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Bei Josephus Werner

Es war nach einem maßleidigen Dauerregen, als eines Sonntagabends zu Mitte Mai plötzlich die Sonne herfürbrach. Ganz heimlich geschah dies, während die guten Berner im Abendgottesdienst saßen, und erst, da sie das Münster verließen – etwas griesgrämig in den schwarzen Kirchengewändern – gewahrten sie mit Staunen, wie die Pfützen auf der Plattform neben der Kirche gelbrot erglänzten und allbereits ein mächtig Stück Himmelblau zwischen den abendgoldenen Türmen hing. Die breitschwebenden Schwalben aber von der Ringmauer, die all die Zeit bäuchlings über die Aare gestreift, segelten nun ganz hoch in der sauberen Bläue und so fern, daß man ihnen kaum nachblicken konnte. Die Alten kriegten den Schlucker unter den engen Halskrausen, wann sie's taten, und die Jungen ein seltsames Drängen in der Herzgegend, das man nicht anders denn mit einem tiefen Seufzer quittieren konnte. Es war aber keine Täuschung und falsche Vorspiegelung mit dem Himmelblau und Abendgold und Hochflug der Schwälbchen; über Nacht tat sich der Himmel gewaltig auf, sog die überflüssige Nässe ein und vertrieb sie mit leichten Winden, sodaß der Montagmorgen mit allem Überschwang einer frischgewaschenen Maienpracht herauskam. So freudig glänzten die gedrängten Zinnen, und die Leute traten vergnügt unter den niedrigen Laubengängen hervor in die breiten Gassen, wo man die Sonne spürte. Aber am herrlichsten ging der neue Tag über die Gärten am morgendlichen Rande der Stadt, die sich von den hoch über der Aare gelegenen Häusern an der Junkerngasse in breiten Stufen gegen den Fluß hinabzogen. Dort machten die kleinen Vögel ein lustiges Wesen mit Jubel und Sonnenflug, und die Menschen taten es ihnen nach, öffneten allenthalben die Fenster und ließen Allongen und Haubenbänder im Frühwind flattern oder auch in einem ungesehenen Winkel sich die Sonne auf den perückenlosen Schädel brennen. Nur eines der enggeschmiegten Häuser unweit der Plattform schien nicht mitzumachen. Die Flügel am kleinen Fenster des Turmstübchens standen zwar offen und bewegten sich mit hellem Blitzen der runden Scheibchen leise hin und her, aber die ganze Fensterreihe des ersten Stockes war blind und tot; denn dort lag hinter modisch großscheibigen Fenstern Josephus Werners kleine Malschule, und der Meister hatte vorsichtig die dünnen Verhänge vorziehen lassen, auf daß kein fürwitzig Sonnengeflimmer seine Lehrjünger am emsigen Werke störe. Nur an der einen Stelle, wo die Verhänge nicht ganz schlossen, vermochte ein dünner Strahl einzudringen. Er legte eine schmale Bahn durch das wohlräumige Gemach und über die runden Köpfe der Malschüler. Der schöne Giulio, so zunächst dem Fenster sah, betrachtete angelegentlich den hellen Eindringling, der aufreizend, ein langer güldener Zeiger, nach der Tür wies, die sich eben hinter dem Meister geschlossen hatte. Dann warf er plötzlich seine Reißkohle von sich, mitten ins Zimmer hinein, daß sie bröckelnd aus dem messingenen Halter sprang.

» Commilitones,« rief er mit etwas wie Spott in der warmen verwelschten Stimme, »nehmt's ad notam: Anno Domini 1692, am Montag nach Exaudi, sah man zu Bern die Sonne. Wohl verstanden: keine weiße Trübsal hinter Wolken, eine rechte gelbe Sonne; aber in des Maestro Josephus Werner löblicher Kunstacademie saßen die Kunstjünger hinter gezogenen Verhängen und kopierten gipsene Modelle! Per Bacco, wer's aushält!«

Die andern wandten sich belustigt dem Italiener zu; aber Lukas Stark, der langaufgeschossene Primus der Klasse, flackerte ihn herrisch an aus seinem hageren Jungengesicht: »Silentium, Welsch,« rief er streng, »nun soll Stoffel reden; er ist uns die Explication schuldig, aus was Ursach das Turmstübchen heut morgen also lieblich hergerichtet wird und ob wir am End gar einen patricischen Hausgenossen gewärtigen müssen!«

Aber des Meisters Sohn schüttelte bestimmt die rote Mähne: »Ich weiß nichts, Lux, der Vater hat auch mir nichts verraten!«

»Wer's glaubt!« stichelte Stark weiter. »Und ich sage, daß du's weißt!«

Da erhob Christoph sein offenes Gesicht und sperrte die hellbraunen Augen weit auf: »Nein, sage ich,« rief er erbost, »nobis, hörst du? Nobis quant!« und preßte beteuernd die rosenrote Faust aufs Herz. Enttäuscht wandten sich die andern wieder ihrer Arbeit zu. Da war also nichts zu erfahren. Christoph sagte nie eine Unwahrheit, und wenn er gar ein Bekräftigungswort aus jener gaunerischen Geheimsprache herfürholte, so die Jungen in dem verschwiegenen Stadtviertel unten an der Aare führten, tönte es wie Eid und heiliges Schwören.

Indessen hatte Giulio ungestüm das Fenster geöffnet und sog nun mit seufzendem Atem die durchsonnte Luft ein, die leise zitternd ins Zimmer drang. Dann warf er sich in die Fensterbrüstung und bog den geschmeidigen Körper hinaus, daß sein schwarzes Samtwams mit scharfen Konturen gegen die klare Luft stand. Seine Blicke umspannten entzückt die maienbunte Welt. In wundervollem Reichtum tat sie sich vor ihm auf, herrlich gestuft von den schimmernden Zacken der Schneeberge, die ein zarter Duft weit am Himmel hinaufrückte, über Voralpen, Wälder und Hügel bis hinunter zum tiefgewühlten Aarebett. Plötzlich blieb sein Auge an einem Punkte hängen. Er beugte den Kopf weit hinaus, daß die wohlgepflegten Locken im Morgenwind wehten; dann griff er niederwärts nach einer der amethystfarbenen Blütentrauben, die aus dem knorrigen Gerank unterhalb des Fensters herausdrängten, und warf sie in schönem Schwung durch die helle Luft. Ein kleiner, erschreckter Schrei antwortete von unten.

In diesem Augenblicke kam der Meister zurück. Ein unwirscher Zug ging über sein lebhaftes Gesicht, da er das müßige Treiben seines welschen Schülers gewahrte, und als er vor dessen verlassene Staffelei trat, zogen sich seine starken Brauen dunkel zusammen, und die reichgetürmten Locken seiner braunen Allonge gaben einem mißbilligenden Kopfschütteln ein vielfaches Echo.

»Flüchtig, flüchtig, Giulio! Solchermaßen bringt Ihr niemalen einen rechten Laokoon heraus. Der fähige Geist allein tut's nicht, es sind auch Fleiß und Aufmerksamkeit vonnöten!«

Der Angeredete wandte sich leicht dem Lehrer zu und ließ ein übermütiges Feuerchen in seinen warmen Augen aufspringen: »Ach, laßt den alten Gorilla, teurer Maestro! Seht her, gebt mir dies zu malen, und Ihr sollt Euch nicht länger über meinen Unfleiß beklagen müssen!«

Mit diesen Worten zog er den halb unwilligen Herrn Werner ans Fenster und zwang dessen Blick nach dem unteren Garten, wo des Meisters junge Tochter Sibylla über den lohbelegten Weg heraufschritt. Von den leuchtenden Narzissen, die aus schmalen braunen Beetchen der Mauer entlang ihren Wohlgeruch schwadenweis ausatmeten, hielt das Mädchen einen dicken Strauß in Händen, und die Sonne legte einen vielfarbigen Lichtschein um ihren blonden Scheitel und das weiche Gesicht, darauf eine zarte Röte sich zusehends vertiefte. Es lag zu viel Lieblichkeit in diesem Anblick, als daß er nicht Herrn Werners Unmut hätte verscheuchen müssen. Ein erfreutes Lächeln, darein Vaterstolz und Malerlust sich teilten, ging durch seine klugen Augen und verschwand nicht, als Giulio einen Danteschen Vers gleich einer weichen Melodie vor sich hinsang:

»Tanto gentile, tanto onesta pare
la donna mia ...«

Denn ein Vergleich seiner stillen Sibylla mit der himmlischen Beatrice schien ihm in diesem Augenblick nicht so uneben. Erst als der Italiener den Meister mit stürmischen Bitten bedrängte, daß er ihn die Tochter malen lasse, wandte sich dieser stirnrunzelnd und mit abwehrender Gebärde vom Fenster weg in die Stube zurück:

»So meine Sibylla gemalt werden soll, weiß ich ihr eine würdigere Hand denn die Eure, Giulio!«

Aber der andere ließ nicht nach, und während Herr Werner mit festen Schritten den Raum durchmaß, verfolgte er ihn mit flehentlichen Worten:

»Hat nicht Tiziano die holde Lavinia durch seine Schüler malen lassen? Und hatte er nicht selbst als Schüler des Palma Vecchio blondes Kind unzählige Male mit seinem güldenen Pinsel verewigt?« Als aber sein Bitten erfolglos blieb, warf er mit komischer Leidenschaft die Arme wie schmerzlich zum Himmel: »O Maestro, Maestro! Draußen wartet das gewaltige süße Leben, Ihr aber stellt uns vor Gipsleichen und tote Blätter!«

Der Meister hielt auf seiner Wanderung durch das lange, saalartige Gemach inne und kehrte sich mit brüsker Bewegung nach dem Sprechenden zurück. Ein Zorn wollte in dem dunkeln Gesicht aufsteigen; aber er verflog wie ein Wetterleich und machte einem überlegenen Lächeln Platz.

»Ehe Ihr die Schönheit meiner Kupfer und Abgüsse versteht, die nach den fürtrefflichsten Meisterwerken der Welt geschaffen sind, werdet Ihr selbst keinerlei Schönheit herfürbringen, und solange Ihr den göttlichen Laokoon einen Gorilla nennt, wird Giulio Giuliani kein Meister werden!«

Dann wandte er dem wenig reumütigen Italiener den Rücken und ging, als ob nichts geschehen wäre, ruhig prüfend von Staffelei zu Staffelei.

Erstaunt blickten sich die Schüler an. Sie hatten nach Giulios dreister Rede einen andern Ausbruch erwartet; denn die heißen Worte lagen sonst locker in Herrn Werners feuriger Seele. Heute mußte er in besonderer Stimmung sein. Mit verstohlenen Blicken betrachteten sie ihren Lehrer, und nun sahen sie erst, daß er feiertäglich angetan war und daß, halb verborgen unter dem reichgestickten Kragen, die güldene Kette hervorblitzte, die – ein Geschenk des großen Königs – nur an besonderen Ehrentagen sich zeigen durfte.

Indessen hatte der Meister seinen Rundgang durch die Klasse vollendet, hatte da und dort korrigierend eingegriffen, hatte durch lebhaftes Lob Lukas Starks tiefliegende Augen zum Leuchten gebracht und durch nüchterne Kritik das gerade Gesicht seines Sohnes in Wallung versetzt, wobei die roten Wangen mit dem gelbroten Haar einen unerfreulichen Zweiklang abgaben. Dann stellte er sich breitspurig vor die Klasse hin, mit einem verheißenden Augenblinzeln, sodaß die Schüler erwartungsvoll zu ihm aufblickten. Herr Werner aber drehte mit leisem Schmunzeln sein spitzes Schnurrbärtchen: »Nun möchtet ihr wohl Auskunft von mir haben, für wen das Turmstübchen hergerichtet wird. Ich habe das Wundern lang schon an euch gespürt und an euern gestörten Arbeiten. Aber die Patientia, meine Herren Lehrjünger, ist eine fürtreffliche Göttin, der zu dienen man nicht früh genug lernen kann. Erstmalen will ich noch euern Scharfblick und Urteilsinnigkeit auf die Probe stellen.«

Mit diesen Worten holte er aus der Kammer, die an das Atelier anschloß, ein kleines Gemälde heraus und stellte es vor der Klasse aus.

»Was denket ihr von dieser Malerei und ihrem Urheber?«

Die Schüler drängten sich um das Bild, das in heller und glücklicher Farbenmischung eine Flora zeigte, eine zartverhüllte weibliche Figur, die blumenstreuend durch eine an antikem Dekor reiche Landschaft hinschritt.

