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VIII
Der große Geist Dhar

Miß Caroline Tibbetts besaß einen eigenartigen Charakter. Sie hatte nur noch zwei Geschwister, einen Bruder und eine Schwester, und niemand wußte, wie reich sie war. Die Ungewißheit hierüber verlieh ihr eine ganz besondere Anziehungskraft für etwa ein Dutzend entfernterer Verwandter. Sie alle hofften, daß ihr Neffe Augustus Tibbetts eines Tages etwas unternehmen würde, was ihn in den Augen der Tante unbeliebt machen könnte, so daß auch sie bei der Erbschaft mitbedacht würden. Allgemein wußte man, daß sie sehr prüde und sittenstreng und eine überzeugte Baptistin war. Sie unterstützte die Missionen, wo sie konnte, und sie war gehässig und unduldsam, wenn jemand den Versuchungen dieser Welt unterlag, denen sie selbst niemals ausgesetzt war.

Bones schrieb ihr regelmäßig, nicht weil er ihr Geld brauchte, sondern weil er fürchtete, sie könnte sich vernachlässigt fühlen.

»Augustus ist ein sehr guter Junge«, sagte sie zu einer armen Verwandten, die bei ihr in Chichester wohnte.

»Bei jungen Leuten«, meinte die Verwandte seufzend, »weiß man nie, woran man ist, und was sie eigentlich im Schilde führen, besonders in einem so gesetzlosen Lande, wo Unmoral an der Tagesordnung ist und die Leidenschaften sich nicht zügeln lassen. Das muß man wenigstens annehmen, wenn man den Berichten der Missionszeitungen Glauben schenken darf.«

Miß Tibbetts war schlank, nicht allzu groß und hatte scharfe Züge. Auch hatte sie den interessanten Artikel in der Missionszeitschrift »Licht in der Finsternis« gelesen, die die baptistische Bomongo-Mission herausgab. Ein Polizeiinspektor, der sich mit schwarzen Frauen einließ, hatte Anlaß zu einem Skandal gegeben, den das Blatt breitgetreten hatte.

Miß Tibbetts wollte auf ihren Winterurlaub gehen und hatte sich für Madeira entschieden. Aber eines Nachmittags hatte sie eine Unterredung mit dem Zahlmeister des Schiffes, der darüber klagte, daß so wenig Passagiere die Linie benützten, obwohl die Dampfer so luxuriös ausgestattet waren. Sie befanden sich gerade im Golf von Biscaya.

»Wenn wir erst zur afrikanischen Küste kommen, ist das Schiff ganz leer. Die Hälfte unserer Passagiere steigt in Funchal aus. Das ist eine großartige Reise, Miß Tibbetts, und da Sie doch einen Neffen unten an der Westküste von Afrika haben, würde ich an Ihrer Stelle die Gelegenheit wahrnehmen. Wir könnten Sie an der Mündung des Großen Stromes an Land setzen, und wenn wir dann unsere Rückfahrt von Kapstadt aus antreten, nehmen wir Sie wieder an Bord. Auf der Rückreise können Sie dann immer noch in Madeira Station machen. Sie meinen, es sei dort Fiebergefahr? Um Himmels willen, an der Westküste von Afrika sitzen Sie ebenso sicher wie in London. Außerdem bleiben Sie ja kaum länger als eine Woche dort.«

Miß Tibbetts überlegte sich die Sache. Die wenigen Briefe ihres Neffen, die sie entziffern konnte, machten ihr einige Sorgen wegen seines Geisteszustandes. Auch mit ihrer Gesellschafterin besprach sie die Angelegenheit. Mrs. Crewfer fand den Plan außerordentlich gut.

»Sie mögen recht haben. Ich habe Augustus seit Jahren nicht gesehen«, sagte Miß Tibbetts.

Mrs. Crewfer seufzte.

»Hoffentlich ist er nicht auf Abwege geraten«, erwiderte sie. Aber ihr Ton verriet, daß sie das Gegenteil glaubte.

