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Erstes Kapitel.


Herodes und Diogenes.

Es dunkelte, der Nordwind stürmte, der Schnee knisterte unter den Fußtritten der Menschen, welche mit hurtigem Schritte heim zu dem warmen Ofen und dem hellen Lichtschimmer der Lampe eilten. Aber nicht Alle in der großen, volkreichen Hauptstadt haben eine warme mit freundlichem Lichtschimmer erfüllte Stube, in der sie sich behaglich und heimisch fühlen können, wenn es draußen große Flocken schneit, der kalte Wind um die Ecke jagt und der düstere Winterabend hereinbricht....

Zu diesen Armen gehört wohl auch der kleine Knabe mit den hellen, blauen Augen, welcher dort vor dem durch Gasflammen glänzend erleuchteten Spielwaarenladen steht und mit kindlicher Verblüfftheit durch die großen Fensterscheiben auf die bunten Puppen, Hanswürste, Schaukelpferde, Lämmer, Reiter, Fahnen und Trommeln hinstarrt....

Schon die ärmliche Kleidung des Kindes sagte, daß seine Händchen nie ein solches Spielzeug berührt, daß ihm alle diese Dinge so unbekannte Herrlichkeiten waren, wie es einst die Glasperlen und Spiegel den Bewohnern des neuentdeckten Westindiens...

Doch die Kleidung des Kindes war nicht allein ärmlich, sie hatten auch einen sehr sommerlichen Charakter, von der dünnen, grünen Kattunkutte an, bis herab zu den fadenscheinigen geflickten Casinethöschen und den zerrissenen Zeugstiefelchen, welche offenbar aus einem Trödlerladen stammten und einst in bessern Tagen den niedlichen Fuß einer Dame eingeschlossen hatten. Den Kopf schützte keine andere Bedeckung, als die vom lieben Gott geschenkte: dichte, blonde Locken, welche ihm über Stirn und Schläfe hereinfielen und dem kleinen Gesichte jenen rührenden Ausdruck kindlicher Hilflosigkeit und Gutmütigkeit gaben, welcher den Engel der Barmherzigkeit in jedem nicht ganz verhärteten und verknöcherten Herzen wachrufen muß. Der Kleine hatte schon eine Weile vor dem Laden gestanden und die aufgestellten Spielsachen staunend angegafft. Ihn, dessen ganzer Reichthum an Spielzeug in ein paar kleinen Brettern und ein paar bunten Kieselsteinen bestand, ihn mußte der Anblick dieser glänzenden Gegenstände in ein Feenreich versetzen, von dessen Existenz er in seiner engen, dumpfigen Straße, die er heute zum ersten Male verlassen hatte, auch nicht die geringste Ahnung gehabt...

Aber es war kalt, sehr kalt und die Glieder fingen an ihm steif und starr zu werden...

Einen Moment überwand die Neugier noch die Kälte; er hauchte in die rothen Händchen und trippelte vor dem Schaufenster auf und nieder, ohne einen Blick von den Puppen und Bleisoldaten zu verwenden...

Allein zu der Kälte gesellte sich jetzt noch ein anderer unleidlicher Gesell: der Hunger. Seit Mittag hatte der arme Kleine nichts gegessen.

Sechs Stunden fasten und zum Mittag nichts als eine Tasse Cichorientrank und ein klein Stück Brod haben, das ist ein schweres Kunststück für einen Kindermagen....