»Ich denke, Maestro,« rief Giulio lebhaft aus, »daß der Maler dieses holde Mädchen nicht nach Gips geschaffen!« Aber Christoph schnitt seine Rede ab: »Das ist ja Eure Flora, Vater! Wie kommt sie aus dem Besitz des Zürcherherrn hierher?«

Herr Werner schwieg lächelnd, während die übrigen Schüler sich in Lobesbezeugungen und Bewunderung ergingen, und betrachtete Lukas Stark, der, das scharfgeschnittene Kinn in die gestützte Rechte geschmiegt, mit aufmerksamen Blicken das Bild maß.

»Es ist das Werk eines Copisten, Meister,« sagte er in scharfem, nüchternem Ton, »das ist nicht Eure Handschrift und sind nicht Eure Farben; Ihr hättet die Gestalt lebhafter vom Hintergrund unterschieden und ließet sie nicht also unbestimmt in der blauen Luft hängen.«

Herr Werner lachte befriedigt: »Mein Lukas hat wieder einmal richtig getroffen; es ist eine Copie meiner Flora. Was aber denkt ihr von dem Copisten?«

Christoph, dem abermals eine rote Welle ins Gesicht gestiegen war, suchte sein Ungeschick gutzumachen: »Ich denke, daß er ein großer Maler ist, da er Euer Werk also trefflich nachzuschaffen wußte.« Und Giulio ergänzte: »Ich denke, daß er eine sehr feine Seele hat, so im Werke des andern zu lesen, ja, durch dieses hindurch zur Natur zu dringen weiß. Seine Augen haben nicht nur die Blumen Eurer Flora, Maestro, gesehen, sondern auch ihre lebendigen Vorbilder und deren Schönheit hundertmal genossen – und ich denke, daß er eine sehr zarte Hand hat.«

»Eine Hand,« warf Lukas mit spöttischem Lächeln ein, »der nichts fehlt denn die Meisterschaft.«

Herr Werner aber fuhr munter fort: »Fürwahr, auch Ihr, Giulio, habt recht; es ist in der Tat eine zarte Hand, die dies geschaffen; denn sie gehört einer noch zarten Jungfrau, einem Mägdlein, ebendemselben, das heute noch als euer Mitschüler und Hausgenosse in das Turmstübchen einziehen wird.«

Das schlug ein wie Hagel und Blitz. Einen Augenblick blieb alles still. Dann aber brachen die Fragen von allen Seiten los und umdrängten den lachenden Meister wie ein zudringlicher Bienenschwarm. Nur Lukas schwieg. Sein Gesicht verdüsterte sich, und die Zähne nagten an den trockenen Lippen des kleinen Mundes; dann grollte er:

»So sind denn also unsere guten Zeiten vorüber, und wir könnten Staffelei und Malgeräte füglich einpacken: wo das Frauenzimmer hinkommt, da hört alle ernsthafte Arbeit von selber auf; niemalen wird eins dieser flüchtigen, schnellfertigen Geschöpfe, die zu keinem anhaltenden Geschäfte taugen, den Ernst zur hohen Kunst finden.« Aber Giulio lachte laut auf:

»Oh, ihr heiligen Bären von Bern, wann kommt die Zeit, wo ihr euer Brummen zum Wohlklang menschlicher Stimme erhebt und wo ihr eure Augen von den eigenen schwertrottenden Tatzen weg und zur Sonne wendet!«

Herr Werner zog die Brauen hoch:

»Ich hoffe, Lukas, daß du deine Meinung ändern wirst. Ich habe auch erstlich dem Ansinnen des hochmögenden Herrn alt Amtmann Waser widerstanden, als er mir seine Tochter hierher in die Lehre geben wollte, ungeachtet der rühmenden Worte, die ihr ein trefflicher Künstler, mein guter Freund Felix Meyer in Zürich, gewidmet, eben in Erwägung jener Eigenschaften, die das andere Geschlecht nicht zur Ernsthaftigkeit der Kunst geeignet zu machen scheinen. Aber nun mir das Mägdlein vor etwelcher Zeit dies Gesellenstück geliefert konnt' ich nicht länger widerstehen. Und in Anbetracht ihrer vorzüglichen Eigenschaften und großer Fleißes will ich nicht dagegen sein, daß dies Zürcherkind in die Reihe der trefflichen und großen Künstlerinnen rücke, von denen die Welt unterschiedene gekannt hat. Vielmehr will ich mein Möglichstes tun, aus daß man einstmalen die Anna Waser neben einer Maria Robusti, Sophonisse Angusciola und Anna Rosa auf dem Parnasso erblicken soll – und neben einer Sibylla Merian.«

Den letzten Namen sprach er etwas leise, wie zögernd, was bei den Schülern ein schnelles Augenzwinkern hervorrief; denn der Umstand, daß des Meisters Tochter nicht den traulichen Namen der Frau Werner trug, wohl aber den fremden der berühmten Malerin, mit der zusammen Herr Werner in jungen Jahren zu Frankfurt in des alten Merian Schule gearbeitet, hatte zu allerlei Vermutung und unterhaltsamen Flüstereien Anlaß gegeben; aber Herr Werner tat, als ob er nichts bemerkte von dem Gemunkel. Auch jetzt fuhr er unbeirrt fort, wenn auch in etwas strengerem Ton:

»So hoff' ich denn, meine Herren Buben, daß ihr mich in meinem Vorhaben unterstützen und die Jungfrau weder durch Unfreundlichkeit, schlecht angebrachte Neckerei, noch gar Eifersucht kränket. Ihr sollt in ihr nichts sehen denn eine Miteifernde und Kameradin, der um so mehr Schonung und Freundlichkeit vonnöten, als sie in ausnehmender Stellung und mit ihren kaum vierzehn Jahren den meisten unter euch an Alter nachsteht. Ich erwarte, daß ihr auch in diesen Stücken die gute Reputation meiner Academie mehren werdet, sodaß ein Vertrauen, solches mir der Herr Amtmann Waser durch Überlassen seiner Tochter beweist, auch gerechtfertiget ist.«

Nach dieser umständlichen Rede, die aus dem lebhaften Mund des Meisters etwas ungewöhnlich klang und deshalb ihren Eindruck nicht verfehlte, trug Herr Werner das Bild in die Kammer und kehrte dann wieder unter die verdutzte, völlig aufgelöste Schar zurück. Da fiel sein Blick auf Giulio, der mit erfreutem Gesicht die Neuigkeit besprach. Herr Werner schritt auf den Italiener zu, faßte ihn unterm Arm und ging mit ihm ein weniges von den andern weg:

»Euch, Giulio, habe ich noch ganz besonders ans Herz zu legen: Laßt mir der Jungfrau gegenüber die leichten welschen Manieren, deren Ihr gern pflegt. Die Waserin ist ein ernstes und wohldenkendes Mädchen, das wohl Ehrerbietung verdient, das sich aber durch leichtfertige Höfelei und Liebesscharwenzen gekränkt fühlen würde.«

Der Jüngling warf den Kopf in den Nacken: »Ihr wißt, Signor Maestro, ich stamme aus der Stadt der Novella d'Andreae und Properzia de' Rossi!«

»Aber leider ist es nicht das edle Bologna, das mir Euch schickt,« erwiderte Werner mit bedeutsamem Blick, »sondern das üppige und leichtfertige Florenz l«

Die Worte brachten eine Glut in des Jünglings Gesicht, und seine Augen verdunkelten sich; da klopfte der Meister ihm wohlwollend auf die Schulter: »Es ist nicht bös gemeint, Giulio, ich weiß, daß Ihr Euch als Cavalier betragen werdet auch gegen diese Jungfrau.« Dann wandte er sich wiederum mit muntern Worten der jungen Schar zu: »Und nun, meine Herren Kunstbegierigen, mäßigt euern Eifer oder vielmehr, lenkt ihn auf ein ander Feld und sorget dafür, daß der Herr Amtmann und seine Tochter heute nachmittag so diese Stube als auch euch selbst angenehm und in wohlerfreuender Ordnung finde; auch sollen die Stadtschüler sich in vollgerundeter Zahl besammeln, damit meine Academie sich in völliger Stattlichkeit präsentieren kann. And daß ihr mir vor allem meine edeln gipsenen Modelle ungekränkt lasset und eure Hüte und Barette geziemend placiert und nicht auf den ambrosischen Häuptern eines Apoll und Laokovn oder gar einer Juno und Diana!« Dann verließ Herr Werner mit gutgelaunten, klingenden Schritten das Gemach.

Des Meisters Worte waren nicht wirkungslos geblieben. Der Nachmittag fand nicht allein die Malstube sauber hergerichtet, sondern auch die Schüler, die an Händen, Haar und Kleidung die verschönernden Anstrengungen der Mittagspause durchaus nicht verleugneten. Selbst an Christophs Rothaar wurden beträchtliche Bemühungen um Bezähmung des widerspenstigen Materials offenbar, das sich so bitter schwer zu Locken drehen ließ. Und die heftige Neubegier war am Werk mit aufgeregten Reden und kurzen erwartungsvollen Pausen. Ans Arbeiten dachte keiner; nur Lukas Stark saß mit verbissenem Eifer an seiner Staffelei und schien sich um Worte und Gebaren der andern wenig zu bekümmern; aber sein Gesicht war dunkel, und die erhitzten roten Äderchen aus den vorspringenden Backenknochen zeigten, daß er nicht allein mit Händen und Augen werkte. Aus seinem Ingrimm suchte ihn Giulio herauszunecken.

»Seht her den heiligen Lukas, Santo, Santissimo,« deklamierte er, »der heiliger sein will als sein großer Schutzpatron! Denn jener malte die süße Madonna, derweil dieser hier Feuer und Flamme speit gegen eine unschuldige Jungfrau; der arme Giulio aber freut sich, daß endlich was Liebliches in diese Schulstube kommt.«

Aber Lukas lachte den andern höhnisch an: »Etwas Liebliches? Du wirst sehen, wie lieblich solch eine Creatur sein kann, so die Süßigkeit ihres Geschlechtes verleugnet und sich Kraft und Ruhm eines Mannes anmaßen will. Ich fürchte, der schöne Giulio wird diesmal nicht auf seine Rechnung kommen, dieweil ihm diese Männin weit eher Schrecken denn augenverdrehende Entzückung erwecken dürfte!«

Aber der Italiener lachte: »Wann Schönheit und Dummheit so zusammen stünden, wie du zu meinen scheinst, Lux, dann würden Augen und Ohren in diesem Lande sich gar zu oft wechselweise belügen, da jene auf Klugheit schließen müßten, wo diese Schönheit vermuteten!«

»Ich red' weder von Schönheit noch Dummheit,« fuhr Lukas gereizt auf. »Ich meine die schönsten Weibestugenden, als da sind: Güte, Demut und ein verständig liebevoll Wesen und Klugheit am rechten Platz, die sich auch im Gesicht aufs holdeste malen, derweil Ehrsucht, Hoffart und selbstische Überhebung nicht nur ein weibliches Herz, sondern auch dessen Spiegel, das Antlitz, vergiften.«

Die letzten Worte verklangen in einer plötzlichen Stille, und als Lukas sich überrascht umwandte, traf sein Blick ein helles Mädchengesicht. Zwei große, sehr kluge Augen lagen einen Moment auf ihm und gingen dann kühl weiter. Er kam sich vor wie verflüchtigt. Rasch sprang er auf und stellte sich in die Reihe seiner Kameraden, die mit tiefer Reverenz die nun eintretenden Herren begrüßten.