»Mein Geld wird ja für ihn keinen Unterschied machen«, erklärte Miß Tibbetts. »Aber wenn ich es ihm schon vermache, möchte ich doch wenigstens sicher sein, daß er einen rechtschaffenen Charakter hat.«

*

Weil die N'gombi ein Waldvolk sind und als Kinder selten zum Großen Strom kommen, können sie auch nicht schwimmen. Sie ertrinken daher meistens, wenn sie ins Wasser fallen. Leutnant Tibbetts hatte einmal von der Kommandobrücke der »Zaire« aus einen Sprung in die reißende Strömung gewagt, um das N'gombimädchen B'lana zu retten. Es wimmelte dort von Krokodilen, aber er hatte nicht auf die Gefahr geachtet. Sanders wollte ihn damals für die Rettungsmedaille vorschlagen, aber Bones hatte gebeten, davon abzusehen.

»Er ist doch der merkwürdigste Mensch auf der Welt«, sagte Hamilton verwundert. »Er ist doch sonst so unbescheiden! Und wenn er einmal wirklich etwas leistet und dafür belohnt werden soll, regt er sich auf!«

Sanders lächelte.

»Ich verstehe seinen Charakter ganz gut. Er maßt sich Tugenden und Fähigkeiten an, die er nicht besitzt, aber er ist ungewöhnlich zurückhaltend, wenn es sich um die Anerkennung seiner tatsächlichen Verdienste handelt. Hätte ich ihm die Möglichkeit gegeben, Mitglied der Psychischen Gesellschaft zu werden, so hätte er das sicher mit Freuden angenommen.«

Hamilton legte die vier Wochen alte Zeitung beiseite, in der er gelesen hatte.

»Glauben Sie denn, daß Bones psychisch veranlagt ist?« fragte er.

Sanders nahm die Zigarre aus dem Mund und sah ihn erstaunt an.

»Was meinen Sie denn damit?« fragte er verblüfft.

»Es ist eine merkwürdige Tatsache, aber Sie können sich jeden Augenblick davon überzeugen. Bones hat doch die verschiedensten Liebhabereien, und jedesmal ereignet sich später etwas, was auf sein jeweiliges Steckenpferd Bezug hat. Wenn er irgendein Studium aufnimmt, sei es Musik, Architektur, Rechtswissenschaft oder sonst etwas, so kann er mit Bestimmtheit seine Kenntnisse bald darauf verwerten.«

Hamilton führte ein Beispiel nach dem anderen an, und Sanders hörte nachdenklich zu.

»Seine augenblickliche Liebhaberei ist allerdings ein wenig ermüdend. Er fällt mir damit wirklich auf die Nerven.«

Mr. Tibbetts studierte zu dieser Zeit gerade Astralphänomene.

»Mein lieber, alter Ham«, begann er nach dem Abendessen, »Sie verstehen es nun einmal nicht, aber vorige Nacht sprach ich mit Millie –«

»Mit wem?« fragte Hamilton erschrocken.

»Mit Millie. Wir saßen zusammen in meiner Hütte und unterhielten uns stundenlang miteinander. Sie war eine Freundin von König Karl, aber sie ist eine sehr achtbare junge Dame.«

Hamilton sah ihn entgeistert an.

»Was – Sie waren mit Millie zusammen in Ihrer Hütte – mit einer jungen Dame?«

Bones nickte ernst.

»Ja, sie ist sehr vertraut mit mir. Aber natürlich nicht so, wie Sie meinen ...«

Plötzlich ging Hamilton ein Licht auf.

»Ach, Sie wollen sagen, daß Millie ein Geist ist?«

Bones nickte wieder.

»Können Sie mir dann erklären, wie sich Geister hinsetzen?« fragte Hamilton ironisch. »Haben Sie ihr vielleicht auch ein Glas Wein angeboten?«

Bones seufzte.

Er hörte über Nacht Stimmen und notierte alle Gespräche, die er mit Geistern hatte. Als Hamilton das erfuhr, machte er dem Sergeanten Vorwürfe, daß sich die Schildwachen über Nacht miteinander unterhielten. Bones behauptete aber steif und fest, daß er überirdische Stimmen gehört habe, und der Sergeant war sehr zufrieden, daß er von der Seite seines Vorgesetzten so unerwartete Hilfe erhielt.

