangen, durchirrten mit überraschtem Gesumm die plötzlich erhellte Kammer.

Die Tür flog auf. Im festlich hellblauen Kleide mit frischen Wangen und glücklichen Augen stand Sibylla im Zimmer. Hinter ihr tönte Giulios Lachen und erschien Christophs heißes, von der Sonne gerötetes Gesicht.

»Anna, Nonne, Jungfer Tugendreich,« rief Sibylla übermütig, »was denkst, wann wir dich zu einer weltlichen Lust versuchen wollen? Schnell, schnell, komm herunter und nimm dein Hütchen mit; gleich nach dem Essen gehen wir all auf den Spaziergang zur Plattform hinüber. Und mit mußt du!«

»Gewiß, ich komme!« antwortete Anna fröhlich. Nach der herrlichen Stille dieses Nachmittags freute sie sich auf den bunten Spaziergang. Sie ordnete rasch ihre Kleider, nahm ihren Hut und folgte den andern, die laut die Treppen hinabstoben gleich ausgelassenen Kindern.

*

»Nehmt Euch in acht, Anna, Anna Patricia Tigurina, daß die heilige Obrigkeit nicht Euern Kopfputz wegen ärgerniserregender Exagerationen confisciret!« Giulio rief diese Worte mit halb unterdrücktem Lachen, während er neben Sibylla und Christoph hinter Herrn Werner und Anna die Junkerngasse hinausschritt.

»Es würde mir leid tun um das kostbare Stück,« erwiderte Anna mit verstelltem Ernst. Sie wußte, wie sehr ihr schwarzes Zürcher Hütchen seiner Einfachheit wegen den verwöhnten Italiener zum Spott reizte.

»Es steht Euch übrigens fürtrefflich, das steife Monstrümchen,« fuhr er fort, »und gibt Eurem Haar und Euern Augen einen solchen Vorsprung, daß ich fürchte, die Hochedeln werden sich am Ende an solchen als an der gefährlichsten Waffe des dulce animal venenosum vergreifen.«

»Das ist abscheulich!« rief Anna und pflanzte sich mit scherzhaftem Zorn vor Giulio hin. »Das dulce sowohl wie das venenosum

»So laßt mir,« erwiderte dieser lachend, »das dulce und gebt das andere den Obrigkeitlichen!« Und indem er ein feierliches Gesicht schnitt und die weißen Hände gleich einer beengenden Ratsherrnkrause um den schlanken Hals legte, deklamierte er mit ehrfurchtsdumpfer Stimme und fließendem Accelerando: »Den hochgeachten, wohledlen, gestrengen, frommen, festen, fürsichtigen, wysen, gnedigen, hochehrenden –« Aber Herr Werner schnitt ihm mit einem »Schindluder!« sotto voce das Wort ab und mit einem raschen Blick nach der andern Laube hinüber, durch die eben zwei Ratsherren in lebhaftem Gespräch schritten. Giulio verstummte, und die kleine Gesellschaft schritt in der alten Ordnung und mit einem versteckten Lachen, das auch Herrn Werner vernehmlich um die Nasenflügel tanzte, der Münsterterrasse zu, von wo ihnen ein großes und lebhaftes Summen menschlicher Stimmen entgegendrang.

Der westliche Himmel rüstete sich eben mit scharf gelbem Glanze zum Sonnenuntergang, und ein lockeres Abendwindchen brachte von den sechzigjährigen Linden, die in zwei stattlichen Reihen die Plattform durchzogen, einen süßen und träumerischen Duft mit sich.

»Ah,« rief Herr Werner erfreut beim Anblick der festlichen Menge, die zwischen den Baumreihen hin- und herwogte, »da sieht man ja wieder einmal tout Berne zusammen!« Und er grüßte mit Kavaliersallüren nach links und rechts; dann aber eilte er fröhlichen Schrittes auf einen langen Herrn zu, der ihm freundschaftlich die Hände entgegenstreckte.

»Voyons, voyons« rief dieser entzückt, »die ganze liebe Malergilde!« Er drückte Werner die Hand, verbeugte sich mit einem Anflug von Galanterie, die den schlanken Vierziger wohl kleidete, vor Anna und nickte dann vertraulich zu den drei andern hinüber, eine intimere Begrüßung seinem jungen Sohne überlassend, der sich auch alsobald linkisch und strahlend an Sibyllas Seite drängte. Dieser hatte des Vaters lange Statur, aber dabei etwas Weiches und Weißliches, wie so ein Wurm, der aus einer Birne kommt. Während nun das Jungvolk, von allen Seiten angesprochen, nach dem Mittelgang zwischen den Linden strebte, wo vornehmlich die elegante Jugend sich vergnügte, wurde Anna von den beiden Herren in den ersten Weg neben dem Münster mitgenommen, allwo zumeist die ernsten und vornehmen Leute, Geistliche und Staatspersonen, sich mit viel Würde ergingen.

Etwas verwirrt sah sie sich in der ungewohnten Umgebung um. Sie kam sich wie verpflanzt vor zwischen diesen dunkeln behäbigen Gestalten mit den mächtigen Mühlsteinkragen, die bisweilen die Köpfe vom Körper loszutrennen und wie aus einem großen Teller darzubieten schienen, zwischen den blitzenden Degen und würdevollen Gebärden rings, und ihre leichten Füße fügten sich ungern dem strengen Takt der feierlich gehobenen Schnallenschuhe, und wann hier und da vom Spaziergang der Jungen ein fröhliches Lachen herübersickerte, gab es ihr zuerst allemal einen kleinen Stich, und ihre Augen gingen unwillkürlich dorthin, wo die Linden ihren stärksten Duft zusammendrängten und wo die Abendsonne die hellsten Farben aufleuchten ließ. Dann aber nahmen die lebhaften Gespräche der beiden Herren ihre Gedanken gewaltsam mit sich fort, und besonders war es ihr Begleiter zur Linken, Andreas Morell, der ihre Vorstellungen aufs köstlichste zu leiten wußte. Er erzählte von seinen antiken Münzschätzen, die er anderntags Anna zu eröffnen gedachte, und dabei kam ein solcher Zauber in seine Worte und ein solcher Glanz verbreitete sich auf dem frischen Gesicht, das der gestreckte Hals aus dem reichgestickten Kragen wie einen langstieligen Sommerapfel heraushob, daß man sich unter griechischen Münzen etwas ganz Wundervolles und unvergleichlich Herrliches vorstellen mußte.

Anna lauschte mit gehaltenem Atem, und wie immer, wann sie eine neue Pforte ihrer Erkenntnis sich öffnen sah, bemächtigte sich ihrer eine heiße herzklopfende Freude. Sie war deshalb fast verstimmt, als Giulio unter dem Vorwand, die Jugend verlange ihr Recht und man könne es nicht länger mitansehen, wie das feine Meislein im Rabennest gefangen gehalten werde, sie mit der lachenden Erlaubnis der beiden Herren zu den andern hinüberholte.

Eine bunte Welle nahm sie dort auf und deckte ihre lebhaften Phantasien mit leichten und prickelnden Bildern zu, die ihr immer wieder, wie oft sie sie auch gesehen, neu und fremdartig erschienen. Das waren nicht die sittigen und ein wenig steifvergnügten Spaziergänge, wie man sie daheim in Zürich an solchen warmen Sommerabenden unter dem breiten Blätterdach des Lindenhofes oder in dem lieblichen Winkel zwischen Limmat und Sihl pflegte, wo das Rauschen der beiden ungleichen Flüsse einen so angenehmen kühlen Ton gab. Nein, es war, als ob hier etwas Besonderes in der Luft läge, etwas Schimmerndes und Schillerndes, etwas Verborgenes und Verführerisches, daß man unwillkürlich zu den blühenden Ästen hinaufblickte, ob dort nicht die kleinen Liebeskinder, die Herr Werner so gern auf seinen Gemälden anbrachte, mit Pfeil und Bogen ein gefährliches Spiel trieben. Kam es von den duftenden Gewändern des jungen Frauenzimmers her, das es so gut verstand, die strengsten Kleidermandate mit der vorteilhaftesten Tracht zu verbinden? Oder von den leuchtenden Augen, die so kokette Blicke zu werfen wußten, oder von den anmutigen, französisch verwirkten Reden, die so lustig über die roten Lippen plätscherten, oder waren die Kavaliere schuld daran, die wie Schmetterlinge über einem Blumenbeet durch den farbigen Flor flatterten und es darauf anlegten, den Dämchen mit artigen Reden das Blut in die leicht gepuderten Wangen zu treiben?

Schweigsam ging Anna neben Giulio durch den bunten Schwarm, von einigen begrüßt, von vielen neugierig und unter vielsagendem Geflüster betrachtet. Am oberen Ende der Allee gewahrte sie Sibylla und Christoph, die sich mitten in einem Kreis junger Leute an einem modischen Ballspiele beteiligten, das jüngst einer der Kavaliere von Paris mitgebracht hatte. Eben flog der Ball Sibylla zu, die hochaufgerichtet dastand und ungeachtet des jungen, lebhaft um sie bemühten Morell mit suchenden Augen um sich blickte. Da entdeckte sie die beiden Herankommenden, und mit leuchtendem Blick warf sie Giulio den Ball zu: »Wie kommt Amor geflogen? Clef d'u

»Ungerufen!« entgegnete dieser mit ernstem Gesicht, während die geschmeidige Hand den Ball in den Kreis zurückschickte.

Der junge Morell fing ihn auf und warf ihn mit demütigem und vielsagendem Blick seiner Dame zu: »Unerkannt!« Aber der Ball verfehlte sein Ziel. Sibylla, die mit großen enttäuschten Augen nach Giulio hinüber starrte, hatte weder die Worte ihres Partners noch den Ball wahrgenommen, der nun herrenlos über den Boden hinrollte. Ein allgemeines Gelächter erhob sich über Sibyllas Ungeschicklichkeit, und unter mancherlei Neckerei bestürmte man sie um ein Pfand.

Giulio benutzte die kleine Verwirrung, um mit Anna wiederum im Gedränge unterzutauchen. »Kommt, Sorellina, ich mag nicht mitmachen da.«

Anna sah ihn prüfend an: »Ist Euch nicht wohl, Giulio? Sonst seid Ihr stets einer der ersten bei solchem Tun und einer der lebhaftesten!«

»Sonst – vielleicht – aber heute nicht.« Er sah düster vor sich hin, und zwei scharfe Linien zeichneten sich zwischen die Brauen: »Heute ist das alles so dumm, so unsinnig! Nur mit Euch mag ich sein, Anna. Ach, wann ich meine Sorellina nicht hätte, meine kluge, stille Sorellina! Ihr seid doch wohl das Beste an allem – vielleicht das einzige Gute.« Mit einer raschen Bewegung ergriff er Annas Hand und zog die ruhig Folgende aus dem Mittelgang nach dem vordersten Spazierweg zwischen den Linden und der festen Mauer am Rande der Plattform. Hier war das Gedränge kleiner, aber die Bewegung ungeordneter. Kleine Gruppen von Männern, die in leisen und hitzigen Reden sich ergingen, standen herum, und zwischen ihnen bewegte sich allerlei einfaches Volk, auch die Kammerjungfern und Diener der schönen Welt von drüben, die hier dem Spiel ihrer Herrschaften ein gröberes und unverblümtes Echo gaben.

Anna sah Giulio ernsthaft in die Augen: »Ihr habt keinen Brief von Donna Ersilia erhalten, nicht wahr?«

»Seit zwei Monden nicht,« erwiderte er gepreßt, »und auch von dem Freunde weiß ich nichts mehr, auch Giacomino ist wie verschollen.«

»Und deshalb muß nun die ganze Welt schlecht sein? Und der armen Sibylle werft Ihr so unfreundliche Blicke und unhöfliche Worte zu, bloß weil eine Epistel ihren Weg nicht gefunden und irgendwo verloren gegangen ist aus der weiten Reis'?«

»Verloren? Wer's glaubt! Und ich will auch nicht daran glauben!« rief Giulio voll Ungestüm, » Dio santo, zu denken, daß irgendwo auf der Welt solch ein herrlicher Brief liegt, von Donna Ersilias weißen Händen geschrieben, mit Donna Ersilias süßen und holden Worten. Ach, und Giulio kann ihn nicht finden, und ein anderer liest ihn und faßt die Küsse auf, die von Donna Ersilias roten Lippen zu Giulio hinüberwandern sollten... O Sorellina, zum Wahnsinnigwerden wäre das! Nein, nein, der Brief ist nicht verloren, darf nicht verloren sein, hört Ihr, Sorellina, er darf nicht verloren sein!« »Dann bloß verspätet,« gab Anna lächelnd zurück. »Der Bote hat ein Bein gebrochen irgendwo auf dem unwirtlichen Wege, und nun müssen Donna Ersilias Küsse so lange liegen bleiben, bis die alten Knochen zusammengewachsen sind. Natürlich, so ist's gegangen; aber nun ist er doch wieder gesund, und morgen wird er kommen, ich spür' es, gewiß, morgen werdet Ihr einen Brief von Donna Ersilias weißen Händen halten, aber die Küsse – ich fürchte, die werden derweil um ein kleines trocken geworden sein.«

Nun lachte auch Giulio. »Morgen, glaubt Ihr wirklich? Ach, dann will auch ich es glauben. Ihr habt ja immer recht, und oft schon habt Ihr Dinge vorausgewußt; so was gibt es doch bei feinen jungen Heiligen, wie Ihr seid, nicht wahr? Ja, nun glaube ich es ganz gewiß, morgen!« Voll plötzlichen Übermuts warf er sich über die breite Mauer zurück, sodaß seine Locken ins Leere hingen.

»Wenn Ihr das tut, Giulio, dann lauf' ich gleich zu den andern hinüber,« rief Anna, der bei dem Anblick schwindlig wurde.

Rasch sprang der andere auf: »Hat die Sorellina ein wenig Angst gehabt um mich?«

»Das war nicht das Benehmen eines Cavaliers,« antwortete Anna zürnend, »das war einfach kindisch; schaut einmal da hinunter!«

Nun beugten sich beide über die gewaltige Mauer, die sich jäh und grauenhaft in die Tiefe verlor, und blickten nach dem Stadtteil hinunter, der dort spielzeughaft winzig mit vielgestaltigen Dächern und abenteuerlichen Gäßchen zwischen der breiten Aare und dem unermeßlichen Gestrebe der Riesenmauer eingeklemmt lag.