Dieser Gedanke mochte sich auch dem Kleinen mehr oder minder klar aufdrängen; allmählig verlor sich die Bewunderung und Schaulust, das Pusten und Trippeln wurde immer heftiger und endlich drehte er sich um und rief halb weinerlich und sich schüttelnd vor Frost:

»Hu... hu... wie mich friert, Muhme, und hungert... wir wollen nach Hause gehen, Muhme –...«

Bestürzt sich umblickend suchten des Kindes Augen, als ihm Niemand antwortete, bei dem Schimmer der Gaslaterne vergeblich die Muhme, an deren Hand es noch vor einer Viertelstunde durch die Straße gegangen, die es an diesem Laden geführt und ihm – dieser Gedanke zuckte plötzlich, wie ein Lichtstrahl durch die angstvolle Betrübniß der kleinen Kinderseele – ein Stück Stengelzucker gegeben und dabei gesagt:

»Bleibe hier stehen, Hans, sieh' Dir die schönen Sachen an... ich komme gleich wieder...«

Ein Kinderherz ist so schnell beruhigt und über die Wange, auf welcher eben noch die Thräne des Schmerzes flimmerte, fliegt schon im nächsten Augenblick das Lächeln der Freude.

So trocknete die Erinnerung an den Stengelzucker rasch die Zähren, welche ihm erst die Angst des Verlassenseins ausgepreßt hatte...

War es doch das erste Mal, daß ihm die Muhme so köstliche Leckerei geschenkt hatte. Bisher hatte er von ihr immer nur viele Schläge und harte Scheltworte und kleine, recht kleine Stücke Brod bekommen. Das Kind wischte sich die Wangen und warf einen funkelnden Blick auf den rothgefärbten Zuckerstengel. Wie das flimmerte und glitzerte in dem Gasflammenlicht!

So lief der Knabe auf dem Trottoir weiter, unbekümmert wohin ihn sein Weg führte, sorglos und glücklich an dem Zucker saugend, den er sich gern aufgehoben, wenn die Lockung nicht gar so verführerisch gewesen wäre....

Und immer weiter und weiter fort, von der Stelle, wo er die Puppen betrachtet, führte ihn sein Weg. Er kam in breite Straßen mit hohen, prächtigen Häusern, welche vorher nie sein Auge gesehen hatte. Durch die Fenster funkelten unzählige, glänzende Lichter, frohe, jubelnde Kinderstimmen schlugen an sein Ohr, Laute jauchzender Freude, aus ebenso jungen Herzen, wie das seinige, kommend, klangen aus den Häusern heraus auf die Straßen...

Neugierigen Blicks schaute er in die hellen Zimmer der Erdgeschosse, in welchen fröhliche Kinder um buntgeschmückte, leuchtende, grüne Tannenbäume hüpften, glückliche Eltern mit seligem Gefühle dreinschauten und die Kleinen küssend und herzend in ihre Arme schlossen...

Christabend war es.

Der Weihnachtsengel hatte diese glänzenden Lichter angezündet und diesen Kinderjubel und Elternfreude wachgerufen...

Immer weiter wandernd sah der kleine blonde Knabe in dem dünnen Kattunkleidchen und den zerrissenen Schuhen stumm und staunend in das freudige, glänzende Gewühl.

Er verstand Nichts von alledem; weder die Freude der Kinder, noch die leuchtenden Weihnachtsbäume und die tausend bunten Herrlichkeiten auf Tischen und Tafeln, noch das Glück, das aus den Mienen der Eltern lachte...

Nicht Neid, noch Schmerz kamen bei diesem Anblick in sein kleines Herz, nur Bewunderung, nur Staunen erfüllten es...

Wie sollte es auch anders sein?..

Vier Jahre zählte schon sein junges Leben, aber noch Niemand hatte ihm von dem Weihnachtsengel erzählt, der alljährlich auf weißen, schimmernden Fittigen, mit grünen Tannenreisern in der Linken über die Länder hinschwebt und mit der Rechten frohe, glänzende Gaben herab in den Schooß der Menschen streut...

Und so unbekannt, wie ihm das heilige Christfest war, so fremd war ihm auch diese jubelnde, jauchzende Kinderfreude und Elternzärtlichkeit...