Die beiden boten ein gar zwiespältiges Bild. Neben dem beweglichen, eleganten Werner, der mit seiner pompösen Perücke und modischen Kleidung – beides Reminiszenzen an einen unglücklich verlaufenen Aufenthalt am Hofe des Sonnenkönigs – recht wie ein französischer Kavalier aussah, erschien der Zürcher Amtmann in seiner etwas steifen Würde sonderlich schlicht und streng. Das dunkle Reisekleid, das dem hageren Körper ziemlich knapp anlag, zeigte keinerlei Schmuck, und die altvaterisch geschnittenen Haare erreichten kaum die schmale blendend weiße Halskrause und umrahmten kümmerlich die feinen Schläfen und die hochgebaute Stirn über dem schmalen Gesicht. Eine peinliche Sauberkeit und nüchterne Strenge waren an dem Mann, die einschüchtern konnten; es war kaum zu glauben, daß je ein Lächeln diese knappen Züge verschönern und die bernsteinfarbenen, dunkel umschatteten Augen durchspielen mochte. Auch jetzt, da er sich die jungen Schüler betrachtete, die ihm Herr Werner mit sprudelnden und launigen Worten vorstellte, schienen diese blassen Augen nur strenge Kritik und nüchternste Klarheit zu kennen. Während die weiße ausgemergelte Rechte, die ein breiter Siegelring zierte, unablässig über das starke Kinn strich, gingen die Blicke forschend von einem zum andern, und als die Vorstellung zu Ende war, sprach er nach kleinem Räuspern, mit einer trockenen, etwas klirrenden Stimme und ohne den Schatten eines Lächelns um die schmalen Lippen:

»Es freut mich, in euch die künftigen Kollegen meiner Tochter zu begrüßen. Da ich weder an euern mir von Herrn Werner vorzüglich geschilderten Wandeltugenden noch an der Trefflichkeit eures Kunsteifers zweifle und ich hinwiederum den Fleiß und die Aufmerksamkeit meiner Tochter kenne, bin ich überzeugt, daß sich die Zusammenarbeit durch gegenseitige Nacheiferung aufs ersprießlichste gestalten wird.«

Dann wandte er sich mit einem kleinen, mehr erledigenden als grüßenden Kopfnicken von den Jünglingen weg Herrn Werner zu, der die beiden Gäste unter höflichen Scharringgeln ins Nebengemach führte.

»Der Antik ist nicht kommod,« kicherte einer der Schüler, »da will ich noch lieber unsern Hach!« Schulmeister.

»Ja,« meinte ein anderer und zupfte heftig an den kurzen Ärmeln seines verwachsenen Wamses, »aber sie – auf der Plattform etwan – wann sie da mit andern spazieren wollt als mit uns, das geben wir nicht zu!«

Giulio sah groß vor sich hin: »Augen hat die, Augen ... Und er schüttelte den Kopf wie über einem Rätsel.

Nur Christoph und Lux schwiegen. Jener starrte die Türe an, die sich hinter den drei geschlossen hatte, und das Staunen öffnete alles in seinem Gesicht, daß es schier entsetzt aussah. Der stolze Lukas aber war wieder an seiner Arbeit, als ob es ihn nichts anging, das Wispern und Wundern rings.

Drüben sahen sich die Zürcher Gäste überrascht in dem kleinen Gemach um, allwo Bilder, Stiche und Statuen sich reichgehäuft vorfanden.

»Ihr seht hier das Zimmer,« erklärte Herr Werner, »wo meine Schüler zu Winterszeit des Nachts bei Licht Academien halten und fürnehmlich nach alten gipsenen römischen und griechischen Modellen zu zeichnen pflegen. Der Raum hält die Wärme länger zusammen als die luftige Malstube und läßt sich durch diese Lampe meiner Invention wohl erhellen.« Dabei wies er nicht ohne Stolz aus eine sonderbar geformte, an der Decke befestigte Messinglampe, deren sinnreiche Konstruktion der Amtmann mit Bewunderung und vielem Lob für den Erfinder betrachtete. Dann aber wandte man sich den aufgestapelten Kunstschätzen zu, die Herr Waser mit wachsendem Staunen betrachtete.

»Ich wundere mich,« rief er aus, »in dem Atelier des verrühmten Miniaturmalers vorzüglich umfangreiche Bilder und Modelle für die Schüler zu finden, da ich doch glaubte, daß hier die Muse der zierlichsten Malerei allein herrsche.«

Herr Werner wiegte sein lockenbeschwertes Haupt und strich unterschiedene Male über sein zierliches Schnurrbärtchen, als ob er ein gewichtig Wort auf der Zunge formte. »Die Miniatur, hochmögender Herr,« hub er dann feierlich an, »ist kein Anfang, sondern ein Ziel, sintemal es der feinsten und bedachtlichsten Kunst benötigt, um im kleinsten Rahmen das sagen zu können, wozu andere ganzer Mauern bedürfen, solche man nur mit halsverdrehendem Staunen betrachten kann. Der Weg aber, der zu dieser Kunst führt, in der ich – mit Verlaub – recht eigentlich den Ausdruck unserer gebildeten Neuzeit erblicken möchte, deren Privilegium es ist, die Schönheit des Zierlichen und die Größe des Kleinen entdeckt zu haben, dieser Weg hebt bei den umfänglichen Flächen und großen Linien an. Der Anfänger in der edeln Malerkunst muß eben zuerst in großen Gebärden sich genugtun können, nicht anders als ein klein Kind, das auch nicht zierlich und wohlanständig zur Welt kommt, sondern sich zunächst mit übelm Geschrei und Strampeln vernehmlich macht. Aber wie eine treffliche Mutter die übeln Gewohnheiten des Kindes bald zu löblichen Tugenden und guten Sitten zu wandeln weiß, so ist es auch mein redliches Bemühen, die angeborene Neigung zu befördern und auf sichere Wege zu bringen. Meine Unterweisungsart, edler Herr, ist keine wie bisher gebräuchliche Phantasterei, man findet bei mir Richtschnuren und gründliche Lehrsätze nach den Regeln der freien Künste und nicht aus Einbildungen und Mutmaßungen. Aber erst dann, wann der Lehrjünger alle Malerkunstrichtigkeiten erfaßt hat, ist er auch würdig, sich der fürnehmsten, adeligsten Kunst zuzuwenden, als welche ich die edle Miniatur betrachtet haben möchte.«

Herr Werner hielt inne und beobachtete mit Befriedigung den Eindruck, den seine Rede aus die beiden gemacht hatte, freute sich über das beifällige Kopfnicken des Amtmanns und die andächtige Begeisterung, die sich in Annas Augen malte.

Bedachtsam nahm Herr Waser das Wort auf: » Optime dictum, Herr Werner! Auch ich möchte keine Kunst über die edle Miniatur setzen, die mir gleichsam wie eine Leibwerdung aller feinen und zarten Tugenden vorkommt, weilen – wie mir scheint – kein roher oder übelgesitteter Mensch dergleichen mit ungeschlachten Fingern hervorzubringen vermöchte. Es ist deshalb auch mein besonderes Anliegen und Herzenswunsch, daß meine Tochter einst in dieser feinsten Kunst, wenn vielleicht auch nicht excellieren, so doch ein Treffliches leisten möge.«

»Sie soll excellieren, sie soll excellieren!« rief Herr Werner mit Emphase und griff nach Annas schlanker Hand: »Wer sollte der zarten Kunst Meister werden, wenn nicht diese feinen, zierlich gespitzten Finger, die schon so früh und so glücklich nach dem Pinsel griffen? Freilich, Zeit muß man ihr lassen, Herr Amtmann, und vorerst müssen auch diese zarten Händ an Rötel und Kohle sich färben, ehe sie den Silberstift und kleinsten Pinsel führen dürfen, muß mir doch selbst Giulio, der als Maler schon etliches geleistet, mit der Zeichenkunst neu beginnen, dieweil sein fremdartiger und passionierter Pinsel einer Zügelung nicht entraten kann.»

Indes hatte Anna verlegen ihre vor Erregung feuchten Finger aus den festen Händen des Meisters befreit. Über dem unerwarteten Lob war ihr das Blut in Bewegung geraten, und eine kindliche Freude übergoß das heiße Gesicht mit einem rührenden Glanze, den Herr Werner nicht ohne Genugtuung gewahrte. Mit klugen und anschaulichen Worten stellte er dann den beiden seine Kunstschätze dar und öffnete schließlich vor den entzückten Augen des Amtmanns eine sorgfältig verschlossene Truhe, darin er seine feinsten Miniaturen aufbewahrte sowie eine Sammlung von Geschenken und Auszeichnungen, die er einst aus den Händen römischer Kardinäle und deutscher wie welscher Fürsten empfangen hatte.

Mit kostenden Kennerblicken betrachtete Herr Waser die Medaillen mit den Bildnissen des Kaisers, des pfälzischen Kurfürsten und des großen Königs und ließ wohlgefällig die künstlich gearbeiteten Goldketten durch die blassen Finger gleiten. Anna aber griff plötzlich mit einem kleinen überraschten Jubel nach einer in hellen und lieblichen Farben gehaltenen Miniatur.

»Vater, glaubt Ihr nicht, den alten Pfarrhausbrunnen von Rüti zu sehen!« rief sie mit seltsamer Bewegung in der Stimme, während sie dem Amtmann das feinste Kunstwerk unter die Augen hielt, das eine am Brunnen ausruhende Diana darstellte.

»Phantastin,« lächelte dieser, »hier sehe ich eine herrliche antike Fontäne, welche die Kunst des Malers, eben unseres trefflichen Herrn Werner, mit allen Schönheiten einer arkadischen Landschaft umgeben hat; der Rütibrunnen aber war in Wahrheit nichts anderes als ein grauer und vermooster Stock unter einem hängenden Weidenbaum.«

Aber Anna schüttelte den Kopf: »Ihr habt eben den Brunnen nicht gekannt, Vater, Ihr seid nicht wie ich halbe Tag unter der Weide gesessen und habt geschaut, wie die Sonne mit dem Weidenlaub ein golden und grün Gespinst durch die Luft zog, während das Wasser sein unablässig zart und eintönig Lied sang; ansonst würdet Ihr sehen müssen, wie dieser grün verhängte Brunnen hier jenem ähnlich sieht.«

Abermals lachte der Amtmann und erwiderte, nicht ohne einen verweisenden Ton in der Stimme: »Fürwahr, dem Amtmann von Rüti fehlte die Zeit, halbe Tage unter einem Weidenbaum zu sitzen, dazu hatte ich damalen mit meinen vielen wichtigen und gefährlichen Geschäften zuviel Werg an der Kunkel; aber freilich fehlt es mir auch an der übertriebenen Einbildungskraft, um aus einen alten Brunnen ein Arkadien zu machen!«

Herr Werner machte runde Augen: »Die Einbildungskraft, Herr Waser, mag einer fürsichtigen genauen und bedachtsamen Staatsperson wenig nütze sein; aber für einen Kunstjünger ist sie eine notwendige und über die Maßen kostbare Fähigkeit, ohne die der Maler nur ein armer Copiste der Natur bleiben und niemalen dazu kommen wird, den kunstreichen Sinn auch zum Erfinden der Geschichten und Gedichten grundrichtig zu gebrauchen. Der wahre Künstler muß – wann ich mich in diesem Sinne Eurer Worte bedienen darf – wohl imstande sein, wenn auch nicht aus einem Brunnenstock, so doch aus einem Weidenbaum ein Arkadien zu erschaffen.«

Damit war Herr Werner auf einem Gebiet angelangt, wo ihm die Worte nicht leicht ausgingen und ihm die Sätze in absonderlich schöner und blumiger Rundheit quollen; denn von der Einbildungskraft ging sein lebhafter Geist zur Allegorie über und betrat damit jenen Garten, wo es weder für des Meisters Gedanken noch Pinsel jemals eine Grenze gab. So kam er denn auch mit seinen sinnreichen Ausführungen nicht eher zu Ende, als bis Frau Susanna Werner in ihrer stattlichen Gemütlichkeit erschien und die kleine Gesellschaft zu Tisch bat, mit der Bemerkung, den weitgereisten Gästen möcht ein anständiges Abendbrot wohl so willkommen sein wie die schönsten Reden, solche zwar das Gehirn zu erhitzen, nicht aber den Magen zu wärmen imstande seien.

*

Die Sonne war schon untergegangen, als die Gesellschaft sich vom Mahle erhob, das, teils der köstlich aufgetragenen Speisen, teils der lehrreichen und unterhaltsamen Reden wegen, so die beiden Herren miteinander geführt, sich länger als gewöhnlich ausgesponnen hatte. Während Frau Werner den Hausgeschäften nachging, begaben sich die andern, der Stimme einer Amsel folgend und einem verheißungsvollen rötlichen Scheine, in den dem Eßzimmer anliegenden Garten.

