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IV
Der Geisterseher

Don Murdock kam in das Gebiet am Großen Strom. Er brachte drei Jagdgewehre mit und litt an gebrochenem Herzen. In der Einsamkeit hoffte er, Ruhe und sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. An dem Abend seiner Abfahrt von New York war er fast zu Tränen gerührt, als er sah, daß der Lotse das Schiff verließ.

Wehmütig schaute er dem Mann nach, der die Strickleiter hinunterkletterte und den kleinen Dampfer bestieg, der ihn wieder zur Heimat zurückbrachte, in die Arme seiner liebenden Frau. Wie wohl mußte sich dieser Mann im Schoß seiner Familie und an der Seite der Gattin fühlen, die sich nichts aus Geistern und anderem Spuk machte. Niemals würde er sich mit ihr über Geistermanifestationen streiten! Und diese brave Hausfrau würde auch niemals den Ehering vom Finger ziehen und ihn mit den Worten auf den Tisch werfen: »Donald, wir verlieren nur Zeit mit dummem Geschwätz. Du kannst mich nicht verstehen und wirst es niemals tun. Du bist hochmütig, weil du früher auf der Universität studiert hast, und hältst andere Leute für verrückt, nur weil du keine Intuition hast und dich nicht über deinen kleinen Gedankenkreis erheben kannst ...«

Diese Worte hatte nämlich Donalds Frau gesprochen, und ihre unlogischen, törichten Vorwürfe schmerzten ihn auf das tiefste.

Und weil er seine Frau nicht verstand, war es sein tragisches Geschick, daß er zu den Wilden nach Afrika gehen mußte. Bevor er aber New York verließ, machte er noch sein Testament. Die Hälfte seines vier Millionen Dollar umfassenden Vermögens sollte im Fall seines Todes Jane Fellaby gehören, aber die andere Hälfte bestimmte er zur Gründung einer Gesellschaft, die Spiritismus und anderen Aberglauben unterdrücken sollte.

Jane war vom Spiritismus besessen. Sie hatte Séancen mitgemacht und Geisterstimmen gehört. Mit eigenen Augen sah sie, daß sich Trompeten in die Luft erhoben; sie hörte, daß Tamburins von Geisterhänden gewirbelt wurden, und sie hatte andere aufregende Erlebnisse. Donald war wütend darüber. Er nannte Professor Steelfit einen Gauner, und die Tante, die seine Frau in spiritistische Zirkel eingeführt hatte, bezeichnete er als eine Halbidiotin. Danach war es zwischen den beiden Ehegatten zum Bruch gekommen, und Donald segelte nach Afrika zu den einfachen, primitiven Menschen, bei denen es keine Geister und Geistererscheinungen gab, nur Löwen, Todesgefahr und Malaria, die seinem traurigen Leben bald ein Ende machen würden.

Amtmann Sanders sah es nicht gern, daß Besucher in sein Gebiet kamen, denn er war für ihre Sicherheit verantwortlich. Gewöhnlich ließ er sie den Großen Strom bis Chubiri hinaufrudern, wo es so sicher ist wie in Piccadilly in London und sicherer als auf dem Broadway in New York. Trotzdem hatten die Leute, wenn sie auf das Schiff zurückkamen, die Überzeugung, furchtbaren Gefahren entgangen zu sein.

Bones mußte bei Ausflügen meistens den Führer machen. »Hier zur Rechten liegt das Dorf Goguba, meine lieben, alten Freunde. Dort fand vor einigen Jahren ein fürchterliches Massenmorden statt ... ein alter, unheimlicher Zauberdoktor, der N'sumu hieß, war Häuptling und ließ sich zu skandalösen Schandtaten hinreißen. Hier zur linken Hand, meine sehr verehrte junge Miss, sehen Sie die Insel, auf der alle Opfer begraben liegen ... dort drüben bei der großen, einsamen Palme hat sich der schreckliche Ufaba selbst ertränkt ...«

Die »Touristen«, die mit Empfehlungsbriefen kamen, waren Sanders sehr unwillkommen, aber sie konnten sich doch nicht im mindesten über einen Mangel an Höflichkeit oder Liebenswürdigkeit beklagen. Sie wurden im Gegenteil mit größter Zuvorkommenheit behandelt.

»Bones«, sagte Sanders, »es gibt wieder einmal etwas für Sie zu tun.« Er sah von dem Brief auf, den er beim Frühstück gelesen hatte. »Wir bekommen für ein paar Wochen Besuch.«

Bones seufzte hörbar.

»Lassen Sie mich bitte diesmal aus dem Spiel, liebe, alte Exzellenz. Ham ist an der Reihe.«

»Es ist aber ein waschechter Amerikaner.«

Nun erwachte Bones' Interesse.