In der engen, dumpfen Straße, in welcher er mit der Muhme und dem Vetter gewohnt, hatte er nur wilde Ausbrüche des Zornes, der Wuth, der Verzweiflung, des Elends gesehen. Abgeschlossen von der übrigen Welt, auf den engen, schmutzigen Hofraum und die kalte, finstere Stube angewiesen, waren ihm nur bleiche, sieche Kinder des Elends bekannt, über deren welke Züge weder je ein Schimmer der Freudensonne, noch ein Strahl des warmen Himmelslichts geglitten. Grabesblumen, die ohne Luft und Sonne, eingekerkert zwischen diesen dumpfen, kalten Mauern schnell der Ruhestätte auf dem Friedhofe der Armen entgegenreiften. Arme Kinder, an deren kahler Wiege und an deren hartem Sterbelager der bleiche Engel der Noth steht!..

Du kleiner blonder Lockenkopf freilich, du blühtest zwischen diesen welken Grabespflanzen wie eine volle runde Sonnenblume, welche Jahr aus, Jahr ein Luft, Licht und Glanz einsaugt. Und athmetest du auch in derselben kalten, verdorbenen Atmosphäre, frorst du auch wie die Andern in deinem harten, armseligen kleinen Bette, von Stroh und Lumpen, war die Nahrung, die man dir unter Schelten, Flüchen und Schlägen reichte, auch geringer und armseliger, als die des Jagdhundes des reichen Herrn, in dessen Hinterhof du zuweilen lugtest, sehnsüchtig zusehend, wie der braune Tiros die warme Brodsuppe ausleckte, während du noch keinen Tropfen Milch und keinen Bissen Brod bekommen, so strahlte doch von deinem kleinen runden Gesichte der rosige Schimmer der Gesundheit, glänzte aus deinen blauen Augen Zufriedenheit und Lebenslust...

Und auch jetzt, wo sich rings um dich Alles freute im warmen, festlich erleuchteten Zimmer, während durch dein ärmlich Gewand der Nordwind stürmte und die Schneeflocken sich wie glänzende Perlen in deine blonder Haare hingen, wo du rings um dich glückliche Eltern und jubelnde Kinder sahst, während du verlassen und allein durch die Straßen irrtest, auch jetzt wich nicht das kindliche Lächeln von deinen Lippen... Du hattest ja noch ein Stück Stengelzucker. Doch die Lichter der Christbäume fingen an nach und nach zu verlöschen. Es wurde dunkler und menschenleerer auf den Straßen. Der Schnee fiel immer dichter und der Nordwind wehte immer schärfer.

Das Kind war auf seiner ziellosen Wanderung wieder in einen jener ärmeren Stadttheile gekommen, die von den Arbeitern der Fabriken und von kleinen Handwerksleuten bevölkert wurden.

Der Zucker war endlich aufgezehrt und das Kind müde und schläfrig... Dabei fror es, daß ihm die Zähne klappernd aneinanderschlugen und Gesicht und Hände hatten eine bläulich-röthliche Färbung...

Der kleine, blonde Knabe, der da mit immer wankender werdendem Schritte auf dem Schnee hintrippelte, hatte vom Himmel ein gar frisches, fröhliches Kinderherz geschenkt bekommen, das ihn selten weinen ließ, trotz der Schläge und der kleinen Stücke Brod; aber jetzt, da er sich so allein mitten in der dunklen, kalten Winternacht sah und die Muhme, die ihm wenigstens allabendlich ein Strohlager hinter dem alten Kachelofen gab, immer noch nicht erschien, ihn nach Hause zu führen, da überschlich seine harmlose Kinderseele ein dunkles, banges Gefühl des Verlassenseins und der Furcht... Und mit einem Male stürzten helle Thränen aus seinen Augen und bitterlich weinend, die Härte der Muhme vergessend, rief er:

»Muhme, ach gute Muhme, führe mich doch zu Hause,« und lief die dunkle Straße hinab.