»Nun, wenn auch,« entgegnete Giulio leichtfertig und mit einem heimlichen Blick nach Anna, »was wär weiter dabei, wenn ich da hinuntergeflogen?«

»O doch,« gab diese mit absichtlicher Trockenheit zurück; denn sie fühlte, daß Giulio ein liebes Wort von ihr wollte, und darauf ließ sie sich nicht ein, »o doch; denn wer weiß, was Ihr mit Eures Körpers Last dort unten angerichtet hättet, am End gar so ein armes Kätzlein erschlagen, das eben unschuldig aus einem der Dächer seinen Abendspaziergang machte!«

Mit einer entschiedenen Bewegung, die dem Gespräch ein Ende machte, richtete sie sich auf und blickte nach den Alpen hinüber. Wie das heute wieder strahlte und leuchtete, beinahe wie an jenem ersten Abend, wo ihr das Herz fast weh getan ob der ungekannten Pracht. Nun war ihr das alles schon vertraut und doch immer noch so neu. An das ganz Schöne gewöhnte man sich nie, es war immer wieder ein neues Wunder.

So etwas sagte sie Giulio, der langsam ihren Blicken gefolgt war. Aber er schüttelte leise den Kopf, und nun war auch wieder das Traurige in seinen Augen. »Ich weiß eine ganz andere Schönheit, Sorellina. Ach, unsere Berge daheim, so weich in ihren Linien wie ein wehmütiges Lied, das in den Abend verklingt, am blauen Himmel hingehaucht. Und dann wieder stolz, so stolz mit den weißen Marmorstädten auf den feingeschwungenen Höhen und so vornehm und so sehnsüchtig. Immer muß der Blick mit ihnen wandern, weit, weit ab und nirgends ein Ziel. Aber hier diese rauhen Wände, starr und schroff und kalt, Mauern, nichts als Mauern sind es, die sich hinstellen und die armen Blicke abgraben: Wo ist nun dein Italien? Ja, als ich sie zum ersten Mal sah, da habe ich auch anders darüber gedacht. In meiner Heimat, in Bologna, von dem Berg aus, der das Bild der Jungfrau von des heiligen Lukas Hand trägt, hab' ich sie zuerst geschaut. Es war ein wundervoller Tag, sodaß man ganz Lombardien überblicken konnte. Zu Füßen mein Bologna, rosenrot mit den unwahrscheinlichen Türmen, und dann weithin die Ebene, ah, so groß, so unendlich wie die Welt, und ganz zu äußerst, am Himmelsrand etwas Hohes, Schimmerndes, Unfaßliches, als ob der Thron Gottes dort mit güldenen Füßen die Erde berührte. Sie sagten mir, es seien die Alpen. Und hab' ich mir was anderes vorgestellt denn diese schroffen kalten Wände, die einem so schmerzlich die Welt verriegeln.«

Giulio sprach Italienisch, wie immer, wenn er mit Anna allein war und wenn er von seiner Heimat redete. Erst mit raschen und leidenschaftlichen Worten, die dann immer weicher und wehmütiger wurden und zuletzt schmerzlich verklangen wie ein schwermütiges Lied. Es waren mehr Selbstgespräche, die keine Antworten und keine Zustimmung erwarteten. Anna wußte es. Ganz still lehnte sie sich an den kühlen Pfeiler des kleinen Eckpavillons, der aus dieser Seite die Mauer flankierte, und hörte ihn: zu. Sie liebte es so sehr, dieser sonderbaren Musik zu lauschen, die ihr die herrlichsten Bilder herausführte. Italien war ihr schon lange kein bloßes Traumland mehr; fast wie eine zweite Heimat erschien es ihr, die sie irgendwann, in ganz fernen Feiten geschaut und geliebt hatte. So oft hatte Giulio davon erzählt, und so lebendig, und wie sie sich darnach sehnte, wie man sich nur nach einer so früh gekannten und geliebten Heimat sehnen konnte. Aber heute war noch etwas Besonderes in seiner Stimme, so etwas Verhaltenes, ein seltsames Zittern. Wie da alle Farben einen Schmelz bekämest und alle Fernen einen Duft! Es war, als ob Giulios Reden einen Zauberkreis um sie zögen. Alles Nahe wurde fern gerückt. Die Pracht der roten Berge und das frohe Treiben um sie, wo war es hin? Und die fernen Bilder kamen heran, greifbar und wundersam ergreifend, und nur der Duft der Linden mischte sich damit süß und bedrängend ...

»Wer könnte glücklich sein, der jene Stätten nicht gesehen, und wer, der sie nicht mehr sehen kann? Und was Schönheit ist, wer wüßte es? Die kristallenen Berge in der klaren, klaren Luft und Marmorgötter unter dunkeln Lorbeerhecken, und die tönenden Nächte, wenn tausend rubinrote Rosen blühen und der Duft der Orangen schwer über die feuchte Erde zieht und die Oliven im Mondschein zittern, so weiß – so weiß ... Und dann die Städte: die rosengoldene Stadt der Madonna, stolz und weh in ihrer abendlichen Schönheit, und das blühende Florenz, so hell und glänzend mit dem Duft des paradiesischen Flors. Und das tote Ravenna, selbst wie der Tod dort unten – still, wehmütig und verschämt und doch über alles Sagen schön. Ach, und die gleißende, unergründlich süße Königin des Meeres mit ihrem Zauberkleid aus Gold und Spitzen und der dunkeln, feuchten, lockenden Stimme – und all die andern – so hoch – so stolz und schön – schön ...«

Anna lauschte mit gehaltenem Atem, und Giulio erzählte weiter von der Kunst: »Herr Werner, gewiß, er ist ein tüchtiger Mann und ehrenwerter Künstler. Aber so das ganz Große, das Bezaubernde? Ach, Sorellina, Miniaturen, Silberpinselchen und Elfenbeintäfelchen, wo wollen da die großen Gedanken Platz haben und die Gefühle, für die eine Welt zu eng? Den Tizian solltet Ihr sehen und seine Glut und Kraft, und Michelangelos wütende Herrlichkeit ... Ach, Sorellina, Miniaturen, so brav, so glatt, so aufgeputzt! Und den großen Correggio! Was sind Herrn Werners Copien mit den schweren und dünnen Farben, die er aus Frankfurt und Paris mitgebracht? Den Correggio solltet Ihr sehen. Seine Danae, grün und golden wie ein Marmorberg im letzten Abendlicht, kühl und doch voll Glut. Euer Bildnis möchte ich wohl in solche Töne bringen. Wann es mir nur gelingt! Ihr habt so etwas Goldenes an Euch, aber nicht Tizians heißes schwüles Gold, sondern des Correggio kühle Glut. So möchte ich Euch malen, so wie jetzt, wo der erste zage Mond über Euer schwer Goldhaar geht. Ach, Sorellina, wie jetzt, mit der Glut in den dunkeln Augen, und der Mund schmal und kühl und doch rot – so rot! Schöne, kalte, glühende Sorellina ...«

Anna raffte sich aus, wie erwacht aus einem Traum. Nun sprach er von ihr. Nun war er nicht mehr der Zauberer mit dem güldenen Wunderstab; nun war er wieder der Kavalier, nicht besser als die dort drüben. Immer die gleiche kleine Enttäuschung am Schluß. Sie blickte um sich. Wie hatte sich alles verändert! Die Reihen der Menschen waren wohl dünner geworden, aber die tiefen Schatten ballten alles zu dunkeln Massen zusammen. Nur wo der Mond hinzündete, noch etwas zart, sah man immer noch dasselbe bewegte Leben, aber blasser, geheimer und flüsternder. Und die Lindenblüten ganz hell und so duftend ...

Aus dem Pavillon neben Anna wurde Geflüster vernehmbar im merkwürdigen Zweitakt einer schier ängstlichen Frauenstimme und eines gutmütigen Brummbasses. Plötzlich wurde es still – und dann ein kleiner Schrei, ganz hoch und halb unterdrückt – und dann ein doppelstimmiges Gekicher ...

Anna fuhr zusammen. »Wir müssen heim, Giulio,« sagte sie streng und unter einem Schauder.

Aber der andere lachte: »So klug ist die Sorellina, so reif, weit über alle andern hinaus und in manchem noch solch ein Kind! Glaubt Ihr, daß dies hier viel verschieden von dem, was die Fräulein dort drüben tun? Bälle werfen sie sich zu und meinen doch etwas anderes. Die hier sind doch ehrlich.«

»Pfui, Giulio, wann Ihr so redet, dann mögt Ihr mich nicht länger Sorellina nennen. Wie könnt Ihr, wann Ihr wißt, daß Sibylla dabei?«

Er lächelte ein wenig spöttisch, daß die weißen Zähne unangenehm zwischen den Lippen hervorglänzten: »Sibylla – eine kleine rosenrote Nelke, die ihren Duft allzu stark und allzu schnell hergibt!«

Anna ballte die schmalen Hände vor Entrüstung; aber sie mußte ihre Verteidigung unterdrücken, denn eben traten aus dem Lindenschatten Sibylla und Christoph zu ihnen herüber.

»Wir haben euch lange gesucht,« sagte das Mädchen hastig und mit einem merkwürdigen Flackern in den großen Augen. »Drüben haben sie uns nicht weggelassen, und nun wart ihr nicht zu finden!«

»Wir wollten eben heimgehen,« entgegnete Anna, die bei Sibyllas Anblick im Gedanken an Giulios unfreundliche Worte leicht errötet war.

»O ja, natürlich, jetzt, wo wir kommen; wir stören euch wohl!«

Betroffen blickte Anna zu ihrer Freundin auf. Was war das für ein seltsamer Ton in Sibyllas sonst so sanfter Stimme? Bitter, fast feindlich. »Nein, Sibylla,« antwortete sie ernst, »ich finde bloß, daß die Stunde vorbei, wo anständige Jungfrauen sich auf diesem Platze ergehen können.«

»Ach, du bist so wohlanständig,« seufzte diese, und während sie mit Anna hinter den voranschreitenden Jünglingen nachging, tönte es fast wie ein unterdrücktes Weinen, als sie leise fortfuhr: »Wann du wüßtest, wie ich euch beneidet habe! Drüben kam ich nicht weg von dem dummen Spiel und den dummen Menschen, und dann zu wissen, daß ihr nun irgendwo zusammen wäret und mit euerm Italienisch eine Mauer um euch zogt, daß ihr ganz allein wart, ganz allein ...« Nun war es wirklich, als ob sie leise vor sich hin weinte. Anna schwieg. Das war ihr alles so peinlich, so unverständlich.

Am Ausgang der Plattform wurden sie durch ein Gedränge aufgehalten. Allerlei Volk hatte sich da um ein zankendes Pärchen versammelt. Es war viel Gekreisch und Gelächter, und nur mit Mühe konnten sich die jungen Leute durch die rasch anwachsende Menge hindurcharbeiten. Aber der Lärm drang ihnen bis zur Haustüre nach und die derben Spässe der Umstehenden.

»Oh, wie gemein das war, da gehe ich nie mehr hin, niemals mehr!« sagte Anna entrüstet, als sie die Haustüre hinter sich schlossen.

Auf dem Flur begegnete ihnen Lukas Stark. Er kam vom Garten her und trug einen großen Strauß weißer Rapunzeln in der Hand, die im fahlen Licht mit ihren gezackten und fasrigen Köpfchen merkwürdig aussahen, wie kleine gespenstige Waldgeister. Und wie sie nach dem Wald rochen, so frisch, so herb! »Ich war im Dählhölzli,« sagte Stark kurz; »Thüring hat mich noch über die Aare gesetzt. Ja,« fügte er spöttisch hinzu, »die Plattformschwärmer können sich das wohl nicht denken, wie es aussieht im Wald, wann die Nacht kommt.« Er schwenkte seinen Strauß wie ein Siegesbanner und ging dann rasch über den Hof nach seinem Zimmer.

Plattformschwärmer. Das Wort hatte Anna getroffen. Hatte er nicht recht, der Spötter? Oh, sie mißgönnte ihm den kühlen reinen Wald; ihr war, als ob er jetzt nicht nur glücklicher wäre als sie, sondern auch besser. Das war ein unerträgliches Gefühl.

Sibylla faßte sie bei der Hand: »Ich komme noch ein wenig zu dir in deine Kammer, Anna, ich muß noch mit dir sein heut abend.«

Als die Mädchen von der dunkeln Treppe her das Turmzimmer betraten, drängte sich ihnen eine große Helle entgegen. Als weiße Lache lag der Mondschein auf dem frischgescheuerten Boden, und die runden Scheibchen des offenen Fensters schimmerten wie große milchige Edelsteine. Mondschein lag über dem braunen Tisch und malte auf Annas weiße Bettdecke den Schatten einer Stabellenlehne mit großem ausgeschnittenem Herz. Der Abendwind hatte von der nahen Plattform den starken Lindenduft herübergeweht, sodaß er nun mit fast bedrückender Süße den kleinen Raum erfüllte.