Er kannte Amerika. Es gab kaum eine Stadt in den Vereinigten Staaten, wohin er nicht schon geschrieben hatte, denn er war ein sehr eifriger Leser der Zeitschriften-Annoncen, und er hatte einen kindlichen Glauben an briefliche Fernunterrichtskurse, die in diesen Blättern angepriesen wurden. Das hatte sich bei ihm zu einer kostspieligen Liebhaberei entwickelt.

Trotz seiner allgemeinen Antipathie gegen Fremde fühlte sich Sanders zu jungen trainierten Sportsleuten hingezogen, und Donald Murdock hatte außerdem ein bescheidenes, zurückhaltendes Wesen.

Auch hatte er ungewöhnlich gute Empfehlungsbriefe – ein Schreiben von dem amerikanischen Gesandten in London mit einem besonderen Vermerk des Kolonialministeriums, wodurch Sanders direkt verpflichtet wurde, ihm seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

»Ja – Sie können so weit ins Land gehen, als es Ihnen beliebt, Mr. Murdock. Aber hoffentlich gehen Sie nicht weiter, als es mir lieb ist! Das Land ist augenblicklich ruhig, und Mr. Tibbetts wird sich Ihrer annehmen.«

Junge Leute gehören immer zusammen, und Mr. Donald nahm auch Quartier in Bones' Hütte. Sie freundeten sich sehr bald miteinander an; kaum waren sie fünf Stunden miteinander bekannt, so unterhielten sie sich schon über ihre Liebesaffären.

»... nein, nicht wie andere junge Mädchen – Sie müssen recht verstehen, Bones. Wenn sie eins von diesen modernen, oberflächlichen Geschöpfen wäre, die sich nur aus Sensationsgier mit Spiritismus beschäftigen, wäre es ganz belanglos gewesen.«

»Wissen Sie, mir ist es auch einmal so gegangen«, sagte Bones fast träumerisch. »Sie hat mich sehr geliebt, aber sie spielte dauernd Bridge. Ich sage Ihnen, morgens, mittags und abends. Eines Tages sage ich zu ihr: ›Meine liebe, gute, alte Freundin –‹«

Mr. Donald interessierte sich nicht sehr für die Geschichte, die ihm Bones erzählen wollte.

»Wenn ein Mann mit meiner Veranlagung sich einmal in ein Mädchen verliebt, dann ist es für immer, Bones. Und nun muß uns dieser schreckliche Spiritismus trennen! Können Sie sich das vorstellen? Hoffentlich sind Sie nicht auch von Geistern und derartigem Spuck überzeugt?«

Bones zögerte.

»Mein lieber, guter Vetter von jenseits des Großen Teiches, wenn Sie länger in Afrika leben, können Sie dergleichen nicht einfach abstreiten.«

Don Murdock starrte ihn ungläubig an.

»Was – Sie glauben doch nicht wirklich an Geister?«

Bones nickte.

»Ja, da staunen Sie – aber ich habe schon mit meinen eigenen Augen Geister gesehen!«

Und die beiden jungen Leute sollten tatsächlich während ihrer Reise auf dem Großen Strom merkwürdige Dinge erleben.

Im N'gombi-Land regierte damals ein König, der sieben Söhne hatte. Der jüngste von ihnen war ein Schwächling, der bis zu seinem zwölften Jahr nicht hatte sprechen können. Die Jäger, die ihn oft im Walde gesehen hatten, erzählten aber, daß er sich viel mit einem Geist unterhalten hätte.

Daraufhin hatte man ihm aufgelauert und ihn in hellen Mondnächten im Walde beobachtet. Man hörte, wie er mit jemand sprach, aber niemand konnte einen anderen Menschen in der Nähe sehen. Das war ungewöhnlich, denn die Jäger hatten so scharfe Augen, daß sie die geknickten Zweige deutlich sehen konnten, die die Spur des Leoparden im Dickicht verrieten.

Die Brüder des unglücklichen Knaben wollten ihn wegen seiner Verrücktheit beiseiteschaffen, denn es ist ein Gesetz bei den N'gombi, daß Geisteskranke nicht leben dürfen. Man hält sie für tote Seelen, die noch an die Erde gekettet sind. Aber der König der N'gombi, der ein sehr kranker Mann war, liebte seinen Sohn, das Kind seiner Lieblingsfrau, und als seine anderen Söhne ein Familienpalaver über diese Angelegenheit abhielten, sagte er ihnen deutlich seine Meinung.