Ein großes Leuchten, das von der Alpenkette herüberkam und einen unirdischen Glanz über den stillen Abend legte, empfing sie draußen. Sibylla, die während des Essens mit wenig Worten und vielen Blicken um die Freundschaft der neuen Hausgenossin geworben hatte, nahm Anna bei der Hand und zog sie nach dem Mäuerchen, das den kleinen Garten, der gleichsam die erste geräumige Stufe der zum Fluß niedersteigenden Gartentreppe bildete, abschloß. Jetzt erst überblickte Anna den ganzen Wunderbau dieser Landschaft, die sich vom tiefen Aarebett in vielen reichbewegten Horizonten urmächtig bis in den leuchtenden Himmel hineintürmte. Aufatmend drückte sie die Hand des blonden Mädchens, während ihr über dem herzbedrängenden Anblick ein fast seltsames Schimmern in die Augen kam.

»Seid Ihr traurig?« fragte Sibylla besorgt und zog Anna neben sich auf die Mauer unter das Dach eines breitästigen Holunderbaumes. Aber diese schüttelte lächelnd den Kopf: »Nein, nein, es ist nur so über alles Sagen schön!«

Nun trat auch der Amtmann an die Mauer. Er stand hoch aufgerichtet mit fest verschränkten Armen; aber in dem hagern Gesicht zuckte es eigen, und die blassen Augen glänzten. »Das ist ein groß und selten Schauspiel, wie ich mich dessen kaum erinnere,« wandte er sich an Herrn Werner, der ihm gefolgt war. »Es ist nicht anders, als ob unser schönes Land in diesem Bild sein Meisterstück geschaffen hätte. Jedesmal, und auch gestern wieder, wann ich mich, aus dem freien, flachen Lande herkommend, Eurer hochgemuten Stadt nähere, muß ich mit neuem Staunen betrachten, wie sich nach und nach die Landschaften zusammenziehen und mit einem unbegreiflichen Aufwand von Kräften zu diesem wohlgefügten und ungeheuren Gemälde aufbauen.«

»Es freut mich über die Maßen,« nahm Herr Werner nicht ohne Bewegung das Wort, »von einem Bürger des edeln und herrlichen Zürich in dergleichen Worten mein liebes Bern loben zu hören. In der Tat, ich muß selber gestehen, wann etwelchem die Schuld zu geben ist, daß ich mich aus schönen kunstreichen und kunstpflegenden äußeren Orten nach meiner kargen und kunstunfreundlichen Vaterstadt zurückbegab, allwo ich nur in Bescheidenheit meine Tage vollbringen kann, so ist es dieser Anblick, über den mich selbst alle Schönheit Italiens nicht zu getrösten vermochte.«

Anna schaute immer noch mit großen Augen in das Glühen hinein, das nach und nach blasser zu werden begann. »Die Berge sind anders als bei uns,« sagte sie dann mit einer Stimme, die weither zu kommen schien. »Bei uns ist's wie ein zartes weißschimmerndes Spitzengewebe am Rande des Himmels ausgespannt; aber hier ist es, als ob sich die hohen Häupter all um jenen breiten und hochgebauten Gipfel sammelten, der mir vor allen andern herrlich und hoch zu sein scheint.«

»Ach weiß, wovon Ihr redet,« entgegnete Herr Werner mit einem Lächeln, »und Ihr werdet staunen, liebe Waserin, wann ich Euch den Namen dieses schönsten Berges nenne; denn er ist absonderlich und könnte manchen zum Nachdenken anmachen. Der Berg heißt hierzulande die Jungfrau, und zwar von alters her.«

»Es setzt dies,« erwiderte der Amtmann, »die Galanterie Eurer Vorfahren in kein schlechtes Licht. Wißt Ihr keine Explication für diese absonderliche Benennung?« Doch als Herr Werner von einer alten Sage berichten wollte, schüttelte er den Kopf: »Mir scheint, mit Verlaub, diese Erklärung unbefriedigend, da die Sage wohl aus dem Namen, nicht aber dieser aus jener abgeleitet ist. Der Name ist älter und muß irgendwo sich aus dem Anblick selbst erklären lassen, wie denn auch der Name des wilden und schier fürchterlichen Schreckhorns oder der Spitzen Nadel Alter Name des Finsteraarhorns. eines einleuchtenden Grundes nicht entbehrt.«

»Da wird uns,« meinte der andere gutgelaunt, »unsere galante Jungmannschaft am besten Erläuterung geben können!« Und er rief die drei Jünglinge herbei, die sich in der andern Ecke des Gartens damit belustigten, die ab und zu vorbeisurrenden Maikäfer einzufangen, um sie nach kurzer, nicht eben milder Haft wieder in Freiheit zu setzen. Herr Werner legte ihnen den Fall nicht ohne Schalkheit vor und freute sich im stillen dieses umgekehrten Parisurteils.

»Oh, das ist klar, Maestro,« rief Giulio begeistert; »ist sie nicht weißer und schöner als alle andern Berge und scheinen die weichgebreiteten Schneefelder nicht eben jetzt in diesem verblassenden Scheine sich lieblich zu schwellen wie der Busen einer schönen Frau?«

»Nein!« rief Christoph erregt dazwischen, während Sibylla ihr errötendes Gesicht gegen eine der noch grünen Dolden des Holunderbaumes preßte und Anna still mit zusammengezogenen Brauen in die Ferne blickte. »Nein, weil sie stolz ist und kühl und jeglichem unerreichbar, deshalb trägt sie diesen herrlichen Namen!«

»Oder vielleicht,« führte mit abwägender Zunge Lukas das Wort weiter, »weilen sie sich so trefflich ins beste Licht zu setzen und glänzend hervorzutun weiß. Seht nur, wie geschickt sie mit hochmütig gestrecktem Haupte den letzten Strahl auszusaugen und den stillen Eiger mit Schatten zu bedecken versteht!« Ein schneller lauernder Blick ging zu Anna hinüber, den sie mit überraschten und mutigen Augen auffing:

»Ihr irrt Euch, Herr Stark! Nicht deshalb, weil sie stolz und eigennützig ist – denn ich sehe nicht ein, warum unter solcher Ansehung der Berg nicht eher den Namen irgendeines Mannes oder ehrgeizigen Jünglings tragen sollte – weil sie unablässig ihr Haupt dem Himmel zuwendet und unbekümmert um Eiger und Schreckhorn in die Anschauung des Ewigen sich versenkt, trägt sie diesen Namen, in keinem andern Sinn, als ihn von je alle Priesterinnen und Himmelsbräute getragen.«

»Optime, optime!« rief Herr Werner entzückt und legte seine Hand väterlich aus Annas Schulter, während Lukas zornig einen Maikäser mit zerpflückten Flügeln nach dem untern Garten warf. »In dieser Erklärung läßt sich der schöne Name auch recht als ein Symbolum und Mahnzeichen erachten, nämlich: daß es nur einer reinen Jungfrau, solche in die Anschauung des Höchsten ihr Ziel gesetzt hat, gelingen wird, zu dieser herrlichen Höhe und Klarheit sich hinaufzuringen, wie denn auch jener andere Berg dort, der zwar in schöner Völligkeit hingebreitet scheint, sich aber, als ob er zu fest in der Erde wurzelte, nur zu geringerer und flacher Höhe hat erheben können, den Namen der Frau trägt.« Damit ließ er den gepflegten, langnagligen Zeigefinger in westlicher Richtung dem Horizont nachgleiten und führte die Blicke der andern aus den neben der dunkeln Pyramide des Niesen hingelagerten weißen Berg.

Da wuchs mit zarter Färbung das zweite Abendglühen über die Alpen herauf, das die Gesellschaft aufs neue mit Entzücken betrachtete, bis der letzte Schimmer vergangen und die ganze Kette in ein tötendes Violett versunken war. Von der Aare her zogen weißliche Flöre, mit dem Wohlgeruch der blühenden Welt erfüllt, leise über die Gartenstufen empor. Die Amsel brach plötzlich ihr Lied ab und eilte in hastigem Tiefflug nach dem Flußufer hinunter, aus dem grünlichen Himmel aber drangen da und dort langsam die ersten blassen Sternchen hervor.

Da erschien unter der Eßzimmertüre Frau Werner und rief die Gesellschaft mit freundlichen Worten herein. Es sei von dem langen Regen her noch zuviel Feuchtigkeit im Boden, als daß man ungestraft nächtlicherweise im Garten weilen dürfte. Leicht könnte eines von den schlimmen Dünsten einen Schaden davontragen. Dann aber sei es für ihr neues Töchterlein wohl auch an der Zeit, nach so vielen Eindrücken eines langen Tages sich zur Ruhe zu legen.

Man folgte der Aufforderung der Hausfrau. Anna verabschiedete sich und stieg, von Frau Werner und Sibylla begleitet, in ihr Turmstübchen; die Jünglinge verschwanden, während die beiden Herren sich im Eßzimmer niederließen.

Der Amtmann schaute sich prüfend in der schönen, schwer getäfelten Stube um, die man zu Ehren des Gastes mit einer reichlichen Kerzenbeleuchtung bedacht hatte. »Ihr habt eine schöne Behausung, Herr Werner,« sagte er, indem er sich steif in den hochlehnigen Stuhl setzte.

»Es ist die einzige Wohltat,« erwiderte dieser nicht ohne Bitterkeit, »die mein lieb Vaterland mir erwiesen, und auch sie habe ich nicht der Stadt, wohl aber dem hochedeln Commandanten Franz Emanuel von Bonstetten zu verdanken, der mir diese seine Behausung gleichsam in Erinnerung schöner, gemeinsam verlebter Tage in Versailles und wohl auch eines besonders glücklichen Contrefaits, das ich ihm zu damaliger Zeit von einer zarten Freundin vollführt, gnädig und billigst überlassen hat. Es scheint übrigens dieses Haus,« fügte er mit einem feinen Lächeln bei, »für fahrend Volk, Schulmeister und Künstler, zu welchen allen Kategorien ich mich füglich rechnen darf, prädestiniert zu sein, dieweil es im vierzehnten Jahrhundert einem Juden, im fünfzehnten einem Schulmeister, im sechzehnten aber einem Bildhauer zugehörte, nämlich dem trefflichen Erhard Küng, demselben Meister, wessen das Jüngste Gericht über der Münsterpforten, ein für damalige Zeit höchst lobenswertes Werk. Von ihm ging das Haus in die zarte Hand der edeln Eva von Bubenberg, des großen Adrian Tochter, über, was Euch beweisen mag, daß auch das fürnehme Frauenzimmer an dieser Behausung sein Gefallen finden kann. Mir ist sie sonderlich lieb geworden und hat mir über manche Bitternis hinweggeholfen, die mir mein liebes Bern kredenzet.«

»Ich wundere mich,« nahm der Amtmann mit forschendem Blick das Wort, »Euch eben jetzt und zu mehreren Malen mit schier erzürnten Worten über Eure edle Vaterstadt reden zu hören, dieweil ich vernehme, daß sie ihr Rathaus von Eurer Hand aufs schönste hat schmücken und dadurch doch wohl ihre hohe Anerkennung Eurer Kunst deutlich genug merken lassen.«

»Schöne Anerkennung!« rief Herr Werner mit bitterem Lachen. »Zum halben Preise habe ich ihnen meine beiden großen Schildereien, die Fürsichtigkeit und die Gerechtigkeit, die ich mit sonderlicher Liebe und Kunst ausgeführt, überlassen wollen und damit meiner Vaterstadt ein Geschenk zu geben vermeint. Aber was glaubt Ihr? Die mindern siebzig Dublonen, die ich verlangte, haben sie mir auf fünfzig heruntergedrückt und dadurch ein gar köstlich Beweistum ihrer hohen Schätzung meiner Kunst geliefert. Oh, schäbig, schäbig! Glaubt, daß ich das schmutzig Geld lieber in den Aarslutz oder den edeln Herren vor die Füß geworfen hätte. Aber da ich selbstwillig das Glück, das ich an äußern Orten genossen, aufgegeben und mich hier festgesetzt hatte, mußte ich mich der gestrengen Hand ducken. Es ist mir bitter genug bekommen; denn ich war von geistlichen und weltlichen Fürsten wie von Privatpersonen anderes gewohnt gewesen und hatte auch von meiner lieben Vaterstadt, in die mich eine schier kindische, übergroße Liebe nach so langem und – wohl darf ich sagen – ruhmvollem Fortsein gezogen, anderes erwartet. Ja, ja, es ist schwer, wenn man mit Lorbeeren heimkehrt und vom eigenen Vater mit der Ruten empfangen wird!«

Trübsinnig stützte Herr Werner sein dunkles Gesicht in die Rechte, während seine Augen ins Leere schauten und sich um des Amtmanns kluge und begütigende Worte wenig zu kümmern schienen.