»Es muß etwas mit Bones geschehen«, sagte Hamilton eines Tages. »Er wird immer verrückter. Jetzt behauptet er schon, er hätte Trancezustände. Vorige Nacht sei sein Geist nach England gewandert, sagte er, ohne daß er mich um Urlaub gebeten hätte.«

*

Die Leute an den Ufern des Großen Stroms hörten in den Dörfern das Schaufelrad der »Zaire« und drehten sich unruhig auf ihrem Lager von einer Seite auf die andere, denn die »Zaire« machte nicht den gefährlichen Weg durch Sandbänke und Untiefen bei Nachtzeit, wenn es nicht Aufruhr in der Gegend gab. Und als sie noch obendrein hörten, daß jemand im Dunkeln auf dem Wasser sang, fuhren sie schaudernd zusammen, denn nur Geister singen in der Nacht.

Aber in Wirklichkeit war es Leutnant Tibbetts, der auf der Kommandobrücke stand und das Lied vom Fischer sang.

Ein Wachtmann am Ufer der Ochoristadt sah die »Zaire« näherkommen. Die beiden Schornsteine sprühten unheimliche Mengen von Feuerfunken. Schnell wandte er sich nach Bosambos Hütte, doch der Häuptling war schon längst wach und lauschte.

»O Herr, er kommt!« meldete der Bote.

»Ich habe auch Ohren«, entgegnete Bosambo kurz. Er hatte das Geratter schon eine halbe Stunde vorher gehört. Das Wasser hatte dort große Geschwindigkeit, und Schiffe konnten nur langsam gegen die Strömung vorwärtskommen. In der dünnen Tropenluft und bei der Stille der Nacht hörte man Geräusche sehr weit.

Die »Zaire« legte am Ufer an. Ein Dutzend Leute sprang ab und watete mit Tauen über den Schultern an Land. Dann wurde die Landungsbrücke ans Ufer gezogen, und Leutnant Tibbetts, der den ganzen Nachmittag geschlafen hatte, verließ den Dampfer. Es war zwei Uhr morgens.

»Ich sehe dich, Tibbetti«, klang Bosambos laute, weittönende Stimme aus der Dunkelheit.

Bones antwortete ihm höflich, und sie gingen Seite an Seite den dunklen Pfad zum Dorf hinauf. Erst als sie in der großen Hütte saßen, sprach Bosambo zu seinem Gast, und zwar ungewöhnlich ernst. Der Raum wurde durch eine Lampe erhellt, die bei dem letzten Besuch der »Zaire« verloren gegangen war.

»Mein Herr Tibbetti«, sagte Bosambo, »das ist ein schlechtes Palaver. Die N'gombileute scheinen verrückt geworden zu sein. Meine jungen Leute haben heute zwei Gefechte mit ihnen am Ufer des kleinen Flusses gehabt, und das nur wegen eines kleinen Geistes, der so unbedeutend ist, daß ich ihn nicht einmal in meiner Ochoristadt haben will.«

Die Inneren N'gombi haben ihre Eigenheiten. Sie erkennen zwar die Macht des Sturmgottes M'shimba-M'shamba an und verehren ihn auch wie andere Völkerschaften am Großen Strom, aber sie haben doch seit den ältesten Zeiten ihren obersten Teufel und Geist, der ihrer Meinung und ihrem Glauben nach größer ist als alle anderen Teufel.

Diesen großen Geist Dhar halten sie für so mächtig, daß sie nicht wagen, seinen Namen laut auszusprechen. Sie flüstern ihn nur in einer Grube, die sie am Ufer graben, denn Dhar ist der Teufel, der Himmel und Erde beherrscht, der das Schicksal der Menschen entscheidet und Herr ist über Leben und Tod. Dhar verursacht den Wechsel der Jahreszeiten und hält in seinen beiden Händen die Sonne und den Mond, und seine Augen sind die Sterne und seine Haare die kleineren Geister und Teufel.

Die Inneren N'gombi sind sehr stolz und kriegerisch. Da sie sich leicht beleidigt fühlen und schnell bei der Hand sind, Rache zu nehmen, bereiteten sie ihren Nachbarn und den Kolonialbeamten große Schwierigkeiten. Man wußte nie genau, in wem sich Dhar auf dieser Erde verkörperte. Dhar konnte alle möglichen Gestalten annehmen. Er konnte in einem Mann oder in einer Frau wohnen, er konnte in einem Felsen hausen oder andere tote Dinge beseelen. Einstmals, cala-cala, vor undenklich langer Zeit, war er ein Affe, der in einem großen Käfig im Walde gehalten wurde, und dem man täglich die besten Speisen brachte. Dhar wird stets von drei jungen Mädchen des Stammes behütet, in welcher Form er sich auch manifestieren mag. Tag und Nacht sitzt eine von ihnen in Betrachtung über seine Größe und Majestät versunken.