»Den Tag, an dem B'lala stirbt, wird keiner von euch überleben. Wenn ich zu meinen Kriegern sage: ›Tötet!‹, so führen sie meinen Befehl aus, selbst gegen die Söhne des Königs.«

Als B'lala dreizehn Jahre alt war, sprach er übermäßig viel. Er erzählte von Geistern, von Ju-jus und von merkwürdigen Erscheinungen, die nur Geister sehen können, zum Beispiel von Elefanten mit langen, gebogenen Zähnen, von Krokodilen, die von einem Baum zum anderen flogen, und von seltsamen Tieren mit eigenartig geformten Köpfen. Und einmal sagte er sogar, daß er schon in dieser Welt gelebt habe, als alles noch ein großes Chaos war, wo man keinen Himmel, keinen Stern und keine Sonne sah, weil alles in dichte Nebel eingehüllt war.

N'kema, der älteste Sohn des Königs, gab vor, auf den Fischfang zu gehen, und nahm seine Brüder mit sich, um auf einer kleinen Insel eine geheime Beratung abzuhalten.

»Es ist ganz klar, daß unser Vater bald sterben wird. Er ist genau so wahnsinnig wie B'lala. Alle Leute wissen, daß ich dann seine Stelle einnehme und König der N'gombi werde. Als aber Sandi vor drei Monaten hierherkam, um die Steuer einzusammeln, hat er böse mit mir gesprochen, weil ich ein junges Mädchen von den Ochori gestohlen habe. Nun habe ich mit meinen eigenen beiden Augen gesehen« – bei diesen Worten bedeckte er in der herkömmlichen Weise das Gesicht mit den Händen – »daß dieser niederträchtige B'lala in Sandis Nähe stand und ihn behexte, als er zu mir sprach. Und wenn unser Vater stirbt, nehmen wir B'lala in den Wald mit, stechen ihm die Augen aus und überlassen ihn den wilden Tieren zum Fraß.«

Alle Brüder waren damit einverstanden; nur einer, der den Jungen liebte, billigte diesen Entschluß nicht. Doch er behielt seine Meinung für sich und sagte auch »Wa« wie die anderen.

Amtmann Sanders hörte in seinem schönen weißen Hause an der Mündung des Großen Stromes von all diesen Geschichten, und sein Interesse erwachte. Auch er schätzte gesunde Leute, aber um Verrückte kümmerte er sich erst, wenn Unruhen und Mord durch sie hervorgerufen wurden.

»Sehr sonderbar«, sagte er und blies den Rauch seiner langen Zigarre von sich. »Ich muß mir bei der nächsten Inspektionsreise diesen jungen B'lala doch einmal ansehen.«

Captain Hamilton grinste.

»In dieser Gegend gibt es unheimlich viele Geisteskranke«, erwiderte er. »Das ist ja auch nach der großen Epidemie von Schlafkrankheit im vorigen Jahr ganz erklärlich –«

Aber Sanders unterbrach ihn und schüttelte den Kopf.

»Nein, B'lala ist nicht in dieser Weise verrückt, sein Zustand ist keine Folge von Schlafkrankheit. Er hat merkwürdige Visionen von dieser Welt, als sie noch in früheren Entwicklungsstadien war. Seine Worte klingen ganz vernünftig. Denken Sie, er hat doch diese Urungeheuer richtig beschrieben. Er hat Mammutherden gesehen und geflügelte Riesenechsen, Ichthyosaurier und dergleichen. Er scheint die merkwürdige Gabe zu haben, sich in prähistorische Zeiten versetzen zu können. Ich sehe schon, daß Sie das alles als Unsinn bezeichnen wollen. Aber tun Sie das nicht. Ich habe vorige Nacht einen Fieberanfall gehabt, und meine Stimmung ist nicht die beste.«

Hamilton runzelte verächtlich die Stirne.

»Tut mir leid. Vielleicht versteht Bones die Sache besser. Er befindet sich ja selbst noch in einem primitiven Stadium und kann die Äußerungen dieses verrückten B'lala vielleicht mehr schätzen als ich.« Er erhob sich und rief über den Exerzierplatz hinüber: »Bones!«

Leutnant Tibbetts änderte seine Richtung und kam mit großen Schritten auf die Veranda zu. Er nahm die drei Stufen mit einem Schritt und grüßte militärisch.