Da ertönte plötzlich eine zarte fremde Musik, die mit feinen Saitentönen und den fast zu schmelzenden Klängen einer menschlichen Stimme unwirklich, unbegreiflich, irgendwo von draußen, irgendwo aus der freien Luft hereinzudringen schien.

Verwundert, fast erschreckt horchte der Amtmann aus, während Herr Werner mit einem plötzlich veränderten glücklichen Gesicht sich im Stuhle zurücklehnte, lächelnd, die träumenden Augen von den untern Lidern halb bedeckt, wie bei einem starken, seligen Genuß.

»Das war Giulio,« sagte Herr Werner mit einem glücklichen Seufzer, als der letzte Ton in einer langen Kadenz verklungen war, »mein guter Giulio, der aus der Gartenmauer irgendeiner Sehnsucht sein Abendständchen bringt. Das war die Jugend ... Seht, Herr Amtmann, das ist die Jugend, die mir zu so vielen Malen immer wieder das Herz froh gemacht und die Bitternis verscheucht hat. Darum hab' ich mich auch mit diesen Lehrjüngern umgeben, wenn schon sie mir eine teure Zeit mit viel Rücksichtslosigkeit wegnehmen. Erhalte ich mir doch dabei selber die Jugend und den Trutz gegen die Schäbigkeit der Welt. Die Lieder des Giulio aber sind mir fast das Liebste, dieweil sie mir eine süße und unwiderrufliche Zeit sichtbar vor Augen stellen.«

»Mir hingegen,« erwiderte der Amtmann mit bedenklichem Tone und ließ die weißen Finger erregt über den Tisch spielen, »mir scheint, mit Vergunst, diese Musik wenig gesund, sondern vielmehr aufreizend und recht dazu gemacht, gefährliche Gedanken und Empfindungen in einem jungen Gemüt heraufzuwühlen.«

»Es ist die welsche Manier,« sagte Herr Werner begütigend; »unter dem blauen Himmel und im Duft der Orangenblüten gedeiht die Musik wie die Kunst anders als unter unsern Regenwolken, und hinwiederum tönt sie anders aus einem Mund, der nur die schönsten Laute zu formen gewohnt ist, als aus unsern rauhen, von Bier und Nebel gleichermaßen verkratzten Kehlen.«

»Geschmacksache,« entgegnete der andere scharf und nagte an der feinen Lippe, »mir scheint ein Weihnachtslied aus Kindermund nicht nur reiner und frömmer, sondern auch schöner, weil mit vernehmlicherer Sicherheit und klarerer Bewegung der Töne zu klingen ... Wie,« setzte er nach kurzer Pause hinzu, »kommt Ihr übrigens zu diesem welschen Vogel?«

»Es ist ein traurig und seltsam Schicksal, das ihn hergeführt,« nahm Herr Werner nicht ohne Verlegenheit das Wort, »worüber zu sprechen mir aber nicht gestattet ist, was Euer Gestrengen mir nicht übel anschlagen wollen. Leicht kann es sein, daß diesen schönen und hochbefähigten Jüngling eine schlimme Zukunft erwartet. Er ist der einzige Sohn eines reichen Kaufherrn aus Bononien, hingegen hat ihn sein Lehrer, mein florentinischer Freund, hierher gesandt, allwo er nur wie ein Gefangener mit stetem Heimweh und forttreibendem Verlangen weilet, und ich weiß nicht, wie lange wir ihn behalten dürfen. Es könnte ein großer Künstler aus ihm werden, wenn das Schicksal es nicht anders will.«

Herr Werner schwieg, und das angedeutete Geheimnis legte eine peinliche Stille zwischen die Männer, die sich eben mit unangenehmer Kühle auszubreiten begann, als Frau Susanna heiter und wohlig unter der Tür erschien und mit fröhlichem Geplauder und einer aus dem tiefsten Keller herausgeholten Flasche edeln Burgunders bald einer traulichen Stimmung auf die Beine verhalf. Mit ihrer schönen stattlichen Gestalt und dem frischen Gesicht unter dem immer noch schweren blonden Haar, das ein kleines Häubchen nur dürftig bedeckte, war die muntere Augsburgerin immer noch eine rechte Augenweide. Sie setzte sich zu den beiden Herren, und ihre Worte flossen warm und herzlich, während die Kelche aus feinem Nürnbergerglas in anmutigem Zusammenklang sich fanden.

Sie erzählte, wie sie Anna in ihr Stübchen gebracht und wie sich Sibylla nur mühsam und unter wiederholtem Zurückkehren von der neuen Freundin hätte trennen können. »So ist nun mein Mädelchen,« sagte sie lachend, »ein recht kindisch und auswallend Blut, das sich gleich mit aller Leidenschaft an ihre neue Freundin hängt, unbekümmert, ob Eurer Tochter solch Ungestüm auch lieb ist. Ich freilich,« fügte sie herzlich hinzu, »kann mich solcher Verbindung nur freuen, dieweil Eure Anna unserer Sibylla wenn auch nicht an Jahren, so doch an Klugheit und Reife des Verstandes weit voran scheint, sodaß unser Sibyllchen nur lernen kann. Hinwiederum aber mag auch Eurem ernsten Töchterlein eine junge Freundschaft gut tun und ihr zumal über die ersten Heimwehschmerzen hinweghelfen.«

»Vom Heimweh,« gab Herr Waser nicht ohne Stolz zurück, »wird Euch meine Anna wenig zu spüren geben, weilen sie nicht gewohnt ist, ihre Empfindungen nach außen zu kehren; zudem pflegt sie sich mit solcher Lebhaftigkeit ihrer Arbeit hinzugeben, daß sie wenig Zeit zu unnützen Gedanken finden dürfte. Eher fürchte ich,« fuhr er nach einer kleinen Pause und mit bedenklicher Stirne fort, »daß ihrer Mutter die Trennung zusetzen wird, da sie von hinfälliger Leibesbeschaffenheit und einem zarten, leicht zu erschütternden Gemüte ist.« Er preßte die Handflächen gegeneinander, daß die hageren Finger in den Gelenken krachten, und während die Wirtin sich mit teilnehmenden Worten nach seiner Frau und Familie erkundigte, nahm sein Gesicht mit den gesenkten bläulichen Lidern einen bekümmerten Ausdruck an. »Frau Esther ist mit ihren kaum fünfzehn Jahren wohl zu früh in die Ehe getreten: davon ist ihr ein schier kindliches und scheu ängstliches Wesen geblieben all die Zeiten her, und Anna war der Mutter mit ihrer gesunden und lebhaften Art nicht nur eine Stütz und stetige Erfrischung, sondern auch eine rechte Hilfe, da sich die beiden Jüngsten mit großer Zärtlichkeit der Schwester anschlossen. Nun wird zur Entbehrung noch die vermehrte Sorge um die Kinder kommen.«

»Aber,« wandte Frau Susanna ein, »wie ich höre, habt Ihr doch noch mehrere Kinder daheim?«

»Gewiß,« entgegnete der Amtmann, ohne daß der bekümmerte Ausdruck ganz von seinem Gesichte schwand, »der Herr hat uns mit sechs lebenden Kindern gesegnet, wovon drei schon erwachsen sind; aber die eine Tochter sieht ihrer Hochzeit entgegen und steht nur noch mit einem flüchtigen Fuß und abgewandten Empfindungen im väterlichen Hause, derweil die andere von einer zu lang hinausgezogenen Brautschaft mehr Betrübnis denn Freude erfährt und ihr verschlossenes Wesen ganz in sich gekehrt hat. Der Sohn aber ist Student und hat sein Interesse auch aus dem Vaterhause verlegt, zudem hat er der Mutter durch leidenschaftliche Unterstützung von Annas Plänen wehgetan, da sie den Weg ihrer Tochter von Anfang an nur mit Ängsten und vielerlei Abmahnen betrachtete.«

»Darin,« nahm Frau Werner ernsthaft das Wort, »kann ich Eure Frau wohl verstehen. Wir Mütter möchten nun einmal unsern Kindern gern einen leichten Weg und ein warm Nestchen gönnen; die Bahn aber, auf der nun Euer Töchterlein steht, ist steil und steinig und ihr bestes Ziel eine kühle Höhe, der keinerlei Wärme zuströmt. Weiß Gott, ich möchte meine Sibylla auch nicht aus diesem ungewöhnlichen und harten Weg sehen, und, mit Vergunst, Herr Amtmann, ich wundere mich, daß Ihr's übers Herz bringt, Euer Kind darauf zu stellen.«

Herr Waser straffte seinen Körper: »Ich habe sie nicht darauf gestellt, werte Frau, wenn schon ich sie zuversichtlich und ohne Angst auf dem fremden Wege sehe. Anna hat ihn selber betreten, und, wenn ich mich recht besinne, gehen die Anfänge weit zurück und knüpfen sich vielleicht an ein absonderliches Ereignis aus ihrer frühen Kinderzeit.«

»Das müßt Ihr uns erzählen!« rief Herr Werner rasch dazwischen, und der Amtmann hub zu berichten an mit einer an seinem Wesen auffallenden Mitteilsamkeit, die wohl mehr den aufsteigenden Erinnerungen als dem in trockenen Schlückchen äußerst mäßig genossenen Burgunder zuzuschreiben war.

»Es geschah zur Zeit, da ich noch in Rüti amtete. Anna war damals ein klein Mädchen von was zu sieben Jahren, das für seine kindliche Einbildung und Spielfreude im alten Prämonstratenserkloster, allwo wir wohnten, in Marstall, Kornhaus und Mühle, auf den Schanzen und Rebhügeln ein gar ergiebiges Feld fand. Am liebsten aber weilte sie im Kreuzgang der alten Abtei, oder sie stöberte in der alten Siechenkapelle und im Gräberhaus derer von Toggenburg oder im Estrich der hochgewölbten Kirche nach allerlei altem und merkwürdigen Kram, wobei ihr des Pfarrers Söhnlein getreulich und mit allem kindlichen Eifer beistand. Auf einer solchen Stöberei geschah es, daß die beiden in Chor der Kirche in einer Schürfung der Tünche Farbe bemerkten und nach schonsamem Loslösen des weißen Verputzes ein Stück von einer darunter liegenden Malerei, nämlich einen zarten und lichtgefärbten Engelskopf, entdeckten. Mit Jubel holten sie ihre Väter herbei; während ich mich aber der schönen und – wie mir schien – wertvollen Entdeckung freute, machte der Pfarrer Billeter, der ein strenger und heißblütiger Herr ist, ein gar bedenklich Gesicht. Niemalen, meinte er, dürfe dieser Schatz ans Licht gebracht werden, da der alte katholische Glaube, der bei dem Volke immer noch gleich diesen Schildereien unter einer nur dünnen Tünche ruhe, in Ansehung alter und für wunderkräftig verrühmter Bilder leicht herfürbrechen und böses Unkraut in seinen Garten bringen könnte. Und ob diese Meinung mir gleich zu streng erschien und die schönen Bilder mich reuten, mußte ich doch in Vertretung meiner gestrengen Herren in Zürich dem Pfarrer recht geben und helfen, die verräterische Stelle zuzudecken.«

Hier fuhr Herr Werner, der den Worten des Zürchers mit wachsender Teilnahme, aber nicht ohne Ungeduld gefolgt war, mit einem lauten » Sacrebleu!« in die geordnete Rede und einem heißen Protest gegen jenes Vorgehen im besondern und allen bilderstürmenden Fanatismus und pfarrherrliche Engherzigkeit im allgemeinen.