»Mein Herr Tibbetti, wie konnten meine jungen Leute wissen, daß diese Ungläubigen und Heiden einen Baum verehrten, in den sich Dhar verwandelt hatte?« fragte Bosambo entrüstet.

»Ja, wie war es denn möglich, daß deine Leute in den Wäldern der N'gombi jagten?« erwiderte Bones streng. »Es ist doch verboten, daß die Ochori in den Wäldern der N'gombi jenseits des kleinen Flusses jagen!«

Bosambo war schlau genug, hierüber keine genaue Erklärung zu geben. Die Wälder der N'gombi waren sehr wildreich, die Gebiete der Ochori dagegen sehr dürftig.

»Und als sie nun dorthin kamen, sahen sie einen abgestorbenen, toten Baum und fällten ihn, um sich ein Feuer zu machen«, erzählte Bosambo schnell weiter. »Bäume sind doch Bäume, und nur die Heiden können glauben, daß Bäume Seelen haben –«

»O Bosambo«, sagte Bones ruhig, »hat nicht der Prophet selbst im Jahr der Hedschra mit einem Baum gesprochen und ihn später begraben lassen als einen Gläubigen? Und wenn Mahomet das getan hat, wie darfst du dann sagen, die N'gombi sind Heiden?«

Bosambo fühlte sich sehr unbehaglich.

»Aber dieser Baum war doch vollständig abgestorben«, begann er.

»Genau so war es mit dem Baum, mit dem Mahomet sprach – es war ein Pfeiler in seiner Moschee«, erwiderte Bones, der in diesen Dingen sehr genau Bescheid wußte.

Bosambo sah düster auf die hellbrennende Sturmlaterne.

»Ich sehe ein, daß meine jungen Leute unrecht getan haben«, entgegnete er langsam. »Mein Herr Tibbetti, gib mir die Erlaubnis, daß ich in Sandis Namen tausend Speerleute sammle, damit ich in das Land der N'gombi gehe und ein Ende mache mit diesen Götzendienern.«

»Bosambo, mach doch keine Dummheiten«, sagte Bones ärgerlich.

»Diese N'gombi sind verrückte Leute. Wie soll denn ein Geist da sein, wenn es überhaupt keinen Geist gibt?«

Bones räusperte sich.

»Es gibt wohl Geister, und ich verstehe das Palaver der N'gombi schon. Bosambo, du sprichst über Dinge, von denen du nichts weißt. Ich aber weiß zum Beispiel, daß auch ich einen Geist habe. Zuweilen verläßt er meinen Körper und wandert durch weite Gebiete. Aber ich will dir etwas sagen – ich werde zu dem Häuptling der Inneren N'gombi gehen.«

»Mein Herr Tibbetti, das könnte sehr gefährlich sein. Es ist viel besser, daß du deinen Geist hinschickst.«

Bones sah ihn scharf an, merkte aber, daß Bosambo es wirklich ernst meinte.

Am nächsten Morgen begab er sich mit vier Soldaten in das Kampfgelände. Es lag an der Bucht des Flusses, die Bosambo und seine Leute nicht überschreiten durften. Nach einer einstündigen Verhandlung überzeugte Bones die N'gombi davon, daß er nicht gekommen war, um zu strafen. So nahmen sie ihn auf und führten ihn durch die Reihen der Speerleute zu der Hütte ihres Häuptlings.

»Mein Herr Tibbetti, diese Ochori haben etwas Entsetzliches getan«, klagte M'songo, der Häuptling. Er kochte vor Wut, aber er war seiner Sache doch nicht ganz sicher, da er nicht wußte, welche Folgen der Krieg haben würde, den er begonnen hatte. »Mein Herr Tibbetti, du weißt, daß hier in diesem Lande ein großer Geist wohnt.« Bei diesen Worten hielt er die Hand an den Mund, denn das war die vorgeschriebene Geste für alle Leute, die von Dhar sprachen. »Diesmal wohnte er in einem schönen Baum, und er brachte uns gute Zeiten. Niemand starb in unseren Dörfern, und es ging uns allen gut. Aber die Jäger Bosambos kamen über die Bucht und vertrieben die drei Mädchen, die den großen Geist bewachten. Sie haben ihnen Furcht eingejagt, so daß sie davonliefen. Und nachdem jetzt der Wohnsitz unseres großen Geistes zerstört ist, herrschen überall Krankheit und Tod. Erst heute morgen wurde H'laki, der Holzfäller, von einem stürzenden Baum erschlagen. Aber auch viele alte Männer und Frauen sind gestorben wie die Fliegen.«

Bones lauschte lange den Beschwerden des empörten Häuptlings.