»Wünschen Sie mich in einer dienstlichen Angelegenheit zu sprechen?« fragte er steif. »Über persönliche Dinge möchte ich nicht mit Ihnen diskutieren. Aber ich kenne natürlich die Dienstvorschriften genügend, um Ihnen gegenüber die nötige Hochachtung zu bewahren, mein lieber, alter Tyrann.«

»Halten Sie den Mund!« erwiderte Hamilton ärgerlich. »Wie kommen Sie denn eigentlich dazu, mir meine Zahnpasta wegzunehmen?«

»Es ist möglich, daß ich sie ausgeliehen habe, mein guter Kamerad und Vorgesetzter«, entgegnete Bones höflich. »Ich dachte, daß Sie doch keinen Gebrauch davon machen –«

»Sie geben also zu, daß Sie sie genommen haben«, brummte Hamilton. »Ich hätte auch kein großes Aufheben davon gemacht, wenn Sie mir nicht statt der Zahnpasta eine Tube braune Schuhcreme auf meine Schale gelegt hätten! Und die habe ich aus Versehen benützt! Da kann einem wirklich schlecht werden!«

Bones senkte den Kopf.

»Solche Unglücksfälle kommen ab und zu vor, sie lassen sich nicht ohne weiteres ausschalten. Wie ich noch gestern zu unserem lieben Freund aus Nordamerika sagte –«

Sanders kam plötzlich ein Gedanke.

»Bones, nehmen Sie die ›Wiggle‹ und fahren Sie in das Land der N'gombi. Sie müssen Murdock doch irgendwie die Gegend zeigen, und es ist ja augenblicklich vollkommen ruhig. Sehen Sie sich dabei einmal nach B'lala um, dem Sohn des Ufumbi ...« Er erklärte Bones noch eingehend, warum er sich für den Jungen interessierte.

*

»Er ist eben verrückt«, sagte Donald düster. »Mr. Sanders hat es doch ausdrücklich gesagt – man kann nur in diesem Zustand Geistererscheinungen und dergleichen Halluzinationen haben.«

»Aber ich habe doch auch schon Geister gesehen, mein lieber, alter Skeptiker«, erwiderte Bones etwas steif.

»Sie meinen wohl Skeptiker«, verbesserte ihn Donald schwermütig. »Ich wundere mich nur über die Erziehung, die Sie in den höheren Schulen Englands erhalten haben.«

»Nanu! Unsere Schulen sind doch bedeutend besser als die amerikanischen!« rief Bones erregt.

Die beiden saßen auf dem Vorderdeck der »Wiggle« und fuhren den Großen Strom hinauf. Langsam zogen die Ufer des Isisilandes an ihnen vorüber. Es war heute der dritte Tag ihrer Reise, und es war viel heißer, als es Donald jemals erlebt hatte. Trotzdem erzählte er Bones, daß es in New York noch viel höhere Temperaturen gebe.

In Lapori machte Bones halt und erhielt Nachrichten, die ihn beunruhigten.

»Mein Herr Tibbetti«, sagte der Häuptling des Dorfes, »am frühen Morgen, noch vor Tagesanbruch, hörten wir eine Lokoli-Botschaft von den N'gombi. Der König ist an der Krankheit Mongo gestorben, und sein ältester Sohn ist sein Nachfolger. Unsere Fischer, die den Strom herunterkamen, haben verschiedene Kriegsboote der N'gombi mit Speerleuten gesehen, und man sagt am Großen Strom, daß es neue Gräber auf den kleinen Inseln gibt, wenn die N'gombi auf dem Wasser fahren.«

Bones kratzte sich nachdenklich an der Oberlippe. Es war fatal, daß er vergessen hatte, Brieftauben auf die Reise mitzunehmen.

»Das ist ein schlechtes Palaver«, erwiderte er. »Schaffe mir ein schnelles Boot mit starken jungen Ruderern, denn ich will einen Brief an meinen Herrn Sandi zur Mündung des Stroms schicken.«

Wenn auch Bones im gewöhnlichen Leben unzuverlässig und wetterwendisch war wie ein Apriltag, so zeigte er sich doch von einer ganz anderen Seite, wenn er wirklicher Gefahr gegenüberstand. Wenn er sich selbst und seinen Freund Donald nicht mitzählte, verfügte er nur über fünf Leute. Glücklicherweise hatte er ein Maschinengewehr an Bord, das er sofort auf dem Vorderdeck aufmontieren ließ.

Mr. Murdock interessierte sich für all diese Vorbereitungen aufs lebhafteste.

»Mein lieber, alter Junge«, sagte Bones, »Sie können in dem Kanu den Strom wieder hinunterfahren. Wenn es Ihnen aber Spaß macht, erlaube ich Ihnen auch, an den Gefahren des Krieges teilzunehmen. Sie sind ja auch sonst ein treuer Freund und Bundesgenosse. Wenn Sie sich also meiner Fahrt anschließen wollen, so heiße ich Sie herzlich willkommen. In diesem Fall wollen Sie vielleicht eine letzte Nachricht an Ihre liebe alte Jane schicken. Tun Sie es noch, bevor das Boot abfährt.«

Donald entschied sich dafür, an der Kriegsfahrt teilzunehmen, und eine Stunde später kämpfte sich die ›Wiggle‹ gegen eine sechs Knoten starke Strömung flußaufwärts zu der Hauptstadt der N'gombi.