Erstaunt betrachtete der Amtmann den Aufgebrachten; dann lächelte er fein: »So brauche ich mich denn, lieber Herr, nicht weiter zu wundern, daß mein Töchterchen damalen ob unserem Tun in ein wild und schier rasend Wesen verfiel, da ich nun sehe, wie der bloße Bericht einen weisen und erfahrenen Mann in Eifer zu bringen vermag.« Und als er weiter erzählte, wie Anna von jenem Ereignis nach der ersten großen Verzweiflung über das Verlorene ein verändertes und nachdenksames Wesen gezeigt, woraus sich mit dem Verlangen nach jenen verborgenen Schätzen Neigung und Gelüste zu eigenem Kunstschaffen entwickelt habe, nickte Herr Werner voller Freude:

»Recht, recht, das gefällt mir; hat Herz, das Mädchen, und Mark, und wem die Flamme niemalen über dem Kopf zusammenschlägt und wen nicht etwan ein seltsam nachdenklich Wesen ankommt, der hat nichts von dem feu sacré in sich, solches allein die wahre Kunst gebiert. Könnt's mir glauben, Herr Amtmann, da ist nichts, was mir, wie diese Geschichte, ein so sicher Beweistum gäbe, daß es sich bei Eurer Tochter nicht allein um Laune oder gar Extravagances handelt, wohl aber um inneren Beruf.«

»Ihr sagt es,« erwiderte der Amtmann ein wenig feierlich, »ein innerer Beruf.« Und dann wandte er sich an die Hausfrau: »Nach allem Gesagten, Verehrteste, werdet Ihr mir nun glauben, daß ich mein Kind nicht selbstsüchtig auf einen Weg gestellt, den Ihr einen ungewöhnlichen und harten nennt. Aus eigenem Antrieb, sozusagen naturaliter, ist sie darauf gekommen, wenn schon ich zugebe, daß ich ihr dabei in keiner Weise hinderlich gewesen, sowenig ich ihr je entgegen war, wenn sie ihr Eifer, des Bruders Studien zu teilen, antrieb. Denn es ist meine feste Meinung, daß Wissenschaft und Kunst, weit entfernt, ein Gehirn zu belasten, einen Menschen nicht nur zu Kraft und Bedeutung, sondern auch zur Selbständigkeit, id est: zu innerer Freiheit und Glück zu führen imstande sind, und ich sehe nicht ein, warum das andere Geschlecht unverschuldet solchen Glückes verlustig gehen sollte.«

»Das ist ein gutes Wort!« rief Herr Werner erfreut und leerte wie zur Bekräftigung des Ausspruches sein neu gefülltes Glas. »Wahrlich, Herr Amtmann, Eurer Tochter soll es in meinem Haus an keinerlei Unterweisung und Geistesförderung fehlen, und ich zweifle nicht daran, daß wir Euer fürtrefflich Kind nicht nur zur Selbständigst, sondern auch an die höchste Staffel des Ruhmes bringen werden, wofern sie die Kraft zu jener Einsamkeit findet, ohne die keine Kunst gedeihen und fruchtbar werden kann!«

»Ach was,« versetzte Frau Susanna mit unwilligem Kopfschütteln, »vorerst laßt mir das Kind noch ein wenig an der Wärme, ehe ihr es in eure kalte Einsamkeit hinausschickt. Verhüte Gott, daß ich eure stolzen Plan fördern helfe! Mir liegt einstweilen daran, Euer Töchterlein, Herr Amtmann, recht als mein eigen Kind ins Herz zu schließen und ihm soviel Wärme in Vorrat zu geben, daß es mir später nicht erfriert aus seiner einsamen Höhe. Und daß ihr es nur wißt, ihr gestrengen Herren, eines mag ich euch, mit Verlaub, nimmer glauben, daß ihr mit aller Kunst und Wissenschaft der Welt ein Mädelchen von dem Wege abbringen werdet, der ihm vom Himmel vorbestimmt ist und der nun einmal durch die Dornen und Rosen der Liebe hindurch und nicht daran vorbei führt.«

»So hoffe ich,« entgegnete der Amtmann mit stolzem Lächeln, »daß Ihr, vielgeehrte Frau, an meiner Anna die Ausnahme der Regel finden möget. Im übrigen spreche ich Euch auch in Frau Esthers Namen für die Gutmeinenheit und Liebe, die Ihr unserem Kinde entgegenbringt, den höflichsten Dank aus.« Damit erhob er sich unter förmlicher Verbeugung, da die vorgerückte Stunde zum Ausbruch und zur Einkehr im nahegelegenen Gasthaus mahnte, und verabschiedete sich schier herzlich von den Gastfreunden, die ihm die Aussprache dieses Abends seltsam nahegebracht hatte. Unter mancherlei liebenswürdigen Worten stellte sich Herr Werner dem Gaste zum Geleit, und Frau Susanna leuchtete ihnen durch den dunkeln, vorn sternbesäten Maienhimmel überspannten Hof, der das Hinterhaus vom vorderen trennte, und durch den schmalen Korridor, der in den Laubengang der Junkerngasse mündete. Dort blieb Frau Werner, nachdem die Herren sich verabschiedet hatten, noch einen Augenblick stehen, und während ihr Lichtlein einen flatternden Schein an den Mauern des niedrigen Gewölbes hinaufwarf, horchte sie auf den unebenen Takt der Männerschritte, die mit vielfachem Echo unter den langen Lauben hinhallten. Ihr war, als ob sie an dem ungleichen Schreiten, dem raschen und heftigen des einen und dem harten und trockenen des andern, das Wesen dieser beiden Männer erkannte, die sich so fern in ihrer Art waren und die doch heute abend in einem absonderlichen und unnatürlichen Plane einhellig sich getroffen hatten, und während sie durch das stille Haus zurückkehrte, kamen ihr auch die eigenen Worte wieder zu Sinn und stiegen ihr mit einem weichen und mütterlichen Ton aus der Seele: »Warm will ich ihm geben, dem guten, mißleiteten Kinde!«

*

Während die Alten drunten in gesatzlichen Reden und wohlbedachten Erwägungen über Annas Schicksal zu Rate gegangen, hatte sie selbst in ihrem einsamen Stübchen mit mannigfaltigen bedrängenden Empfindungen, unter Schmerzen und Glück den ersten inhaltsreichen Tag in der Fremde beschlossen. Frau Werners mütterliche Herzlichkeit und das zärtlich überschwengliche Wesen Sibyllas, die sich mit lebhaften Freundschaftsbezeugungen und heißen Küssen von ihr verabschiedet, hatte in Annas wohlbehüteter Seele eine fremde Stimme wachgerufen, die sich nun in aufwühlenden Tönen geltend machte. Die Liebe hatte ein anderes Gesicht in ihrem väterlichen Hause, wo jedes seine wärmsten Gefühle hinter einer verständigen und nüchternen Außenseite wohlverwahrt hielt und die Zärtlichkeit sich nur in wenigen und schüchternen Äußerungen hervorwagte. Sie dachte an den stillen, fast kühlen Abschied von den Ihrigen, an die vernünftigen Worte, mit denen man die wehen Regungen des Herzens verdeckt und sich gegenseitig über die schlimme Stunde hinweggeholfen hatte, und ihr war, als ob man hier mit heißen und begehrlichen Fingern nach ihrem Innersten greifen und mit unvorsichtiger Flamme die mühsam erworbene Kraft ihrer Seele schmelzen wollte. Sie preßte die Lippen zusammen und drückte die Hand fest aufs Herz, um mit aller Gewalt der weichlichen und verführerischen Heimwehstimme zu wehren. als mit den zarten Lüften des Abends vom Garten her Giulios Gesang in ihre Kammer stieg. Mit den weichen schwermütigen Schwingen der Nachtvögel schwebten die Töne zu ihr hin, legten sich an ihre Brust und spannten ein süß und schimmernd Netz um des Kindes frühreife Seele, daß sie sich in bangen Schmerzen wand und dann in einer heißen stürmischen Tränenflut alle Süße und Qual und des Herzens krampfhafte Spannung ausströmte.

Als Anna sich ausgeweint hatte, trat sie mit verschleierten Blicken ans Fenster. Das Lied im Garten war lange verklungen, nur die Aare rauschte ihren kühlen Gesang. Die Nacht war heraufgestiegen und wehte ihr den herben Atem ins brennende Gesicht, daß die Wangen frisch wurden und die Augen klar. Sie schaute in den Himmel, der sich mondlos mit der stillen Pracht seiner Sterne ungeheuer vor ihr wölbte. Ihr wurde auf einmal ganz leicht zumute, als ob die Schmerzen und Freuden und mannigfaltigen Eindrücke der letzten Tage fern von ihr ablägen und ihr die eigene frühere Kindheit wieder nahegetreten wäre. Das war der unendlich gedehnte Himmel, wie er sich mit weiten Horizonten über ihre freie Kinderheimat gespannt hatte und von dem das Fenster in ihrem Zürcherstübchen zwischen hohen Mauern nur ein enges, betrübtes Stücklein erhaschte. Und das waren die lieben alten Sternbilder, die einst der Pfarrer von Rüti in frühen prickelnden Winternächten ihr und dem kleinen Casparli gezeigt hatte: der alte Wagen, verläßlich und unbeirrt, und der schlanke Schwan – wie er den goldenen Hals hinstreckte, so voller sehnender Sucht! – und Bootes mit dem weithin verbreiteten Sternenmantel. Ach, und das leuchtende W der Cassiopeia, das sie einst mit geheimem Stolz aus den Namen des eigenen Geschlechtes gedeutet hatte. Und die einzelnen Sterne, gemeinsam und doch keiner dem andern gleich: Wega mit gelbem Licht und die grünroten Zwillinge, Arktur mit dem blutigen Schein und die weißschimmernde Capella – alle die lieben, stillen und blinkenden Augen, die einst in den Kreuzgang von Rüti hineingeblickt und dem Kinde wunderliche Geschichten erzählt hatten. Und Anna gewahrte mit inniger Freude, daß ihre Sprache die alte geblieben und daß sie sie immer noch verstand.

Froh und leicht legte sie sich zur Ruhe und nahm die Erinnerungen der Kindheit mit in die Träume hinüber. Da stand sie wieder mit Pfarrers Casparli im schwindelnd hohen Schiff der alten Klosterkirche, an deren Wänden die steinernen Hunde der Ritter von Toggenburg strenge Grabwache hielten. Auf einmal sing es im Chor zu leben und zu leuchten an, und zwischen Erdbeer- und Rosenranken stiegen Engel auf und nieder, und der Casparli lachte: »Siehst du, Anneli, so wirst du sie malen!« Doch da war es nicht mehr der Casparli, wohl aber Meister Werner, der ernsthaft die langen Locken schüttelte und mit strengem Finger zur offenen Tür hinauszeigte: »Erst wenn du hoch und klar bist wie die Jungfrau dort, soll dir das Werk gelingen.« Vor der Kirche stund der weiße Berg, und Anna wollte zu ihm hinfliegen; aber der Flug ging tief, und die schweren Füße zogen immer wieder zur Erde. Plötzlich schwand die Last, leicht und schnell wie ein Vogel stieg sie in die Luft; aber wie sie nach dem ersehnten Ziel Ausschau hielt, da lag der weiße Gipfel schon tief, und mit den flatternden Wölkchen trieb sie im grenzenlos zerrinnenden Blau ...

Der junge Tag lag mit bleichem Schein im Fenster und wehte mit halbverschlafenen Vogelstimmen in die Kammer, als Anna hellen Auges und gelösten Herzens erwachte. Erstaunt blickte sie sich in der neuen Umgebung um; aber da grüßte sie der kleine Raum, dem das Erlebnis des ersten Abends schon die Weihe gegeben hatte, mit vertraulichen Augen wieder. Sie erhob sich rasch. Es drängte sie dem neuen Leben entgegen. Ungeduldig kämmte sie ihr langes Haar, dessen feine Strähnen sich unter den flinken Fingern immer wieder verwirrten. Dann holte sie ihr liebstes Kleid hervor, das mit dem mohnroten, nicht allzu langen Fältelrock und dem gestickten Mieder, und ihre Arme empfanden mit einem wohligen Frösteln die etwas steife Kühle der weißen Leinenärmel. Sorglich ordnete sie ihr Stübchen, daß es frisch und duftig aussah wie der Maimorgen draußen, der mit blanken Augen einem neuen Sonnentag entgegenging. Sie stieg die kleine Treppe hinunter, die ihr hochgestelltes Stübchen mit den tieferen Räumen verband, und trat auf die schmale Galerie hinaus, die den kleinen, zu Mitte des Gebäudes gelegenen Hof umschloß. Aus der hölzernen Balustrade der Laube hatte Frau Werner mit allerlei grünen und blühenden Töpfen einen kleinen Garten angelegt, der dem Hof ein liebes und festliches Aussehen gab. Von oben grüßte ein durchsichtiger Himmel herein, und Anna fühlte sich wieder an ihre Kinderheimat erinnert und an den Kreuzgang der alten Abtei zu Rüti, dem gleichermaßen ein Stück Himmel zur Decke diente. Aus dieser Erinnerung aber kam ihr auch hier schnell ein frohes und heimeliges Gefühl.

