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IV. Zum grauen Mann

So ein weicher, schwerverhängter Dezembertag, wann der Himmel tief steht und die Flocken niederfallen, still und groß und unablässig, fast kein Tag, ein Dämmer bloß zwischen Morgen und Nacht, und wann sich einmal eine Helle zeigt irgendwo am Himmel, so ist es nur ein milchiges Licht und für kurze Zeit nur, ein Blick bloß, wie von einer Mutter, die den Vorhang von der Wiege hebt: »Schläfst du noch?« und ihn dann sachte wieder fallen läßt mit einem Lächeln: »Sum, sum, ist dir nicht wohl unter deiner Decke?« Und still wie in einer Wiege sind die Menschen in ihren Häusern; die Wärme tut ihnen wohl, wenn draußen die kühlen weißen Schleier fallen, und sie fühlen, daß es etwas Köstliches ist, so in der warmen Stube zu sitzen, beisammen, und nichts da ist, was hereindringt und einen hinausruft in die Weite. Denn die Welt hat keine Weite mehr, ist selbst so eine stillverschlossene Stube geworden ohne Türen und ohne Wege.

Anna schob ihren Tisch ans Fenster. Es war zu wenig Helligkeit da drinnen in der großen dunkeln Stube. Die zarten Farben erstarben ihr unter dem Pinsel, und die Augen schmerzten vom scharfen Zusehen. Es hätte eine weiße Stuckdecke da sein sollen wie in Meister Werners frohmütiger Werkstatt, und ein helles Getäfer, solches das karge Licht nicht also neidisch verschluckt hätte wie das strenge dunkle Braun. Und doch, war dieses geräumige Gemach nicht schön? Wie samtig die matten Wände und dazwischen die glänzenden Nußbaumtüren mit den leuchtenden Messingbeschlägen; oben waren sie gewölbt in einem stattlichen Bogen, und es war erwartungsvoll, sie zu öffnen, weil man ein Besonderes dahinter vermutete, und wenn man sie schloß, dann war das ganze Draußen verbannt, und es wurde heimlich in dem Raum und ein wenig feierlich.

Als ihr die Eltern zuerst dieses schöne Sälein anwiesen: »Dies ist nun dein Reich, darinnen du fürderhin schaffen sollst,« was war das ein Jubel! Da erst hatte ihr Leben hier eigentlich begonnen. Vorher – ja, da war alles trüb und weh; Maria so beängstigend, fast grauenhaft in ihrer wortlosen Verzweiflung, und die Mutter krank, und an ihrem Bett Elisabeth in Tränen und tausend Ängsten um ihr Leben, und sie, die Neueingetroffene, mitten drin, unbeholfen und entfremdet, ach, doppelt fremd um der heimlichen Liebe willen ...

Damals hatten Pinsel und Farbe Ruhe; aber ihre Seele war wie gepeitscht von Selbstvorwürfen und Sehnsucht und unterdrücktem Schaffensdrang. Erst als sich dieses Zimmer ihr öffnete, wurde es besser, und sie konnte wieder zu sich kommen und arbeiten. Freilich war es auch hier zuerst anders, als sie geglaubt. Eines Tages gingen die Aufgaben aus, denn die Vaterstadt hatte keine Aufträge für sie. Man wartete auf Anerkennung von draußen, derweil sie gehofft hatte, mit den heimatlichen Erfolgen hinausdringen zu können. Wäre nicht Herr Lukas Hofmann gewesen, sie hätte ihre gute Kunst in der eigenen Heimat feilbieten müssen oder verdorren lassen. Wie anders sie sich das gedacht hatte, damalen, als sie an dem stolzen, glitzrigen Wintertag die Vaterstadt zuerst wiedersah und sie von allen Zinnen und Türmen und von jeder blitzenden Limmatwelle ein freudiges Willkomm zu lesen vermeinte.

Aber nun ging es auch so, und die Sendungen, die fleißig nach Basel wanderten und ihr jeweils herzliches Lob und schönen Erlös eintrugen, die brachten Ansporn und Freude genug.

Nur heute wollte es nicht recht gehen mit der Arbeit. Oder war es vielleicht schon gestern so oder auch länger schon? Ach, die Tage waren kurz geworden und dunkel.

Anna öffnete das Fenster und wischte den Schnee, der sich halbmondförmig in den Bleirahmen auftürmte und die alten runden Scheiblein überzog, herunter, und dabei dachte sie, daß man hier neue Fenster einsetzen sollte, wie man sie nun vielerorts sah, hellere, mit großem und durchsichtigem Glas. Dann blickte sie hinaus. So still war alles, wie ausgestorben und verweht; denn auch der Schritt der wenigen, die durch die Gasse gingen, versank lautlos im tiefen Schnee. Der Brunnenturm am Ende des kleinen Gäßchens, das just vor ihrem Fenster sich aufrichtete, stand mit überhängender weißer Mütze da, wie eine Bürgersfrau im Kirchengerüst, und seine Schleier verhüllten alles Fernere, so emsig fiel der Schnee. Nur das Haus über der Gasse lag nüchtern, fast nackt vor ihren Augen, mit unverhüllten Farben und Flächen; denn so schmal war der Raum, der ihr Fenster davon trennte, daß auch der dichteste Schneefall nur spärliche Flocken hineinsandte. Oh, daß man sie hätte entfernen können, durch ein Zauberwort, diese Mauer mit den neugierigen Augen, daß der Blick nur um ein Geringes weiter gewesen wäre und sich mit dem beengten Atem nicht immer wieder schmerzhaft an dem zudringlichen Gegenüber gestoßen hätte!

Seufzend schloß sie das Fenster und setzte sich wieder an ihren Tisch. Ein wenig heller war es wohl geworden. Sie betrachtete prüfend die begonnene Arbeit und verglich sie mit der Vorlage, dem Ölbildnis eines dicken Basler Ratsherrn, das sie in Miniatur übersetzen sollte. Dann nahm sie den silbergestielten Pinsel wieder auf und ließ ihn mit einem leichten Karmoisin in haarfeinen Strichlein über des alten Herrn lange Nase gleiten. Aber plötzlich hielt sie entmutigt inne. Man sollte kein Konterfei von sich machen lassen, wenn man solch feistes Gesicht hat, daß die Augen und alles Edle verschwemmt werden, und eine so lampige rote Nase! Scharf und jung sollte ein Gesicht sein, dann wär' es eine Lust zu malen. Mit einem einzigen Pinselstrich zog sie auf dem Papier, worauf sie ihre Hand zu legen pflegte, ein eigenwillig geschnittenes Profil mit scharfer Nase und hervortretendem Kinn.

»Lux ...«

Und plötzlich wußte sie, daß es weder die Dunkelheit des Tages noch des alten Herrn rote Nase war, das ihr immer wieder den Pinsel aus der Hand nahm: »Lux, warum schreibst du nicht?«

Sie zog den Brief hervor, den sie nun schon hundertmal gelesen und der – als letzter einer so herrlichen Reihe – seit drei Monaten ohne Nachfolge geblieben, und las wieder und wieder den einen Satz, den sie längst mit allen Einzelheiten der seltsamen, ungeordneten und widersprechenden Schriftzüge auswendig kannte: »Die Welt heraußen ist keine Alpwiese und keine Malstube, sondern gleicht mehr einem großen und wüsten Kessel, worein man geschmissen wird, und weiß keiner, wie er herauskommt, ob weichgekocht oder hartgesotten oder gar schwarz und rußig wie der Teufel; wärest Du aber bei mir, durch die Höll selbst wollte ich gehn und doch blank bleiben wie ein Engel... Und sollst Du mir viel und Liebes schreiben, ansonst ich nicht weiß, von wannen mir Stärke kommen soll und Rettung in dem Wirrsal.«

Und sie hatte geschrieben, so oft und so voller Liebe; aber zuletzt ganz ernst: »Die Wahrheit will ich wissen, warum Du nicht antwortest, maßen ich es nimmer aushalte so.«

Und nun wartete sie und wartete, und die Tage waren dunkel und kurz und die Nächte so lang ...

Sie nahm den Pinsel wieder zur Hand. Da hörte sie jemanden die Stiegen heraufkommen. Wie merkwürdig verschieden die drei Treppen tönten, die winklig und in gesonderten Richtungen zu ihrer Stube führten. Anna lauschte: Das war Marias müder Schritt. So kam sie nun jeden Tag zu ihr herauf: »Hier ist mir wohl; es ist so still, und du fragst nicht, nicht mit Worten und nicht mit Blicken,« und dann setzte sie sich in die Fensternische mit irgendeiner Handarbeit. Anna aber mußte sich zusammennehmen, daß sie nicht immer wieder zu der Schwester hinüberblickte und verstohlen die weiße Strähne betrachtete, die ihr im schwarzen Haar mitten über der Stirn stand wie die Pfingstflämmchen auf den Köpfen der Apostel. Es war etwas Heiliges, dieses sichtbare Zeichen großen Schmerzes, aber auch etwas Grausenvolles, das einem das Herz zusammenzog und einem bang machte, daß man sich fremd fühlte in der eigenen Stube und daß die Arbeit nimmer gehen wollte. Wie oft hatte Anna nachträglich zerstört, was sie in Gegenwart der armen Schwester unter streitenden Gefühlen mühsam erschaffen!

Maria trat ein. Sie hielt einen Brief in der Hand, einen Brief mit widersprechenden, unruhigen Schriftzügen. Anna wollte ihr entgegenstürzen, aber die Knie zitterten zu heftig. So mußte sie warten, ganz still auf ihrem Sessel, bis die andere bei ihr war. Und dann endlich hielt sie den Brief und konnte mit bebenden Fingern über die wirren, ach so lieben Züge streichen, die ihren Namen formten. Daß sie doch allein gewesen wäre, in diesem Augenblick nur. Sie konnte ihn doch nicht öffnen, so, wenn ein anderes dabei war. Aber dann plötzlich riß sie ihn doch auf, ungestüm und mit einer hastigen Bewegung, daß das Papier knisternd zerriß. Und sie las:

»So Du aber die Wahrheit wissen willst, bedenk es: Wahrheit schmecket nimmer süß.

Das Leben hat mich in die Hand genommen, und die Wege, die's mich führt, sind solchergestalt, daß Deine zarten Füße sie nimmer gehen könnten. Und die Luft, die mich umgibt, ist heiß und schwer, daß Dein stolzer Mund sie nimmer atmen könnte, und steh' ich da mit schwarzen rauhen Händen, die Deine kühlen weißen Finger nimmer berühren dürfen. Ach, wären sie minder weiß und minder kühl, Deine Händ, vielleicht gäb's heute noch einen Weg von Dir zu mir. Und wäre Dein Herz minder kalt und minder stolz Dein Mund und hätt' er mich zu küssen vermocht, dann wär' ich vielleicht nimmer auf diesen wirren heißen Weg geraten. So aber hast Du wohl eine Flamme zu entzünden, nicht aber sie zu stillen gewußt, und das Feuer ist groß geworden und ist ein fremder Wind hineingefahren und hat die Brücke zerstört, so zwischen uns lag.

An Dich will ich denken in meinen besten Stunden als an etwas außer den Maßen Schönes und Hohes, das man wohl verehren, aber nimmer begehren soll, dieweil das Leben nicht rein und hoch ist, wie Du meinst, wohl aber heiß und gemein und am stärksten oft dort, wo es zutiefst führt. Dich aber wird es wenig gelüsten, nach mir Dich umzuwenden, maßen Deine Pfade hochgehn, die meinen aber erdwärts. Und magst Du mir auf diesen Brief, den Du als aus unwürdiger Hand kommend verbrennen sollst, nicht mehr antworten, dieweil ich morgen schon diese Stadt verlasse und sich fürder vor Dir auch äußerlich meine Straße verlieren wird.

So leb wohl, Du Reine, Kühle, und halt dich inskünftig fern von Menschen, so ein heiß Herz haben und heiße zugreifende Händ, und halt Deine Augen wohl in acht, daß sie kein Feuer entzünden, solches Deine zärtliche Seele nicht ertragen kann.

Zum letzten Mal Dein Lux.«

 

Ganz langsam hob Anna die Lider. Ja, was war nun das? War der Wintertag ins Zimmer getreten, daß ihr weiße Schleier vor den Augen fielen? Und saß da nicht etwas auf ihrem Herzen und stach hinein, ganz tief, daß ihr Mund wimmerte und Maria entsetzt aufsah, ah, mit so schrecklichen schwarzen Augen – oder war das gar nicht Maria, was dort saß hinter weißen wogenden Schleiern mit den furchtbaren großen Augen und mit der weißen Flamme auf der Stirn? Und nun kam es näher ... Anna sprang auf: Fliehen, fort! Der Boden wich unter ihren Füßen; aber nun öffnete sich doch die Tür, und nun fiel sie hinter ihr ins Schloß, und nun war Anna in ihrer Kammer, allein, und konnte ihr Gesicht in den kühlen Kissen ihres Lagers verstecken, daß keiner es hörte, wie es verzweifelt aus ihrem Herzen stieg, und keiner es sah, wie es aus ihren Augen brach – all die ungeweinten Tränen langer schmerzhafter Wochen – »Tut es so weh?« Anna fühlte eine warme Hand auf der ihrigen, und als sie sich umwandte, sah sie in Marias Gesicht. Das war nicht gramvoll und zerrissen wie sonst, sondern hatte einen weichen und guten Ausdruck. Anna suchte ihre Tränen zu verbergen. Aber die Schwester schüttelte den Kopf: »Wein du nur, Kind; dafür ist man jung, daß man den Schmerz ausschütten kann. Später geht's nicht mehr, und dann kriecht er nach innen und frißt das Herz. Ja, und dann kommt der Vogel mit den schwarzen Schwingen und kreist immerzu, immerzu, gerade über dem Kopf, und weiß man nie, wann er herabstößt.« Sie setzte sich auf Annas Lager und streichelte sachte ihr feuchtes Haar. »Wein du nur, Kind, Tränen, aufgelöste Schmerzen – Wolken müssen zu Regen werden, wann die Sonne wieder scheinen soll.«

Anna legte ihre beiden Arme um Marias Schultern. Wie wohl es tat, die dunkle Stimme und die gute, beschwichtigende Hand! Oh, diese da, die kam nicht mit leeren Trostesworten, die kannte beides, die Liebe und den Schmerz. Sie drückte ihr heißes Gesicht in Marias weichen Hals und weinte still vor sich hin. Und Maria sprach weiter, ganz leise, als ob sie mit sich selber redete, und mit langen, tiefatmenden Pausen:

»Der Brief – ich hab' ihn gelesen – oh, das tut weh, das hätt' mir auch weh getan, wann mein Jacob mir so geschrieben hätte, damals – und wär' doch ein groß Glück gewesen; denn dann wär's nie gekommen, das Furchtbare... Die Liebe – zuerst, ja, da wandelt man im Licht, und alles ist rein und hell; aber dann, aus dem Licht wird ein Feuer, und das ist nimmer so hell und ist rot und heiß – und wenn erst die große Flamme da ist und man sie nicht stillen kann – ah, Anna, wann die große Flamme da ist und man sie nicht stillen kann ... Bei uns, da geht es wohl lange, wir sind kühl gemacht, und liegt ein still Wasser in unserer Seele, das ist klar, und viele Flammen kann es löschen. Aber die andern, die Armen – da ist nichts von kühlen Gewässern, alles liegt trocken und heiß wie die Heide im Sonnenbrand, und kommt nun das Feuer, dann gibt's kein Aushalten mehr, bis alles brennt und alles zu Grund geht.