Sibylla warf sich auf die hölzerne Bank an der Wand: »Ach, Anna, Lindenblust auch hier! Es sollte nicht so riechen dürfen, so heiß und sündhaft, daß man das Fieber davon bekommt. Fühlst du das nicht auch?«

Anna schüttelte den Kopf. Sie saß auf der Fensterbrüstung und blickte nach dem Dählhölzli hinüber, dessen freie Wipfel ein kleiner Wind leise hin- und herschaukelte. »Ich verstehe dich nicht, Sibylla. Lindengeruch, das scheint mir etwas so Kühles und Liebes, wie ein frischer Trank, den der Sommer in den Staub und die Glut des Tages schüttet. Da muß ich immer an Rüti denken, wann wir abends heimkamen vom Feld mit den großen, großen Wagen voll gelber Garben. Wir hatten Kornblumenkränze im Haar und die jungen Äpfel in der Tasche, die ganz frühen, weißen. Dann setzten wir uns vor dem Schlafengehen noch unter die große Linde und sangen den Abendpsalm mit der Mutter. Und von der Klosterkirche läutete das letzte Glöcklein, das mit dem ganz dünnen Ton, wie ein Armseelenstimmchen so zart. Ja, und dann rochen die Linden so stark, und die alte Sarah meinte: »Nehmt's in acht, Kinder, das ist ein gesunder Geruch. Füllt die Nasen noch recht vor dem Schlafengehen, dann habt ihr einen schönen Traum.« Und wir zogen ihn tief ein und träumten nachher die allerschönsten Dinge. Ach nein, Sibylla, so ein frischer, lieber, fast möcht' ich sagen ein frommer Duft ist das!«

»Und der Mondschein,« forschte jene weiter, »findest du auch den fromm und erfrischend?«

»Gewiß,« erwiderte Anna ruhig. »Wann wir den ganzen Tag auf dem Feld gewesen und das Haar heiß war von der Sonne und die Augen brannten von all dem Glast und wann dann der rote Abend vorüber war und plötzlich hinter dem Berg das rundweiß Gesicht herfürkam mit den großen Augen, oh, wie kühl es dann wurde und wie still! Und man fühlte, daß der Mond zu einem gehört und daß er alles sieht, und man wurde so andächtig wie in der Kirche. Oft liefen wir auch nach der Kapelle hinüber, wann der Mond aufging, dieweil es hieß, daß im Mondschein der steinerne Toggenburger Ritter lebendig würde. Das hätte ich gar zu gern gesehen; er dauerte mich so, daß er immer daliegen mußte, ganz steif. Einmal sah ich denn auch, daß er die Augen öffnete, und da bin ich schier erschrocken; sie schauten mich grad an. Der Vater sagte zwar nachher, das sei eine Täuschung gewesen; aber ich kann es nimmer vergessen, wie er mich ansah mit den großen traurigen Augen und dazu so starr dalag.« Sie blickte in den Vollmond hinein, daß ihr Antlitz schimmerte. »So ein wohlgemut lieb Gesicht und so mild, so rein!«

Sibylla sprang auf. »Ach ja, so bist du, fromm, rein und kühl! Und deshalb siehst auch die Welt so kühl und so fromm. Ah, wann ich so klug wär' wie du, dann hätte ich vielleicht auch so ein Herz wie dieses dort« – sie wies nach dem Bett hinüber, wo im schwarzen Schatten das weiße Mondscheinherz der Stabelle lag – »so weiß, so rein, so unberührt. Nun aber ist mein Kopf schwach, und alles, was ich habe, hat sich in mein arm Herz geflüchtet, und so ist es voll und heiß und will zerspringen. Ach, Anna, was soll ich tun mit meinem armen siechen Herzen!«

Sie warf sich mit Ungestüm der jüngeren Freundin an den Hals, die vom Fenster weg zu ihr hingetreten war, und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus.

Steif und unbeholfen stand Anna da. Kein liebes Wort und keine zärtliche Liebkosung fiel ihr ein. Ihr war bang zumute und schamhaft, als ob sie in ein Geheimnis hineinschauen sollte, das nicht für sie war und das Schlimmes barg.

Sibylla ließ sich wieder auf die Bank nieder, enttäuscht und leise zitternd. »Verstehst du mich denn gar nicht, Anna, gar nicht?« Und als diese wiederum den Kopf schüttelte: »O doch, du verstehst mich, du willst nur nicht, du bist zu klug dazu und zu edel; aber ich sah es doch, wie du ihn heute anschautest, fast teilnahmsvoll, als er mir mit schnödem Wort den Rücken wandte, und wie du mit ihm gingst, Hand in Hand, und andächtig seiner Rede lauschtest... O ja, jetzt weiß ich es ganz genau, auch du liebst Giulio, trotz deiner Kunst und allem!«

Anna fuhr auf: »Schäm dich, Sibylla! Ja, ich habe Giulio gern, weil er mir leid tut, und wann ich nicht Rudolf hätte, ich würde vielleicht sagen, gern wie einen Bruder: aber so ist es doch nicht. Wann du aber etwas anderes meinst – für mich oder dich – Sibylla, das wäre ja abscheulich, eine Sünde wär's! Du weißt doch, er hat eine Liebste; für sie hat er das unglückliche Duell getan, um ihretwillen ist er geflohen und ist er gar so unglücklich hier. Das alles weißt du, dieweil du mir's ja erzählt, und nun kannst solches sagen?«

Sie stand aufrecht mitten im Mondlicht, und ihre Augen waren schwarz. Sibylla hatte die Freundin niemals so gesehen. Sie erschrak, und eine große Angst kam sie an. Ach, die büßende Magdalena, da sie dem Herrn die Füße wusch mit ihren Tränen, konnte nicht elender sein in ihrer Zerknirschung. Sie legte den blonden Kopf auf die nackten Arme und stöhnte. Und dann kam eine Lust über sie, die Erniedrigung voll zu machen, grad vor diesen schwarzen strafenden Augen. »O ja, Anna, ich weiß, ich bin schlecht, aber kann ich dafür? Sieh, ich liebe ihn so: ich möchte mich vor ihm hinlegen und sagen: Geh über mich weg, zertritt mich, tu mir weh, es wird mir wohltun, deinen Fuß zu spüren und deines Körpers Last; denn deiner Füße Spur ist mir Heiltum.«

»Sibylla!« Anna ergriff das Mädchen an beiden Schultern und schüttelte sie heftig. »Um Gottes willen, Sibylla, sprich nicht so, sonst kann ich dich nimmer liebhaben. Oh, wie kannst dich so wegwerfen, einen lieben, der einer andern gehört, und gar so lieben – und einen, dem du gleichgültig bist!«

Sibylla fuhr zurück, und als Anna jetzt in ihr Gesicht blickte, bereute sie schier ihre Heftigkeit, so erbarmenswert sah es aus, so blaß mit den weit aufgerissenen erschreckten Augen.

Sie zwang sich, gut mit ihr zu sein und ihr in ruhigen und verständigen Worten zu zeigen, wie sündhaft solche Gefühle seien, und vor allem, wie erniedrigend und beschämend solch unerwiderte Liebe.

Aber Sibylla schüttelte nur leise den Kopf. »Alles, alles ist mir gleich, er soll es nur wissen, daß ich ihn liebe, ja, ich möchte, daß er wüßte, wie ich ihn liebe, mehr denn alle andern auf der Welt, mehr auch als diese Italienerin, die ihn so allein in die Fremde ziehen ließ und ihm so selten berichtet. Ach, wann er es wüßte, dann würde er wohl einen freundlicheren Blick für mich haben, so wie früher, oder liebe Worte, und dann später einmal würde er daran denken: Keine hat mich so sehr geliebt wie sie, und würd' sich vielleicht gar einmal darnach sehnen nach meiner großen, großen Liebe. Mehr will ich nicht, ach, ich bin ja mit so wenig zufrieden!«

Anna antwortete nicht mehr. Sie wandte sich wieder zum Fenster, und während Sibylla mit offenen Augen leise vor sich hin weinte wie ein krankes Kind, blickte sie in die Nacht hinaus. Schwarz und weiß lag die Welt vor ihr; die durchsichtigen Frühlingsschatten waren verschwunden, und unter der Bäume undurchdringlichem Laubdach brütete die schwarze Dunkelheit schwer und beängstigend. Ihr war, als ob auch aus ihr Leben solch dicker Schatten sich gelegt hätte. Etwas Reines lag jetzt beschmutzt. War dieses Mädchen mit den wilden, fremden Gefühlen ihre Sibylla, die frohe, seine Sibylla, die sie so geliebt? Und Giulio, sollte der recht behalten mit dem schlimmen Wort? Sie hätte schreien mögen und toben wie damals, da sie mit häßlichem Mörtel ein Engelsantlitz überschmierten; aber sie blieb ganz still, wie gelähmt. Wo war die furchtbare Macht, die Menschen also verändern und herunterziehen konnte? Liebe, das war ein viel zu schönes Wort dafür. Liebe, die hatte doch ein klares, tiefes Gesicht und eine weiche gütige Hand – aber das hier, das, was Giulio zum Mörder gemacht und Sibyllas reines Herz vergiftete, was war das? Und ein Grauen erfaßte sie vor dem Unbekannten, Schrecklichen.

Da vernahm sie drunten ein leises Knarren, wie von einer Türe. Sie erschrak. Das war Giulio, der sein Zimmer verließ und in den Garten trat. Wann er nur heute nicht singen wollte. Nur heute nicht! Sie spähte hinab. Da sah sie seine dunkle Gestalt auf der kleinen Mauer. Der Mond floß über ihn. Ja, er hielt die Laute im Arm. Sie beugte sich weit hinaus, um sich bemerkbar zu machen und ihn am Spielen zu hindern; aber da sah sie, daß er abgewendet stand, das Gesicht nach der Ferne gerichtet. Und nun klangen schon die ersten zagen Saitentöne zu ihr herauf. Und nun die Stimme, weicher und erschütternder denn je und so traurig, so grenzenlos traurig.

Anna preßte den Kopf an die Fensterbrüstung und schloß die Augen. Sie wagte nicht zu Sibylla hinüberzublicken. Und Giulio sang, leise schleppende Kadenzen, die dann plötzlich am Ende der Strophen mit einem dumpfen Ton abbrachen. Es war wie ein Weinen, wie ein Weinen.

»Wann ich einst tot bin,
Deckt Staub mich Armen,
Führt dich wohl zu mir hin
Ein still Erbarmen?

Sieh, wie der Mond so weiß
Über mein Grab geht,
Denk, wie verlangend heiß
Um dich mein Herz fleht,

Daß ich im kalten Grab
Nach dir mich sehne –
Dringt wohl zu mir herab
Leis eine Träne?

Bringt wo ein weicher Wind
Den Duft von Rosen,
Fühlst du im Nacken lind
Ein heimlich Kosen?

Spürt dann dein Seidenhaar
Zitternde Küsse,
Weiß, daß es immerdar
Mir gehören müsse ...

Und weil ich tot bin,
Im Grab gefangen,
Zieht dich wohl zu mir hin
Ein heiß Verlangen?«

Als Anna sich nach der Kammer zurückwandte, mit heißen trockenen Augen, war die Bank leer, Sibylla hatte das Gemach verlassen.

*

Ein helläugiger Sommermorgen war eben daran, mit zarten Dünsten und viel Sonne die taubefrischte Welt in Blau und Gold zu kleiden, als Anna andern Tags mit raschen Schritten über die Untertorbrücke und am Blutturm vorbei dem Stalden zu ging. Sie trug ein elfenbeinernes Rohr und Kästchen in der Hand, worin sie Pinsel und Farben verwahrte, und nahm mit tiefen Atemzügen und offenen Augen die Frische und Freudigkeit des jungen Tages in sich aus. Ach, sie wollte das Schwere von gestern abend abschütteln, wie das helle Land die nächtlichen Schatten weggewischt hatte. Wäre da nur nicht das Stechende in der Brust, jedesmal, wenn sie an Sibylla dachte! Aber sie wollte jetzt nicht daran denken, wollte nicht.

Der Weg war steil und sonnig, und nur hier und da zeichnete sich der schmale Schatten einer Pappel oder der runde eines Obstbaumes auf den glänzenden Matten oder fiel kühlend über ihren Pfad. Aber dann traten plötzlich die Schatten dichter zusammen und schlossen sich um ein sonderbares Haus, das mit abenteuerlicher Fassade und den Spuren allerlei halbverwaschener Malereien aus einem dunkeln, friedlich gefügten Obstwald hervorschaute. Anna öffnete das Gartentürchen und schritt etwas zögernd über den schmalen Weg, der von hüben und drüben mit hellroten Röslein überhangen war. Bevor sie das Haus erreicht hatte, ging die Türe auf, und Herr Andreas Morell eilte ihr mit frohem Gruß entgegen.

Trotz der ländlichen Umgebung war er auch heute aufs akkurateste gekleidet, mit sorgsam frisierter Allonge und feingesticktem Kragen, und die winzigen Schnallen seiner Schuhe blitzten, wie er über den sonnigen Weg herunterkam. Mit einer allerzierlichsten Reverenz trat er vor Anna hin, ergriff dann aber mit Herzlichkeit ihre freie Hand.

»Liebste Waserin, scharmant, scharmant, daß Ihr zu so früher Stunde schon erscheint! Und wie gefällt Euch nun meine Sommerresidenz?«

Er zog Annas Hand galant durch seinen Arm und ging mit ihr rund um das Haus herum, wo in kleinen Beetchen allerlei bunter und duftender Sommerflor stand und der Blick zwischen Obstbäumen durch nach allen Seiten in die Ferne ging.

»Ach, wie schön, wie herrlich!« rief Anna entzückt. »Und diese Luft!«

»Ja, die Luft besonders,« stimmte Herr Morell bei; »so etwas weiß man zu schätzen, wenn man monatelang den Geruch der Bastille genossen hat. Seither tendiere ich immer ins Freie und habe deshalb die Einladung eines Freundes, die kurzen Sommerwochen in seiner leeren Wohnung hier zuzubringen, umso lieber angenommen, als einem so nah an der Stadtmauer auch die städtischen Bekömmlichkeiten nicht mangeln. Ja, es ist schön heraußen, schön genug, um alle Trübsale zu vergessen.«

Anna sah voller Bewunderung zu dem Manne auf, der die Gunst und ungerechte Verfolgung des großen Königs erfahren, der höchsten Ruhm, schwere Gefangenschaft und bitterste Verluste durchgemacht hatte und der nun da mit frischem Gesicht und jungen Augen neben ihr ging, als ob sein ganzes Leben diesem schönen Sommermorgen geglichen. Und wer hätte dem liebenswürdigen Herrn mit dem fast kindlichen Zug um den Mund seine große Gelehrsame angesehen!