Macht ist eine gewaltige Kraft, die selbst die Herzen der stärksten Menschen ändern kann. N'kema, der älteste Sohn des verstorbenen Königs, tat manche törichten Dinge. Kaum hatte sein Vater den letzten Atemzug getan – der Mann starb merkwürdigerweise sehr plötzlich –, so setzte sich N'kema auf den Häuptlingsstuhl und rief ein großes Palaver aller Häuptlinge und Dorfältesten zusammen. Das wäre an sich nicht schlimm gewesen. Aber entschieden verhängnisvoll war die Tatsache, daß er sich an den Geheimbund der Kleinen Leoparden wandte und um ihre Unterstützung bat. Kein König, der bei Verstand ist, hätte sich mit dieser Geheimgesellschaft in Verbindung gesetzt.

Die Kleinen Leoparden standen damals in großem Ansehen. Man fand allerdings ihre verstümmelten Opfer nicht mehr, aber sie befolgten seltsame Riten, hielten Tänze ab und verübten heimliche Morde, wenn man die Wahrheit sagen soll.

Als einer seiner Brüder dem neuen König darüber Vorhaltungen machte, schnitt er ihm kurz das Wort ab.

»Muß ich in meiner Lage nicht allen Zauber zu Hilfe rufen, um mich auf dem Thron zu halten? Weißt du nicht, daß mich Sandi haßt? Wenn er aber sieht, wie stark ich bin, und wenn er weiß, daß alle Leute für mich eintreten, dann wird er mich hier in Ruhe lassen und eines Tages herkommen, um mir die goldene Medaille um den Hals zu hängen, die mein Vater trug.«

»Und was soll aus B'lala werden?« fragte ein anderer.

Der König machte eine bezeichnende Geste.

In der Nacht führten zwei Brüder den Geisterseher in den tiefsten, dunkelsten Teil des Waldes. Leoparden und andere wilde Tiere hausten dort, deren Augen in der Finsternis unheimlich aufleuchteten, wenn sie hungrig nach Beute durch das Unterholz streiften. Dort setzten sie ihn aus. Er klagte nicht und sagte nur ein paar Worte zu ihnen, bevor sie fortgingen.

»Ihr hättet das nicht tun können, wenn mein Geist nicht in dieser Nacht von mir gewichen wäre.«

»Wo ist denn dein Geist?« fragte ihn der eine spöttisch.

»Er ist zu den Sternen gewandert. Geht schnell, bevor er wieder zu mir zurückkehrt.«

Die beiden flohen, zu Tode erschreckt.

Der neue König saß in seiner großen Hütte und lauschte eifrig all den Geschichten, die ihm hinterbracht wurden. Einige sagten, daß die Ochori zum Kriege gegen die N'gombi rüsteten, und daß Bosambo seine Truppen sammelte, um ein Blutbad unter seinen Nachbarn anzurichten. Andere wollten wissen, daß Sandi mit seinen Soldaten schon auf dem Wege sei, und wieder andere wisperten von geheimen Anschlägen, die seine eigenen Brüder gegen ihn planten, um ihn vom Thron zu stoßen. Der König schenkte diesen Gerüchten Glauben, und als die Mörder B'lalas zurückkamen, wurden sie gefangengesetzt und heimlich ermordet, so daß man nie wieder etwas von ihnen sah.

Je mehr der neue König hörte, desto furchtsamer wurde er. Bald glich seine Stadt einem Heerlager. Speerleute, die von den Lokoli-Trommeln aus den Wäldern herbeigerufen waren, kamen aus allen Teilen seines Landes in der Stadt zusammen.

»Großer Häuptling, gegen wen werden wir Krieg führen?« fragte ein alter Ratgeber.

»Wir ziehen gegen die ganze Welt zu Felde«, prahlte der König, obwohl er innerlich vor Furcht zitterte.

Ein Schmeichler flüsterte ihm zu, daß dieser alte Ratgeber seines Vaters ein Feind sei, da er sonst nicht eine solche Frage gestellt hätte. Und in der nächsten Nacht wurde der Alte in seiner Hütte umgebracht.

Kurz vor Tagesanbruch weckte man den König. Er stürzte aus seiner Hütte und sah einen vollkommen erschöpften Boten vor sich. Er lauschte auf die Nachricht des Mannes, und seine Zähne schlugen vor Entsetzen aufeinander. Und ein Mann, der sich fürchtet, ist gefährlich. Er ließ seine Unterführer kommen und gab ihnen kurze Befehle.