Die große Flamme hat mir meinen Liebsten zerstört.

Wir brauchen so wenig – ein lieb Wort und ein guter Blick – und wann die Händ sich berühren, ganz zart nur, mit den Fingerspitzen bloß – ah, da sind wir selig und wünschen nichts anderes mehr – aber sie, immer mehr wollen sie, immer mehr, und wenn man's nun nicht geben kann, weil man's nicht geben darf, weil die Welt es verbietet – dann ist das Unglück geschehn.

Hab's ja nimmer geahnt, daß er verdürsten gemußt. Nur brav wollt' ich sein. Und als er kam in jener Nacht – es war schon früh am Tag, aber draußen noch schwarz, da hört' ich einen Stein an meinem Fenster und eine Stimme, und als ich hinableuchtete und ihn unten stehn sah im schmalen Gäßlein, barhaupt und ohne Schuh, und wußte, daß er so von Baden hergelaufen war, mitten in der kalten Nacht, da hab' ich mich gefürchtet vor dem Wahnwitzigen, und als er dann bat – mit solcher fremder wirrer Stimme, daß mir das Herz zitterte – ›Laß mich herein, Maria, sieh, es ist kalt, und doch vergeh' ich vor Glut‹– da hab' ich an die Nachbarin gedacht, daß sie es hören könnt, und ›Geh fort‹ hab' ich gerufen, ›zu deinem Schwager, und daß mir nimmer so kommst!‹ Und hab' das Fenster zugeschlagen und meinen Kopf in die Kissen gesteckt vor Angst und Scham und daß ich ihn nimmer hören konnt' ...

Am Tag haben sie mich dann geholt in währendem Kirchenläuten. Da lag er in des Schwagers Bett, ganz weiß, und war das Blut ringsum. Und als ich wieder zu Sinnen kam, denn ich war hingefallen von dem Jammer, da hob er die armen Händ zu mir: ›Siehst du, Maria, nun hab' ich mir selbst geholfen – ganz still ist mir nun, ganz kühl ...‹

Sieben Tag bin ich bei ihm gesessen, allezeit an seinem Lager, und hab' die sterbenden Händ in den meinen gehalten, und da hat er mir alles gesagt: ›Siehst du, Maria,‹ – und war es wie ein Lächeln in dem weißen Gesicht – ›so sollten wir sein, ohne Blut und mit durchstochenem, sterbendem Herzen, dann würden wir die Lieb ertragen können. So wohl ist mir jetzt, da ich dich liebhaben kann ohne Verlangen und ohne Glut, ganz rein wie die lieben Engel im Paradeis.‹ Und hat es mir abgebeten, daß er solches getan im jachen Wahnwitz jener Nacht und hat schöne und heilige Worte geredet. Mir aber war, als ob ich es gewesen, die ihm das Messer ins Herz gestoßen, und als die strenge Kirche ihm verzieh und man ihn ehrlich bestattete, war mir immer, als ob man mich als eine Mörderin hätte richten müssen.

Und ihr habt Angst gehabt um mich, ich weiß es, und gefürchtet, daß ich es ihm nachtäte, meinem Jacob; deshalb hat man dich zurückgerufen, Anna, daß du mich hütetest, nicht wahr? Oh, ihr hattet unrecht, ich hab' eine ganz andere Sühne: als die feuchten Finger kalt wurden in meinen Händen, ist es zu mir herübergekrochen – auf einmal saß es mir im Herzen, und nun bin ich da, um es zu Ende zu leiden sein qualvoll abgebrochenes Leben, allein, und ist keiner, der mir Helfen darf.«

Mit einer plötzlichen Bewegung hatte sie Anna von sich gestoßen und starrte nun aus großen Augen ins Leere. Anna, deren Tränen unter den seltsamen Worten der Schwester lange versiegt waren, berührte leise ihre Hand: »Arme, arme Maria!« Da wandte sich diese ihr zu, und es kam wieder ein mildes Licht in die schwarzen Augen:

»Ja, arm – aber siehst du, du darfst nicht arm werden, Anneli, du hast glückhafte Augen, und der liebe Gott meint es gut mir dir. Deshalb hat er nun deinen Liebsten einen andern Weg finden lassen, daß du rein bleiben kannst. Trennung, das tut weh; aber besser jetzt, da es die große Flamme noch nicht ist. Laß dem Schmerz seine Zeit, und dann kann alles wieder gut werden und besser als vorher. Und wann ich dich wieder froh seh' – dein heiter und still Wesen hat mir so wohlgetan – dann wird es vielleicht auch in mir wieder ruhiger. Deine Ruhe wird mir so gut tun und deine Stärke, willst du mir helfen?«

Und sie versuchte zu lächeln. Wie ein blasses Wintersonnenscheinchen zitterte es um ihre Lippen, so rührend sah das aus.

Anna fiel ihr um den Hals: »Liebe, liebe Maria, wir wollen stark sein, beide!«

*

Nein, die große Flamme war es wohl nicht gewesen, aber ein stilles und frohes Licht, das in alle Winkel hineingezündet hatte, und nun es erloschen, war alles grau geworden und trüb. Und auch die Vergangenheit lichtberaubt und schmerzhaft. Und all die lieben Erinnerungen, womit Anna sich ihr junges Lebensstübchen ausgeschmückt hatte, daß es darin glänzte und duftete wie von Kränzen und buntem Flor, die waren nun welk und tot. Nur nicht zurückdenken, das tat so weh. Aber auch nicht vorwärts. Wer mochte in eine Zukunft blicken aus der grauen, grauen Gegenwart heraus? Konnte es anders werden als es war, lichtlos und ohne Freudigkeit? Da war nur die gegenwärtige Stunde und die Arbeit, der sie gehörte. Die Arbeit. Wohl war es nicht mehr das frohe leichtbeschwingte Schaffen jener glücklichen Zeiten des Lichts, vielmehr ein strenges und mühsames Werk. Aber auch der tapfere Eifer tat gut, machte, daß man nicht Zeit hatte zu lauschen, wann die schwarzen Flügel sich regen wollten, machte, daß man müde wurde, daß die brennenden Augen zufielen und die vom langen Sitzen schmerzenden Glieder sich lösten, wann die langen schlimmen Nächte kamen.

Wie lieb ward ihr nun ihr strenges Arbeitszimmer; so dankbar war sie, daß es sie mit festen Türen und kleinen unklaren Fensterchen vor der Welt abschloß, sodaß man es nicht zu wissen brauchte, wann der Frühling draußen umging und mit hundert unbarmherzigen Fingern in neue Wunden griff und wann der Sommer mit Düften und Sonnengluten dem alten Weh neues Leben eingoß.

Und auch vor Maria war ihr nimmer bang. Es tat ihr wohl, das stille traurige Gesicht um sich zu sehen, aus dessen ernsten Augen ein wortloses Verstehen zu ihr sprach. Und das ganze stille Haus hier tat ihr wohl, darinnen das Leben nur gedämpft auftrat, als ob es Rücksicht nähme auf ein Totes, das irgendwo unsichtbar lag. Einst hatte sie davon geträumt, Freude da hineinzutragen, und nun war sie selber froh, daß man mit keinem Lustigsein sie bedrängte. Fröhlichkeit, sie hielt ja doch nicht stand, eines Tages lag sie doch am Boden, und wer mochte sie dann noch aufheben mit zerschlissenem und staubigem Gewand? Sie mußte an das Wernersche Haus denken, wie war es dort einst lustig zugegangen und laut, und heute?

Klagerfüllt und trostlos waren Sibyllas Briefe, einer wie der andere. Die Fremde hatte ihnen kein Glück gebracht; schon die Reise war beschwerlich gewesen und voller Trübsal und hatte ihnen bittern Schaden zugefügt an Gut und Gesundheit. Und in Berlin, da war alles häßlich und unfroh und anders als sie gedacht. Der große Minister gefallen und an seiner Stelle ein kleiner und enger Mensch, der die Werke seines Vorgängers zerstörte und Herrn Werner um Stelle und Recht bringen wollte. Da gab es Kämpfe und Not und Verbitterung ohne End.

Einförmig und trüb wie Regentage reihten sich Sibyllas Briefe; aber einstmals brachte einer doch ein Wort, das wie ein Blitz in Annas Leben zündete: »Lukas Stark war da; er ist groß geworden und fest mit einem rötlichen Gesicht, darinnen der arme Giulio kaum mehr einen Dante erkennen möchte, und hat er meinem Vater nicht gar gefallen, indem er viel spöttischer und wilder Reden geführet, woraus man eine nicht immer gute Gesellschaft füglich erkennen konnte. Sonderlich seine leichtfertigen Worte, so er der Kunst gewidmet, haben meinen Vater geschmerzt. ›Wozu soviel Kopfzerbrechens!‹ rief er mit höhnischem Lachen, als der Vater ihm von einem neuen, über die Maßen schwierigen Werke erzählte. ›Früher, da hab' ich auch Verse geschrieben und viel schwerer Gedanken mir gemacht über Kunst und Leben, aber jetzo weiß ich, daß ein guter Brotkorb mehr wert denn alle brotlosen Kunst zusammen!‹ In Nürnberg will er nun in eines Glasermeisters Werkstatt treten, um allda mit Ätzen auf allerlei kostbarlich Glas ein angenehm Brot zu verdienen. Der hohen Kunst wie allem Edeln aber ist er nun wohl für immer verloren.«

Zweimal mußte Anna diese Worte lesen, bevor deren Sinn ihr verständlich wurde. War es möglich: Lukas, ihr stolzer, ehrgeiziger Lux, und nun auf diesen breiten gewöhnlichen Wegen! Oh, das war traurig, trauriger als alles andere. Und sie fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, nicht heiß und leidenschaftlich wie einst, sondern mild wie aus einem großen herzlichen Erbarmen heraus. Armer Lux! Ob man ihn nicht heute noch zurückrufen könnte? Aber er hatte sich ja selbst ihren Händen entwunden, und sie war machtlos. Sie dachte nach, wieviel sie gearbeitet in dieser Zeit und daß ihre Kunst stärker geworden und eigener und wie die Erfolge nun kamen, einer nach dem andern, und sie höher hoben von Jahr zu Jahr und daß er all die Zeit benutzt, um tiefer zu steigen und an einem glatten und öden Ufer zu landen. Der weiße Berg fiel ihr ein, den sie einst zusammen betrachtet, und Herrn Werners Worte. Wie weit vom hohen Ziel war er nun abgekommen. Und sie? Ein freudiger Schreck ergriff sie. War sie nicht durch all das tapfer niedergekämpfte Leid dem Ziele ein ganz klein wenig nähergekommen und durch die unermüdliche Arbeit, darin sie ihren Schmerz begrub? War es am Ende doch ein Glück gewesen, daß ihre Wege auseinander gingen?

Langsam, langsam nahm ein neues Gefühl in ihr Platz und wuchs und trennte Gegenwart und Vergangenheit und ließ aus dem Mitleid für den neuen Lukas, der sie nichts mehr anging, Erinnerungen in wehmütigen und lieben Bildern wieder aufleben. Langsam wuchs sie über ihr eigenes Leid und das Schicksal dessen, der es ihr zugefügt, hinaus zu einer neuen Freiheit.

Und als Sibylla zum andern Mal Lukas' Namen nannte, konnte sie ihn ruhig lesen und ohne Schmerz die Nachricht aufnehmen, daß er seinen Brotkorb nun sichergestellt und die Tochter des Glasermeisters zu Nürnberg geehelicht habe. Ja, das paßte nun wohl zu dem neuen Lukas, vielleicht gar konnte es ein Glück für ihn sein. Ihr bedeutete es nichts mehr; für sie war es ja abgeschlossen – lange schon.

Ihr Leben hatte sich neu gemacht, ernst und streng zuerst, aber dann freier, und hier und da war es schon fast wie eine kleine Fröhlichkeit, die sich ankündigte, erst schüchtern, aber mit der Zeit immer vernehmlicher: wann Herr Lukas Hofmann ihr Briefe voll Lobes schrieb, die in den Augen der Eltern ein zufrieden stolzes Lächeln entzündeten, oder wann man nun auch in der Vaterstadt anfing, ihr Aufträge zu geben. Und die große herzklopfende Freude, als der Vater eines Abends nach dem Tischgebet mit feierlicher Stimme, daraus man aber eine heimliche Freude wohl vernahm, verkündete, daß ihrem Haus eine hohe Ehr widerfahren sei, maßen die durchlauchtigsten Herrschaften, der Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg und dessen Schwester, die Markgräfin von Durlach, ihre Contrafete bei niemand anders denn seiner Tochter Anna in Miniatur übersetzen zu lassen wünschten.