Lächelnd fing Herr Morell Annas bewundernde Blicke auf: »Ja, das kann nun wohl so ein kleines Fräulein nicht eben begreifen, daß einer aus dem Gefängnis kommen und doch noch so leichtfertig sein kann. Aber seht,« fügte er mit seltsamem Leuchten in den Augen bei, »wer in die Welt der Alten hineingeblickt hat, dem können so ein paar Mauern und ein paar Injustices noch lang nicht die Sonne verleiden. Vielleicht lernt meine Schülerin das auch noch begreifen.«

Sie hatten ihren Rundgang vollendet und wollten eben das Haus betreten, als ihnen unter der Türe lang und blaß der junge Morell entgegenkam, sich aber nach einer scheuen und linkischen Begrüßung wieder schleunigst zurückzog.

»Da habt Ihr meinen Herrn Sohn,« lachte Herr Morell, »das rechte Gegenstück zu seinem Vater: vor schönen klugen Jungfrauen und alten Münzen nimmt der Reißaus. Dafür hat die Gottesgelehrtheit es ihm angetan. In Gottes Namen, chacun à son goût. Seinen Schrecken vor den Münzen aber hat er wohl von der Mutter, die hatte auch solchen Widerwillen gegen alles Antikische.«

Drinnen öffnete Herr Morell mit viel Umständlichkeit eine Truhe und entnahm ihr eine Reihe kleiner Kästchen, deren Inhalt er mit spitzen, zarten Fingern und sichtbarer Wonne vor Anna ausbreitete: kleine, unregelmäßig runde, grünschwarze Metallstücke, zwei glänzend gelbe und eine Unmasse weißer Abgüßchen in Gips, sorgfältig zu zweien geordnet. Ziemlich ratlos stand Anna vor dem fragwürdigen Schatze; da fiel ihr eine der Münzen auf mit einem feingezeichneten wilden und schönen Männerkopf. Sie nahm sie in die Hand und entdeckte auf ihrer Rückseite ein allerzartestes Bild, eine nackte sitzende Jünglingsgestalt mit Bogen und Pfeil, und so wundervoll die geschmeidigen Linien des elastischen Körpers.

»Schau einer das feine Näschen!« rief Herr Morell entzückt. »Gerade die feinste habt Ihr herausgegriffen auf den ersten Blick, meine wundervolle Syrierin, meinen Stolz! Und natürlich findet die kleine Muse gleich einen Apoll!« Und dann erzählte er mit bewegten Worten von dieser Münze, vom großen Antiochos, dessen Bild sie trug, der so groß und grausam lebte und so grausam und elend starb, und vom Apoll, der auf dem Mittelpunkt der Erde thront und mit Bogen und Leier, durch Kraft und Schönheit die Erde beherrscht.

Das war der Anfang, und dann ging es weiter von Münze zu Münze. Anna lernte die zarten Dinger mit feinfühligen Fingern anfassen und mit noch feinfühligeren Augen abtasten, lernte die mannigfaltige Sprache dieser Bilder begreifen, und unter Herrn Morells klaren und begeisterten Worten öffnete sich vor ihren Blicken mählich eine neue Welt, unendlich in ihrem Reichtum, schier unbegreiflich in ihrer vieldeutigen Schönheit. Ja, wer es verstand, wie Herr Morell, in diesen unscheinbaren Zeugen zu lesen, das Schicksal großer Könige und ganzer Völker entrollte sich vor ihm und die tiefsten Gedanken großer toter Zeiten, ihre Kunst und ihre Religion.

»Seht,« sagte Herr Morell nicht ohne Rührung, »die berühmten Bildwerke, von denen ein Plinius und Pausanias erzählen, sind lange tot, aber diese kleinsten Werklein einer unbekannten Hand sind zu uns gekommen und sagen uns mehr von den großen Zeiten denn alles andere. So kommt gar oft das Kleine zu Bedeutung, derweil das Große vergeht, und es ist recht, daß in der Kunst nun auch die Miniatur zu ihrem Ruhme gelangt, solche bescheidentlich und ohne prahlende Gebärden, aber fein und aufs köstlichste sich erzeigt.«

Als die resolute Magd zum Essen rief, erschienen Meister und Schülerin mit geröteten Köpfen und leuchtenden Augen, und der junge Sohn, der mit am Tische saß, hatte es nicht schwer, seine Einsilbigkeit zu bewahren, so lebhaft gingen die Reden, Herrn Morells Erzählungen und Annas Fragen über seinen unbeachteten Kopf hinweg.

Aber am Nachmittag holte Anna ihr Elfenbeinrohr herbei. »Jetzo, Herr Morell, möcht' ich etwan versuchen, eine Münze nachzuzeichnen. Gebt mir Eure Syrierin, die mir zuerst in die Augen stach, und etwas Zeit; aber laßt mich derweil allein und kommt – mit Verlaub – nicht eher, als ich Euch rufe, mit nachsichtigem Gemüt und nicht allzu kritisch zurück.« Und während sie zeichnete. mit fiebrigen Händen und doch sicher den feinen Silberstift führend, setzte sich Herr Morell mit einem Buch in den Garten, nicht ohne Ungeduld und nicht ohne ab und zu neugierig durch das niedrige Fenster ins Zimmer zu spähen.

Endlich wurde er hereingerufen. Er betrachtete ernsthaft die feine Zeichnung; dann drückte er Anna die Hand: »Liebste Waserin, das ist ja fürtrefflich! Nicht allein habt Ihr nichts verschwiegen von dem, was dasteht, Ihr habt auch das herausgefunden, was nicht mehr da ist und was die Zeit und greifende Händ weggewischt. So hat mir noch keiner die Münzen begriffen, auch der geschickte Stettler nicht. Er hat zwar treulich wiedergegeben; aber Ihr tut mehr, Ihr schafft neu, was einst gewesen. Seht den Apoll aus dem Omphalos: bei Stettler würde er nun halt so dasitzen; aber Euer Apoll, der wird aufspringen im nächsten Augenblick und den Pfeil loslassen, und so auch ist es gemeint. Wenn Götter ruhn, so tun sie es nicht anders denn im Spannen neuer Kräfte ... Warum bloß,« fügte er bei, »habt Ihr die Schrift weggelassen?«

»Ich mag nicht copieren, was ich nicht verstehe; ich kenne die griechischen Buchstaben nicht und sollte sie erst lernen,« erwiderte Anna kleinlaut.

»Da habt Ihr recht, nichts Unverstandenes; aber bloß die Buchstaben?« Herr Morell schüttelte den Kopf. »Das genügt nicht. Buchstaben sind nichts, Ihr sollt sie auch tönen hören. Seht, so!«

Er öffnete das Buch in seinen Händen und las mit einer zarten und gleitenden Stimme, die Anna sonst nicht an ihm kannte. Wie seltsam das klang, so fremd, so fremd! Nicht ein Laut, der ihr als etwas Vertrautes ins Ohr drang. Und doch war es herrlich, wie eine große ewige Melodie. Sie mußte an Waldesrauschen denken und an die grünen schaumspritzenden Wellen der Aare. Aber auch an wundervolle Stoffe, Purpur mit Gold durchwirkt, wie sie es einst an einer französischen Edeldame gesehen, und an blaue Luft und Seide, an etwas sehr Wunderbares, sehr Herrliches, sodaß ihr die Tränen in die Augen kamen.

Herr Morell klappte das Buch zu und blickte Anna an: »Kind, Kind, so gerühret und doch bloß die Töne!« Nun sprang auch ihm etwas in die Augen. Er eilte auf Anna zu, schloß sie in seine Arme und küßte sie auf die Stirne, inbrünstig und bewegt. »Wahrlich, Ihr sollt sie verstehen lernen, diese Töne! Wer sonst verdiente diese göttliche Sprache, wenn nicht Ihr, da allein die bloßen sinnlosen Laute Euch schon dermaßen bewegen?«

Voll Staunen und Verwirrung sah Anna ihn an: »Wie wäre das möglich, Meister?«

»Wie? Das wollen wir eben sehen.« Er zog Anna neben sich auf die Fensterbank und umschloß ihre Rechte mit seinen erregten Händen. »Ja, Ihr sollt lesen lernen in diesem Buch, das so wenige kennen, weil wenige es verdienen. Ach seht, alle Kämpfe, alle Weisheit und Kunst dieses kampfvollsten, weisesten Jahrhunderts zusammen sind nur ein Brösemlein Leben und Welt gegen dieses Buch. Denn alles ist darin, nicht die Erde allein, auch der Himmel – die ganze Welt; fürwahr, wenn die Heilige Schrift nicht wär', ich würde es das fürnehmste aller menschlichen Werke zu nennen nicht anstehen, ja, ich nenne es so, dieweil wir ja jene als göttlichen Ursprungs erkennen!«

Herr Morell legte den Kopf zurück und schloß die Lider, derweil seine Worte über glänzende Höhen gingen und eine Welt von unbegrenzter Schönheit, göttlich groß und doch menschlich rührend, vor Annas entzückten Augen ausbauten. Das war anders, als wenn Giulio erzählte, leidenschaftlich und heiß, von seiner schönen Heimat; leise, fast flüsternd ging Herrn Morells Rede und tastend scheu, als ob sie sich nur zögernd an die ewigen Namen und herrlichsten Geschichten wagte, wie man an etwas über die Maßen Köstliches nur mit zarten und zagen Fingern zu rühren vermag.

Die Welt Homers: fremd und doch urvertraut, hell und geheimnisvoll, strahlend und furchtbar, grausam und rührend und klar und ewig, ewig wie die Natur. Die Glut der Sonne über Gefilden voll lachendem Blust, und unter nächtlichem Himmel das schwarze, schweratmende Meer und fruchtschwere Scheunen und des Kampfes wütendes Toben und der Ewigen Ewigkeit und, ach, des armen Herzens unendliche Leiden und Lust und Heimweh und Liebe und Schmerz der Vergänglichkeit – alles, alles in dem einen Namen begriffen.

Anna war, als ob sich langsam, langsam ein Allerheiligstes vor ihr auftäte, unfaßbar und doch zu ahnen, und als ob sie von weiser Hand über jene Schwelle geführt würde, die alles Kleine und Vergängliche von einem Höchsten und Ewigen trennt.

Lange saßen sie so zusammen, Hand in Hand, leise redend, lauschend und träumend, zwei zeitlos selige Menschen, und ihr Traumschifflein war noch lange nicht gelandet, als die Türe sich ungestüm öffnete. Sibylla und Christoph stürmten herein und fielen mit der aufgeregten Frage nach Giulio, der seit dem Morgen verschwunden, recht wie ein ungefüger Stein in den klaren Spiegel des Sees, in ihre andächtige Zwiesprache hinein.

Herr Morell faßte sich zuerst und suchte mit leiser Neckerei Sibyllas Erregung zu beschwichtigen: da soll sich einer die liebende Ängstlichkeit ansehen, und ob denn da schon Grund zum Fürchten sei, wann so ein Jungknab einmal den lieben Sommertag in Gottes freier Welt erhasche? Aber Anna fand sich nur langsam zurück. Sie war so weit weg gewesen, und nun stand plötzlich die Gegenwart vor ihr, Sibylla – sie zwang sich, dem Mädchen in die aufgeregten Züge zu sehen; aber da war ihr, als ob dies schon wieder eine andere Gegenwart, als ob durch das Erlebnis dieses Nachmittags die quälenden Erinnerungen schon weit abgerückt wären. Sie hatte mit dem großen Dichter die Welt aus andern Gesichten angeschaut; nun schien ihr wohl manches unwichtiger, manches verständlicher. Ja, sie fühlte auf einmal ein großes Erbarmen mit Sibylla: wie arm jene war und sie so reich und immer reicher! Sie bot der Freundin mit einem Lächeln die Hand, die diese lebhaft und mit dankbaren Blicken ergriff: »Giulio ist gewiß in den Wald gegangen, und wann wir nun über das Kirchenfeld zurückgehen und zur Aare hinab, werden wir ihn sicherlich wo auftauchen sehen, beim Dählhölzli oder am Schwellenmätteli unten.«

»Glaubst du?« Ein Glanz ging durch Sibyllas Augen – ach, wie gern ließ ihre Hoffnung sich speisen!

Und nun schritten die drei jungen Leute, nach einem herzlichen Abschied von Herrn Morell, der es nicht unterließ, mit Anna allerlei ersprießliche Verabredungen für den andern Tag zu treffen, über die abendlich sonnige Höhe.

Sibylla hängte sich Anna an den Arm: »Weißt, heute morgen hat er einen Brief bekommen, und dann war er ganz bleich, und auf einmal sah ihn niemand mehr. Sei mir nicht böse, aber ich habe so Angst um ihn!«

Anna blieb völlig ruhig. Sie dachte an die Schmerzen des großen göttlichen Dulders und wie er wunderbar immer wieder aus Not und Qual befreit worden – wie unwichtig schien daneben Giulios kleines Verschwinden! So etwas sagte sie zu Sibylla und daß sie zuversichtlich sein solle, und dann erzählte sie von ihrem eigenen Glück: »Denkt, Herr Morell will mich Griechisch lehren, und morgen beginnen wir!«

»Und darüber freust du dich?« Sibylla sah sie ungläubig an.

»Ach, nichts Schöneres kann ich mir denken!«

»Wie bist du so seltsam und – glücklich!« Und Christoph fügte mit traurigem Gesicht bei: »Ihr steigt immer höher, Anna, und wir andern bleiben zurück.« Aber dann lachte er: »Lux, wann er das vernimmt, krank wird der vor Ärgernis!«

Anna schüttelte den Kopf. »Da schätzt Ihr den stolzen Lukas zu tief ein.«

»Wann Ihr wüßtet, wie ehrgeizig er ist und wie eifersüchtig! Den Giulio könnte er umbringen, bloß weil er Euer Contrafet malen darf.«

Anna horchte erstaunt aus: »Mein Bildnis? Lux? Das wär' ihm doch die Strafe!«

»Glaubt Ihr, glaubt Ihr das wirklich?« Christoph strich mit der rosenroten Hand sein widerspenstiges Haar aus der Stirne, als ob er etwas verscheuchen wollte. Dann pfiff er leise vor sich hin, während die Mädchen schweigsam und ihren Gedanken nachhängend weiterschritten.