»Tibbetti, der Sohn Sandis, kommt mit seinen Soldaten den Strom herauf. Alle mit Speeren bewaffneten Krieger sollen in die Wälder gehen. Niemand darf sich vor Tibbetti sehen lassen, und wenn er es doch tut, so werde ich ihn töten.«

Als die »Wiggle« am Ufer anlegte, sah Tibbetts, wie die Frauen ihre Kinder im Fluß badeten. Andere wuschen ihre Kleider und Tücher am Ufer, indem sie sie auf flache Steine schlugen. Nichts verriet irgendwelche kriegerischen Absichten, als Bones an Land ging. Alles erschien vollkommen friedlich, und der König N'kema eilte seinen Gästen entgegen.

»Mein Herr Tibbetti, du kommst zu einer guten Zeit.« Mit einem schnellen Blick überschaute er das Deck, um zu sehen, wie viele Soldaten an Bord waren. »Mein Vater ist eben gestorben, und alles Volk hat mich einstimmig zu seinem Nachfolger erwählt, so daß ich jetzt auf seinem Stuhle sitze. Nun will ich einen großen Tanz für dich und deinen Bruder abhalten.«

Murdock war ihm vollkommen fremd, aber er erklärte sich die Anwesenheit dieses Mannes durch verwandtschaftliche Beziehungen.

»Heute findet kein Tanz statt, N'kema«, erwiderte Bones kurz. »Und wer der Nachfolger des alten Königs sein soll, wird Sandi bestimmen. Ich bin hergekommen, um B'lala, den Sohn des alten Königs, zu sehen.«

Tödliches Schweigen folgte. Die Befangenheit des Häuptlings war offensichtlich.

»O Herr«, sagte er nach einer langen Pause, »der Junge ist auf eine weite Reise gegangen, denn er war krank.«

»Morgen wird er hier sein! Das Palaver ist aus.«

Als Bones durch das Dorf ging und alle Leute bei ihrer täglichen Beschäftigung sah, beruhigte er sich. Er merkte nichts von dem fieberhaften Treiben, das gewöhnlich bei einem Regierungswechsel einsetzt.

Mr. Murdock war sichtlich enttäuscht.

»Ich sehe nichts von Ihrem Krieg«, meinte er vorwurfsvoll.

»Aber mein lieber, alter Junge, berufen Sie doch die Sache nicht«, erwiderte Bones schaudernd.

Als die beiden Freunde nachmittags unter dem Sonnensegel an Deck saßen, kam ein Bote des Königs und überbrachte nochmals eine ehrerbietige Einladung zu einem großen Tanz. Und diesmal nahm Bones an.

»Werden wir auch Geister sehen?« fragte Donald erwartungsvoll.

»Nein, die Geister, die es in Afrika gibt, können Sie nicht sehen, mein alter Junge«, erwiderte Bones etwas abweisend. »Aber Sie werden sie fühlen!«

Der große Tanz ging ohne Zwischenfall vorüber, und die beiden scharf geladenen Brownings, die Bones eingesteckt hatte, erwiesen sich als überflüssige Vorsichtsmaßregel. In der Dunkelheit kehrten die Freunde zur ›Wiggle‹ zurück. Donald war von den seltsamen Tanzdarbietungen so stark beeindruckt, daß er im Augenblick nicht mehr an Spiritismus und ähnliche Dinge dachte.

Sie hatten sich gerade Gute Nacht gesagt, als vom Ufer ein Flüstern zu ihnen herübertönte. Bones neigte sich weit vor und lauschte.

»Sage ihm, daß er zu mir aufs Schiff kommen soll«, befahl er dann der Wache. Seine Leute brachten den Mann in die Kabine. Es war der zweitjüngste Sohn des alten Königs, der sich innerlich gegen die Ermordung seines Bruders gesträubt hatte. Als er alles berichtet hatte, was er wußte, wurde Leutnant Tibbetts wieder vollkommen wach.

»Mein Herr Tibbetti, wenn der König erfährt, daß ich zu dir gekommen bin, wird er mich töten lassen wie meinen Bruder«, sagte der Mann furchtsam. »Aber ich sage es dir trotzdem, weil ich Sandi liebe, und weil ich weiß, daß er hierherkommen wird, um einen neuen Häuptling einzusetzen. Dann wird er mich, den Sohn des Königs, nicht vergessen, der ihm geholfen hat.«

»Wohin haben Sie B'lala gebracht?« fragte Bones. »Was ist aus ihm geworden?«

Der Mann erzählte ihm alles.