Ah, die stolzen Augen des Vaters und der Mutter tränenfeuchte Rührung und Marias Lächeln, das gar nimmer trüb war, sondern mit einem heiteren, schier sonnigen Glanz, und der jüngeren Geschwister erstaunte, bewundernde Augen! Aber Rudolf sprang auf, umarmte Anna und lachte: »Das müssen wir feiern, Schwesterlein! Ein wenig frische Luft, die kannst ohnedies brauchen, du Zimmerpflänzlein, mit deinem weißen, weißen Gesicht. Auf den See wollen wir, der Abend ist schön!« Und er deutete nach dem Brunnenturm, der mit einem roten Schein durch das schmale Gäßlein herabzündete. Und als sie im Kahn saßen, Rudolf, Elisabeth und sie, und Annas Hände nach so langer Zeit wieder einmal die Ruder führten und ihr mit jeder strammen Bewegung ein kräftiges und warmes Leben durch den Körper ging, war ihr, als ob die alte, lang vergessene Freude wieder in ihr aufstünde und aus ihren eigenen Augen neu und wissend in die Welt blickte.

Sie trieben unter dem Grendeltor durch in den offenen See hinaus mit eilenden Ruderschlägen, daß die im Widerschein des Abends erglänzende Wasserfläche vor ihren Augen rasch und mächtig sich weitete. Anna sah im Stern des Schiffes, den Rücken gegen den See, und blickte nach der Stadt und dem westlichen Himmel hinüber. Das war das Bild, das sie so oft in Stunden des Heimwehs heraufbeschworen, früher, als sie fern war: Zürich im Abendbrand, mit dunkeln, weithin spiegelnden Füßen aus der roten Flut steigend und mit glänzenden und schwarzverschatteten Häuptern in den flammenden Himmel aufragend, mächtig und lieblich, unwahrscheinlich und wunderbar wie himmlische Gesichte. Und wieder fiel ihr auf, wie verschieden die beiden Stadtteile, die der Fluß nach links und rechts auseinanderlegte. Dem westlichen Himmel zugewandt lag die mehrere Stadt da, sodaß der Abendschein mit gelben Lichtern und violetten Schatten ein seltsames Farbenspiel über die hohen Zinnen und winklig verstauten Häuser warf und die hochgestellten Großmünstertürm sich in einem rosigen Dampf über sich selbst hinaus zu recken schienen. Von der Grendelhütte weg, die mit lustigen Erkerchen gespreizt auf der rechten Seite mitten im Wasser stand, dort, wo der Grendel mit langer Palisadenreihe den Fluß vom See trennte, zog sich ein vielgestaltiges Ufer mit allerlei Zierlichkeiten flußabwärts. In buntem Ungestüm drängten sich die schmalfrontigen Häuser und festen Türm an die Limmat heran, wie Kinder, die zum Baden gehen und von denen die einen sich noch schüchtern dem Wasser fernhalten oder kaum ein vorsichtig Füßchen hineinzustecken wagen, derweil andere schon tief drin stehen in der kühlen Flut. So recht als ein tapferer Taucher erhob sich der Wellenberg mitten aus dem Fluß, einäugig und trotzig mit seinem spitzen Helmdach, und ließ die vornehme Wasserkirche weit hinter sich, die ihren schlanken Schatten nach dem hellen Spiegel der Häuser am Stad hinüberwarf. Zufernst im Fluß aber erhob sich das Rathaus mit weißen Gerüsten und hellen neuen Mauern und ließ seine modisch welsche Schönheit auf den alten breitspurigen Wasserfüßen mit viel Stolz erglänzen.

So war es ein unterhaltliches und reichgestaltiges Bild zur Rechten, während die mindere Stadt am linken Ufer ihre festgesammelte Silhouette dunkel vom roten Abend abhob. Wie mannliche treue Stadtwächter rückten die schwarzen Türm der Ringmauer am Himmel heraus, einer hinter dem andern, vom Kratzturm, der unten am Wasser schwerfällig hinter seinem Schänzlein stand, bis hinauf zum St. Peter. Der aber überragte alle andern und glich mit seiner gedrungenen festen Gestalt und dem mächtigen, erstaunten Zifferblatt gewissen wackeren Bürgern dieser Stadt, die auf kurzen festen Beinen durchs Leben gingen und mit klaren Augen aus ihren großen Köpfen herausblickten.

»Der Sankt Peter, weißt du noch, wie wir ihn früher nannten?« Anna wandte sich an Rudolf, der ihr gegenüber das Stehruder führte und nun, ihren Augen folgend, nach der Stadt zurückschaute.

»Freilich,« nickte er ernsthaft, »auch heut ist er mir immer noch der Onkel Fähndrich und ist mir schier so lieb wie dieser, sicherlich der liebst unter allen Türmen der Stadt«

Elisabeth, die zwischen ihnen saß, das Häubchen im Schoß, mit träumerischen Augen und roten Lichtern im dunkelblonden Haar, schüttelte leise den Kopf: »Mir sind die Großmünstertürm doch lieber, so vornehm und hochgebaut; der ander aber ist schwerfällig und gewaltsam und gar nicht wie ein Kirchturm. Mit dem mutzen Dach, den vier Ecktürmchen und der Riesenuhr erinnert er recht an die Zeitlichkeit, derweil die andern mit zwei mächtigen Fingern grad hineinweisen in den Himmel.«

Aber Rudolf machte ein überlegenes Gesicht: »Wie kann man lieben, was zu zweien austritt! Die Großmünstertürm, zwei glatte Pfarrherren mit einerlei Meinung, von denen keiner allein gehen kann; aber der Peter, der bedarf des andern nicht, der steht allein!«

»Zwei Pfarrherren?« Anna lachte. »Und wo findest denn unsern Herrn Antistes? Einen gar zu schlanken Turm wirst nicht wählen dürfen!«

Rudolf zog die Brauen scharf zusammen: »Der Antony Klingler, das ist der Rennwegturm! Mit seinem dicken Bauch betreut er den Fröschengraben und labet sich an den übeln Dünsten, die daraus steigen – der Rennwegturm, wann das Tor geschlossen ist und er sich einem schwerfällig entgegenstellt und mißtreu und keinen durchläßt, es sei denn, daß er mit fürnehmen Insignien ankommt und vergüldeten Wagen.«

»Wie redest du auch, Rudolf!« Anna sah ihn erstaunt an. »Sollt einer meinen, daß du selbst ins Ministerium zu treten im Begriff stehst? Von wem hast du solche Reden?«

»Von mir,« entgegnete der andere trotzig, »und von einem, der mehr wert ist denn alle Schwarzröck zusammen, den dicken Vetter Antistes dreimal mit eingerechnet, von einem, der von einer gewissen Jungfer ein merkwürdig Wort geredet: ›Die Waserin‹, hat er gesagt, ›eine Person mit einem männlichen Geist und jungfräulichem Sinn, klug genug, um häßlich, und schön genug, um dumm zu sein – ein Miraculum, fähig, ein paar antikischer Dogmata auf den Kopf zu stellen!‹«

»Er redet von Professor Scheuchzern,« sagte Elisabeth schüchtern, »dann hat er immer so glänzige Augen; aber der Vater hört's eben nicht gern.«

»Verkehrst du immer noch viel mit ihm?« fragte Anna dawider.

»Weniger als ich möcht'; denn Vorsicht scheint ratsam, wenn man nicht um Amt und Zukunft kommen will wie der arm Jacob Cramer. Aber doch grad genug, um zu merken, von wannen ein neuer Geist in unsern Moderschmack hereinfahren wird und welcher Gestalt er ist. Die frommen Herren fürchten ihn; leicht könnt' der frisch Luftzug ihre Paperassen durcheinander machen, und dann fänden sie sich nimmer zurecht, da ihre Religion nicht in Kopf und Herzen, sondern lediglich auf vergilbten Pergamen steht.«

»Vater meint, er sei ein unruhiger Kopf, der Professor,« entgegnete Elisabeth nicht ohne Ängstlichkeit in den weiten blauen Augen. »Er habe absonderliche neue Ideen, die leicht den alten guten Glauben ins Wanken bringen und den alten guten Geist der Vaterstadt verwirren könnten!«

»Den alten guten Geist!« höhnte Rudolf. »Sag die alte Stickluft, und du sprichst wahrer; aber Vater braucht nichts zu fürchten, einstweilen ist wohl dafür gesorgt, daß die beieinander bleibt. Die neuen Bastionen? Um den Feind abzuhalten wurden sie erbaut, hieß es. Ich glaub's nicht, weil sie erst aufgeführt wurden, als der bös Krieg zu Ende ging. Eine neue Mauer und Schutz für den guten alten Geist bedünkt es mich; denn denkt, wann ein paar Türm weniger den Himmel beengten und der Fröschengraben einen minderen Gestank verschickte, das wär' eine schlimme Not! Und wann der alte Geist ein Loch bekäm' und im Nebeldach ein Stück Blauhimmel erschiene, das wär' ein Jammer!«

Rudolf schwieg. Er warf den Kopf zurück und ruderte mit verdoppelter Kraft, daß die dunkeln Haare flatterten und das Schiffchen rasch dahinschoß. Auch die Mädchen redeten nicht. Elisabeth beugte sich über den Schiffsrand und ließ die Hand durchs Wasser gleiten, derweil Anna nachdenklich zu der Stadt hinüberblickte. Der Himmel war mählich blasser geworden, und auf der Erde verschwanden nach und nach die vielen Zierlichkeiten und lösten sich sachte in den großen kompakten Schatten, die mächtig um sich griffen und das Stadtbild zusammenschlossen. Drohend, mit besonders schwarzen Schatten erhoben sich links und rechts die gewaltigen Bollwerke der Bastion.

»Wißt ihr,« nahm Rudolf wieder das Wort, »was der Casperli Billeter sagte, als er ein Halbjahr neben mir im Collegio gesessen? ›Ich vermeinte in einen Adlerhorst zu kommen,‹ sagte er, ›nun aber bin ich in ein Krähennest geraten! Und dafür dank' ich!‹ Und dann hat er sein Bündel gemacht, ist weggelaufen und sitzt nun auf einer Mühle, droben im Ried, und hab' ihn schon oft um sein einsam und frei Leben beneidet.«

Der Casperli Billeter. Anna sah plötzlich wieder den kleinen Pfarrbuben von Rüti vor sich mit dem frechen Stumpfnäschen und den runden hellen Augen, und ein starkes Heimweh kam sie an nach ihrer Kinderheimat, denen Zeiten, da sie mit dem flinken Jungen im Mühlbach geschwadert und durch die weiten summenden Kleefelder gelaufen war. Sie seufzte: »Weißt du noch, Rudi, wie uns zumut war, als wir von Rüti wieder hierherkamen, in die enge Münstergass', zum grauen Mann, und sich uns die Mauern vor die Fenster stellten! Wie ein gefangenes Vöglein war ich da, das sich den Kopf an den Wänden blutig stößt. Ja, es ist schon schön, das Freiland und die Weite.«

Rudolf ließ die Ruder stehen und sah Anna mit glänzenden Augen an: »Ja, die Weite ... Weißt du, ich möcht' einmal hinaus aus diesen Mauern und fort, weit, weit fort.«

Anna nickte: »Im Land Italia gibt's herrliche Städte, dort stehen Marmorbilder an grünen Wänden und mitts aus den freien Plätzen, und Straßen gibt es, die gehen lang und gerade den glänzenden Flüssen nach und führen einen dahin und dorthin, weit, weit hinaus und nicht immer nur in engen, heimtückischen Winkeln herum. Dorthin möcht' ich.«

»Und gen Mitternacht,« fuhr Rudolf fort, »da gibt es Städte, da wohnen Menschen drin mit hellen und klugen Köpfen, die gehn den großen Geheimnissen nach und wissen, wie die Welt aus des Schöpfers Händen sprang und wie die Erde in den Ewigkeiten hängt – dorthin möcht' ich.«

Elisabeth betrachtete mit stillem Lächeln die älteren Geschwister: »Und ich wünsch' mir nichts Liebers, als immer hier bleiben zu können in der schönen Stadt mit den stolzen Kirchen und den heimlichen Gassen und mit dem Lindenblust – und die sich so lieblich auftut auf den hellen, weiten See. Ihr aber werdet schon noch zu euern Wünschen kommen.«

Rudolf lachte: »Wahr ist es, warum sollten wir beide nicht die Welt kennen lernen? Du, Anna, bist ja nun allbereits eine verrühmte Person, und wann die Fürsten erst bei dir bestellen, werden sie nimmer lang warten, bis sie dich zu sich rufen. Was meinst, Jungfer Hofmalerin? Ich aber, wann ich erst mein Examen hinter mir hab', warum soll ich nicht in die Welt hinaus kommen wie andere auch? Da ist der Johannes Cramer. Seit zweien Jahren weilt er nun schon an äußeren Orten auf der Gnädigen Herren Kosten, und weiß der Himmel, wie lang er noch bleiben kann.«

»Im Winter kommt er zurück,« sagte Elisabeth leise und bog ihren feinen Kopf über den Schiffsrand hinaus, als ob sie im Wasser etwas suchte. »Es ist ihm eine Stell als Professor der Sprachen am Collegio sicher.«

»Woher weißt dann du das?« Rudolf betrachtete überrascht die junge Schwester, deren helle Wangen sich plötzlich dunkel färbten.