»Die Leute, die in dein Land eingebrochen sind, haben Sandis Gesetz übertreten«, sagte er dann, »und sie werden bestraft werden. Beim nächsten Neumond soll dir der Häuptling Bosambo zwanzig Häute und drei Säcke Salz schicken, und an der Stelle, wo die Ochori die Bucht überschritten haben, werde ich eine Tafel errichten mit Teufelsmarken und Zeichen, damit die Leute, die wieder ohne Sandis Erlaubnis in dein Gebiet kommen, in Affen verwandelt werden. Dies alles tue ich im Namen Sandis, der dein Vater und deine Mutter ist, und der dein Volk in seinen Armen trägt wie ein kleines Kind.«

Diese Worte machten auf M'songo und seine Ratgeber tiefen Eindruck.

»Es sind aber auch schon einige Speerleute in diesen Kämpfen gefallen, Tibbetti, und es ist Blut geflossen.«

»Das hebt sich auf, denn auf beiden Seiten ist Blut geflossen. Führe deine jungen Krieger von den Ufern des Wassers zurück, dann werden wir ein großes Palaver in deiner Stadt abhalten.«

Der Häuptling zögerte. Seine Leute waren aufgebracht und wollten den Frevel rächen. Aber die Aussicht auf ein tagelanges Palaver reizte ihn auch. Es bot den Leuten unbegrenzte Gelegenheit zu reden, und das lieben die Eingeborenen über alle Maßen. So kam es, daß sich M'songo an Gesetz und Ordnung hielt. Er zog seine Krieger zurück, und in der nächsten Nacht saß Bones im Palaverhaus und hörte die ersten sechs der fünfundvierzig Unterhäuptlinge, die alle etwas über Bosambos Verbrechen zu sagen wünschten.

Am dritten Tag war Bones der Auseinandersetzungen und der Reden müde und schloß das Palaver.

»Wer wird sich beklagen über die Saat, wenn der Baum schon zur Manneshöhe emporgeschossen ist?« fragte er. »Ist denn euer großer Geist –« bei diesen Worten legte er die Hand vor den Mund, wie es die Sitte vorschrieb – »so klein, daß er sich nicht vor sechs Ochorijägern retten kann, und so schwach, daß er nicht weiterlebt, wenn seine Behausung verbrannt ist? Nun sage ich euch, daß euer großer Geist lebt, in den Wäldern umherwandelt und sich nach einer neuen Wohnung umsieht. Und die müßt ihr für ihn finden, wie es eure Väter taten. Ich überlasse es jetzt euren weisen Leuten, darüber eine große Beratung abzuhalten. Dieses Palaver ist aus.«

Als Bones in der nächsten Nacht schlief, hörte er plötzlich ein Geräusch am Eingang seiner Hütte und war sofort vollkommen wach. Auf dem mondbeschienenen Platz vor der Hütte sah er einen Schatten.

»Wer ist dort?« fragte er.

»Mein Herr Tibbetti, ich bin es«, sagte eine weiche Frauenstimme.

»Donnerwetter!« rief Bones und warf den Bademantel über den Schlafanzug. Dann trat er ins Mondlicht hinaus.

Sechs Schritte von dem Eingang seiner Hütte entfernt stand ein schlankes, hochgewachsenes Mädchen. Sie hielt einen langen Stab in der Hand, wie ihn die N'gombifrauen tragen.

»Ich bin B'lana-M'songo, die Tochter des Häuptlings«, sagte sie. »Ich bin weise, und die Geister sprechen zu mir.«

»Dann kehre zu deinem Lager und zu deinen Geistern zurück«, erwiderte Bones schlechtgelaunt.

»Mein Herr Tibbetti, ich bin das Mädchen, das du damals aus dem Wasser gerettet hast.«

Bones, der diesen Vorfall längst vergessen hatte, kratzte sich den Kopf.