»Aber mein Herr Tibbetti, du kannst nicht in die Wälder gehen, die hinter der Stadt liegen. Sie töten dich, denn dort sind mehr Speerleute und Krieger als Bäume, und sie sind alle für meinen Bruder.«

Bones zögerte nicht. Er hatte eine kurze Unterredung mit Murdock.

»Sie bleiben hier, mein alter Freund aus New York. Der nichtsnutzige N'kema wird in der Nacht keinen Überfall planen –«

»Ich gehe mit Ihnen«, erklärte Donald entschlossen, und er setzte seinen Willen auch durch.

Sie nahmen ein kleines Boot und ließen sich den Strom eine Meile weit hinunterrudern, dann gingen sie an Land.

Beim Aussteigen wäre Donald beinahe ins Wasser gefallen. Zwei Stunden lang folgten sie ihrem Führer durch das Waldesdickicht, in dem schon seit undenklichen Zeiten geheime Morde verübt worden waren. Einmal sahen sie die grünen Augen eines wilden Tieres vor sich aufleuchten, und dann hörte Donald den Schrei eines Affen, der von einem Leoparden gepackt wurde.

Als er auf die Uhr schaute, zeigte sein leuchtendes Zifferblatt Mitternacht. Sie waren jetzt an einer kleinen Waldlichtung angekommen und sahen eine Gestalt im Mondlicht, die an einem hohen Baumstamm lehnte.

»O B'lala«, sagte Bones sanft, »ich bin Tibbetti, der Sohn Sandis, und ich bin gekommen, um dich auf meinem schönen Schiff mitzunehmen.«

Er sah, daß ein Lächeln um die Lippen des Knaben spielte, und er ahnte mehr als er es sah, daß ihm die Augen ausgestochen waren.

»Mein Herr Tibbetti, ich gehe zu einem herrlicheren Ort als zu deinem Schiff«, erwiderte der Junge mit schwacher Stimme. »Noch in dieser Nacht werde ich mit meinem neuen Geist unter den Sternen wandeln. Spreche ich die Wahrheit?«

Zuerst glaubte Bones, daß er gemeint war, aber dann bemerkte er, daß der Junge den Kopf leicht nach links wandte, und er hörte, daß der Sterbende lachte.

»Mein Herr Tibbetti, ich spreche die Wahrheit. Ich will dir aber sagen, daß der Tod in diesem Walde lauert, denn mein großer Geist hat mir das erzählt. Ich sah, wie du hierherkamst, obwohl ich keine Augen mehr habe. Du kamst in einem kleinen Boot mit meinem Bruder. Als du an Land gingst, strauchelte der weiße Mann, der dich begleitet, und fiel.«

Donald fuhr schaudernd zusammen, als ihm diese Worte übersetzt wurden.

»Woher weißt du das?« fragte er in Englisch.

»Von ihm, der bei euch ist!« erwiderte der Junge, der nie eine andere Sprache als die seine gesprochen hatte. »O großer Geist, bleibe bei Tibbetti und seinem Freunde und hilf ihnen!«

Er wartete und neigte den Kopf, als ob er lauschte. Als B'lala nach einer Weile nichts mehr gesprochen hatte, neigte sich Bones über ihn und legte den toten Körper sanft auf den Boden.

»Es ist mit ihm zu Ende«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. B'lala, der Freund der Geister, wandelte schon unter den Sternen.

Sie begruben ihn, so gut sie konnten, und kehrten dann wieder zum Fluß zurück. Bones wußte, daß er nur eine Chance hatte, zu entkommen. Er mußte sofort in der Dunkelheit den Rückweg auf der ›Wiggle‹ antreten und ohne Rücksicht auf Untiefen und Sandbänke Sanders entgegenfahren. In der Nacht konnte sich viel ereignen, und N'kema würde vielleicht noch vor Tagesanbruch angreifen.

Und die ›Wiggle‹ war auch kaum eine halbe Meile von dem Dorf entfernt, als sie schon angehalten wurde.

»Halte, weißer Mann, denn die Leoparden hemmen deinen Weg!« rief eine Stimme.

»Feuer!« kommandierte Bones und riß seine Browningpistole heraus.

Das Maschinengewehr ratterte in wildem Stakkato, und ein unheimliches Echo kam aus den Wäldern zurück. Die Besatzung verteidigte sich tapfer, aber die Übermacht der N'gombikrieger war zu groß. Sie erkletterten die ›Wiggle‹, und drei Speerleute stürzten sich auf Bones. Er erhielt einen Schlag auf den Kopf und verlor das Bewußtsein ...