Es war die Stunde, wo man im Waserschen Hause zum Frühstück ging. Aber hier war alles noch nächtlich still, und auch von der gegenüberliegenden Seite des Hauses, wo die Schlafzimmer der andern lagen, drang kein Laut heran. Auf leisen Füßen ging Anna weiter. Da fand sie sich vor der Türe der Malstube. Sie öffnete behutsam und trat in den großen, vom Morgenlicht weißlich erhellten Raum. Entzückt sog sie die gefangenen Düfte von Öl und Firnis ein. Das war die Luft, in der sie fortan leben und schaffen sollte, in der sie tüchtig und groß zu werden hoffte. Sie reckte den schlanken Körper, und ein stolzes Gefühl durchzog sie. Dann sah sie sich in dem schönraumigen Gemach um, das sie gestern nur flüchtig und mit unfreien Blicken betrachtet hatte.

Das war anders, als was sie bis jetzt gewohnt gewesen. Hier war nicht steife Ordnung, wohl aber schöne Freiheit Meisterin, obschon jeder Gegenstand auf zweckvoll tüchtige Arbeit hinwies, und man fühlte es, ein frischer Geist wohnte hier. Anna mußte unwillkürlich an die nüchterne, schier langweilige Lehrstube ihres früheren Meisters, des Zeugherrn Sulzer von Winterthur, denken, und der Vergleich führte sie weiter und ließ sie ihres ersten Lehrers ängstlich bedenkliches Wesen neben Herrn Werners großzügig weltmännischer Art sehen, und ihr war, als ob ihr eigenes Wesen auf einmal in einen großen und freien Raum gestellt würde, auf daß es sich entwickeln sollte wie ein Baum in der Ebene.

Über den drei Türen des Zimmers waren Sprüche angebracht, die Anna mit Ehrfurcht las, als ob sie ihres neuen Meisters Worte vernähme und ihres neuen Lebens Sinn daraus verstände. Zuversichtlich, ermutigend lautete der erste:

Ob schon die Kunst und Ehr hoch auf ei'm Felsen wohnen,
Kann doch ein stäter Fleiß ersteigen ihre Thronen.

Mehr tiefsinnig der andere:

Sälig sind mit Recht zu nennen.
Die der Dingen Grund erkennen.

Aber der dritte, mahnend und aufpeitschend wie das hastige Ticken der Uhr:

Lange Kunst und kurzes Leben
Ist dem Menschen fürgegeben.

Anna atmete tief aus; aber dann lächelte sie ein wenig: Kurzes Leben? Ja, sie stand doch noch am Anfang, und die vielen, vielen Jahre mit den vielen, vielen Tagen, von denen sie jeden ausnutzen wollte, sollte das nicht langen, damit man etwas Schönes, vielleicht das ganz Große schaffen konnte? Ein heißer Eifer ergriff sie, daß sie am liebsten Pinsel und Farbe zur Hand genommen und sich jetzt gleich ans rüstige Werk gemacht hätte.

Sie trat vor die verschiedenen Staffeleien und betrachtete die Arbeit ihrer Mitschüler. Vor derjenigen des stolzen Lukas Stark blieb sie bewundernd stehen. Die Zeichnung des Laokoonkopfes, so die andern kaum begonnen, war hier fast vollendet in klaren, abgewogenen Linien, die das leidverzerrte Gesicht mit staunenswerter Lebendigkeit wiedergaben. Das war vorzüglich, und ein nur zur Hälfte scherzhaftes Wort Herrn Werners fiel ihr ein, das er bei der Vorstellung gebraucht: »Lukas, auch Lux genannt, dieweil er Licht und Leuchte unserer Schul!«

Unter der Zeichnung war in feinster Kalligraphie ein Vers hingeschrieben. Sie bückte sich, um die kleinen Schriftzüge zu lesen. Aber da öffnete sich die Türe, und Lukas Stark stand mit überraschtem Gesicht vor ihr. Dann zog er die Lippen hoch mit einer verächtlichen Gebärde: »Ah, man fängt schon an, Controll zu üben?«

Verwirrt trat Anna von der Staffelei zurück: »Ich habe versucht, die Aufschrift zu lesen.«

»Bemüht Euch nicht umsonst,« erwiderte Lukas höhnisch; »es ist nämlich Latein!«

Anna blickte ihn verwundert an: »Das habe ich doch gesehen, es ist ein Vers aus dem herrlichen Virgil.«

»Ah, selbst lateinisch kann man!« rief jener betroffen; aber dann flackerte es wieder durch sein Gesicht: »So versteht Ihr vielleicht auch den Satz: Nihil intolerabilius quam foemina doctaNichts ist unerträglicher als das gelehrte Frauenzimmer. Anna fuhr auf, mit großen, überraschten Augen, und ein ander schlagfertig » intolerabilior« wollte ihr über die Lippen; aber da traf sie aus des Jünglings unruhigem Gesicht ein solch feindlicher Blick, daß sie verstummte. Haß und Feindschaft! Derlei kannte sie nicht. Sie kam sich vor wie preisgegeben und entwaffnet. Ein heißer Stich in der Herzgegend trieb ihr langsam das Blut in die Wangen; aber sie warf den Kopf stolz zurück und wandte sich scheinbar ruhig dem Ausgang zu. Unter der Türe traf sie mit Frau Werner zusammen.

»Ist's möglich! Das hätt' ich mir doch nimmer gedacht,« rief die Freundliche mit scherzhaftem Entsetzen, »daß der ehrgeizige Frühaufsteher dort in meinem Töchterlein einen Rivalen finden würd'!« Und sie nahm Anna bei beiden Händen und zog sie wieder ins Zimmer zurück, der Helle zu und betrachtete sie angelegentlich.

»Aber nett siehst heute aus!« lachte sie vergnügt. »So gefällst mir, hübsch rot die Wängelein, und die frische junge Tracht! Da sieht man doch auch ordentlich, daß noch ein Kind bist. Nur die Haube, Liebchen, die Haube mag ich nimmer. Laß du die den Ehefrauen und haarlosen Demoisellen! In meinem Hause soll das Jungvolk sein Köpfel noch der lieben Sonne zeigen dürfen!« Damit löste sie ohne weiteres die schwarzen Samtbänder unter Annas rundem Kinn und nahm der zaghaft sich Sträubenden die schwarze, Stirn und Wange knapp umschließende Kappe vom Haupt.

»Ach, das schöne Haar!« rief sie dann überrascht und strich dem Mädchen über die reichlichen Flechten, die enggeschmiegt den wohlgeformten Kopf umwanden. »Das ist eine seltene Farbe, wie so reife Kastanien, die eben aus der Schale springen.« Dann erkundigte sie sich nach dem Traum der ersten Nacht, der gar bedeutungsvoll sein sollte; als aber Anna von dem seltsamen Gesicht erzählte – etwas zaghaft, denn sie tat es nicht gern in Anwesenheit des andern – lachte sie laut und gutmütig: »Ach was, fliegen? Warum nicht gar? Auf seinen Füßen tapfer und froh durchs Leben zu stapfen, das braucht's, aber kein Flügel nicht!« Und sie legte ihre Hand um Annas Schulter und schritt mit ihr zur Türe hinaus, ohne sich weiter um Lukas zu kümmern, der mürrisch in seiner Ecke stand. Und Anna spürte die warme mütterliche Hand, und davon kam ihr ein sicheres Gefühl. Wie beschützt kam sie sich vor und bewahrt, und nur, als sie aus der Treppe Lukas hinter sich herkommen hörte und vermeinte, seine heißen und hassenden Blicke an sich zu fühlen, kam sie noch einmal ein leiser schmerzlicher Schauer an.

Eine halbe Stunde später schritt Herr Werner mit seiner jungen Schülerin unter den dunkeln Laubengängen hindurch und dann querüber nach der Gerechtigkeitsgasse, wo sonnenhalb die altbekannte Herberge »Zur goldenen Krone« stand. Unter der behaglichen Haustüre trat ihnen Herr Waser freundlich grüßend entgegen.

»Meine heutigen Amtsgeschäfte sind allbereits getan,« sagte er mit Genugtuung, indem er dem ihn begleitenden Wirt ein paar umfängliche Briefe übergab, solche dieser unter vielen Bücklingen aufs sorgfältigste zu besorgen versprach. »So kann ich mich also vor meiner Abfahrt noch ein Stündchen an der Schönheit Eurer Kunst und Vaterstadt ergötzen.«

Die beiden Herren nahmen Anna in die Mitte, und während Herr Werner sich in mancherlei Lobreden über des Amtmanns nie versiegenden Fleiß und Schaffensdrang erging, begaben sich die drei laubenauswärts nach der kurzen Kreuzgasse, die sich überraschend auf den freien, vom Rathaus beschlossenen Platz öffnete.

Schier festlich lag der schöne Bau mit dem einladenden Willkomm seiner mächtigen Doppeltreppe da; denn die helle Sonne vergoldete die Zinnen und zog allerlei Zierlichkeiten und den bunten Schmuck hervor an dem farbenreichen Wappenfries unter dem Dach, den figürten Steinen, den klaren Fenstern und der blanken neuen Uhr über dem hohen Portal. Und Taubenschwärme schillerten aus dem steilen Dach und gaben dem kleinen Glockentürmchen ob der Uhr ein lustiges Gefieder. Es war ein stattlicher und fröhlicher Anblick, der die drei rasch Ausschreitenden bewundernd stillestehen ließ, und während Herr Werner mit freundlichem Eifer berichtete, daß die neue Uhr in dem hübschen, nach neuem italienischem Stil gefertigten Gehäuse das rühmliche Werk eines Zürcher Meisters sei, betrachtete der Amtmann nachdenklich den freien Platz und dann wieder die enge Kreuzgasse, durch die sie eben hereingekommen.

»Es ist mir immer wieder eine Überraschung,« nahm er dann bedachtsam das Wort, »wann ich, aus der kleinen Gasse dort auf diesen Platz schreitend, plötzlich den schönen Bau vor mir stehen seh, und des öftern habe ich mich darüber verwundern müssen, wie ihr Berner eure schönsten und köstlichsten Dinge sonderbarlich von der großen Straße abzulegen, ja eigentlich zu verstecken wißt. Kann doch einer, der mitten durch eure Stadt und die weiträumige Hauptgasse gewandert, zwar von trutzigen Türmen und strengen Laubenhallen berichten, ohne jedoch von den feinen und wunderlichen Bauten zu wissen. Wer würde etwan hinter den dunkel sich öffnenden Türen der Junkerngasse jene hellen und frohmütigen Behausungen und die blühenden, den Hängegärten der Semiramis vergleichbaren Anlagen vermuten, deren ich gestern erfreuter Zeuge war! Mir ist der Turm eures Münsters,« fuhr er fort, indem er sich langsam dem Rathaus näherte, »immer recht als ein Wahrzeichen dieser Gesinnung erschienen, da er ohne weithin sichtbare Spitze stumpf und verschlossen wenig genug von der Pracht dieser herrlichsten Kirche verrät, derweil unser schlicht Zürchermünster mit zweien Türmen und dem weithin kündenden Glanz seiner Helme wohlvernehmlich von sich redet.«

Herr Werner nahm den Gedanken mit Lebhaftigkeit auf: »Das mag daran liegen,« ergänzte er, »daß unser Bern, von jeher mehr dem wilden Kriegshandwerk als dem freundlichen Handel und Gewerbe obliegend, sich ein streng und trutzig Aussehen zu geben trachten mußte, weshalb es denn dem Fremdling auch mit ernsten und schier wilden Mienen entgegentritt, während das helle Zürich mit seinem grünen Fluß und lachenden See dem Wanderer sich aufs lieblichste öffnet. Gibt es doch kaum einen froheren und herzlicheren Anblick, als wenn man – wie ich zu unterschiedenen Malen getan – vom breiten See durch das stolze Grendeltor hereinfahrend, plötzlich die köstliche Flucht vornehmer und anmutiger Gebäude erblickt, die, ihre Füße im hellen Fluß badend, ein ander, gemütlicher und ehrbarer Venedig vortäuschen! Während unsere wilde Aare die gedrängte Stadt von der Umwelt abschließt, ist es eben eure freundliche Limmat, die so recht Handel und Gewerb und alles Leben hereinzieht, wie sie schon durch das lustige Klappern der Mühlräder an den niedrigen Stegen deutlich zu erkennen gibt.«

Herr Waser nahm die Worte mit erfreutem Lächeln aus, und während die Herren den angezettelten Gedankenfaden mit vielen treffenden und angenehmen Reden weiterspannen, stiegen sie gemäßigten Schrittes die gedeckte Treppe empor, die das hochgestellte Portal mit dem Platz verband.