»Alle Tage und Nächte denke ich an dich, mein Herr Tibbetti. Ich bin ein Mädchen mit einer wunderbaren Seele; ich spreche auch zu den älteren Männern, und sie hören mir zu. Das ist früher noch keiner Frau widerfahren. Mein Herr Tibbetti, ich bin eine von den drei Mädchen, die den Baum bewachten, als Bosambos Jäger kamen.«

»O Mädchen, das mußt du mir am Tage sagen, wenn ich wach bin«, entgegnete Bones müde und entließ B'lana, die ihn wie einen Gott verehrte.

Nach einiger Zeit kam Bones zur Residenz zurück und war mit seinen Erfolgen sehr zufrieden. In der Ochoristadt hatte er auf der Rückreise noch einmal haltgemacht und Bosambo seine Strafe zudiktiert. Der Oberhäuptling der Ochori machte sich jedoch nicht viel daraus, denn er wälzte die Lasten immer auf seine Untertanen ab.

Bones erstattete Sanders einen langen Bericht und stellte seine Verdienste ins rechte Licht.

»Exzellenz, ich war so ganz in meinem Element, da es sich hier um seelische Einflüsse handelte. Man kann die Ansicht der N'gombi nicht so ohne weiteres ablehnen –«

»Welche Gestalt hat sich denn jetzt der große Geist der N'gombi ausgesucht?« fragte Hamilton.

Bones zuckte mitleidig die Schultern.

»Ich wünschte nur, mein guter, alter Ham, daß Sie die Sache ernst nähmen. Kommt es denn darauf an, in welcher Gestalt sich der große Geist offenbart?«

»Natürlich kommt es darauf an«, entgegnete Sanders ruhig. »Ich wünschte nur, Sie könnten das herausbringen, Bones. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal auf Inspektionsreise gehen.«

»Vielleicht sagt es Ihnen Ihre kleine Freundin B'lana«, bemerkte Hamilton ironisch, aber Sanders blieb ernst.

»Wenn wir nur wüßten, unter welcher Gestalt Dhar jetzt verehrt wird. Das würde alles viel leichter machen. Die N'gombi werden immer unruhiger, und man weiß nie, was passiert, wenn ein unschuldiger Fremder ihren großen Geist ohne jede Absicht beleidigt. Vor zwanzig Jahren war Dhar eine Missionskatze. Ein Isisi stahl sie in einem Sack, und daraus entstand ein Krieg, der sieben Jahre dauerte.«

»Ich werde es schon in Erfahrung bringen«, meinte Bones zuversichtlich.

»Schicken Sie doch einmal Ihren eigenen Geist auf die Suche«, schlug Hamilton vor.

Bones antwortete nicht. Hamilton rief ihn noch einmal zurück, als er schon halbwegs zur Hütte gegangen war.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Bones.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erwiderte Hamilton.

»Aber wir haben Nachricht von Ihrer Tante bekommen.«

»Ist sie abgekratzt?« fragte Bones eifrig.

»Nein. Wenn ich es Ihnen genau sagen soll, so kommt sie angekratzt, und zwar morgen nachmittag mit dem Postdampfer. Eben ist ein Telegramm gekommen.«

Bones schrak zurück.

»Was, meine Tante Caroline? Da hört sich doch alles auf!« rief er bestürzt.

Sanders hatte zwei Zimmer in der Residenz für Miss Tibbetts und ihre Begleiterin herrichten lassen. Als sie am nächsten Nachmittag ankam, wurde sie von Bones in galanter Weise an Land getragen. Und in der Residenz wurde sie zwar nicht herzlich, aber doch sehr freundlich begrüßt.

»Ich habe große Sorge um meinen Neffen, Mr. Sanders«, sagte sie zum Amtmann. »Er hat in seinen Briefen so merkwürdige Ansichten geäußert, daß ich schon annahm, sein Verstand habe unter dem Klima hier irgendwie gelitten. Er fragte zum Beispiel bei mir an, ob mein Geist wandere, und ob ich irgendwelche Geistererscheinungen sehen könne. Glauben Sie, Mr. Sanders, daß er ein guter Baptist geblieben ist?«

»Bones ist ein sehr guter Junge«, entgegnete der Amtmann vorsichtig.

Miß Tibbetts warf einen Blick auf das harte Gesicht ihrer Begleiterin.