Plötzlich flammte es rot vor ihren Augen. »Seht die Feuerblumen!« Anna lief jubelnd auf das mächtige Mohnfeld zu, das sich lodernd in ihren Weg stellte. »Hier bleiben wir ein wenig; wann Giulio vom Dählhölzli kommt, sehen wir ihn zuerst.«

Sie setzten sich alle drei auf eine kleine grüne Insel inmitten der roten Herrlichkeit.

Anna legte sich auf den Rücken, sodaß die roten Blumen über ihren Augen in der Luft hingen: »So sollt' man sie beschauen, wann der Blauhimmel durch die rote Seide der Blätter scheint und die Kelche dunkel durchschimmern; dann erst sieht man, wie wundervoll sie sind. Ach, es ist mir doch die liebst unter allen Blumen!«

Sibylla nickte: »O ja, so rot, so glühend – und nie wird sie alt; sie stirbt, ehe sie welkt.«

»Das macht mich eben traurig daran,« sagte Christoph nachdenklich, »dieses frühe Sterben. Die zerknitterten Blättchen, wie sie so nackt und armselig aus den grünen Hülsen kommen und kaum, daß sie entfaltet sind und ihre Glätte fängt an zu glänzen, dann fallen sie auch schon ab. Und dabei der Geruch, unangenehm, ohn Freudigkeit und bang – wie etwas Totes. Ich muß an die Verse denken von dem deutschen Dichter – Lux trägt immer ein Bändchen seiner Lieder mit sich Herum – die auch so traurig sind. Er legte den Kopf in die Hand und fing leise zu rezitieren an:

»Meine Tage sind hinweg,
Weg sind meine Stunden,
Meiner Not und Schmerzen Zweck
Hat sich schon gefunden.
Wie ein Schaum auf wilder Flut,
Die die Wind erheben,
Wie der Rauch von einer Glut,
So vergeht mein Leben.«

»Wie ist das traurig!« Sibylla kamen die Tränen in die Augen. Aber Anna richtete sich straff auf. »Nein, so sterben meine Feuerblumen nicht; die sind nicht bloß Rauch, den ein Wind verweht, die sind Glut und Flamme selbst, und wann sie sterben, dann sind sie auch vollendet. Ja, das ist traurig, wann eines gehen muß, bevor es am Ziel ist. Der Turm dort,« sie wies mit der Hand nach dem jenseitigen Aareufer, wo im Abendleuchten die große Kirche stand, mächtig aufstrebend über den ungeheuern Mauern der Plattform, »das ist traurig. Weinen möcht' ich, wann ich ihn sehe, so groß begonnen, breit und mächtig und kunstvoll mit all dem Zierat, und dann auf einmal das stumpfe, traurige Ende. Ach, der ist zu früh gestorben, wann er schon ewig dauern soll; aber die Blumen hier, ob sie auch nur einen Tag leben, wann sie am Abend die glatten glänzenden Blätter ablegen, dann sind sie auch vollendet, und ihr Tod kommt nicht zu früh; denn Gott ist gut, er läßt seine Geschöpfe nicht eher sterben, als ihre Zeit erfüllet ist. Nur Menschenwerk bleibt unfertig.«

»Glaubt Ihr?« Christoph sah Anna erstaunt an. »Und all die Menschen, so mitten aus Arbeit und Glück weg müssen?«

»Auch dann.« Anna faltete die Hände über den Knien und sah mit fernen Augen in den westlichen Himmel, der einen warmen Schein auf ihr stilles Gesicht warf. »Als mein kleines Schwesterchen starb, nur wenig Wochen alt war es, und es im Sarge lag, wie ein Engelein still und zufrieden, da sagte der Onkel Fähndrich zu meiner Mutter: ›Was hast du da für ein köstlich Kindlein zur Welt gebracht, daß es Gott nach so kurzem Wallen schon als reif ersehen für die ewige Seligkeit, um die unsereiner an die siebzig Jahr dienen muß!‹ Das Wort habe ich nie vergessen. Ich glaube,« fügte sie nach einer Pause nachdenklich bei, »Gott hat einem jeden die Zeit bestimmt, die er braucht, um sein zeitliches Ziel zu erreichen. Seht, Tizian ist hundert Jahr alt geworden, aber als Raffael so jung starb, da hatte er doch sein Bestes gegeben; denn was hätte er Köstlicheres noch fürder zu schaffen vermocht!«

So sannen sie lange. Es redet sich leicht vom Tode, wann man jung ist und noch so weit und voller glänzender Hoffnungen das Zeitliche vor einem liegt wie ein Ewiges. Und dann kamen sie wieder auf Giulio. Er war nirgends erschienen, und nun sank der Tag, und man mußte aufbrechen. Die ernsten Gespräche hatten alle ernst gestimmt, und auch Anna wurde auf eins bang.

Sie schritten über einen schmalen Wiesenpfad und dann durch den struppigen Staudenrain zur Aare hinunter. Sibylla trug einen großen flammenden Mohnstrauß in der Hand, während Anna für sich nur die Knospen gepflückt hatte, die fast abenteuerlich aussahen mit den gewundenen Stengelchen und den roten Zünglein zwischen den rauhhaarigen, graugrünen Schalen. Aber nun rieselte langsam ein roter Blütenregen über Sibyllas weiße Finger, und als sie unten ankamen und der alte Thüring sie in seinem schwerfälligen Kahn schräg über die Aare führte, der Schifflände zu, hielt sie nur mehr ein Bündel leerer Stiele. Traurig ließ sie den wertlosen Strauß ins Wasser gleiten.

»So geht es mir, das Schönste möchte ich fassen, aber es zerrinnt mir in der Hand.« Und mit einem düstern Blick auf Anna: »Du bist klüger, du baust vor, und morgen glüht dein Zimmer von den roten Blumen.«

»Nimm sie, Sibylla,« sagte Anna einfach und bot ihr den Strauß; aber die andere weigerte sich.

»Nein, du hast es ja verdient, ich nicht – und dann, ich will es nicht aus zweiter Hand.«

Anna nickte ernsthaft und sah ihre Freundin bedeutsam an. »Du hast recht, nicht aus zweiter Hand.«

Als sie im Hause ankamen, fanden sie Herrn Werner in großer Aufregung: »Bringt ihr ihn nicht, den Schlingel, ventre-saint-gris, wo mag er stecken! Überall hab' ich nach ihm geschaut, man weiß nichts von ihm. Wann er mir nur nicht gar entwischt ist! Aber seine Kammer sieht nicht nach Flucht aus.«

Wie zum Beweis öffnete er die Türe nach Giulios Stube, die auf den Garten ging und dem Eßzimmer anlag. Alles war in gewohnter Ordnung: die Laute an der Wand, der Malerkittel über den Stuhl geworfen und auf dem Tisch ein aufgeschlagenes Skizzenbuch.

Sibylla erblaßte: »Donna Ersilias Bild fehlt.« In der Tat, die Stelle über dem Lager, wo das seltsame Bildnis mit den schweren Augen und dem zu roten, verachtungsvollen Mund gehangen, das Anna einstmals mit Bewunderung und leisem Grauen betrachtet hatte, war leer. Nun suchte man weiter. Frau Werner durchstöberte die Truhe, und da stellte es sich heraus, daß auch die Reisekleider fehlten, der Mantel und die festen Stiefel. Auch Degen und Pistol waren nimmer vorhanden, und die kleine feste Schatulle, darin Giulio das Wertvolle verschloß, war leer.

Nach dem Essen ging Herr Werner noch einmal auf die Suche. Erst spät, als der Nachtwächter die dritte Runde sang, kam er zurück, mit erregtem, fahlem Gesicht. Er hatte keine Kunde von Giulio. »Ich fürcht', ein Unglück ist geschehen.« Mit bangen Gedanken legte man sich zur Ruhe. Anna konnte lange nicht einschlafen. Giulios Lied klang ihr in den Ohren, das er zuletzt gesungen: »Wann ich einst tot bin ...«, und die Tränen kamen ihr. Sie dachte an Sibylla. Ach, wo war nun ihre Entrüstung über das Mädchen? Wie ganz anders die Welt aussah, wenn die Furcht ihre dunkeln Schatten darüberwarf.

Auch die Stunden bei Herrn Morell vergingen nicht so reich und federleicht wie am Vortag. Anna hatte am Morgen das Haus ohne Nachricht von Giulio verlassen, und nun waren es allerlei düstere Bilder, die sich zwischen die hellen und hehren mischten, die Herr Morell vor ihr aufrollte, und ihren Glanz trübten. Aber der erste Grund zu ihrem Griechischstudium wurde doch an diesem Tage gelegt. »Man muß es lernen, die inneren Schmerzen und häusliche Not von seiner geistigen Welt zu trennen,« sagte Herr Morell ernst, »ansonst kommt man zu keinem gedeihlichen End. Freilich,« fügte er gedankenvoll bei, »für Jungvolk ist das schwer; man muß einen starken Willen haben, um solches zuwege zu bringen, oder dann muß man vieles durchgemacht haben – sehr viel; dann lernt man's, auch wenn man nicht absonderlich stark ist in seinem Willen.« Die Worte gingen Anna tief ein – wie oft sollte sie später daran denken und wie lang war der Weg bis zu deren völligem Erfassen! Und nun nahm sie sich zusammen und arbeitete, daß Herr Morell staunte ob ihrer Charakterstärke. Aber als sie gegen Abend den Obstgarten verließ, war sie müde wie nach einem aufreibenden Kampf, und sie fühlte wenig Freudigkeit in sich. Einmal konnte man es wohl, sich zusammennehmen, aber nicht für lange. Nun strömten die Sorgen um Giulio mit doppelter Wucht über ihr zusammen und trieben ihre Füße.

Eilends erreichte sie die Untertorbrücke. Da trat ihr aus dem Schatten des Blutturms ein kleiner Junge entgegen. Sie kannte ihn; es war Fischer Thürings Enkel, und oft hatte er sie und Giulio auf gemeinsamen Wanderungen begleitet, wann sie der Aare nach ein malerisches Plätzchen aufsuchten. Giulio liebte die Kinder, und sie hingen ihm herzlich an. Der Kleine streckte ihr schon von weitem einen Brief entgegen. Hastig öffnete sie. Eine fremde Schrift. Italienisch, das mußte mit Giulio zusammenhängen. Sie las:

»Was zögerst zu lange? Dem Mutigen gehört Welt und Weib. Willst Du durchaus, daß ein anderer in Deinem Garten weidet? Deine Sache steht ja gut. Also komm, und zwar gleich; aber in aller Heimlichkeit, man hat dort Auftrag, Deine Flucht zu hintertreiben. Bei Sor Paolo fuori – Du weißt, wo wir den letzten Chianti zusammen tranken – halte Dich zunächst verborgen. Dort werde ich Dich finden.

Giacomino.«

Das stand in Tinte geschrieben, klar und groß, aber die übrigen Seiten des Briefes waren mit hastigem Reißbleigekritzel gefüllt, ebenfalls italienisch. Anna erkannte Giulios Hand. Sie mußte sich auf die Steinbank unter dem Turm setzen, die Knie zitterten ihr.

»Sorellina, das ist Giacominos Brief, von dem jedes Wort mir auf der Seele brennt. Ihr sollt ihn lesen, auch der Meister, dann wißt Ihr alles, und daß ich zur Stunde, da er in Eure Hand fällt, schon weit, weit weg, viel weiter als Herrn Werners Spürsinn reicht und rasche Pferde ihn tragen können. Seit dem Morgen ist alles bereit zur Reise, deren erstes Stück die Nacht verdecken soll. Hinter dem Wald harrt der Bursche mit den Pferden, und ich will hier den Abend erwarten. Ich konnte nicht mehr zurück ins Haus, ich fürchtete, irgendwie aufgehalten zu werden. Den ganzen Tag hielt ich mich im Wald versteckt. Ich hatte Zeit, nachzudenken. Sorellina, vielleicht wartet mir nun der Tod, und das Leben ist noch so jung und schön. Könnt Ihr mit Euren klaren Augen ermessen, was es heißt, jung und heiß und sterben? Vielleicht auch Gefangenschaft. Glaubt Ihr, daß Gefangenschaft für Giulio etwas anderes bedeutet als Tod! Und vielleicht – schlimmer als alles – Doch nein: der Freund ruft. Ich werde siegen, ich werde leben und Glück und Liebe zurückerobern. Der Weg, den ich gehen muß, liegt klar vor mir. Aber etwas hält meinen flüchtigen Fuß noch auf. Sorellina, Euch möchte ich lebewohl sagen und, Gott gebe es, auf Wiedersehen! Heute abend gingt Ihr an mir vorüber. Ich sah Euch ganz nahe aus meinem Versteck, Christoph, Sibylla und Dich. Nun sitze ich hier an der Stelle, wo Du lagst zwischen den roten Blumen, und der Abendschein ging über Dich. Einmal hast Du gelacht, Dein seltsam Lachen, nicht hell und aufreizend, sondern tief und weich wie eine schwere Glocke, aber doch so erfreuend. Das hat mir gut getan. Ach, wann Du wirklich mein Schwesterlein wärest, dann würdest Du nun mit mir gehen, wie würde alles schön und klar werden unter Deinen klaren Augen! Und wärest Du mein Schwesterlein von Anbeginn, anders wäre mein Leben geworden. Ich glaube, ich hätte ein guter Mensch sein können und ein großer Künstler ... Vielleicht ist das nun alles dahin ...

»Dein Bildnis, Sorellina, sollst Du zu Dir nehmen, und daß keine Hand es jemals vollende, wenn nicht die meine. Ich glaube, es hätte ein großes Kunstwerk gegeben. Auch das ist nun dahin.

»Ich habe viel über dieses Land gespottet. Nun, da ich gehe, fühle ich, daß es eine Stärke an sich hatte, die mir gut tat. Aber drüben ruft die Schönheit.

»Grüß auch Sibylla. Meine Laute soll ihr gehören. Sie soll sie spielen und an die Stunden denken, da ich ihre schmalen Finger über die Saiten führte. Es waren schöne Zeiten. Nun kann sie es allein.

»Grüß den Maestro, und er soll die Mühe sich sparen, mir nachzujagen. Meine Wege sind nicht offenbar, und wer möchte Giulio einholen, wann Angst und Liebe sein Pferd beflügeln?