»Er hat es geschrieben,« antwortete sie schüchtern. Aber dann hob sie plötzlich den Kopf und sah den Bruder aus glücklichen Augen frei und groß an: »Er hat es mir geschrieben.«

Anna und Rudolf gaben sich einen schnellen bedeutsamen Blick. Dann schwiegen sie alle. Sie hatten den Nachen gewendet und fuhren nun nach der Stadt zurück. Die Farben des Westens waren erloschen und hatten ein weißliches Himmelsstück hinterlassen, das einen silbrigen Schein weithin über die Wasser legte. So still war alles geworden auf einmal, so regungslos unter dem kühlen Hauch des sterbenden Lichtes.

Anna zog die Ruder langsam durch das silberne Wasser. Sie mußte nachdenken. Ganz plötzlich, aus Begeisterung und Sehnsucht hatte sich etwas auf sie gestürzt und saß ihr nun fremd und weh auf der Brust. Von Elisabeths stillem Geständnis war es hergekommen. Herrgott, war das am End Eifersucht? Mochte sie der jungen Schwester nicht gönnen, was ihr so grausam genommen war? Anna erschrak über sich selbst. So häßlich wäre das. Aber dann schüttelte sie leise den Kopf. Nein, nein, das war bloß die alte Wunde, die wieder schmerzte, und Lisabeths Worte hatten sie aufgerissen. Den neuen Lukas, den mit dem jungen Weib und dem einträglichen Geschäft, den hatte sie wohl überwunden; aber den andern, den früheren Lukas mit den heißen Augen und den seltenen Worten, den Lux, mit dem sie durch den grünverhangenen Wald gegangen, als die Goldamsel sang und das Moos unter ihren Füßen den feinen müden Geruch verströmte, den hatte sie nicht überwunden – den würde sie wohl nie überwinden – niemals.

Bei der Schifflände gingen sie ans Ufer, und während Rudolf den Kahn befestigte, stiegen die beiden Mädchen durch ein dunkles Gäßchen nach dem Oberdorf hinauf. Anna zog leise Lisabeths Hand durch ihren Arm: »Freust du dich, daß er zurückkommt, der Johannes Cramer?«

»Ja,« antwortete Elisabeth mit leisem Zittern.

»Und freut er sich, wiederzukommen?«

»Ja,« tönte es heller zurück, und dann fügte sie bei, mit einem zärtlichen Jubel in der Stimme wie bei ganz kleinen Vögeln, die ihre Kehle probieren am dunkeln Morgen, bevor die Sonne aufgeht: »Wir haben uns so gern, Johannes und ich.«

Anna drückte innig den Arm der Schwester: »So segne dich Gott, Schwesterlein; ich glaub', er ist ein feiner Mann, adlig in Gesinnung und Gestalt.«

Sie sah den Jüngling vor sich. Als sie von Bern zurück war, hatte sie ihn oft getroffen, wann er ins Haus kam, um Maria zu trösten über den Tod seines armen Vetters. Er war ihr immer angenehm gewesen mit seiner vornehmen und stillen Art und mit dem vornehmen blassen Gesicht. Er hatte eine hohe kluge Stirn mit ein paar zarten himmelblauen Äderchen drauf und seltsame Augen: groß und still, mit einem inneren Leuchten. Oh, der war anders als Lux, und der würde auch eine Liebe hegen können, zart und still wie ein heiliges Licht. Ja, der paßte zu der zarten Elisabeth. »Gott segne euch beide,« sagte sie noch einmal und streichelte wie andächtig der Schwester dünne Hand.

Da fiel ein Lichtschein über den Weg, der aus einer plötzlich geöffneten Schenktüre herausbrach, aber sofort wieder von der dunkeln Masse einer festen Gestalt aufgefangen wurde. Ein Mann verließ die Weinstube, stellte sich breitspurig vor die beiden Mädchen und schaute ihnen unter die Hauben: »Saker Hagel,« rief er überrascht, »meine Nönnchen! Ist das eine Ordnung! Ohne Begleit und zu der Stunde!«

»Der Rudolf ist mit uns,« erwiderte Lisabeth schier ängstlich.

»Was,« entgegnete der andere lachend, »der Student mit dem Flaumbartgesicht, das wär' noch ein schöner Schutz! Da ist's bei Gott an der Zeit, daß der Onkel Fähndrich euch unter die Fittiche nimmt, euch ungefedertes Hühnervolk!« Er nahm die beiden Mädchen, die ihm lachend einhängten, an seine Arme und trottete mit ihnen durch die dunkle Oberdorfgasse, in die ein paar helle Fensterchen lustige Lichtseelein warfen.

»Ist ihm auch zu gönnen, dem alten Knaben,« brummte er im Weitergehen, während er zwei schlanke Händchen zärtlich in seinen festen Tatzen vergrub, »ist ihm auch zu gönnen, daß er mal mit zwei so feinen Jüngferchen durch die nächtliche Stadt promenieren kann!«

Aber vor dem Großmünster, an der unteren Kirchhoftür, ließ er plötzlich ihre Hände los. »Geht voraus,« sagte er kurz, fast rauh, »ich komme euch nach.« Dann riß er den Hut vom Kopf und verlor sich im Schatten der Kirche, den der aufgehende Mond über die Kreuze warf.

An der oberen Pforte, die den Kirchhof von der Münstergasse trennte, holte Rudolf die Schwestern ein: »Habt ihr den Onkel Fähndrich gesehen?« fragte er leise. »Nun steht er wieder am Grab der Margarete; nie geht er über den Kirchhof, ohne sie zu besuchen.«

Die Mädchen nickten schweigend, und Anna dachte an die alte Geschichte von des Oheims seltsamer Liebe zu der schönen Violanda Bürklin schönem Kinde, das die Braut seines Bruders gewesen und so früh starb. Und plötzlich fiel ihr ein, wie rasch der Bräutigam, der Onkel Pfarrer, eine andere Eheliebste gefunden und daß der Onkel Fähndrich unbeweibt geblieben ... Ja, ja, der hatte es auch nicht verwinden können, der rauhe gute Mensch.

Unten vor der Haustüre stand er plötzlich wieder neben ihnen: »Nun hinein mit euch, ihr Nachtschwärmer!« rief er lachend, scheuchte mit Händeklatschen das junge Volk die dunkeln Treppen hinauf, wie man mit Hühnern tut, und folgte dann selbst bedächtigen Schrittes.

Als sie die große Stube betraten, die von einer Ampel nur mäßig erhellt wurde, sahen ihnen die andern mit besorgten und ernsthaften Gesichtern entgegen. »Ihr seid spät,« sagte der Amtmann mit trockener Stimme und zog die Stirne kraus. »Nimmt mich wunder, daß man euch das Grendeltor nicht vor der Nasen zugeschlagen und daß ihr nicht dem Profosen in die Händ gefallen. Das sind mir absonderliche Manieren das!«

Aber der Fähndrich fuhr begütigend dazwischen: »Papperlapapp, Jungvolk muß auch seine Sprüng machen, kannst sie nicht alleweg einsperren wie die Bürgermeisterin ihren Affen.« Und er küßte mit einer artigen Reverenz, die seinem schweren Körper merkwürdig stand, der Amtmännin weiche wächserne Hand.

Diese nickte ihm freundlich zu und fuhr dann ihrem Eheherrn scheu und beschwichtigend über die bedenklichen Stirnfalten: »Ein ander Mal wird's nimmer vorkommen, Vater, es war doch heut ein sonderlicher Anlaß.«

»Was, sonderlicher Anlaß?« fragte der Fähndrich, während er sich schwerfällig und mit vernehmlichem Krachen des festen Lehnstuhls niederließ. »Hat eins seinen Namenstag oder hat die Esther wieder was zur Welt gebracht?«

»Wie du auch redest,« entgegnete die Schwägerin vorwurfsvoll; »der Casparli ist ja kaum sieben Monate alt.«

»Nanu, dann schwör' ich drauf, daß ihr in zwei Monat wieder Großeltern werdet; die hat's los, die Dietschin!«

Mit Rudolfs Hilfe, der Stein und Zunder herbeibrachte, setzte er, ungeachtet des kopfschüttelnden Bruders, der den verbotenen Tabak nur ungern duldete, sein kurzes Pfeifchen in Brand und ließ sich derweil von Annas neuesten Erfolgen berichten.

»Saker Hagel,« rief er dann und zog mit gutmütigem Spott die Brauen hoch, »da muß man dir ja felicitieren, Meiti,« und er zog Anna zu sich und küßte sie mitten auf den schmalen Mund. »Ist allweg was anderes, so ein hochfürstlich Contrafet zu malen als ein gemein bürgerlich Gefräß, und wird dir auch gleich sein, wenn einmal was anderes unter den Pinsel kriegst denn lange Basler und breite Zürcher Nasen!«

Er setzte sich behaglich in den Lehnstuhl zurück und sah zu, wie Maria aus einem großen zinnernen Krug den klaren Herrliberger in die Becher goß, während die Amtmännin ihre unterbrochene Stickarbeit mit subtilen Händen wieder aufnahm und die beiden Mädchen das Zimmer verließen, um Hauben und Tüchlein abzulegen.

Der Amtmann rückte seinen Stuhl zum Bruder hin: »Was sagst du zum Erfolg unserer Tochter?« fragte er leise, während er langsam die blassen Hände aneinander rieb. »Leben wir nicht in einer schönen und gebildeten Zeit, da selbst dem Frauenzimmer so hohe Ehre nicht versagt ist?«

»Was, schöne Zeit!« schnauzte der andere dawider. »Für das Meiti kann die Zeit nichts, das Anneli war von der ersten Stund ab was Besonderes. Was, gebildete Zeit! Ja, wann man Bildung nach Papier und Tinten bemessen könnt' und wann Wortedrechsler und Haarspalter gelehrte Leut und Aberglaube Weistum wär', dann stünd' unser Säculum obenan. Aber wann man nach großen eigenen Gedanken, klarem Urteil und verstandsamen Spruch oder gar nach Taten fragt, da kann unsere vielverrühmte Zeit recht als ein geschlagener Hund den Schwanz zwischen die Schlotterbein nehmen und sich verkriechen, wo's am finstersten ist. Da meinen sie, was Wunder es sei, wann heutigstags jeder Schnuderbub sein eigen Federrohr besitzt, und ziehen die bleichen Nasen krumm, wann einer vom dunkeln Mittelalter redet, und mein' doch, daß die Zeiten, da der edle Rüdiger von Maneß, der nicht bloß die Federen, wohl aber auch das Schwert zu führen verstanden, dort drüben im Blarerturm mit Staatsleuten, Dichtern und gelehrtem Volk allerlei unterhaltsame und nachdenkliche Stunden feierte, an Weistum unserer verbildeten, papierenen Zeit um nichts nachstand.«

Mit grimmem Schnauf blies er den Rauch seines schweren Tabaks von sich und blickte gedankenvoll zu dem dunkeln Turm, der querüber auf der andern Seite der Gasse stand und mit matten Lichtern ins Fenster schaute.

Der Amtmann lehnte sich im Stuhl zurück und nagte unmutig die dünnen Lippen. Ein blaues Äderchen zitterte erregt auf der schmalen Schläfe, was seine Frau mit Besorgnis beobachtete.

Da öffnete sich die Türe, und Anna erschien, den kleinen Bruder an der Hand. »Er will euch gut Nacht sagen, der Heinerli,« und sie schob ihn, der die geblendeten Augen mit den Händen bedeckte, an den Tisch.

»Was ist, Fledermäusli,« sagte der Fähndrich freundlich, »hast schon geschlafen, daß d' Augen nimmer öffnen kannst?«

»Auf der dunkeln Winde war er,« berichtete Anna, »und hat die Sterne betrachtet durch die Dachluke; jetzt muß er sich erst ans Licht gewöhnen.«

Der Oheim legte die Pfeife weg, zog dem Knaben die beiden Händchen vom Gesicht und sah zu, wie die blinzelnden Augen nach und nach ruhig wurden und zuletzt still und groß in dem altklugen Gesicht standen. »So, Sterngucker,« sagte er gutmütig, »und was hast alsdann gesehn dort oben? Erzähl' eins!«

Aber der Knabe schüttelte den Kopf und seufzte:

»Oh, das kann man nicht sagen, so schön, so hoch.« Und dann war ein unkindliches Flimmern in den braunen Augen, daß einem sonderbar zumute wurde.

Der Fähndrich strich ihm über die rötlichblonden Locken, die das schmale Gesichtchen umgaben. »Sapperment,« rief er dann halb erbost, »ist das ein Haar, daß es einem an den Fingern hängen bleibt, wie ungesponnene Seide!« und er löste seine rauhe Hand aus dem zarten Gewirr. »Festere Borsten solltest haben und festere Knochen, Bub, und im Bett liegen solltest und schlafen statt die Sterne begucken. Zeig mal, wie schwer geworden bist angehnds!«

Er stand auf, hob Heini mit starken Händen über den Kopf bis zur Decke empor und stellte ihn dann enttäuscht wieder auf den Boden. »Leichte War, viel zu leicht für deine neun Jahre!« Er setzte sich in den Lehnstuhl zurück und betrachtete den schlanken Knaben, der sich, das blasse Gesicht schmerzlich verzogen, die schmalen Schultern rieb, dort, wo des Onkels Hände ihn angefaßt hatten.

»Was, und wehleidig auch noch!« rief er mißmutig. »Da ist das Estherlein bei Gott ein anderer Held, wenn's schon erst die drei Jahr zählt, das Figürchen! Kaum daß es mich sieht: ›Onkel, Hotti machen!‹ ruft's, und dann läßt's nicht lugg, bis es oben sitzt. Nicht etwan auf meiner Schulter, das ist ihm zu nieder, dem Amazönchen, nein, meine Perücke herunternehmen muß ich, und grad mitts auf meinen Schädel hocken will es, und dann muß ich traben mit ihm, immer rund in der großen Stube, bis mir der Schnauf ausgeht und ich es abwerf grad von oben herunter in einem Ruck pumps hinein ins Lotterbett. Und hat keine Angst nicht und quietscht vor Wonne wie ein junges Säulein, das man aus dem Sack läßt. Ein Donnerskröttli, das Estherlein!«

Er lachte mit dem ganzen Gesicht, und die andern nickten: »Ja, das Estherlein,« und lachten mit. Wie wenn einer vom Frühling redet und jeder sich seine stille Freude aus dem Wort zieht, so war es, als der Name des Kindes auf eins herfürsprang.