Niemand achtete des kleinen, verlassenen Kindes, dessen sich die, welche ihm bis jetzt Unterhalt gewährt, müde der unnützen Last, auf so grausame Art entledigt, das sie hinausgestoßen in die kalte, dunkle Winternacht, wie man einen Hund fortjagt, für den sein Herr die Futterkosten nicht mehr zahlen will...

Das Kind in seiner Unschuld und Unwissenheit hatte von alledem keine Ahnung... Wenn es nicht so gefroren hätte, würde es vielleicht noch an dem Laden stehen und auf die Muhme warten. Nur die Kälte hatte es fortgetrieben; die Kälte und der Hunger...

Am Ende der Straße stand ein Leiterwagen vor dem Hinterthore eines jener kleinen Gasthöfe, in welchem die Landbotenfuhrwerke der nahgelegenen Ortschaften auszuspannen pflegten...

Eine Anzahl aufgerissener Kisten und Tonnen, in denen noch das Stroh der Verpackung lag, standen daneben...

Müde, frierend, hungrig und weinend kroch der Kleine in die größte dieser Kisten; seine matten Glieder trugen ihn nicht weiter...

Die Kiste schützte ihn wenigstens etwas gegen den Schnee und den Sturm und in dem Stroh wärmte er seine erstarrten Füße...

Bald senkte sich der Schlummer auf seine Augenlider nieder und schon nach wenigen Minuten schlief er, die Händchen auf der Brust zusammengefaltet, in Mitten des Wintersturmes und Schneegestöbers in seiner Kiste jenen sanften, ruhigen Schlaf der Kindheit, um welchen Engel die Kinder der Sterblichen beneiden könnten.

Das Kind schlummerte...

Es schlummerte, während der Nordwind seine Wange mit dem Rauschen seiner kalten Fittige erstarrte, es schlummerte, während der Schnee durch die Lucke herein zu seiner Lagerstätte drang und eine weiße Decke über seinen Leib wob, es schlummerte während der Frost heran zu seinem kleinen immer leiser schlagenden Herzen drang – vielleicht um es bald ganz still stehen zu lassen...

Ein Lächeln umschwebte seinen Mund...

Waren es die Engel des Paradieses, die ihm winkten und denen es zulächelte? Oder war es seine frühere Gespielin, die kleine, bleiche Marie, welche vor ein Paar Monaten vier dunkle Männer in einer schwarzen Kiste fortgetragen, die ihm im Traum erschien und zuwinkte? Oder waren es die Puppen, Hanswürste und goldpapierne Weihnachtsengel, welche in bunten Traumbildern an seinem Auge vorüberglitten, neckisch hin und herhuschten, ihm Kußhände und Grüße zuwarfen?.. Gewiß, es waren die Puppen und Weihnachtsengel, die mit ihm spielten. Er streckte die Händchen nach den bunten Bildern aus und ein Ruf der Bewunderung und Freude schlüpfte über seine Lippen...

Aber bald schwand das Lächeln aus den lieblichen Zügen des Kindes, ein dunkler, trüber Schatten, ein Ausdruck dumpfen, unbewußten Schmerzes flog über sein Gesicht und leise wimmernde Klagetöne klangen aus der Kinderbrust hervor.

Es war die Kälte, die dieses Wimmern hervorlockte, die eisige, erstarrende Nachtkälte, die wie eine heimtückische Schlange immer näher zum Herzen des schlafenden Kindes kroch, um das junge Leben, das in ihm pulsirte, zu tödten mit ihrem eisigen Hauche.

Das Wimmern des Kleinen wurde immer dumpfer und leiser...

Der bleiche Todesengel flog heran auf den Flügeln des Nachtwindes und die Spitze seiner Fittige berührte schon die blasse, kalte Stirn des verlassenen Kindes...

Kaum zwanzig Schritte von der Kiste entfernt, in der das arme, kleine Kind sterbend lag, tönte Gesang und Gläserklirren aus dem Hause auf die öde Straße und hier brach ein junges Blüthenleben, dessen letzte Seufzer nur die dunkle Winternacht hören sollte...