»Auch Frau Werner grüße; sie hatte eine weiche Hand und gute Augen, und Christoph und Lux.

»Ach, alle waren sie gut; Du aber warst das Beste, das Allerbeste – vielleicht an meinem ganzen Leben. Nun möchte ich noch einmal Deine Augen sehen und Deine Hand fassen können, das tapfere kunstreiche Händchen, und Deine weiße Stirne küssen, die Stirne einer kleinen Heiligen mit den reinen und edeln Gedanken – ah, dann wäre mir gut und mein Vertrauen stark; denn alle Glut beschwichtigst Du, daß man kühl und rein wird in Deiner Nähe und klargerichtet. Wie not täte das Deinem armen, verwirrten und in Angst und Leidenschaft aufgepeitschten Bruder! Aber es muß auch so gehen.

»Und vielleicht sehen wir uns wieder.«

Als Anna aufblickte, stand der Junge immer noch vor ihr. Sie sah ihn wie durch einen feinen zittrigen Flor.

»Kommt der liebe Herr nun nimmer zurück?« fragte der Kleine betrübt. »Eine ganze Dublone hat er mir gegeben, als er ging, und dann hatte er auch das Augenwasser, grad wie Ihr jetzt.«

Anna stand auf. »Ja, er war ein guter Herr, Köbeli, vergiß ihn nicht, und er kommt nun wohl nie mehr.« Sie wandte sich rasch nach der Brücke, und wie sie die Junkerngasse hinaufschritt, klangen ihr die eigenen Worte im Ohr. Und nun fühlte sie auch ihre Bedeutung, daß es ihr das Herz zusammenschnürte: Giulio fort, der Abend ohne Lieder und der Garten still und verlassen, in der Malerwerkstätte kein Feuer und keine Fröhlichkeit mehr, bloß Fleiß und Arbeit, und ach, die lieben italienischen Laute tot und tot die Bilder voll Glut und Farbenherrlichkeit, die ihr Herz berückten!

Herr Werner nahm sich Giulios Rat nicht zu Herzen. Sobald er den Brief gelesen hatte, den Anna ihm unverzüglich überbracht, rüstete er sich unter heißen Verwünschungen Giacominos mit lauter und überstürzter Eile zur Reise, und noch am selben Abend jagten er und Christoph mit der Gnädigen Herren Erlaubnis auf schnellen Pferden dem Flüchtling nach. Zwei Tage später kamen sie wieder zurück, abgehetzt, wegmüde und traurig. Dreimal hatten sie Giulios Spur gefunden; aber sie eilte mit solcher Schnelligkeit voran, daß an ein Einholen nicht mehr zu denken war. Wie ein Rasender mußte er geritten sein, Tag und Nacht.

Herr Werner war tief niedergeschlagen, düster und wie gealtert: »Ich fürcht', da ist etwas ganz Abscheuliches im Spiel,« sagte er zu Frau Werner und Anna, die den beiden Reisemüden ein rasches Mahl auftischten; denn Sibylla war bei ihrem Anblick und als sie hörte, daß Giulio nicht mehr zu erreichen gewesen, in ihr Zimmer geflohen. »Noch vor wenig Wochen schrieb mir mein edler Freund aus Florenz, daß zwar das väterliche Gold wacker arbeite, sodaß Hoffnung sei, Giulios Sache werde sich zum guten Ende fügen, sofern der Jüngling noch etwas Zeit wegbliebe. Eine voreilige Rückkehr aber könnt' alles verderben. Und nun Giacominos Brief – sacrebleu – ein sauberer Freund scheint das!«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Becher klirrten, und sein Gesicht wurde braun vor Zorn. »Ich glaub', der Giulio war ihm im Weg, dem Schurken!«

Aber Anna schüttelte den Kopf: »Ihr irrt Euch, Meister, Giacomino war Giulios bester Freund; er hat ihm immer Nachricht gegeben über Donna Ersilia, öfter denn sie selbst, und er schützte und tröstete die Verlassene.«

»Er schützte und tröstete die Verlassene! Optime! Optime!« Herr Werner brach in ein grimmes Gelächter aus; als er aber Annas erschreckte Augen sah, ward er plötzlich ernst: »Seht, Kind, das versteht Ihr nun nicht, Ihr mit der Heiligenstirne, und es ist recht so. Aber meinen Giulio habe ich nun wohl verloren. So oder so. Auch wann die Gerichte ihn freisprechen, und das sollte nicht unmöglich sein, weilen seine rasche Tat zur Verteidigung einer Dame geschah, und in derlei Dingen denken sie anders, die dort unten mit dem heißen Blut, und der Vater ist reich und weiß, wie man mit Dublonen ficht; aber auch dann, auch wenn er frei wird, für die Kunst ist er nun wohl verloren. Schade, schade; als ein Wegversprengter kam er zu mir, zerflattert und untüchtig. Seit Ihr da seid, Anna, ist er anders geworden, Ihr habt alles Gute an ihm herausgekehrt, nun hätte er wohl ein großer Künstler werden können. Euer Bildnis – parbleu – ich wär' stolz darauf, wenn ich's gemalt hätte – Und nun alles dahin...«

Anna suchte neuerdings zu widersprechen: »Das kam nicht von mir, Meister; wie hätt' ich ihm Gutes tun können, weilen ich doch selbst nichts davon weiß? Giulio ist reifer geworden, auch in Florenz wird er nun anders sein.« Aber Herr Werner lächelte. Er nahm Annas Hand und streichelte sie schier zart. »Denkt Ihr noch an den ersten Abend, liebe Waserin, und was ich Euch sagte, da wir über den Namen des schönsten Berges diskurierten? Eine reine Jungfrau mit dem Willen nach oben, die kann wohl die höchste Höhe erreichen, heut aber sag' ich: sie kann noch mehr, sie kann auch andere heraufziehen. Und wenn Ihr das nicht versteht, tut's nichts, wenn Ihr nur so fortfahrt. Übrigens, wo habt Ihr Giulios Brief?«

Anna, die verwirrt und errötend dagestanden, errötete noch tiefer: »Ich habe ihn Sibylla gegeben, sie bat mich darum; sie versteht ihn nicht ganz, nur die Stelle, die von ihr spricht, hab' ich ihr übersetzt, es hat sie gefreut.«

Herr Werner runzelte die Stirn: »Ob das klug war?« Aber seine Frau wiegte wehmütig den Kopf: »Wohl war es gut, ein Honigtropfen in all die Bitternis. Es leidet nun arg, das arm Kind; aber ich kenn' mein Sibyllchen, man muß es machen lassen; wann's erst die ganze Süßigkeit des jungen Grams durchgekostet hat, wird's auch wieder froh werden. So was gehört nun mal zum Leben und Reifwerden. Du, Anna,« fuhr sie fort und strich dem Mädchen über das goldbraune Haar, »wirst freilich helfen müssen. Du bist mir ein großer Trost. Sieh, die Mutter – das ist in solchen Dingen nicht das Wahre – wann sie sich bei dir ausweinen kann, dann geht's noch einmal so schnell vorüber.«

Anna reichte Frau Werner die Hand: »Ich will das Mögliche tun, daß Ihr Eure Sibylla wieder fröhlich habt. Nun gehe ich hinauf und bringe ihr Giulios Laute, das wird sie freuen.«

Frau Werner sah ihr kopfschüttelnd nach: »Da hab' ich gemeint, ich müss' dem Mädchen Wärme geben und Freudigkeit, und nun ist sie es, die mit ihren kühlen Fingern meines Kindes sehres Herzchen wieder heilt ... Aber wenn die mal die Kühle verläßt, so leicht wird man sie nicht zurechtbringen.«

»Red mir nicht davon,« warf Herr Werner ärgerlich ein, »die Waserin ist nun mal aus anderem Holz; ihr Frauen könnt das eben nicht begreifen.«

Da gab Frau Werner ihrem Eheherrn einen leichten Klaps auf die Wange: »Lehr du mich die Mädel kennen, du Heißsporn, du ewig Allzujunger!«

Als Anna ihre Freundin verließ, war ihr etwas tröstlicher zumute, hatte doch unter Sibyllas reichlichen Tränen schon wieder ein erstes zages Lächeln aufgeblitzt bei Annas Versprechen, ihr Giulios Bild zu malen in feinster Miniatur, nach einer früheren Skizze. Unterwegs holte sie von Giulios Staffelei ihr unvollendetes Bildnis und trug es in ihr Stübchen. Als sie aber die Kammertüre öffnete, zeigte sich ihr ein sonderbarer Anblick; sie hatte seit dem frühen Morgen das Gemach nicht mehr betreten, nun war der aufgeblühte Mohn über Tag verblättert und hatte Tisch und Boden rot überflutet; das sah fast seltsam aus, wie Blut, das in großen heißen Tropfen niedergefallen war und zuletzt in einer Lache zusammengeflossen. Es war der Mohn, den sie noch unter Giulios verborgenen Augen gepflückt hatte; damalen waren es kleine graue Knospen, und nun schon verblutet ... Wie schnell es ging ... Und Giulios Schicksal, wann würde es sich entscheiden?

Sie suchte ihr Bildnis irgendwo aufzuhängen. An einem Nagel über der Bank hielt es fest. Sie stellte sich davor und betrachtete es: wie herrlich es gemalt war im grüngoldenen Schimmer der schmelzenden Töne und wie nahe der Vollendung! Nur die Augen und der Mund waren noch im Unbestimmten.

»Eure Augen,« hatte er gesagt, »muß ich an einem schönen frischen Tag malen, wann ich ein ganz reiner und guter Mensch bin, und Euren Mund, wann die Sorellina eine fröhliche Stunde hat und der Übermut um ein weniges in ihre Heiligkeit fährt, damit die Oberlippe nicht gar zu schmal und herb erscheint.« Ja, und nun war es vorbei, zu Ende gegangen.

Ob das Bild wohl immer so bleiben mußte, so trostlos unvollendet? Die Augen verschleiert, bleich, fast schreckhaft, wie etwas Totes in dem lebendigen Gesicht mit den hellen, rosig überspielten Wangen und der plastisch gefügten Stirn unter dem flockigen Haar mit den sprühenden Lichtern, und der Mund so blaß, so unsicher, wie vom Weinen verzogen.

Es war entsetzlich.

Anna graute vor diesem Bilde, das sie aus ihren eigenen Zügen so grenzenlos traurig ansah, wie ein Leben, das man abgebrochen mitten auf der Bahn und ehe es noch zum vollen Leben erwacht ist.

Hastig riß sie es vom Nagel herunter und stellte es gegen die Wand in die dunkelste Ecke ihrer Kammer. Wenn er doch kommen wollte, es zu vollenden! Ihr war, als ob durch dieses Bild auf geheimnisvolle Weise ihr Schicksal mit Giulios Leben verbunden wäre. Würde es sein Ziel erreichen oder abgebrochen bleiben, sinnlos und gewaltsam? Aber ihre eigenen Worte fielen ihr ein: »Gott ist gut, er läßt seine Geschöpfe nicht eher sterben, denn ihre Zeit erfüllet ist.«

Dann bückte sie sich und las die roten Blätter zusammen, sorgfältig, eines nach dem andern, ohne sie zu quetschen, daß kein Fleckchen an der weißen Diele und ihren weißen Fingern haften blieb, bis Boden und Tisch wieder blank waren, und dann beseitigte sie den toten Strauß.

*

Am letzten Tag des Jahres traf von dem Florentiner Meister ein umfangreicher Brief ein. Seit dem erschreckten kurzen Bericht, daß Giulio vor der Porta di Prato im Hause eines gewissen, unter dem Namen Sor Paolo bekannten Umbriers aufgefunden und sogleich dem Gerichte überliefert worden sei, war es die erste Nachricht. Sie lautete günstig: Die Anstrengungen von Giulios Vater waren nicht erfolglos geblieben; ein Zeuge hatte sich gefunden, dem es gelang, Giulios Tat als Ehrenrettung und Notwehr so weit vom Morde zu entfernen, daß die Freisprechung nur eine Frage der Zeit war und angesichts der bereits erlittenen Gefangenschaft nicht mehr lange zögern konnte. Auch die Nachrichten über Giulio selbst waren erfreulicher Art. Der Meister hatte ihn im Gefängnis aufgesucht. »Ach, welche Überraschung,« schrieb er entzückt, »ich meinte einen verzweifelten, gegen seine Bande wütenden Knaben zu finden, und ich traf einen reifen, geklärten jungen Mann, der mit ruhigen und zuversichtlichen Worten von seiner Lage redete. ›Wann Ihr Herrn Werner schreibt‹ sprach er mit einem Lächeln, ›so sagt ihm, daß ich mich nach nichts so sehr sehne wie nach Pinsel und Farben, das wird ihn freuen‹ und dann erzählte er von einem Bildnis, das er bei Euch angefangen und nach dessen Vollendung sein Herz brennt. ›Ein Meisterwerk sollte es werden‹ sagte er mit leuchtenden Augen, ›eine zweite Beatrice Cenci, nur kühler, kühler, mit den grüngoldenen Tönen eines Correggio – oh, ich sehe es vor mir, und ich werde nicht froh sein, bis ich es vollendet!‹«

»Er ist ein anderer geworden,« hieß es weiter, »das Gefängnis und die Ruhe des Nachdenkens haben seine Seele geläutert; aber der Grund zu seiner Wandlung – so scheint mir – wurde in Eurem edeln Hause gelegt, und ich glaube, daß er seine neueroberte Seelenkraft zu brauchen Gelegenheit haben wird, wann er zur Freiheit kommt; denn,« schloß er bedenklich, »von Donna Ersilia ist mir seltsame Kunde geworden und auch von dem Freund. Fast fürcht' ich, daß unserem Giulio die größte Prüfung noch bevorsteht.«

Der Florentiner Brief erweckte im Wernerschen Hause großen Jubel. »Susanna, Frau, das wird gefeiert!« rief Herr Werner voll Übermut. »Wozu den Neujahrskram auf morgen versparen? Wann heut die Freude zu Gast kommt, muß man sie gebührlich empfangen, ansonst sie uns zum Saker wieder davonläuft!«

Und Frau Werner brachte unverzüglich das noch warm duftende Gebäck herbei, die buttrigweichen Schenkelchen und lustig figürten Bretzelein, die sie mit den beiden Mädchen gefertigt und allbereits zur Seite geschafft hatte, und brachte drei staubige Flaschen vom Keller heraus. Etwas zögernd stellte sie diese auf den Tisch: »Es sind die letzten von den Bonstettschen, Joseph.«

»Ei, grad die wollt' ich,« sagte Herr Werner lachend; »die besondere Ehre gönn' ich ihnen, ein fröhlich Herz zu begießen. Mag das neue Jahr einen neuen Tropfen bringen, heut ist mir grad das Beste gut genug. Und nun holt mir meine Lehrjünger herbei; sie sollen auch ihre Freude haben!«

Rasch versammelte sich die kleine Gesellschaft, allen voran der flinke junge Waadtländer, der seit wenigen Wochen im Wernerschen Hause wohnte und seinem Meister mit flüchtigen Händen und mutwilligen Worten viel offenen Ärger und verstecktes Vergnügen bereitete; dann der lahme Adam Mörikofer, der seit dem Herbst Giulios Zimmer und Staffelei einnahm, und Christoph und ganz zuletzt auch Lukas Stark.