Nur Heini lachte nicht. »Ich mag's nicht, das Estherlein,« und er warf den schmalen Kopf stolz zurück. »Die schönsten Sachen nimmt es mir weg, und wann ich etwas dawider sag', so zeigt's mir seine Zunge, die ist ganz rot und spitz, und kann sie nicht leiden.«

»Mußt dich halt wehren, Bub,« sagte der Onkel lachend. »Freilich,« fügte er dann nachdenklich bei, »schwer ist's schon, ihm etwas abzuschlagen, dem Figürchen. Hat mir auch die silberne Medaille abgelätschelt, die ich vom Oncle Bürgermeister her hab' und wo das Bild drauf steht von der glorreichen Ambassade. Nun spielt's Hurlibub damit, und ich laß es gewähren und denk' mir, 's war auch nicht viel anders als so ein Tanz, die ganze Komödi, und freut es mich, daß es das Estherlein ist, das ihn führt, und nicht der stolze Perückenkönig.«

Der Amtmann fuhr entsetzt auf: »Was, dem Kind gibst du sie, die wertvolle Denkmünze!« und er zürnte: »Viel zu viel laßt ihr ihm nach, alle miteinander; seine Mutter beklagt sich auch, die Esther, daß man es ihr verwöhne. Hat ohnehin ein zu wildes Blut, sollte fester eingetan werden.«

»Warum nicht gar,« wehrte der Fähndrich. »Laßt das Pflänzlein gedeihen, wird allewege nicht anders als der Same, daraus es gekrochen, und was aus einer Hagebutten kommt, muß stechen und blühen und Wohlgeruch streuen, und kannst niemalen eine Ilge daraus machen. Kommt nur daraus an, daß man jedwedes an sein Platz stellt: die wilde Rose an den Zaun, daß sie ranken kann, und die Ilge in das still Gärtlein, allwo sie keiner stört. Für das Estherlein ist mir lang nicht angst. Dem Anneli gleicht es am meisten, und wann's auch ein Stück wilder ist und trutziger – das ist gutes Blut und wird seinen Weg schon machen.«

Inzwischen hatte Heini mit Gutenacht und Handkuß die Runde gemacht. Nun trat er vor den Fähndrich, küßte sein weißes Händchen und legte es flüchtig in des Onkels feste Tatze, der es entfloh, bevor sie nur recht zugegriffen.

Dann umfaßte der Knabe in plötzlichem Ungestüm die große Schwester: »Gelt, Anna, das erzählst mir noch von dem bösen roten Stern, der die Kriegsfuria anzündt, und von dem schönen weißen, wo sie wieder löscht?«

»Ein ander Mal,« sagte Anna lächelnd und küßte ihn auf die helle Stirn, »jetzt sollst du schlafen!«

Da trat Rudolf, der die ganze Zeit schweigend hinter Marias Spinnrad zwischen den beiden Säulen des dunkeln Fensterwändchens gestanden hatte, in den Lichtkreis. »Mein, Heinerli,« sagte er geheimnisvoll, mit glänzenden Augen, »ich wüßt' dir auch von den Sternen zu erzählen, von den tausend kleinen Sternen, die alle um die große Sonne tanzen und wir auch mitten drin, so ein kleiner tanzender Stern!«

Heini sah den großen Bruder verständnislos an; aber der Amtmann zürnte: »Das Kind mindestens sollst mir annoch verschonen mit deiner diskutabeln Scheuchzerschen Lehr!« Und er schlug mit der flachen trockenen Hand auf den Tisch, daß Frau Esther erschreckt ausfuhr.

»Geh nun, Heini,« sagte sie ängstlich, »und vergiß das Beten nicht, Kind!«

Als der Knabe das Zimmer verließ, sah ihm der Fähndrich ernsthaft nach. »Zartes Gewächs, zartes Gewächs,« brummte er, »das ist auch so eine Ilge, der man ein still Plätzchen sollte aussuchen können. Schad, daß er kein Katholischer ist, der Bub, ein Mönchlein hätte er gegeben wie kein anderer. Für einen reformierten Geistlichen ist er zu sinnierlich und zu schwach. Wir sollten feste Leut haben, heutigstags, solche, die den alten Geist zu wecken oder einen neuen zu pflanzen vermöchten, sonst kommt's schlimm mit uns, und der dort hätt' sich sein Herzblut füglich sparen können.« Er wies nach der gegenüberliegenden Wand, wo auf braunem Getäfer zwischen schwarzgrundigen Ahnenbildern Zwinglis Contrafet hing.

Rudolf zog hastig seine niedrige Sidele neben des Onkels hohen Stuhl und blickte ihn von unten herauf mit heißen Wangen an: »Wie meint Ihr das, Oheim?«

»Wie ich das mein'?« Er schob die Augen zusammen und blies umständliche Wolken über sich: »So mein' ich's: Pfaffheit bleibt alleweil Pfaffheit. Geist muß zu Worten werden, himmlisch Feuer zu Geschwätz, die rein Lehr müssen's in Satzungen gießen. Herzenssach wird Hirngespinst, Liebe in Haß verkehrt, und was uns zur Freud sein sollt' und trostlichen Erhebung, zu einem Instrumente geformt, darmit die arm Seel zu quälen. Da muß denn einer kommen von Zeit zu Zeit und den schwarzen Fetzen herunterreißen, der das himmlische Licht also traurig verstecket, und den Staub wegwischen, so auf dem göttlichen Wort liegt. Das hat der Zwingli getan. Eja, war das ein lustiger Putztag! Mit dem Licht hingezündet, daß man den Plunder sah in der hintersten Ecken, mit dem Schwert aufgestöbert, mit dem Feuergeist dreingefahren und annoch nachgewaschen mit dem eigenen Herzblut. So gründlich hat keiner gefegt, der Luther nicht und nicht der Calvin, ist kein Stäublein geblieben auf der reinen göttlichen Lehr, daß sie bloß war und blank wie am ersten Tag ... Aber dann sind die Schwarzröck wieder drüber gekommen, die flauen und die schlauen, haben mit Eifer begonnen, mit Verblendung weitergefahren und mit Faulheit und Eigennutz zum bösen End geführt, allwo der Plunder wieder gehäufet liegt, fast so dick wie zuvor, darunter die rein Lehr ersticken muß wie ein arm's Kindlein, das eine schlimme Dirn erdrückt unter ihrem Dachbett.«

Er hielt inne. Der Amtmann war aufgesprungen, hatte ein Fenster, das um ein weniges offen gestanden, mit Geräusch geschlossen und stellte sich nun bleich und erregt vor den Fähndrich.

»Bruder,« sagte er mit eigentümlich belegter Stimme, »sprichst wie ein Schmachlibell! Denk, zu wem du sie redest, deine aufrührerischen Wort, daß d' jung unreif Volk vor dir hast, zumal einen Candidatum theologiae, der über ein kleines die heiligen Glaubenssätz unserer hohen Kirche wird beschwören müssen!«

Der andere lachte grimmig: »Grad zu ihnen hab' ich gesprochen, Bruder, grad zu den Jungen und zu Rudolf zuerst. Dir brauch' ich nicht davon zu reden, hast deine eigene Meinung und weißt deine Sach so gut wie ich. Aber die Jungen, die Jungen! Sollen sie im alten schleimigen Fahrwasser weiterschwimmen und den betrübten Geist dieses verlebten und versärbelten Jahrhunderts in das neu hinübertragen und also einen Leichnam in eine Wiege legen? Schau dir den Rudi an! Das vorspringend Kinn hat das Zwingliblut in den Waserstamm hereingebracht; sollt' er mit dem kostbarlichen Tropfen nicht auch noch ein Brösemlein Zwingligeist bekommen haben? Und das Meiti, die Anna, paßt die mit ihren klaren Augen, verstandsamem Kopf und kunstreichen Händen etwan in das Spinnwebgehäus des sterbenden Säculi? Sollen deshalb, weil wir Alten uns nimmer bekeimen können, nun auch die jungen Keimlein, solche sich allenthalben schüchtern herfürwagen, erstickt werden unter dem alten Unrat?«

»Mit nichten,« erwiderte der Amtmann, der, ruhiger geworden, seinen alten Sitz am Tisch wieder einnahm. »Mit nichten, Bruder; aber junge Keim müssen Zeit haben, so sie sich gedeihlich entwickeln sollen. Kommt nun einer und zupft daran und bringt künstliche Wärme hinzu und unzeitig Licht nächtlicherweis aus lauter Ungeduld, weil er den Frühling nimmer zu schauen fürchtet und nun im Herbst noch die jungen Pflänzchen sehn möcht' – sieh, wie schwächlich sie aufgehn, wie erbarmungswürdig sie sterben, und im Haustagen steht das Feld leer. Ich« – er hielt einen Augenblick inne und setzte dann mit eigentümlich blasser Stimme hinzu – »ich hab's schon einmal gesehn, dieses unzeitige Ausgehen und Sterben – an meinem Buben möcht' ich's nicht auch noch erleben.«

Ein weher Ton, bang und zitternd, fast wie der Schrei einer Möve, die am grauen Wintertag einsam zwischen Nebel und Wasser kreist, durchschnitt die plötzliche Stille. Maria, deren Spinnrad lange schwieg, stand mitten im Zimmer. Einen Augenblick sahen alle erschreckt in ihr schneeweißes Gesicht mit den weißen wehen Lippen und den wehen übergroßen Augen, dann stürzte sie hinaus.

Die Amtmännin blickte sich hilflos um und griff mit bebenden Händen an ihre Schläfen: »Die Maria, das arm, arm Kind, wenn nur nichts geschieht!«

»Nein, Mutter,« sagte Anna einfach und erhob sich, »seid getrost, ich gehe zu ihr.«

Nach kurzer Zeit kam sie zurück: »Sie ist wieder ruhig und läßt abbitten, wenn sie nimmer kommt zum Abendsegen. Sie hat geweint, und nun mußt' ich ihr das Alt Testament geben. Da liest sie ihren CIII. Psalm, und das hoch Lied von der Göttlichen Erbarmung und menschlichen Nichtigkeit ist ihr Arzenei und besser denn alle unsere Trostworte.«

Der Fähndrich klopfte die Pfeife aus, mit einem betrübten, ein wenig verlegenen Gesicht. »Saker Hagel, das hab' ich nicht gewollt, das arm Kind erschrecken!« Er sah nachdenklich vor sich hin: »Hast am Ende recht, Bruder, reifen lassen ... Ja, wann man das könnt'! Warst halt immer der Fürsichtigere und Weisere, trotzdem der Jünger bist. Ich, wann mir die schlimmen Ding zu Sinn kommen, da reißt's mich immer wieder fort und mein', ich müss' den andern die Nase draufstoßen, wann sie's nicht selber sehen, und ihnen die Fenster aufreißen und die jungen Kräft anspornen, daß sie nicht ungenützt verlampen. Heut, als ich am neuen Rathaus vorbeikam, da hat's mich wieder mal gepackt. Das Gerüst nehmen sie weg, und da kommen nun die schönen steinernen Köpf herfür, einer nach dem andern, die sie auffigürt haben auf dem stolzen welschen Bau. Ist gar ein fürnehm Schauen, die alten griechisch und römischen Helden und dazwischen ihre helvetisch und zürcherischen Brüder und jeder mit einem schönen lateinischen Sätzlein ausstaffiert! Da ist mir aber aufgestoßen, wie schlecht die Taffere zum Geschäft paßt und die Büchse zum Inhalt: Hängen Heldenhäupter heraus und große, vieldeutende Sprüch, herinnen aber armselige Perückenköpf, die lieber Weibermoden studieren denn tüchtig Mannswort, lieber Kleidermandat fabrizieren und Glaubenssatz denn eine vernünftige legislationem. Kein Gehirn nicht, Spürnasen bloß und Zeigfinger.«

Der Amtmann lachte kurz auf: »Schön gesprochen, Ratsherr, ist ein netter Anblick, wann einer in sein eigen Nest hofiert!«

»Selb tu' ich nicht, Bruder,« erwiderte der andere ruhig, »nur sauber halten möcht' ich's, das lieb alt Nest; du weißt selbst, wieviel unsereiner zu sagen hat im Regiment. Zusehen können wir, wie sie es treiben: lassen fremd Geld in die eigenen Taschen rinnen und behandeln den armen Mann als einen servum, nehmen ihm sein arm Lebensfreud und meinen, daß man also glücklich und willig Untertanen schafft. Und ist mir beigefallen, daß es allenthalben so im ganzen lieben Helvetien, Zweiheit und Enge und Haderlust allerorten, und mußt' an die schönen alten Träum denken, dem Zwingli seine stolzen Plan und letzthin noch des Oncle Bürgermeisters verstandsam und wohlerwogen Vorschlag, wie sie all ins Wasser gefallen bishero, und wie kein Einheit nicht und kein Richtlinien, und hab' an Villmergen denken müssen und an die Ausländerei und an Hüningen – Herrgott! Da ist mir die Galle aufgekrochen, daß ich sie hab' herunterschwemmen müssen in der ersten Weinstube. Aber ist doch nicht gelungen, bin halt doch noch herausgeplatzt.« Er seufzte wehmütig und streckte die kurzen Beine ergeben von sich. »Und nützt doch allweg nichts, das Geschimpf, hast am End recht, Bruder: Ausreifen lassen, ausreifen lassen – wenn man's kann!«

Aber Rudolf sprang auf: »Nein, Oheim, nicht warten, auf die lang Bank schieben nicht! Wann sie uns die Fenster nicht von innen auftun, dann schlagen wir sie von außen ein. Oh, wir haben Mittel!« Er lachte, und seine Augen blitzten. »Neue Mittel, Onkel, aber kräftige, nicht Schwerter und nicht Legislationes, aber Wahrheiten ...«

Doch der Amtmann fuhr ihm mit einem barschen Wort dazwischen: »Schweig, Bursch, und daß nimmer solche Worte wagst in meinem Beisein, hörst! Was ich am allermindsten leiden kann, das ist großmäulerisch und frech Jungvolk, solches klüger sein will als das Alter.«

Rudolf, dem die Flamme übers Gesicht schlug, suchte sich zu verteidigen: »Ich bin nicht großmäulig, Vater, nicht frech ...«

Aber der Fähndrich klopfte ihm begütigend auf die Schulter: »Hast mich selbst schier erschreckt, Rudi. Das mit den Wahrheiten, nimm dich in acht! Willst ein Pfarrer werden, schau, die Heilige Schrift, mit dem Herzen muß man sie begreifen, und nur wann's durchs Herz geht, so wirkts, das göttlich Wort. Leicht aber kannst mit unpäßlicher Forschgier die reine Lehr antasten.«

»Die Heilige Schrift,« redete der Amtmann streng dazwischen, »hat keine Forschgier nicht zu fürchten, wenn sie von weisen und vernünftigen Leuten kommt, und die Wissenschaften, so sie ernsthaft und streng betrieben werden, machen mir keine Angst, sie werden schon so weit kommen, daß es stimmt mit dem göttlichen Wort. Aber was jung und unreif Volk da erstürmen will, das kann nichts Gutes sein. Der Herrgott läßt sich keine Geheimnisse abzwingen, am allermindesten durch übermütig und selbstisch Gebaren. Er gibt seine Schätz, wann Er will, zunächst aber dem, der warten kann und in Demut sich bescheiden.«

Er stand auf, und wie er nun den schmalen Mund schloß mit einer kalten und bestimmten Art, war es, als ob er einen festen Punkt hinter sein Diktum gesetzt hätte, einen Pfahl, darüber man sich nimmer hinauswagt.