Da knirrschten Schritte auf der schneebedeckten, menschenleeren Straße...

Eine einsam brennende Gaslaterne warf ein bleiches, ungewisses Licht auf den späten Wanderer, der im halblauten Selbstgespräch langsam die Straße herabschritt.

Es war eine mehr kurze und untersetzte, als große Figur. Ein dichter, röthlich blonder Bart von ungewöhnlicher Größe bedeckte die untern Gesichtspartien und den oberen Theil der Brust. Um den Hals trug er weder einen Shwal, noch eine Cravatte, sondern nur ein leichtes, schwarzes, lose umgeschlungenes Taffet-Tuch...

Die Hände hatte er in die beiden Seitentaschen seines grauen, dicken Winterrockes versenkt, vielleicht weniger der Kälte wegen als zur Sicherheit zweier langhalsiger Flaschen, die aus den Taschen hervorlugten...

Unter dem Rocke trug er eine blaue Blouse, wie sie die Arbeiter in den Werkstätten unserer großen Städte tragen.

»Tiger, Hyänen, Meerkatzen und Crokodillenbrut,« monologisirte er, »daß die Hölle Euch verschlingen möge... Komm heraus Zeugniß unserer Bestiennatur.« Und indem er unter eine Gaslaterne trat, zog er aus der Brusttasche ein frisch gedrucktes Zeitungsblatt.

»Hört es Ihr Bestien und verderbt.«

Er las:

»Aus welchem Grunde kommt unser deutsches Theaterpublikum dem Dichter, wie dem Componisten und Darsteller nicht mit der Begeisterung entgegen, wie es in den Pariser Theatern der Fall ist? Die Sache ist sehr einfach... In Paris geht man nach dem Diner in's Theater, während wir mit hungrigem Magen in unsern Sperrsitzen und Logen sitzen. Ein voller Magen, angefeuchtet mit Burgunder und Champagner urtheilt viel wohlwollender als ein hungriger.«

Er hielt inne, stieß ein grimmiges Gelächter aus, ballte die Faust und wandte dann das Blatt um.

»Dritte Columne, zweite Spalte... Gestern früh wurde in einem Pferdestalle der Sandgasse ein armer Weber mit drei kleinen Kindern aufgefunden: Der Unglückliche, dem vor Kurzem die Frau gestorben, war krank gewesen, hatte die Miethe nicht bezahlen können und war aus seiner Wohnung exmittirt worden. Das Mitleid der Knechte hatte ihm in dem Stalle ein Nachtunterkommen gewährt.. Einem der Kinder hatten die Ratten in der letzten Nacht die Füße angefressen... Auf der Polizei erzählte der Mann, daß er sich und seine Kinder acht Tage lang von den Abfällen aus der Küche des Gasthofs ernährt habe... Ha! Ha! lache, lache, Bestie... Lump, was schläfst du in einem Pferdestall, warum frißt du Kartoffelschaalen, nagst du Knochen ab und stopfst dir den Magen mit Kleienbrod... Füttere dich mit Trüffeln und Gänseleberpasteten, feuchte dein Diner mit Burgunder an, geh' dann mit wohlwollender Gesinnung in's Theater, klatsche dir die Hände wund und schlafe dann – still, still, Bestie, lies weiter das Schandzeugniß:

Vierte Columne, erste Spalte! Seine Hoheit der Prinz Ottomar hat dem Componisten des reizenden Ballets » La Mosquita« durch den Herrn Intendanten eine prachtvolle, mit Edelsteinen geschmückte und neugeprägten Ducaten gefüllte Tabatiere überreichen lassen... Der Solotänzerin Fräulein Lina Roselli eine kostbare Broche...