Gleich darauf standen sie im Ratssaal vor Herrn Werners großen Gemälden, unter denen der Amtmann besonders die Gerechtigkeit, welche die Missetat bestraft, bewunderte und von wegen ihrer Erfindung, Verstand und Zusammenstellung als ein unnachahmliches Meisterstück lobte. Anna hatte der Anblick des Bildes zunächst mit einem peinlichen, schamhaften Schreck erfüllt, der von den nackten, weißleuchtend in die Luft ragenden Schenkeln der gestürzten Missetat herrührte. Sie begriff zwar bald, daß das Laster schön und gemein geschildert werden müsse; aber es tat ihr doch um des herrlichen Bildes willen und der vier andern weiblichen Gestalten wegen leid, die sich als Weisheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Dankbarkeit mit rauschenden Gewändern und edeln Gebärden kräftig vom dunkeln Hintergrund abhoben, daß die unedle Gestalt des Vordergrundes ihre Schönheit und Würde störte. Indessen schien gerade diese Figur Herrn Werner besonders lieb zu sein.

»Seht, gestrenger Herr,« wandte er sich mit boshaftem Lächeln an den Amtmann, »ich habe mit Absicht das schönschenklige Weibsbild zur Missetat erwählet. Sie ist nicht allein verlockender und blühender, sondern auch kräftiger als die andern. Gleich wird die weiße Hand das Gold der Bestechung, das ihr noch nicht völlig entglitten, wieder fassen, und die rosigen Füße werden wieder den Boden gewinnen; denn solches ist der Welt Lauf, und der Gerechtigkeit erwächst immer neue Arbeit.«

Verblüfft vernahm der andere diese Erklärung: »Dann hätten Weisheit und Wahrheit ihre Kronen füglich behalten und die Justitium unbekränzt lassen dürfen, bis dem Laster die schnöden Händ auch wirklich gefesselt wären,« sagte er tadelnden Tons. Aber Herr Werner lachte spöttisch: »Weisheit, Wahrheit und Justitia?« und er wies mit bezeichnender Gebärde auf den majestätischen Halbkreis der breitspurigen Ratsherrensessel: »Die da, wann die reden könnten, edler Herr!«

Später führte er die beiden eine Treppe tiefer, in eine kellerartige Halle, allwo große Mauerstücke in langen Reihen ausgestellt sich fanden.

»Wann ich mir mit meiner Gerechtigkeit einen kleinen Hieb erlaubt habe,« sagte Herr Werner, »so möget Ihr hier sehen, wie der große Niklaus Manuel mit seinen Herren und Obern umzuspringen sich vermaß; es sind dies die Reste der Kirchhofmauer, die vom alten Predigerkloster hier herübertransportiert worden sind.«

Mit bröckelnder Oberfläche und verblassenden Farben standen die grimmen, rührenden Bilder des seltsamsten Totentanzes in dem sonnenlosen Raum. Lag ein Modergeruch in der Luft? Anna fröstelte beim Anblick dieser fremden Totengestalten, die nicht Gerippe und nicht Menschen waren, sondern mit ihren zahnlosen Hängekiefern, den fleischig behangenen Knochen und grausigen Haarsträhnen bald halbverwesten Leichen, bald halbtierischen Wesen glichen. Und diese fürchterlichen Lemuren griffen mit scherzenden Händen nach dem Leben rings, dem welken und dem blühenden, und zogen alle ohne Unterschied in ihre wilden und spöttischen Tänze, Kaiser und Papst, Herr und Knecht, die edle Matrone und das junge Mädchen, das mit stillen Augen und gerungenen Händen die wüsten Zärtlichkeiten eines lüsternen Gerippes über sich ergehen ließ. Es war grauenvoll, und dennoch konnte Anna ihre Blicke nicht von diesen wilden und so wehen Phantasien reißen. Sie sah, wie hinter den derben und schwermütigen Gestalten heitere holde Landschaftsbilder sich hinzogen, stille Gefilde mit frisch gepflügter Erde und verblauenden Seen, feste Städtchen mit lustigen Turmspitzen, frech getürmte Berge und muntere Wölklein im stillen Blau – hinter den wirren Szenen des Vergehens das ewige blühende Leben. Und sie entzückte sich an diesen hellen ungebrochenen Farben, die sie an ein fernes Erlebnis und den geheimnisvollen Engelskopf im Chor der Kirche zu Rüti erinnerten.

Es war alles so sonderbar hier, grauenvoll und doch tief und innig, fremd und doch im letzten vertraut.

Stumm, wie unter einem starken Eindruck, schritten sie die Rathaustreppe hinunter auf den Platz. Der Amtmann ergriff zuerst das Wort:

»Es war eine rohe Zeit,« sagte er mit mißbilligendem Kopfschütteln, »die sich vermaß, das ernsteste Ereignis unter dem närrischen und unedeln Bilde wüster Tänze darzustellen.«

»Freilich,« entgegnete Herr Werner, »kann unser gebildetes Jahrhundert, das den Ernst auch des Kleinsten zu erfassen versucht, an derlei Späßen keinen Geschmack mehr finden. Dawider muß gesagt werden, daß es von jeher dem Berner gefiel, die Wahrheit mit lachendem Munde zu sagen und gar das Schmerzhafte mit einem grimmen Witz zu verzieren, derweil der Zürcher das Ernsthafte gern mit ernsthafter Gebärde unterstreicht, wie denn viel Fröhlichkeit und lustbarlich Wesen hinter unseren trutzigen Mauern wohnt, während eure lieblichen Häuser ein gar ernst arbeitend Volk bergen, das auch dem Kleinsten Wichtigkeit zu geben gewohnt ist. Haben doch bei euch sogar die Feste ein eingeteilt und ordnungsgemäßes Gesicht, derweil man hier selbst wichtige Staatsgeschäfte mit einem lustigen Aufzug zu verbinden sich nicht scheut.«

Sie gingen durch die Vordere Gasse, um auf einem Rundgang zu Herrn Werners Wohnung zurückzugelangen, wo der Amtmann sich vor seiner Reise, die ihn zunächst noch in Geschäften ein Stück weiter dem Welschland zuführte, verabschieden wollte. Mit klopfendem Herzen schritt Anna zwischen den beiden Herren durch die kräftig geschwungenen Bogengänge, in die eine warme Frühlingssonne wohlig hereinzündete. Der Abschiedsschmerz lag ihr auf der Brust und kam doch nicht ganz zurecht neben einem lebendigen Gefühl, das sie trieb, alle Erscheinungen rings mit offenen Augen aufzunehmen und in einer geheimen und beglückenden Weise zu deuten. Allenthalben war den Augen köstliche Weide: an den fröhlich bemalten, oft abenteuerlichen Figuren der hellfließenden Brunnen, am alten Zeitglockenturm mit seinen Bildern und unterhaltsamem Uhrwerk; ja selbst sein junger Bruder, der strenge Käfigturm, den man sonst nicht ohne Schrecken betrachten konnte, schien an diesem Sonnenmorgen und unter dem Schmuck eines weißen Taubenflugs fast freundlich und von gutmütiger Behäbigkeit. Vor den Arkaden durch zog sich das muntere Markttreiben und füllte die weite Gasse mit einem bunten, schier festlichen Leben. Da waren die jungen Bäuerinnen, die wohlgeborgen zwischen dem vorspringenden Gestrebe der Laubenfüße hinter ihren Ständen saßen und die so gern in einem Lachen die weißen Zähne zeigten. Und zwischen frischem Grünzeug die mächtigen Butterballen und der weithin duftende Käse mit dem saftig goldenen Anschnitt. An der Sonne dehnten sich schönfellige Karrenhunde, und Kinder wirrten zwischen den Ständen herum, und etwa stöberte ein trockener Bauernwitz ein lautes oder schlecht unterdrücktes Lachen aus, das gar vergnügt durch die Luft wirbelte. Hier und da fuhr ein rascher Windstoß durch ein Seitengäßlein herein und trieb die weißen Blachen der Verkaufsstände lustig in die Höhe und verwirrte die reichen Faltenkleider der jungen Frauen, die neben ihren Mägden mit niedlichen, hochgestellten Füßchen über die breiten Pflastersteine trippelten und mit mehr Anmut denn Ernsthaftigkeit ihre Einkäufe zu besorgen schienen. In zierlicher, mit mancherlei Französisch vermischter Sprache unterhielten sie sich leutselig mit den Marktweibern, während sie ihre schönen Augen auf koketten Wegen nach den jungen Kavalieren ausschickten, die hier und da, mit Degen und Barett aufs schönste ausstaffiert, in kleinen Gruppen durch die Lauben streiften und den Dämchen ihre versteckten und offenen Huldigungen darbrachten.

Anna betrachtete mit erstaunten Augen das ungewohnte Bild. Das war so ganz anders als daheim, wo der Markteinkauf ein wichtiges Geschäft war, das die Hausfrau, von Stand zu Stand mit den mürrischen Bäuerinnen feilschend, erledigte, im schlichten Werktagskleid, mit berechnenden Mienen und kargen Händen. Aber hier schien keiner Eile zu haben und keiner sein Geschäft allzu wichtig zu nehmen. Wie ein vergnügtes Bächlein, das in ziellosen Windungen durch breite Wiesen plätschert – denn es hat Zeit und der Ort ist ihm lieb – so schien hier das Leben zu gehen, während es daheim rasch und kräftig dahinströmte wie ein strammer Bergbach, der durch sein tiefes und gerades Bett geschäftig von einem Mühlrad zum andern eilt. Anna stand außerhalb als eine Fremde, und dennoch war ihr zumute, als ob sie eine Melodie vernähme, die zwar dem Ohre neu, aber dem Herzen vertraut klingt.

Sie hörte ihren Vater mit herben Worten das müßige Herumstehen und unwürdige Treiben der unbeschäftigten Jugend tadeln und vernahm Herrn Werners begütigende Antwort: »Es sind junge Edelleute, die vielleicht morgen schon in fremde Dienste unter ein streng Kommando gehn und die den heutigen Tag noch genießen wollen, wozu die Laubenschwärmerei nicht das übelste Mittel sein mag. Man pflegt wohl seinen Lebensplan anders einzuteilen und das süße Nichtstun wie das holde Frauenzimmer haben einen breiteren Raum darinnen, wann Abschied und Tod ein steter Faktor sind als wenn man sich in bürgerlicher Arbeit gleichsam für bleibend einrichtet und jeden emsigen Tag sich und den Nachkommen zum mehrenden Besitze fügt. Im übrigen, Herr Amtmann, find' ich es nicht uneben, wenn man Arbeit und Spiel dermaßen zu mischen pflegt, daß die Arbeit zum erfreulichen Spiel, anstatt das Spiel selbst zur mürrischen Pflicht werde, dieweil ich mein', Sonnenschein sei jeglicher Pflanze zuträglicher denn ein verhängter und ernsthafter Himmel.«

Mit diesen Worten waren sie an Herrn Werners Haustüre gelangt und traten nach mancherlei Komplimenten in den dunkeln Gang. Anna dachte, daß über ein kleines ihr Vater durch diese nämliche Türe hinausschreiten und sie drinnen zurücklassen werde, allein in der Fremde, und etwas Würgendes wie von aufsteigenden Tränen kam ihr in den Hals; aber da traten sie schon in den hellen Hof, der mit dem blauen Himmelsfleck und der blühenden Balustrade sich freundlich austat. Und da war es schon nicht mehr die Fremde, dazu hatte es ein zu warmes und liebes Gesicht, und was nun begann, das war das Leben, nach dem sie so heftig verlangte, das Leben in einer Arbeit, die ihr liebste Freude sein sollte, nicht bloß ein Spiel, o nein, was viel Köstlicheres noch. Ja, nun kam es, und da hingen die goldenen und grünen Flore, und jeden Tag konnten sie sich heben und etwas von dem Wunderbaren zeigen, das sie ahnungsvoll verbargen.


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