Dieser nahm die frohe Botschaft merkwürdig unbewegt, fast düster auf, sodaß Herr Werner ihn ärgerlich anfuhr: »Seh einer den Sauergrauer! Nicht mal freuen kann er sich; kein Wunder, daß der lieber mit Ätznadel und Säure ficht denn mit den trauten Farben, sodaß er bald Finger hat wie ein alt Waschweib, so runzlig und zerfressen von all der Pröbelei.«

Lukas rieb die breiten Hände mit der von den Ätzwassern zusammengezogenen weißen Haut aneinander, bis sie mählich warm und rot wurden. »Wenn der Giulio frei ist und heil, will ich mich freuen, jetzo scheint's mir noch um etwas verfrüht.«

»A bah, Unglücksvogel, was kommst mit deinem Gekrächz in unsere Fröhlichkeit!« Herr Werner wandte sich unwillig ab und griff nach einem der Becher, die Frau Susanna inzwischen gefüllt hatte: »Auf den Giulio, den Herzbuben!« Es gab ein lustiges Zusammentönen, und schnell war eine warme und laute Fröhlichkeit im Gang.

Anna zog sich in die kleine Ecke neben dem gestuften türkisfarbenen Kachelofen zurück. Sie fröstelte ein wenig, und die letzte verstrahlende Wärme des blauen Kolosses tat ihr wohl. Von ihrem stillen Plätzchen aus betrachtete sie die fröhliche Gesellschaft. Herr Werner hatte alle Feierlichkeit von sich abgelegt. Wie ein Junger sah er aus, übermütig und sprühend von lustigen Worten und absonderlichen Einfällen, die jedesmal ein überlautes Lachen entfesselten und wohl auch ein vergnügliches Kopfschütteln bei Frau Susanne, die, ungeachtet aller Festlichkeit, ihr Spinnrad schnurren ließ. Und Sibylla, leuchtend und aufgeregt mit einem Glanz in den Augen, wie man ihn lange nicht mehr an ihr gesehen hatte, und schier glühend das Rot der Wangen, unnatürlich, wie fiebrig; sie sah reizend aus, und der Waadtländer sagte es ihr mit Worten und Blicken, die sie lachend aufnahm, ein wenig kokett, daß Anna sie verwundert betrachtete. Auch Christoph sonnte sich an der Fröhlichkeit seines Vaters, und der lahme Adam saß mit flackernden Augen da. Seine Fröhlichkeit hatte eine besondere Prägung: langsam zog ein helles Rot über das sonst fahle Gesicht, wie Widerschein und Wirkung des Weines, der schnell in seinem Becher sank. Er sprach wenig; aber hie und da ging ein rascher, unsicherer Blick zu Anna und blieb einen Moment an ihr hängen. Sie vermeinte dann jedesmal, etwas von sich abwischen zu müssen, etwas Unangenehmes, das nicht ganz sauber war. Dieser arme Adam! Sie hatte ja solches Mitleid mit ihm, hinkend und unsicher, wie er war, und ohne Offenheit des Blickes und der Seele, was konnte da das Leben ihm reichen? Aber es war kein warmes und herzliches Mitleid; sie mußte sich immer zusammennehmen, wann sie freundlich mit ihm sein wollte. Das war schon dazumal so gewesen, als sie noch nebeneinander arbeiteten in Meister Sulzers Werkstätte; schon damals war ihr der lahme Thurgauer mit dem krausen schwarzen Haar über der niedern Stirn und den unsteten Augen, die sie niemals offen anblickten und doch immer nach ihr zu suchen schienen, zuwider gewesen. Und nun war er ihr auch hierhergefolgt, und heute noch gab es ihr jedesmal einen Stich, wenn sie ihn an Giulios Staffelei hantieren sah.

Aber nun kam er ja vielleicht zurück, Giulio. All die Fröhlichkeit galt ja ihm; warum saß sie eigentlich hier, stumm in der dunkeln Ecke! Sie verstand sich selber nicht; es war, als ob sich eine Wand zwischen sie und die andern geschoben hätte, daß sie nicht mitmachen konnte. Vielleicht waren Lukas' Worte schuld daran, die hatten ihr gleich alle Freude erstickt. Oder hatte seine Bemerkung einem Gefühl in ihr die Hand gereicht? War es vielleicht eine Ahnung, die sie von den Fröhlichen dort ausschloß?

Aber freilich, im Grunde war sie ja immer so: wenn es draußen lustig wurde und laut, dann fühlte sie jeweilen dieses Sonderbare in sich aufwachsen, wie wenn plötzlich Glockenschläge in ein lustiges Lied klingen, dumpf und wie mahnend, daß sie erschauernd nach innen lauschen mußte. Und heut war es ja ein sonderlicher Tag: der Leichgang des alten Jahres; die laute Lustigkeit wollte nicht dazu passen. Sie mußte Heimdenken. Dort kamen sie nun wohl vom Abendgottesdienst im großen Münster her. Wie deutlich sie das sah: Vater und Mutter, wie sie unter dem schöngerundeten Portal herfürtraten, und vor ihnen lag der Friedhof gebreitet, still, still unter der Last des Schnees und so weiß; denn über dem Antistitium stand der Mond, und die ganze Luft war weiß wie ein fallender Schleier, in den die Schatten der kleinen Kreuze und der langsam Dahinwandelnden schwarze Löcher rissen. So ernst schritten Vater und Mutter mit den gefalteten Händen über den Gebetbüchern und hinter ihnen Maria und Rudolf, groß und schlank und schweigsam. Und nun waren wohl auch die beiden Jüngsten dabei, ach, sie konnte sich kein Bild von ihnen machen, denn nun waren sie ja ganz anders, als wie sie sie zuletzt gesehen. Daß man so aufwachsen mußte, ohne beisammen zu sein, und sich selbst entwachsen – es war doch recht traurig!

Und nun sah sie die Eltern wieder; sie standen gerade unter der Pforte zwischen dem Kirchhof und der Münstergasse, die sich unheimlich und starr ins Dunkle schob. Jetzt wandte sich der Vater und wies mit der bleichen Hand zurück: »Seht euch noch einmal um, Kinder; das ist das würdigste Bild, das ihr hinübernehmen möget ins neue Jahr: Kirche und Totenhof, Gott und das Ende – Bedenket es wohl.« Und nun verloren sie sich in der schwarzen Gasse, wie ein Leichenzug so ernst und so stumm, aber mit einer großen Feierlichkeit in den Herzen.

»Nun seufzt Ihr gar, Waserin?« Anna sah überrascht auf, und da gewahrte sie erst, daß Lukas am Ofen gelehnt nahe neben ihr stand und sie mit forschenden Augen betrachtete. Sie schnellte auf, um ihren Winkel zu verlassen; aber er hielt sie zurück: »Ich will Euch nicht stören; kann's wohl begreifen, wann eins nicht immer lustig sein mag.«

Das war einfach, ohne allen Spott gesprochen. Anna sah ihm verwundert in die Augen. Die hatten immer noch denselben forschenden Blick, während er weiter sprach: »Ihr habt einen Abschied vor, das wird Euch zu Herzen gehn?«

»Ihr meint Herrn Morell? Ja, es tut mir leid,« entgegnete Anna leise. »Etwas sehr Schönes hört nun auf und hört zu früh auf. Ich hätt' so vieles noch lernen mögen, und nun ist es zu Ende.«

»Ja, so ist's wohl,« fuhr Lukas im gleichen leisen Tone fort: aber nun kam wieder das harte und bittere Lächeln um den kleinen Mund: »Das Schöne geht, und was uns widerstrebt – das bleibt!«

Anna wollte etwas entgegnen, als Herr Werner mit einem lauten » Ventre-saint-gris!« dazwischenfuhr und die beiden Sonderbündler an den hellen Tisch zog, wo mit einem allgemeinen Pfänderspiel, an dem auch Frau Susanne teilnahm, die Lustigkeit in eine neue Phase gedieh. Doch auch jetzt fand sie bei Anna keinen Nachklang. Sie wunderte sich darüber, war doch selbst Lux, der an ihrer Seite saß, aufgetaut; aber ihr war immerfort, als ob sie irgendwo, fernab, das Zufallen einer Türe vernähme und sie darauf hören müßte.

Die Freude kam erst am andern Morgen zu ihr, als der Neujahrstag mit bitterkaltem Schneegeflimmer aufstand und es sie plötzlich etwas Schönes und Erwartungsvolles dünkte, einem neuen Jahr die Hand zu reichen. Es lag soviel Freudigkeit in der Luft, als ob die ganze Welt hoffnungsvoll aufatmete. Im Haus und auf der Straße das lustige Treiben der Gratulanten, die ihre seit vielen Tagen ausgedachten, wohlgerundeten Sprüchlein mit vieler Zierlichkeit darboten. Und im Münster farbige Sonnenlichter zwischen den hohen, hohen Säulen, die sich ganz zu oberst, wo die himmelstürmenden Bogen sie vereinen, in lauter Licht und Duft aufzulösen schienen, und die Rede des greisen Pfarrherrn mit den rosig glänzenden Wangen, so frisch und zuversichtlich, und die Orgel, mächtig und hell wie die kristallflimmernde Luft draußen und das Himmelblau zwischen weißverhängten Ästen. Ja selbst die Bären in ihrem Graben droben beim Käfigturm schienen an diesem Morgen fröhlicher als sonst; denn der Segen an gelben Rübchen und roten Äpfeln, die aus festtäglichen Händen in den Graben hinunterflogen, war so reich, daß sich die Beschenkten recht als die Stadtheiligen vorkamen und mit lustigen Sprüngen und würdigem Rumoren auch als solche sich gebärdeten.

Am Nachmittag kam Herr Morell ins Wernersche Haus, wo er die Frauen allein traf. In wenigen Tagen mußte er verreisen an den Hof eines deutschen Fürsten, der die Weisheit des großen Mannes besser zu schätzen wußte als dessen karge Vaterstadt. Während Frau Susanna und Sibylla für den Gast und die zurückerwarteten Herren einen Imbiß rüsteten, trat er mit Anna in den verschneiten Garten, und hier, angesichts des weiten glänzenden Landes, aus dessen weißer Unendlichkeit die Aare mit einem seltenen, schier schmerzhaft grellen Blau herausleuchtete, nahm er Abschied von ihr. Er überreichte ihr ein abgegriffenes weißes Buch mit verblaßter Goldprägung. »Dies, liebes Kind, mag Euch die Stunden dort drüben im Obstgarten zu einem χτήμα είς άεί Besitz für alle Zeit.gestalten.«

Mit zitternden Händen griff Anna darnach; das war ja das Buch, über dem sie mit Herrn Morell unzählige Male gesessen in Stunden, die so reich waren, daß ihr in diesem Augenblick daneben das ganze andere Leben arm und unbedeutend vorkam. Und nun sollte es ihr gehören, für immer! Sie preßte den Schatz fest an ihre Brust, aber kein Wort des Dankes kam ihr aus der seligen Überraschung. Herr Morell lächelte mit einem feuchten Glanz in den Augen, als er des Mädchens Bewegung sah: »Freut's Euch? Dann ist's recht; zu danken braucht Ihr nicht, maßen ich Euch niemalen wiedergeben kann, was Ihr mir getan. Jetzo begreift Ihr das vielleicht noch nicht; aber wenn Ihr einmal alt werdet und das Leben mit Einsamkeiten herauskommt, und fällt Euch dann so ein Stück Jugend mit heißem Herzchen und hellen Augen ins Altersstübchen, dann denkt an mich; Ihr werdet dannzumal vielleicht auch begreifen, daß mir der heutige Abschied nicht leicht fällt.«

Dann zog er Anna an sich und küßte sie hastig auf die Stirne, und ehe sie noch ein Wort des Dankes oder ein Lebewohl gefunden, war er auch schon weg, und Frau Susanna hatte gut, dem Davoneilenden, den sie von der Küche aus über den Hof stapfen sah, nachlaufen; als sie die Haustür erreichte, vernahm sie nur mehr das letzte Verhallen der raschen langen Schritte.

Am Abend, als sie sich in ihrer Kammer allein wußte und ungestört, öffnete Anna beim matten Schein des Öllämpchens ihr Buch. Es war zwar grimmig kalt im hochgelegenen Stübchen, aber sie wußte nichts davon. Sie las aus den vertrauten Seiten mit halblauter Stimme, und ihr Herz wurde warm.