Letzte Columne, letzte Spalte! Gestern erhängte sich eine Wittwe, Wäscherin, Mutter von vier Kindern. Die Motive schienen Nahrungssorgen gewesen zu sein.... Ha! Ha! lache doch Bestie... lache!..«

Er warf die Zeitung in den Schnee, trat sie mit Füßen und zog eine kleine Flasche aus der Seitentasche...

»Sieh', würdige Kreatur,« fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, »wäre in dieser Flasche Blausäure und wäre dieser Kopf, der hier auf diesen Schultern ruhet das Haupt des ganzen Menschengeschlechts und nicht der armselige Schädel einer einzigen unbedeutenden Menschenmilbe, du müßtest die Flasche bis auf den letzten Tropfen leeren... Indessen was nützt der Tod einer einzigen Menschenbestie! Die Canaillen laufen zu Millionen umher... Bestie, du sollst leben... Aber Gift, Gift, sollst du doch schlucken, heimliches, langsames Gift, das die Adern austrocknet und das Mark aus den Knochen zehrt.« Es mußte ein süßes, schmeichlerisches Gift sein, welches der Nachtwanderer trank, denn als er die Flasche wieder absetzte, war sie zum Drittheil leer, und zugleich verbreitete sich um den Trinker jener angenehme, pikante Duft, welcher gutem Rum eigen ist...

»So« fuhr er fort, die Flasche einsteckend und weiter gehend, »so, Bestie, gieß dir Alkohol in die Kehle, daß dir der Dunst des Rausches in die Kammern deines Hirns steigt und du in der Trunkenheit die Bestialität der Nüchternheit vergißt.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann mit weniger Extase und in gedämpfterem, fast traurigem Tone weiter fort:

»Es ist wahr, ich bin ein Thier, so gut wie die Andern Alle – ich betrinke mich während es da drinnen,« und er starrte auf eine Reihe kleiner, ärmlicher Wohnungen, »Viele giebt, die heute beim zu Bettgehen nicht einen Bissen Brod im Magen hatten!... Und das Ende vom Liede? Ich werde ein Säufer werden und am Delirium sterben: Verflucht, dreimal verflucht diese Arbeit!... O! wie glücklich war ich noch vor drei Tagen bei meiner Naturgeschichte, bei meiner Reisebeschreibung aus Afrika... Bei meiner Schilderung der tropischen Thierwelt, diesen naturwüchsigen Geschöpfen, die es doch wenigstens nicht läugnen, daß sie Bestien sind und sich lieber gegenseitig fressen, als einander vor Hunger krepiren lassen. Und da – da muß dieser unglückliche Schneehuhn krank werden, und ich all' diese Misere, diese Bestialität hinein würgen... Aber ich trage es nicht länger, ich will von dieser zweibeinigen Meerkatzen- und Krokodillenbrut nichts wissen, ich will in meine Urwälder, zu meinen Löwen, Tigern, Elephanten und Klapperschlangen zurückkehren...«

Er nahm einen zweiten Schluck aus der Flasche, seine Stimmung verlor wieder die milde, elegische Färbung und nahm den früheren desperaten Charakter an...

»Ah! Nero,« brauste er auf, »warum konnte er seinen großen Gedanken nicht ausführen... Ein Kopf für die ganze Race und einen Schwerthieb! Oder wenn ich unser Herrgott wäre, nur einen Tag, einen einzigen Tag und könnte alle Schleußen des Himmels und der Erde aufreißen, daß sie umkommen müßten in der Fluth, elendiglich wie die Wasserratten, Groß und Klein, Mann und Weib, Kind und Kegel und das Winseln an mein Ohr schlagen würde, wie Sphärenmusik und meine Seele jubeln, bis das Wasser mir endlich selbst an die Gurgel träte... Kein Erbarmen mit der Race, weil sie keins hat... Oder, wenn ich der Herodes wäre und Bethlehem die Welt und ich in einer Nacht die ganze Brut von der Erde tilgen könnte, daß nur Schafe, Esel, Lämmer, Tiger, Löwen und Elephanten übrig blieben – ah, wenn ich Herodes wäre... doch still, still, was ist das, winselt ein Hund da, der seinen Herrn verloren hat?« Die Nacht war nicht sehr dunkel und aus den Fenstern des Gasthofs fiel ein schwacher Lichtschimmer auf den schneebedeckten Platz, auf welchem der Wagen und die Tonne stand, in welcher das vor Kälte hinsterbende Kind lag...