Auch der Fähndrich erhob sich. »Es ist spät geworden und hab' ob all dem Disput die Hauptsach vergessen und warum ich eigentlich hierher gekommen bin.« Er wandte sich an Frau Esther: »Die Schmidin, das Lisi, ist mir krank geworden, liegt im Bett mit Hexenschuß, sollt' jemanden brauchen zur Hülf; da hab' ich dran gedacht, die Maria, wenn sie kommen wollte, ich wüßt' es ihr zu danken, daß sie mir ein Aug hätte auf allem, die arme Kreatur pflegte, auch etwan im Gewerb nachsähe; ist jetzt allenthalben viel Arbeit mit Eintun und neu Pflanzen ...«

Die Amtmännin, die mit einem bleichen und verletzten Gesicht den aufgeregten Reden der Männer beigewohnt hatte, schüttelte leise den Kopf: »Es wird kaum gehen. Nicht einmal aus dem Haus heraus bringt man sie, wenn's nicht in die Kirche geht oder aufs Grab. Und nun gar in ein fremd Haus und zu neuer Arbeit – wirst dich um jemand anders umtun müssen, Schwager.«

»Das kann ich schon, Leut find' ich allerwege; aber« – er zog bedenklich den langen Schnurrbart – »leid tut's mir, auch um die Maria. Eben heraus sollte sie, ist ja bleich wie eine Kellerrübe – und sich um etwas annehmen. Wann man fremde Wunden verbindet, vergißt man am ehsten die eigenen, und frischere Luft haben wir auch droben auf dem Graben und im Feld als ihr in eurer Staatsgass', und grad die Fremde sollte das großväterliche Haus ihr auch nicht sein.«

Da legte Anna ihre Hand begütigend auf der Mutter aufgeregte Finger: »Ich glaub' auch, Mutter, daß es gut wär' für die Maria. Wenn Ihr einverstanden seid und der Vater nichts dagegen hat – ich will sie schon dazu bringen, und wenn es etwa mehr zu helfen gibt, ich greif' gern mit an.«

Anna leuchtete dem Onkel die Treppe hinunter. Unten vor der Türe blieb er stehen und betrachtete das Mädchen, das im roten Kerzenlicht hell vor ihm stand, einen Augenblick. »Das liebe, klare Gesichtlein,« murmelte er und streichelte ihr weiches Kinn. »Ist gut, daß du da bist, Anna, so klare Augen, wir können sie hier brauchen. Ist nicht alles im Blei: Mattheit und Phantasterei und Weichlichkeit und Strenge – all's ohne Ausgleich. Dein gesunder Kopf und dein jung Blut können viel Gutes schaffen da, vergiß das nicht neben deiner Wissenschaft und Künst.« Er drückte Anna die Hand, daß es sie schmerzte, und verließ dann mit lauten Schritten das Haus.

Nachdenklich stieg sie die Treppe hinaus. Viel neuer und besonderer Gedanken waren ihr durch den Kopf geschossen heute und brodelten durcheinander. Nun aber lag des Onkels Wort zu oberst. Viel Gutes schaffen, ausgleichen – ja, ja, wann sie es konnte! Und es kam ihr auf, wie selbstisch sie bis jetzt gelebt, am meisten in der Zeit der Schmerzen: aber das mußte jetzt vorüber sein. Sie gab sich einen Ruck, daß das Licht in ihrer Hand flackerte. Ein stilles Herz mußte sie haben, einen steten Sinn und eine sichere Hand, wenn sie den andern helfen wollte.

In der Stube standen sie schon zur Abendandacht bereit, mit gesenkten Köpfen und gefalteten Händen, und der Vater vor ihnen, aufrecht über der offenen Bibel. Rasch trat Anna in den Kreis neben die alte Sarah, die etwas abseits dastand und ihre braunknochigen Finger unbeholfen ineinanderschlang.

Der Amtmann hub an, mit scharfer, eintöniger Stimme, den Blick unverwandt auf seinen Sohn gerichtet:

»Solches stehet geschrieben in des Apostels Pauli erster Epistel an die Corinther, allda im dritten Capitulo, und hat diese Worte ein trefflicher Diener unserer Kirchen, nämlich der Antistes Casparus Waserus, unser seliger Oheim, seinem ersten Sermon zugrunde gelegt, so er auf der Kanzel Zwinglis gehalten.«

Er las:

»Und ich, lieben Brüder, konnte nicht mit euch reden als mit Geistlichen, sondern als mit Fleischlichen, wie mit jungen Kinder in Christo. Milch habe ich euch zu trinken gegeben und nicht Speise, denn ihr konntet noch nicht: auch könnt ihr noch jetzt nicht. Dieweil ihr noch fleischlich. Denn sintemal Eifer und Zank und Zwietracht unter euch sind, seid ihr denn nicht fleischlich und wandelt nach menschlicher Weise? ... So ist nun weder der da pflanzt, noch der da begießt etwas, sondern Gott, der das Gedeihen gibt. Der aber pflanzt und der da begießt ist einer wie der andere. Ein jeglicher aber wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit.«

Langsam schloß er das große silberbeschlagene Buch, mit einem ehrfürchtigen Blick nach dem Bildnis des Antistes, der mit langem weißem Bart und milden Augen aus dem dunkeln Rahmen herausblickte.

Dann folgte der kurze Abendsegen, und mit stummem Gruß verließ eins nach dem andern die Stube. Nach dem göttlichen Wort sollte keine weltliche Rede mehr laut werden, so wollte es der Amtmann.

Anna sah, wie Rudolf bleich und mit hängenden Armen hinausschlich. Elisabeth aber hatte immer noch dasselbe stille Lächeln in den Augen, das sie den ganzen Abend trotz den heißen und wilden Worten nicht verloren.

Ja, bei der war's nun Frühling, und sie wandelte im Licht.

*

Maria hatte sich überreden lassen. Sie war zum Oheim in sein lustiges Haus auf der Schanze hinausgezogen und blieb dort, auch als die alte Schmidin das Bett wieder verlassen konnte. Ihre jungen Augen und sorgfältigen Hände waren auch jetzt noch nötig. Der Onkel bewies es ihr und wußte immer neue Aufgaben zu stellen, verantwortungsvolle, die den Kopf in Anspruch nahmen. Das war nicht leicht; aber man gewöhnte sich daran, und der Kopf wurde heller und das Herz minder sehr, ach, und wann sie sah, wie des Onkels Behagen wuchs und er ihr freundlich zunickte: »Ja, so wär's schön bei mir, glatt und geordnet, fast wieder wie zur Zeit, als ich mit Mutter seligen hauste«, war da nicht wieder etwas Liebes in ihr, wie eine ganz, ganz kleine Freude? Und so blieb sie denn.

Auch im Waserschen Hause gewöhnte man sich daran. Vielleicht war es sogar um einen kleinen Schimmer heller geworden im Grauen Mann, seitdem Marias müder Schritt nicht mehr durch die dunkeln Stuben ging. Anna freilich vermißte zuerst den stillen Gast in ihrem Arbeitszimmer und daß ihr Blick nicht mehr auf Marias still schaffenden, nachdenklichen Händen ruhen konnte, wann sie von der Arbeit aufschaute. Aber als dann die andern Geschwister, die früher die Scheu vor der ernsten Maria ferngehalten, Annas Malstube mehr und mehr als ihre Heimstätte betrachteten, da war es doch auch ihr, wie wenn nach erloschenen Zeiten ein Licht wieder aufgeht, ob es schon kein übermütig jung Leben war, das sie mit sich brachten. Kein fröhliches Kinderlachen trug der kleine Heini herein, der stundenlang neben der großen Schwester stehen und aufmerksam jeden Pinselstrich beobachten konnte, nur hier und da die Stille durch seltsame Fragen brechend, die oft zaghaft und unbewußt um die letzten Dinge tasteten. Und Rudolf, der seine inneren Kämpfe vor Anna ausbreitete und seinen schwerverhaltenen Groll gegen den Vater, der ihm jeglichen Umgang mit Scheuchzern und seinen Genossen untersagt hatte, brachte auch kein frohes und helles Wesen, wohl aber Leben und ein heißes Herz, an dessen weitzielenden Plänen Anna sich selbst entzündete.

Auch Elisabeth kam. Nur selten und in den Stunden des Zwielichts. Dann erzählte sie von ihrer Liebe. Mit einer leisen schwebenden Stimme, auf der, wie der feuchtschimmernde Hauch auf Morgenblüten, eine innige Zärtlichkeit lag. Und die zarten Worte ließen Anna erzittern. Wie anders war Lisabeths Empfinden voll grenzenloser Hingabe als ihre Liebe, die gekämpft hatte und gejubelt und so rasch zusammengebrochen war! Ja, das war es wohl, das große tiefe Gefühl, das für ein Leben dauerte und über den Tod hinausging und das sich nicht an sich selbst verblutete. Die große selbstlose Liebe, die wenig verlangt und alles gibt. Anna fing an, Elisabeth zu beobachten mit einer Art scheuer und stiller Verehrung. Und als deren Geliebter wieder in seine Vaterstadt kam und mit dem stillen Einverständnis der Eltern im Hause verkehrte und sie sah, wie die beiden aneinander hingen und sich liebten ohne Ungestüm mit einem heiteren innigen Genügen und wie die Schwester dem andern sich unterordnete in allem und ihre ganze junge Menschlichkeit bedingungslos in dem Wesen des geliebten Mannes auflöste, da begriff sie, daß es ein Glück gab, das für sie nicht bestand, weil es eine Liebe gab, deren sie nicht fähig war. Etwas war in ihr, das sich nicht hingeben konnte, was sich behaupten mußte, das stärker war als sie selbst und alles, das von außen kam. Worte von Andreas Morell fielen ihr ein und Werners Warnung: »Kunst und Liebe, ein Weibesherz ist zu eng für beides!« So war es doch wohl deshalb, daß ihre Liebe sterben mußte, damit das andere sich entfalten konnte, ganz. Ein höheres Zeichen war es am Ende, daß sie sich nicht verlieren durfte, weilen etwas Bedeutsames in ihr war, wohl wert, ein ganzes Leben ihm zu weihen.

Und in ihren steten Arbeitseifer kam ein neues Feuer, das sie antrieb, über das Erreichte hinaus neuen, größeren Zielen zuzustreben. Wie Rudolf, der auch nicht an Liebe dachte und die Bedürfnisse des Herzens, wollte sie einem Großen folgen, mochte es noch so fern liegen und unerreichbar, sie wollte daran glauben und kämpfen, kämpfen. Die großen Namen, die Werner ihr oft genannt hatte, wie man einer zagenden Seele die Seligkeiten des Jenseits nennt, um sie zu gläubigem Aufschwung zu treiben, klangen ihr im Ohr. So jung war sie noch, sollte nicht ein Weg sich finden, der über ihr gegenwärtiges Können, auf das sie vor kurzem noch so stolz gewesen und das ihr nun auf einmal nicht mehr genügen konnte, hinaus nach jenen glänzenden Höhen führte!

Wie ein Fieber kam es über sie. Ihre Malstube wurde ihr zu eng und die Aufträge, die sich mehrten, aber über die Schranken des Gewohnten nicht hinauswiesen, zur Qual. Kopieren, immer wieder kopieren und hier und da ein Contrafetchen nach dem Leben, war das die große Kunst, von der sie geträumt hatte? Wo waren die stolzen Pläne, die sie einst mit Giulio geschmiedet, wo ihr eigene gute Kraft? Sie dachte an ihr Schäferstück; hatte sie es seither übertreffen oder auch nur erreicht? Stand sie nicht an jener gefährlichen Grenze, vor der Giulio sie gewarnt, und war daran, in handwerklicher Geschicklichkeit ihre großen Hoffnungen zu begraben?

Giulio und Morell und Herr Werner, alle hatten sie in die Ferne gewiesen, und nun saß sie da zwischen gehäufter Arbeit, aus der ihr Sehnen keinen Ausweg fand.