»Ja, aber ist sein Lebenswandel auch moralisch? Das ist zwar eine sehr unangenehme, diskrete Frage, aber dieses heiße Klima ist doch für junge Leute wirklich sehr gefährlich.«

Sie schaute wieder Mrs. Crewfer an, die traurig den Kopf schüttelte und auf das schlimmste gefaßt war.

»Derartige Fragen kommen überhaupt nicht in Betracht«, erwiderte Sanders ein wenig steif. »Ihr Neffe ist ein Gentleman, diese Antwort wird Ihnen wohl genügen.«

Aber Miss Tibbetts genügte diese Antwort durchaus nicht, und am Abend hatte sie noch eine lange, für Bones sehr peinliche Aussprache. Er hörte ihr mit schlecht geheucheltem Interesse zu. Sie hatte allerdings nur sehr vage Vorstellungen von den Ehrbegriffen der englischen Regierungsbeamten in den Kolonien und sprach mit einer Freiheit über Mesalliancen zwischen weißer und schwarzer Rasse, daß Bones der Kopf wirbelte. Sie schilderte ihm Möglichkeiten, die ihn vollkommen verwirrten, und als sie schließlich eine Pause machte, mischte sich auch Mrs. Crewfer ins Gespräch.

»Sie müssen doch verstehen, daß Ihre werte Tante nur deshalb mit Ihnen spricht, weil sie es gut mit Ihnen meint, Mr. Tibbetts. Man hört so merkwürdige Geschichten über die Leute in den Kolonien.«

»Meine liebe, gute entfernte Verwandte und Begleiterin meiner hochverehrten Tante«, erwiderte Bones höchst gelangweilt, »was Sie hier sagen, ist keine Unterhaltung für einen jungen Mann. Sie setzen mir nur Ideen in den Kopf! Aber meine liebe, alte Tante, das gehört sich doch nicht, so etwas tut man einfach nicht! Wirklich, glaube mir, es ist entsetzlich!« –

Am nächsten Morgen erwachte Bones eine Stunde nach Tagesanbruch mit dem Gefühl, nicht allein in seiner Hütte zu sein.

»O Ali«, sagte er, ohne die Augen zu öffnen, »bringe mir –«

In diesem Augenblick schaute er um sich. Drei junge Mädchen saßen auf dem Fußboden und sahen ihn feierlich mit großen dunklen Augen an. Sie trugen keine besondere Kleidung, nur hatten sie Blumenkränze auf dem Kopf.

»O mein Herr Tibbetti, ich sehe dich«, sagten sie wie aus einem Munde und hoben ihre braunen Hände zum Gruß.

»Um Himmelswillen!« stammelte Bones auf englisch. Plötzlich erkannte er B'lana. »O Mädchen, du mußt nicht hier in meiner Hütte sitzen. Wie kommst du denn aus dem N'gombilande hierher?«

»Ich kam auf dem Großen Strom«, erwiderte sie und strahlte ihn unverwandt mit ihren schönen Augen an. »Dieses Mädchen hier ist die Tochter von Shimbiri, und das andere Mädchen ist die Tochter des Häuptlings Lababuli.«

Eine halbe Stunde später beobachtete Hamilton von der Veranda aus, daß Bones über den Exerzierplatz zur Residenz kam, begleitet von drei schlanken, braunen Mädchen.

»Es ist etwas ganz Entsetzliches passiert, mein lieber, alter Ham ... man hat mich dazu ausersehen, daß ich Dhar als Wohnung dienen soll ... die Idee ist im Kopf dieses Mädchens entstanden.« Er zeigte auf B'lana, die Bones immer noch glückselig anschaute. »Es muß irgend etwas getan werden, alter Ham. Wenn meine Tante diese jungen Mädchen sehen würde ... großer Gott, was würde dann geschehen!«

Hamilton warf einen Blick auf die Begleiterinnen.

»Ihre Tante ist schon vor einer Stunde abgefahren. Das Schiff kam einen Tag früher, als wir erwarteten.« Er nickte langsam. »Jetzt kann ich auch verstehen, warum sie uns so von oben herab behandelte.«

»Was meinen Sie denn?« fragte Bones bestürzt.

»Sie wollte nicht haben, daß man Sie weckte, und ging selbst in Ihre Hütte, um sich zu verabschieden. Da scheint sie wohl die drei jungen Damen gesehen zu haben – Bones, Bones, mit Ihrer Erbschaft ist es Essig!«


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