»Ein Kind!« rief der moderne Herodes, indem er mit einer Geberde erschrockener Verwunderung an die Kiste trat, in welcher der kleine Hans wimmernd schlummerte...

Es war, als ob das Schicksal ihn sofort beim Wort genommen und ihm ein Geschöpf der Brut, die er in einer Nacht zu vertilgen wünschte, überliefern wollte...

Herodes schien indessen bei der überraschenden Entdeckung mit einem Male seine mörderischen Gedanken und Grundsätze gänzlich zu vergessen. Er beugte sich nieder und indem er den Kleinen aus der Kiste zog und in seine Arme nahm, rief er:

»Ein Kind, ein Kind, bei zehn Grad Kälte auf offner Straße in einer Kiste... und in einem dünnen, zerrissenen Kattunkleid... ein kleines, verlassenes Kind, o Hyänen, Meerkatzen- und Krokodillenbrut.« Das Kind wimmerte noch, aber seine Glieder waren starr und eisig, wie die einer Leiche...

Herodes, so wollen wir den Mann einstweilen nennen, faßte einen kurzen Entschluß. Er zog seinen dicken, warmen Rock aus, wickelte das Kind hinein, wie man eine Puppe einwickelt und lief dann, ohne sich weiter den Kopf zu zerbrechen, wie der Knabe hierher gekommen, die Straße hinab, indem er einmal über das Andere mit wuthzitternder Stimme in die Worte ausbrach:

»Ein Kind, ein Kind... auf offener Straße, bei zehn Grad Kälte, Schnee und Nordwind... o! Bestien, Bestien...«

Er lief nicht weit. In eine der ersten Seitengassen einbiegend, blieb er vor einem der nächsten Häuser stehen und riß wie ein Verrückter an der Klingel, die zu der Stube des Hausmanns führte.

»Sind Sie toll, Herr Wenzel, um Mitternacht Sturm zu läuten, daß das ganze Haus in Aufruhr geräth?« brummte der Hausmann, seinem Miether öffnend. »Aber was haben Sie denn da – wie sehen Sie denn aus?«

»Betrachten Sie mich ein anderes Mal,« rief der Andere, »jetzt aber antworten Sie mir statt die Augen wie ein Nürnberger Nußknacker aufzureißen und den Mund, weit wie ein Scheunenthor aufzusperren – ist mein Nachbar, der Doctor, zu Hause...«

»Er kam vor zehn Minuten,« antwortete ganz verdutzt der Hausmann, der in seinem Abmiether zwar immer einen überspannten Menschen gewittert, aber an ihm noch niemals eine so kurz angebundene Grobheit entdeckt hatte...

»Er ist zu Hause? Leuchten Sie mir die erste Stiege hinauf,... so, es ist gut... ich danke, schlafen Sie wohl, würdiger Cerberus.«

Und so rasch, als es ihm seine Bürde nur gestattete, stieg er, ohne sich weiter um den ihm verblüfft nachschauenden Hausmann zu kümmern, die Treppe zu seiner im dritten Stockwerke gelegenen Wohnung hinan...

»Geschwind, – geschwind, Doctor,« rief er, noch ehe er auf der letzten Stufe stand, »kommen Sie zu mir herüber... Ich bringe Ihnen einen Patienten zum Weihnachtsgeschenke;... bringen Sie Ihren Wachsstock und einen Topf Wasser mit, denn ich glaube ein Feuer im Ofen und eine Tasse heißer Thee mit Rum wird bei unserm Kranken die beste Arznei sein.«



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