Und da war Rudolf und schürte ihre Fernsucht mit seinem eigenen heißen Verlangen. Die Schule hatte er hinter sich, aber war annoch frei und ohne Stelle, und nun drängte es ihn fort: lernen, lernen, nicht nur zu Arbeit und Verdienst, lernen, um das Höchste zu erreichen.

Und da war Johannes Cramer, dessen das Glück sich zum andern Mal annahm, indem es dem noch so Jungen eine ehrende Stelle brachte, als Professor an einer kleinen Akademie draußen in deutschen Landen. An einem Maimorgen zog er aus, mit solch frohem Leuchten in den blauen Augen und einem seltenen roten Schimmerchen auf den schmalen Wangen, als er Lisabeth behütete: »Nun geht's nimmer lang, dann hol' ich dich!«

Und Elisabeth hatte unter Tränen gelacht: »O Lieber, Lieber, nun kommen deine Briefe, die schönen, da will ich nimmer klagen, daß du fort bist, will mich freuen, daß es dir gut geht, und stolz sein auf meinen hochgelehrten Liebsten.«

Ein so hoffnungsreich seliges Abschiednehmen. Aber Rudolf, als er den andern wegreiten sah, hatte sich die magere Hand in die Augen gedrückt und geweint wie ein Bub: »Ja, der, der kann gehen, alle Welt steht ihm offen und alle Zukunft. Wir aber können dableiben in den Mauern drin und oboedientiam lernen und uns ducken, ducken und kein Freiheit nicht, kein Luft nicht, kein Ausweg nicht!«

Anna hatte ihn zu trösten versucht und zu mahnen, und hatte doch selbst das Herz voll. Die Welt, die Welt, die das große Geheimnisvolle in Händen halten mußte, darnach sie sich sehnten, beide ...

Und Elisabeth erzählte voller Stolz aus den Briefen ihres Liebsten, wie er einen glänzenden Weg genommen, in Basel auf der hohen Universität Kosten – das war am sechzehnten des Mai – zum Doktor creieret worden, wie er viel Freundschaft und Glück genossen auf der weiten sonnigen Reis' den Rhein hinab und wie er in Herborn auf der Akademie daselbst mit großen Ehren empfangen worden, so eher einem alten würdigen Professor denn einem jungen neugebackenen Doktor geziemt, und wie er an seinem neuen Platz allbereits zu so hoher Anerkennung gelangt, daß ihm über die Stelle eines Professors linguae hebraeicae auch noch die Würde eines Prorektors anvertraut worden. Ah, wie da ein seltenes Lächeln des Amtmanns Züge verschönte, da er solches vernahm, und die Frau Esther rosenrot wurde vor lauter Stolz. War es nicht, als ob dieser Johannes alles Leid auslöschen könnte, was sein armer Vetter über sie gebracht? Aber Rudolf biß die Zähne zusammen über all dem Lob. Ja, klug ist er, der Johannes, und hat viel gearbeitet, aber auch zahm und gefällig den Großen, und ein Glück hat er, ein Glück!

Aber eines Tages kam von Johannes ein Brief mit einem eiligen Boten und trug des jungen Rodolphus Waserus V. D. M. Adresse, und als dieser ihn gelesen, da rannte er die Treppen hinauf in paar Sätzen in Annas Malstube und lachte: »Victoria, Victoria!« und umhalste seine Schwester: »Da lies, da lies!« Und drückte sein Gesicht an Annas Wange, daß er mit ihr lesen konnte, und hielt ihre Hand in der seinen, um sie zu pressen an denen Stellen, worüber das Herz einen Sprung machte, und gingen die vier Augen durch die Zeilen, die also lauteten:

»... Und ob Du, lieber Schwager in spe, aus was Ursach ich Dir eine so lange und eilige epistulam schreibe, Dich füglich wundern und nach dem Ende mit viel Neubegier trachten magst, muß ich Dich dennoch um etwas Geduld bitten, dieweil ich den Vorgang der Reihe nach und in extenso vorzutragen am besten erachte, gemäß der alten Regel, daß der grad Weg der kürz ist.

So sitz' ich nun hier in der loblichen Stadt Herborn, die, wenn auch an Größe kaum ein Dritteil unseres stolzen Zürich, doch durch eine wohlausstaffierte, zu jeglichen Lehrfächern geeignete Academie einer gewissen Bedeutung nicht ermanglet. Die Stadt aber lieget hart an des hohen Herrn Seiner Durchlaucht des Grafen Wilhelm Moritz zu Solms-Braunfels Gebiet, dessen Residenz Braunfels, eine feste Burg und Stadt über dem Lahntal, nahebei in einer distantia, nicht weiter denn Baden von Zürich gelegen. Da ich nun selbigem Herrn meine Huldigung darzubringen nicht unterlassen konnte noch wollte, ritt ich gestrigen Morgens in des Professor Schrammii, meines löblichen collegae an dasiger Schul, Begleit nach Braunfels hinüber.

Am frühen Morgen, in währendem Tagesläuten und mit der hellen Sonnen brachen wir auf, und war es das Dilltal hinab ein gar andächtig und lustig Reiten. Du mußt nämlich wissen, daß die Länder hier am Lahnfluß von großmächtigen, sonderbar buchenen Forsten, deren ich in solchem Pracht meiner Lebtag nicht gesehen, dermaßen bestanden, daß man von einem erhabenen und weitblickenden Punkte, wie etwan dem Bergfried von Braunfels aus, in die hellen windbestrichenen Wipfel weithin als in ein unermeßlich grün Meer zu blicken vermeint, welche Wälder mit einem frischen, würzigen Odem, auch mit überlautem Vogelgeschrei uns gar trostlich aufnahmen. So ritten wir etwas Zeit dahin, schweigenden Mundes, maßen der Jubel der Creatur sowohl als ein mild grün Licht, so uns zudeckete, mit allerlei ernsthaften, zu Gott gerichteten reflexiones einen gar andächtig stimmte. Um so größer war mein freudiger Schrecken, als die grüne Kirche auf eins ihr Türen auftat und gegen uns über, auf hohem Burgfels ob dem Tal ein gewaltig Schloß mit vielen weithin erglänzenden Türmen sich darstellte. Als wir dann über die Lahnbrück und weiter den Schloßberg hinanritten und die Burg also nahe vor unseren Augen war, mußte ich freilich mit Schmerzen gewahren, daß das herrlich Schloß, solches in deutschen Landen unter den schönsten eine privilegierte Stell einzunehmen wohl verdiente, die Folgen eines großen und mörderischen Brandes, so die Kriegsfuria vor zwanzig Jahren darüber geworfen, noch nicht völlig überwunden hat, sondern vielmehr mit geschwärzten Steinen und auch wohl einem halbgestürzten Turm gar betrüblich an sich erzeiget. Das Schloß hat zu seinen Füßen ein kleine Stadt mit lustigem Marktplatz, und kann ich Dir das Ganze mit nichtes besser vergleichen denn mit unserm festen Regensberg, das gleichermaßen auf hohem Fels über der Weite thront, nur daß Du Dir alles ins Große, ja Ungemessene übersetzet und das Schloß von festen Toren und den allzeit wachen Kriegsleuten aus des Grafen Regiment wohlbeschützet denken mußt.

Durch unterschiedene Tor und ein dunkles Gewölb, darauf die Schloßkirche mit festem Gestrebe köstlich stehet, gelangeten wir zur Schloßwach, allwo ein Steintafele, so ein Beil auf blutiger Hand und die Warnung: ›Wer diesen Burgfrieden bricht, wird also gericht‹ gar bedrohlich darstellet, mir auffiel. Die Wach im blauen Kriegsrock, die meinen Begleiter, maßen er ein häufiger Gast des Grafen, wohl erkannte, ließ uns unbeschoren ein. Im Schloß selbst, wo man uns einen mit allerhand altem und kunstreichem Dekor ausgeschmückten Saal eröffnete, allwo wir uns etwas Zeit wartend aufhielten, wäre den Augen viel Vergnügens und Zeitvertreibs gewesen, wenn nicht, über meine angeborene indifferentiam gegen derlei Sachen, ein starke Enge auf der Brust mir die Schaulust benommen hätte, solche vom Anstieg sowohl als dem Herzklopfen, das mir der Ort und das nahe Zusammentreffen mit dem hohen Herrn verursachte, herrühren mochte. Aber eja, wo war mein enge Brust, da nun der Gefürchtete selber erschien und mit soviel freundlichem und leutseligem Wesen mich begrüßete, daß mir das Herz aus der Angst in die lautere Freud mit einem Purzelbaum hinübersprang! Denk Dir einen Mann, ohngefähr von des Onkel Fähndrichs statura, aber annoch jung und mit viel Geschmeidigkeit in den stählernen Gliedern. Willst Du aber wissen, wie er gekleidet, so fragest Du umsonst, maßen ich über seinem hellen und strahlenden Aug, woraus ein edler und gütiger Geist gar vernehmlich sprach, und über seinem guten und fröhlichen Wort das Äußerliche zu beschauen füglich vergaß. Wohl aber glaub' ich, daß er einfach und ohne absonderliche, noch aufdringliche insignia ging. Als ich meine vorgenommenen, wohlgesetzten Wort mit viel Würde und Herzklopfen vorgebracht, legte er mir sein feste Hand auf die Schulter, also mächtig, daß ich ein Husten befürchtete, das aber glücklicherweis nicht heraufkam, und lachte: ›Er ist Schweizer, Herr Professor; ich hör's an seiner Sprach, die gar so lustig aus der Kehlen heraussinget,‹ und er versuchte ein paar zürcherische Brocken, solche aus seinem Mund also possierlich klangen, daß Herr Schrammius wie ich, ohngeachtet allen Respektes, in ein Gelächter ausbrachen. ›Sieht Er,‹ lachte der hohe Herr mit, ›nun sind wir allbereits gut Freund, so Er ein Schweizer, maßen ich für selbigs Volk eine absonderliche prédilection habe.‹ Und dann erzählte er mir, daß er in seiner Jugend einen schweizerischen Präzeptoren, einen gewissen theologum Bachofen, so jetzo im zürcherischen Bischofszell amte, gehabt und daß er ihm für seine tüchtige und grundrichtige Lehr sein Lebtag dankbar bleib'. Auf diesem Gedankengang aber kam er zu der Frag, um deretwillen ich heute einen schönen und kostbaren Morgen lang über dieser Epistel sitze.

›Da Er nun directe von dem vielweisen Zürich kommt, wüßt' Er mir am Ende nicht unter seinen commilitones einen ephorum und Hofmeister für die jungen Grafen, dieweil der gegenwärtig Gouverneur auf Weihnachten uns zu verlassen gedenket?‹ – ›Wohl wüßt' ich einen,‹ sagte ich und dachte an Dich und erzählte von Deinen schönen Successen, so Du an unserm collegio insonderlich in den alten Sprachen und historia gehabt, daß Du aus reputierlicher patrizischer familia, annoch frei und zur Übernahme der so ehren- als verantwortungsvollen Aufgabe nicht allein aufs beste qualificieret, sondern auch herzlich geneiget seiest.

Eja, hättest seine Freud gesehn! ›Famos, famos,‹ rief er und schlug auf sein fest Knie, daß es klatschte; ›den Mann muß ich haben! Wie heißt denn das Lumen?‹ Aber kaum hatt' ich Deinen Namen genennet, als ich sobald auch ein nachdenksame Miene an dem edeln Herrn bemerkte, der den Namen ›Waser‹ einige Male vor sich hinmurmelnd mit gerunzelter Stirn um sich sah wie einer, so etwas suchet, schließlich aber sich directe an mich wendete: ›Helf Er mir, sag Er mir, wo ich den Namen allbereits vernommen!‹ Als ich nun Deine edeln oncles, den Bürgermeister und Antistes nannte, auch Deines, wegen seiner Wissenschaft wie weiten Reisen vielverrühmten Urgroßvaters Casparus gedachte, schüttelte er heftig sein schön Haupt: ›Nein, nein, die Erinnerung stecket in einer andern Schubladen meines Schädels, dann wo ehrbare politici und Gelehrte aufgespeichert liegen,‹ und lacht plötzlich und schnalzt mit den Fingern: ›Da hab' ich's, bei dem Schwarzenburger war's, dem Grafen Günther in Arnstadt drüben, hat einen Antiquarius, ein vielgelehrt Haus, der sich sonderlich mit alten Münzen befaßt, von denen er eine große Collection weniger in Originalen, dann in Copien besitzet. Da mir nun unter diesen Zeichnungen etwelche als besonders schön und von zierlicher Hand auffielen, nannte er mir eine Malerin, solche er sowohl ihres bei großer Jugend ungemeinen Geistes als ihrer Kunst wegen, mit der sie sich den Männern furchtbar mache, als ein miraculum bezeichnete. Dieses Wunderkind aber trug den Namen Wasera.‹ – ›Und der Antiquarius,‹ rief ich erfreut, ›ist der verrühmte Herr Andreas Morell aus Bern!‹ – › Parfaitement,‹ entgegnete der Graf erstaunt. ›Kennet Er also die Malerin und ist sie etwan eine Verwandtin Seines Freundes?‹ – ›Die Schwester, Euer Durchlaucht,‹ antwortete ich, und kam mich eine solche Rührung ob dieses schönen und höchst wunderbaren Zusammentreffens an, daß mir meine Tränen zu unterdrücken nur mühsam gelang. Worauf der edle Herr aber aufsprang, etliche Male hin- und herging und sich schließlich mit einem Gesicht vor mich hinstellte, darauf ein plötzlicher Entschluß gar hell leuchtete: ›Was meint Er, Herr Professor, könnten wir die wunderbare Malerin auch hieher bekommen?‹ Und da ich, daß es sich wohl machen ließe, gern zugab: ›Da müssen wir mit der Gräfin reden,‹ rief er und führte uns nach einem andern Gemach, von wo uns eine schöne und seltsame Musik, wie ich eine solche noch nie vernommen gar rührend entgegenklang. Darinnen saß die Gräfin, eine schöne und zarte Frau, halb liegende in einem Faltstuhl, neben einem sowohl seines figurierten Holzwerks und schön bemalten Deckels wie des himmlischen Tones wegen wunderbarlichen Clavecin, das eine andere Dam mit weißen Fingern rührte. Die Gräfin kam uns aufs angenehmste entgegen und gleichermaßen die fremde Dam, von der mir mein Begleiter nachhero, daß sie, eine französische Hugenottin von fürstlichem Geblüt, hier als in einem refugio und zugleich als Freundin des hohen Paares weile, zu berichten gewußt und die mir einer hohen klaren Stirn und eines großen lebhaften Auges wegen merkwürdig war. Kaum hatte der Graf seine Dich wie Anna betreffenden Projekte fürgebracht, als auch schon die beiden Damen mit großer Acclamation ihre Zustimmung erteilten und absonderlich die Französin ihrer Freude über die junge Malerin beredten Ausdruck gab. Es wurde dann, daß ich Euch morndes die Sache in einer Epistel vorlegen solle, raschestens beschlossen, und meint der hochedle Herr, daß Ihr Eure Reis' auf die ersten Täg des beginnenden Jahres ansetzen solltet, allwo ein anderer Schweizer, ein junger Schaffhauser derer im Turn, den er als einen Pagen engagierte, herkommt, mit dem Ihr zu reisen Euch wohl verbinden könntet.