Wie es rauschte, Worte voll Schönheit und Kraft, leuchtend wie Edelsteine und mit seidenem Schimmer und tiefklar und hell, hell wie das Tagesgestirn selbst, wann die Luft schimmert und der ewige Glanz das Blau des Himmels trinkt. Und wie die Bilder sich reihten, machtvoll, überwältigend und lieblich, und so vertraut – Nausikaa, wie sie auszieht mit ihren Gespielinnen, so voll süßer Ahnung das Herz, und der tauklare Morgen drunten am Meer, sieht man es nicht glänzen, weithin, unendlich! Und Bälle fliegen durch die blaue Luft, hell und glänzend wie das Lachen der Mädchen ... Ach, so spielen zu können mit leichten Kleidern und leichten Herzen unter Lorbeer und blühenden Myrten am weiten Meer, das immerzu rauscht, kühl und geheimnisvoll ... Aber alles vergeht, der sorglose Morgen und Übermut und Lachen vor den schmerzvollen Augen des hohen Fremdlings, und alles schweigt, wann das große Heimwehlied anhebt, furchtbar und erschütternd... Oder war da ein leises schmerzliches Klingen wie vom Riß einer Saite? Nausikaa... Vielleicht – aber wer vernähme sie noch, die kleinen geheimen Schmerzen, vor den unendlichen des göttlichen Dulders.

Anna las mit heißen Augen. Bisher waren es alles vertraute Worte, die ihr Herrn Morells Stimme und klärender Sinn in die Seele gebrannt hatte; dann aber kam neues Gebiet. Mutig wagte sie den Schritt, aber ach, war es nicht, als ob ihr Fuß plötzlich in wirres Gestrüpp geraten wäre? Wohl vernahm sie die Worte, herrlich wie zuvor, und ein Bild und Gedanke blitzten hie und da auf; aber zum Ganzen wollte es sich nimmer fügen. Sie suchte, sie rang mit Worten und Sätzen; aber nur tiefer verstrickte sie sich in der Wirrnis, sinnlos vom Wege verirrt. Ach, ihr Wissen reichte noch nicht so weit, und nun sie den weisen Führer verloren, schwand ihr der Pfad unter den Füßen. Eine große Verzagtheit kam über sie. Unvollständig, zu früh abgebrochen auch hier. Sie mußte an ihr Bildnis denken mit den toten Augen und dem unfertigen Munde. Und plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen, heiß, in einem unaufhaltsamen Strom. Sie wußte nicht, worüber sie weinte, ob über Herrn Morell, über Giulio oder über sich selbst; ihr war, als ob sie vor abgebrochenen Pfaden stünde, trostlos. Und war da nicht wieder das Zufallen der Tür, fern, fern, aber doch deutlich und grausam?

Später freilich, als die Unglücksbotschaft aus Florenz eintraf, dachte sie, daß es eine Ahnung gewesen, und als die Nachricht die andern niederschmetterte, blieb sie aufrecht. Sie hatte den Schmerz zum voraus gekostet und fand nun keine Tränen mehr, es war ihr wie Bestätigung eines lange Gewußten. Aber daß es so furchtbar sein mußte, so abscheulich! Erst der Freispruch, und dann mitten in das Glück der Freiheit hinein die grauenvolle, unaufgeklärte Tat. Giulio mit verzerrtem weißem Gesicht und blutgetränktem Haar irgendwo in der furchtbaren florentinischen Nacht drunten am Arno, der an Donna Ersilias Haus, allwo nun der falsche Freund Meister war, vorüberfloß ... Das war das Bild, das den ganzen Frühling, der zart und sehnsüchtig aufging und sich sehnsüchtig und strahlend in den Sommer ergoß, verschattete und jeglichen Glanz auslöschte. Es war nicht Giulios Tod allein; die Tatsache, daß ein Leben dort abgebrochen war, wo es eben erst zur Blüte sich entfalten wollte, das war das Entsetzliche, daß man so mitten im Leben stehen konnte und das Herz voller Pläne, die alle gut und von Gott eingegeben schienen, und dann auf einmal fertig, abgeschnitten ...

Anna mußte an alle die denken, die ein gleiches Geschick getroffen hatte. Alles, was sie von Martern und Hinrichtungen je vernommen, kam ihr nun in den Sinn, und zum ersten Mal gingen ihr die Augen darüber auf. Was hatte man nicht für furchtbare Dinge gehört von Exulanten, von jungen, zu Tode gequälten Menschen! All die Elenden, die aus Galeeren und in französischen Kerkern um des Glaubens willen zugrunde gingen, wiederholte sich an ihnen nicht hundertfach Giulios Schicksal, nur grauenvoller noch? Hatten sie nicht alle, wie er, mit frohen und sehnsüchtigen Augen in die Welt geschaut! Ach, Giulio lag nicht allein mit blutigem Haar; überall rauchte es von zerstörten Leben aus Kerkern und von Scheiterhaufen, und da sollte man weiterleben und arbeiten und schöne Künste treiben, als ob darin der Sinn des Lebens läge.

Es gab Zeiten, da Anna auch ihre Arbeit seelenlos und ohne Teilnahme betrieb, wo sie mitten von der Malerei weglief und droben in ihrer Kammer in dem schwarzen Buche suchte nach einem Sinn und Trost. In all der Trübsal und Not, wo war Gott? Und Gottes Güte, wo?

Erst nach und nach wurde sie wieder stiller in sich und klarer. Wie eine beschwichtigende Hand ging ihr das Evangelium der Liebe über die brennende Wunde, und eines Tages fiel ihr ein homerisches Wort in die Augen, das ihr seltsam ins Herz leuchtete: »... und leiden die großen, vom Schicksal nicht gewollten Schmerzen durch eigene Schuld.«

Durch eigene Schuld! Nicht Schicksalsmacht sondern Menschenschuld!

War es nicht Menschenhand, die das Furchtbare rings vollbrachte, die Giulio gemordet, die Kerker baute und Scheiterhaufen errichtete?

Gott hatte das nicht gewollt, und Gott konnte an den Opfern gut machen, was frevelnde Hand verübt, dort, wo Menschenmacht ein Ende hat. Und Gott wollte auch, daß die Menschen anders würden; denn gab er ihnen nicht Wegweiser allenthalben nach guten und glückbringenden Landen? Nicht allein das Evangelium, das mit klaren, unvergänglichen Worten es aussprach, daß die Liebe, die Liebe allein Menschenpflicht und Menschenglück bedeute und Ziel und Sinn alles Endlichen, wie der Unendlichkeit sei. Da war auch die Natur. Ach, wenn man sie recht betrachtete, eine Sommerwiese etwa, wann die Sonne darüber ging und in tausend betauten Gräschen Glanz und Flimmern entfachte und die ganze Welt duftete, so süß, daß man es fühlte bis in die wohlig durchschauerte Haut, und Grillen und Wachteln einander antworteten, so sein – wie konnte man das alles ansehen, die Helligkeit und das Leben, die ganze gebreitete Güte und noch einem einzigen schlimmen und vernichtenden Gedanken Raum geben? Und hatte Gott nicht selbst den Heiden große Menschen erweckt, daß sie ihnen den wahren Weg zeigten? Und hatte er ihnen nicht die Kunst gegeben?

Ja, die Kunst.

Anna sah sie auf einmal mit andern Augen. Sie mußte an Worte von Herrn Morell denken, und sie glaubte deren Sinn erst jetzt zu erfassen. War nicht auch die Kunst ein Wegweiser zur Schönheit und Güte, dem Menschen von Gott verliehen? War nicht auch sie eine Waffe gegen alles, was sich häßlich und trüb vor die Wahrheit stellte, und nicht sie es, die eben jetzt am Ende eines furchtbaren, von Krieg und Haß zerrissenen Jahrhunderts aufging wie ein mildes Licht und Versöhnung und Güte strahlte?

Wie eine Befreiung und Erleuchtung war diese Erkenntnis über Anna gekommen. Ihr eigenes Leben sah sie jetzt in anderem Licht, und sie kam sich selbst bedeutsamer vor und voller Verantwortung, und wenn sie sich nun neuerdings mit heißem Eifer ihrer Arbeit zuwandte, so war es nicht bloß Freude an der Sache und das Bestreben, Lehrer und Eltern zu erfreuen, wohl aber eine tiefe innere Glut, die beglückende Überzeugung, mitzuhelfen an einem großen Werke, dessen Ziel weit über die engen sichtbaren Grenzen hinaus im Unermeßlichen lag, und damit verband sich die glückliche Zuversicht aller tüchtigen Jugend, einer besonderen, wichtigen Zeit anzugehören und mit ihr neuen, unerhörten Zielen entgegenzugehen.

Ein Ereignis fiel ihr ein aus ihrer frühen Kindheit. Daheim in der großen Stube, alle versammelt, sie Kinder furchtsam zusammengeduckt; denn es war schier dunkel im Zimmer, weil der Vater die Laden zugezogen hatte, damit man nicht auf die Gasse sehe, von wannen ein wildes Laufen und aufgeregtes Geschrei herausdrang, maßen ein schlimmes Weib vom Leben zum Tod gerichtet werden sollte, und nun lief alles, um die Hex zu sehen auf ihrem Todesgang. Und als der Lärm immer größer wurde und einzelne Worte Hereinflogen, wüste Verwünschungen und böses Gelächter: »Kniet nieder,« gebot der Vater, »und betet für die arme Seele!« Aber wie sie ihm mit bebenden Lippen die ernsten Worte nachsprachen, flog plötzlich die Türe auf, und der Onkel Fähndrich stand vor der Schwärze des Ganges: »Für die heilige Obrigkeit solltet ihr beten und die hohe Geistlichkeit,« rief er und riß grimmig an seinem langen Schnauzbart, »daß ihnen das nicht zu schlimm angerechnet wird! Habt ihr das arme Weiblein gesehn? Lützel und armselig zum Umblasen; mit einer Hand wollt' ich's lüpfen, und mit Augen wie ein Spyri, wann's zu Boden fällt und die Flügel nimmer gebrauchen kann, und nun die ganze Bande hinterher – saker Hagel, diese Sauerei!« Und er spuckte weit aus auf den blanken Boden, daß die Mutter entsetzt zurückfuhr und ihn der Vater mit ernsten Worten zurechtwies von wegen der unbotmäßigen Worte in Anwesenheit der Kinder. Aber der Fähndrich lachte: »Grad die sollen's hören, Bruder, die gehören einer andern Zeit an und sollen eine andere machen helfen.« Und dann hatte er sie auf den Arm genommen: »Anneli, Meiti, die klaren Äuglein da sollen bessere Zeiten sehen, will's Gott!« Und hatte sie geküßt, und obwohl sein grober Schnurrbart sie in die Backen stach und ein scharfer Tabakgeruch ihr den Atem benahm, war ihr doch ganz feierlich zumute dabei.

Daran mußte sie nun denken; ja, ihre Augen wollten andere Zeiten sehen.

Anna stürzte sich mit einem fiebrigen Eifer in ihre Arbeit, und fast jeder Tag brachte neue Fortschritte, neue Erkenntnis und neues Können, sodaß Herr Werner sie verwundert betrachtete: »Was ist für ein Feuer über Euch gekommen, Waserin! Wann Ihr so zufährt, hat Joseph Werner seiner Jüngerin bald nicht mehr viel zu sagen.« Und Anna fühlte mit heimlichem Entzücken, daß sie mehr und mehr selbständig wurde und weniger des Meisters Hilfe denn seinen Rat und seine Auskunft bedurfte. Und das war gut. Herr Werner hatte mit sich viel zu tun und konnte sich nicht mehr wie früher seinen Lehrjüngern widmen. Giulios Tod war ihn hart angekommen, besonders, da er sein eigenes Leid in Sibyllas Schmerz mit hundertfacher Spiegelung wiederfand. Mit der ganzen Leidenschaft ihrer aufwallenden Natur hatte das Mädchen, das sich so plötzlich aus trügerischen Hoffnungen geworfen sah, sich der verzweifelten Trauer hingegeben; ihre Gesundheit hatte darunter gelitten, sodaß man sie vom Schauplatz ihrer Hoffnung und Schmerzen etwas entfernen zu müssen vermeinte und sie für längere Zeit zu Verwandten nach Lausanne schickte, allwo sie sich nach und nach von ihrer Siechheit zu erholen schien. Bald nach Sibylla war auch der junge Waadtländer verreist, der seine Lust für die edle Kunst alsobald verlor, da es im Wernerschen Hause traurig und einsam wurde, und auch Adam Mörikofer hatte eines Tages in einer verwirrten, überstürzten und völlig unerklärten Abreise Bern verlassen, sodaß nun neben Christoph und ein paar unregelmäßigen Tagesschülern nur mehr Anna und Lukas da waren. Dieser weniger mehr als Schüler denn als Mitarbeiter des Meisters, dem er sich hauptsächlich durch Radierungen wertvoll machte, die Herrn Werners Gemälde weithin verbreiten sollten. Und Herr Werner trachtete nicht darnach, dem zusammengeschmolzenen Bestand seiner Kunstakademie neue Kräfte zuzuführen, da sich Fragen ganz anderer Art in den Vordergrund drängten. Aus Herrn Andreas Morells Verwenden hin, der die Mißachtung, die Werners Kunst in seiner Vaterstadt erfuhr, nicht ohne Schmerz mit ansehen konnte, war ihm von des brandenburgischen Kurfürsten allmächtigem Minister Dankelmann die Stelle des ersten Hofmalers und Direktors an der kurfürstlichen Kunstakademie zu Berlin in Aussicht gestellt worden. Das Angebot war verlockend und warf Herrn Werner in einen heißen Widerstreit der Gefühle, verdarb ihm jegliche Freude an der Gegenwart und Heimat, ohne ihn doch zu einem frohen und zuversichtlichen Entschluß kommen zu lassen. Zu zäh hing sein Herz an der vielgeschmähten und über alles geliebten Vaterstadt, zu lieb war ihm das freie, selbstherrliche Leben, das er hier, unabhängig von den Launen eines Gebietenden, führte. So gingen die Erwägungen hin und her, und die Korrespondenzen mit Andreas Morell und Berlin erlahmten nie, brachten viel Aufregung mit sich und zerschnitten jedes gedeihliche Werk, und da auch Christoph in Mitleidenschaft gezogen wurde, waren Anna und Lukas Stark die einzigen, die noch mit unveränderter Kraft den alten Arbeitsgeist der Wernerschen Schule aufrecht erhielten. Oft waren sie ganze Tage allein an der Arbeit, und der Eifer des einen ging auf das andere über und machte aus ihrer Arbeit einen Wettbewerb, der indes mit der Zeit immer weniger einem Kampf glich als einem frohen Zusammenwirken.


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