Das also, viellieber Schwager, ist die große Zeitung, so ich Dir zu geben habe, und bitte ich Euch, die Sach förderlichst zu betätigen, auch zu veranlassen, daß eine schöne Zahl recommandationes, so von M. G. H., dem Rat und Bürgermeister, als einzelnen Respektspersonis, wie etwan von Professor Schweizer und Antistes Klingler, Deinen Lehrern und Fürgesetzten, an den Hochedeln abgehen mögen, daraus er sehen mag, daß ich nicht selbstsüchtig und übertriebenerweis Euch empfohlen, besonderlich, da ich ihm, daß Ihr meiner Liebsten Geschwister seid, nicht verborgen. Nun aber zweifle ich nicht, daß Ihr alle diese große Ehrung als ein Glück und göttlich Fügung dankbarlich empfinden werdet, wie denn auch ich mit einem frohen übervollen Herzen heimwärts ritt, derweil mein Begleiter mir die Vorzüg und Macht dieser edeln, nicht allein mit dem Brandenburgischen Kurfürsten, sondern auch mit dem englischen Königshaus verschwägerten Dynastei mit vielen und warmen Worten schilderte. Und ist zu sagen, daß der Graf Wilhelm Moritz, ein Mann von außerordentlichen Geistesgaben, ein väterlich gütig Herz gegen seine Untertanen heget, solche er weniger als servos denn als lieben Kinder behandelt, ihnen neben der Arbeit etwelche, in allen Züchten gepflogene recreationes wohl gönnend, insgemein aber mit Erbauen von erwerbbringenden institutiones, als Hochöfen, Eisenhämmer, Drahtzügen und Sensenschmieden für den Wohlstand seines Landes gar emsiglich bedacht ist. Auch hat er über seine an den eignen Untertanen erwiesene Güte Fremden, insonderheitlich denen armen Exulanten, ein väterlich Herz zu erzeigen nicht unterlassen und den armen Elenden sein Land also liebreich erschlossen, daß man hier in zweien, gänzlich denen réfugiés eingeräumten Dörfern kein ander dann welsch Wort hören mag. Und wie ihn denn sein weit Herz neben der Lutherischen auch die Calvinische Lehr in seinem Land zu dulden treibet, so ist er gar – darüber aber mag ein Schweizer, dem annoch der Lärm von Villmergen in den Ohren liegt, sich füglich wundern – denen Katholischen, so im Angesicht des Schlosses ein alt Nonnenkloster besitzen, nicht allein ein gütiger Nachbar, sondern den Altenburgi Virgines selbst ein kräftiger Berater. An seinem Hof aber soll der Hochedle ein gar liebreicher Hausvater so gegen seine vielzarte Eheliebste als seine drei Kinder, ein Mägdlein und zwei Knaben, die ich auch zu sehen bekam, sein, wie seinen Gästen, deren er – ein rechter Liebhaber von ritterlichen divertissements, wie Wüssenschaft und Künst – gar viele bei sich besammelet, ein froher und liebenswürdiger Wirt, und wird es Euch, liebsten Geschwistern, die Ihr an ein streng und fast engherzig Regiment gewöhnt seid, an diesem lieblichen Ort seltsam bedünken, allwo der Geist so hell und weit wie der Blick, der hier vom Taunus bis zum Westerwald und an die Vögelberg hinunter durch ein weit sonnenreich Land aufs wohligste sich ergehet. So aber der Herr Amtmann, Euer edler Vater, von diesem frohen und hellen Wesen ein Schaden für Euch befürchten sollt', mag er sich füglich getrösten, dieweil ich niemalen einen Mann getroffen, der denen höchsten Dingen gegenüber im Ewigen und Zeitlichen ein frömmern, demütigern und herzhaftem Sinn erzeiget denn dieser weise und hochfühlende Fürst, wie ich aus etlichen seinen Worten herzinniglich vernehmen konnte.

So hoff' ich denn, daß Ihr diese epistulam mit gleicher Herzensfreud, wie ich sie schrieb, lesen und einen frohen Entscheid in Bälde treffen möget. Die condiciones werden nicht anders sein, als Ihr Euch wünschen könnt, und glaub' ich, daß meine Jungfer Schwägerin hier nicht allein Gelegenheit haben wird, ihre Kunst aufs glücklichste zu zeigen und an den erfreulichsten Objekten zu üben, sondern, daß sie auch an denen hohen Damen, insonderheitlich der in allen Künsten und Wissenschaften bewanderten Marquise eine Lehrmeisterin zu manchen Vollkommenheiten des Geistes haben wird, solche man in unserer, mehr auf das Gegenwärtige und Nützliche denn auf das Zukünftige und Erhebende gerichteten Vaterstadt umsonst suchen mag. Und wirst Du, lieber Schwager, fürderhin mich zu beneiden kein Ursach mehr haben, vielmehr ich an manchem schönen Tag in meiner Schulstube mit unterdrückten Seufzern Euer gedenken, wann Ihr – wie dies hierzuland auch beim Frauenzimmer der Brauch – auf schnellen Pferden mit den gräflichen Herrschaften durch die weiten Wälder jaget ...«

Sie lasen nicht weiter die seitenlangen Empfehlungen und Grüße, die nun folgten. Sie faßten sich an den Schultern und sahen sich in die Augen: »Jungfer Hofmalerin!« – »Herr Hofmeister!« und umhalsten sich und lachten wie Kinder. Und wiesen zum Fenster hinaus, das grämlich unter dem Schatten der nahen Häuser lag: »Siehst die Wälder da draußen, weit, weit und grün und rauschig wie das Meer!« Und blinzten nach Annas dunkler Kammer hinüber: »Siehst dort das fein fürstlich Gemach, glänzt vor lauter Sonnenschein und Seide, und sitzt eine Gräfin darin, die macht eine Musica so süß, so süß, das Herz muß einem schmelzen!«

Aber Anna wurde plötzlich nachdenklich: »Ob es nicht zu schön ist, Bruder, das alls! Ob ich es darf, so fort, weg von daheim und in die weite Welt, jetzt!« Doch Rudolf lachte:

»Zu schön? Nichts ist zu schön für dich, Schwesterlein!« und streichelte ihre goldbraunen Zöpfe. »Und wann du fort willst, eben jetzt muß es sein, solang die Lisabeth noch da ist.« Und Anna dachte nach: Nein, jetzt war sie kaum nötig daheim. Marias Schmerz war still geworden über den neuen Pflichten, war nur selten etwas, so daran erinnerte mit sanften wehmütigen Schlägen wie ein fernes Vesperglöcklein. Lisabeths Glück aber hatte eine Helligkeit über alles gebracht, daran besonders die Mutter sich sonnte – oh, es ging ohne sie! Aber der Vater? »Wird's der Vater erlauben?«

Rudolf zog die Brauen zusammen, daß einen Augenblick sein junges Gesicht hart wurde und unfreundlich. »Der Vater, ah, wann er uns vor dem Glück sein wollte!«

Aber Anna wehrte ihm: »Wann's wirklich unser Glück, wird er nicht dagegen sein.« Und dann verabredeten sie, wie man's am besten anstellte, um ihn geneigt zu finden. Und als er nach dem Abendbrot sein Augenglas einsteckte mit einer ruhigen Gebärde, die schon schier etwas Gemütliches hatte, und mit merklichem Räuspern eben ein erbaulich lehrreiches Gespräch in die Wege zu leiten sich anschickte, da wagten sie's.

Zuerst war es freilich ein groß ernsthaft Staunen und bedenkliches Kopfschütteln: »Was, so weit weg und in die fremde Welt? Das will mir mit nichten gefallen. Es heißt nicht umsonst und ist ein nachdenksam Wort: Exeat ab aula, qui pius esse debetWer rechtschaffen bleiben will, der halte sich dem Hofe fern.

Aber da läutete Lisabeths Stimme dazwischen: »Es kann ja nur gut sein und glückhaft, da es von Johannes kommt,« und das war ein Argument, das wirkte, absonderlich auf die Mutter. Und wenn auch an diesem Abend unter des Amtmanns vielfältigen Bedenken die Sache zu keinem Beschluß gedieh, eines Tages war man doch so weit und war es der Amtmann selbst, der mit dem Braunfelsschen Hof in Unterhandlung trat, die Condicionen geschickt und vorteilhaft leitend, und der vom Bürgermeister und Rat und Professoren Rekommandationen erwirkte, die wohltönend und mit einer schweren Fracht rühmender Worte dem Geschwisterpaar vorauszogen, und schließlich kam auch die Stunde, da sie selber mit der Gnädigen Herren Erlaubnis Zürich verließen.

Es war an einem der ersten Tage des jungen Jahrhunderts, als die beiden an einem köstlich kalten Morgen im schwerfälligen Reisewagen über das grobe Pflaster des Niederdorfs hinrumpelten. Ein paar junge Leute hielten sich, die mäßige Schnelligkeit des mühseligen Gefährtes unschwer innehaltend, zur linken Seite des Wagens, um mit munteren Worten und kräftigem Händedrücken den Abschied von Rudolf zu verlängern, während Anna aus dem rechten Wagenfenster den freundlichen und neugierigen Gesichtern zunickte, so die jungen Reisenden allenthalben von Türen und Fenstern her grüßten.

Sie schmiegte sich in ihrem schweren Pelz wohlig zusammen. Seltsam, wie die grauen Häuser vorbeischwankten und die altbekannten Gesichter auftauchten und verschwanden, das war alles traumhaft, wie unwirklich. Auch durch den Abschied von den Ihrigen war sie gegangen wie durch einen Traum. Wie ganz anders war es doch gewesen damalen, als sie nach Bern ging und ihr das Trennungsweh die Brust zusammenschnürte wie mit eisernen Reisen. Heute war ihr so leicht, und die Abschiedsworte waren an ihr vorbeigegangen, wie wenn sie nicht ihr gegolten hätten, als ob sie von fernher gekommen, aus einer Welt, der sie schon nicht mehr recht angehörte. Der Mutter weiche Rede und des Vaters Mahnung und Befehl: »Sobald ich euch ruf', kommt ihr zurück!« und Lisabeths Bitten: »Den Johannes vergeht mir nicht; bringt ihm das Tuch, wo ich ihm gestrickt, daß er sich warm halt' und den Husten nicht wieder bekomme, den schlimmen ...« und Marias dunkle Worte: »Bleib stark, Schwesterlein, bleib kühl ...« alles, alles wie im Traum ... Nur als Heini im letzten Moment seine von Aufregung und zerdrückten Tränen feuchten Händchen ihr um den Hals warf: »Geh nicht, Anna, bleib bei mir!« da hatte es ihr einen Stich gegeben und hatte sie einen Augenblick lang gewußt, daß das kein Traum war, wohl aber ein Erlebnis, ein starkes und einschneidendes vielleicht. Aber nur einen Augenblick. Jetzt war ihr wieder so ruhig, so hell, so ungegenwärtig, wie sie die grauen Häuser vorbeischwanken sah und die bekannten Gesichter auftauchen und verschwinden – wie im Traum.

Als sie unter dem Stadttor durchfuhren, jauchzte Rudolf in den Klang des Posthorns hinein: »Ihr fürsichtigen Gestrengen, valete und habt ihm Sorg, dem guten alten Geist, auf daß das alte Säculum noch ein fünfzig Jahr hocken bleib' allhier, wir ziehn mit dem neuen!« Und bog sich zum Fenster hinaus und winkte den grauen Türmen nach, die sich langsam in die weißen Morgendünste zurückzogen. Dann warf er sich in die Wagenecke und lachte: »Sag, ist es auch wahr, Schwesterlein, sind wir unterweges, und was wir dort zurücklassen, ist das unsere alte gute Stadt?«

Anna lächelte: »Wird schon so sein müssen, und was da kommt, ist die Welt und die Weite, ist das Große, Freie, Schöne!«

Sie wies zum Wagen hinaus: ein weites stilles Land tat sich vor ihnen auf. Die Erde war ohne Schnee; aber der Rauhreif hatte ihr ein feiertägliches Gewand übergelegt, daß sie blank und jung war. Und Bäume hängten den Glitzertand ihrer Äste in die starre Luft und hoben ihre weißen Kronen funkelnd durch die ersten Sonnenstrahlen in den stillen Himmel, der sich rein und unendlich wölbte.

Mit verschränkten Händen, eng aneinander geschmiegt, saßen die Geschwister da und schauten zu, wie die Sonnenstrahlen tiefer stiegen und allüberall auf der sauber gebreiteten Erde ein festliches Funkeln entzündeten, und fühlten, wie die Räder sich unter ihnen drehten, immerfort, immerfort, jede Drehung ein Stück weiter der glitzerigen blauen Ferne zu ...


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