Als er wieder erwachte, fühlte er entsetzliche Schmerzen. Er saß mit dem Rücken gegen einen dicken Baumstamm, an den seine Arme gefesselt waren, und die Sonne brannte auf ihn nieder. Dicht neben ihm saß Mr. Donald Murdock mit nacktem Oberkörper. Der junge Mann war verwundet. »Hallo, alter Freund, leben Sie noch? Ich dachte, man hätte Sie schon ins bessere Jenseits befördert«, sagte er vergnügt. »Ich möchte bloß wissen, was diese blöden Kerle mit uns vorhaben?«

Bones sah sich nach allen Seiten um, aber jede Bewegung schmerzte ihn. Sie waren rings von Kriegern umgeben, und auf dem Häuptlingsstuhl dicht vor ihm saß N'kema.

»O Tibbetti, ich sehe dich«, sagte er spöttisch. »Wo ist denn der große Geist meines kleinen, verrückten Bruders? Ist er nicht mehr bei dir? Schützt dich sein starker Arm nicht mehr gegen mich und meine Krieger?«

Bones war erstaunt, daß der König von den Vorgängen im Walde wußte. Aber plötzlich sah er einige Schritte vor sich einen Toten liegen. Es war der Bruder des Königs, der ihn zu B'lala geführt hatte. Sicher hatte N'kema den Mann durch Foltern zu einem Geständnis gezwungen und ihn dann zu Tode gepeinigt.

»Ich sehe dich, N'kema«, erwiderte Bones mit heiserer Stimme. »Wenn du aber von Verrückten und von Geistern sprichst, so frage ich dich, ob du nicht selbst wahnsinnig bist, daß du so böse Dinge tust? Wird nicht dein Geist in den großen Bergen umherirren, wenn Sandi kommt? Aber ich will für dich sprechen, wenn du diesen jungen Mann hier freiläßt.« Er zeigte mit dem Kopf auf Murdock, der die Zusammenhänge jedoch nicht verstehen konnte, weil Bones in der Eingeborenensprache redete. »Er gehört zu einem fremden Volke und hat nichts mit diesem Palaver zu tun.«

N'kema grinste furchtsam.

»O ko! Das ist die Rede eines Narren. Zeige mir doch deinen großen Geist, Tibbetti! Und wenn er stark genug ist, soll er den Arm meines Henkers anhalten.«

Er spie erst links und dann rechts neben sich aus und hob die Hand bis zur Augenhöhe. Das war das Zeichen für den schlanken, starken Krieger, der zu seinen Füßen kauerte und die Klinge des gekrümmten Richtschwertes in den Händen wog. Schnell erhob sich der Mann und trat vor Bones.

»Sprich gut für mich zu allen Geistern und Teufeln«, sagte er leise, wie es alte Sitte war. Dann schwang er das Richtschwert.

Bones sah zu ihm auf und zuckte nicht mit der Wimper. Die gebogene Klinge glänzte im Sonnenlicht ...

Dann hörte Bones plötzlich einen schwachen Laut und sah, daß die Waffe zu Boden fiel. Der Henker brüllte vor Schmerz auf und faßte rasch nach seinem blutigen Ellbogen.

N'kema sprang entsetzt empor, sein Gesicht wurde fahl.

»O ko!« stöhnte er. »Dieser Geist ...!«

Und dann sah er Sanders.

Der Amtmann stand am Rand der Lichtung, und zu seinen beiden Seiten knieten Haussa-Soldaten, die ihre Gewehre in Anschlag hatten. Langsam ging Sanders vorwärts, und die N'gombi-Krieger wichen lautlos vor ihm zurück. Jeder suchte so schnell wie möglich im schützenden Dunkel des Waldes zu verschwinden.

»Ich sehe dich, N'kema«, sagte Sanders leise, fast freundlich. Dann zeigte er auf einen Baum, und Sergeant Abibu, der hinter ihm ging, warf geschickt das Tau, so daß es sich um einen großen Ast knotete. Dort wurde N'kema gehängt.

»Diese Geister!« sagte Donald schaudernd und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Haben Sie es gesehen? ... Gerade als der Henker zuschlagen wollte ... hat ihn jemand gehindert ... das ist zuviel!«

Bones räusperte sich. Er wußte, wie das gekommen war, denn er hatte die neuen Schalldämpfer auf der Mündung der Gewehre gesehen.

»Ja, ja, wir haben hier eine besondere Art von Geistern, mein lieber, alter Junge.«

Murdock schüttelte den Kopf.

»Ich muß doch sagen, daß sich mein Urteil über den Spiritismus bedeutend verändert hat. Es ist etwas daran. Ich möchte schwören, daß hier wirkliche Geister ihre Hand im Spiele hatten!«

»Das ist in Afrika eine ganz gewöhnliche Erscheinung«, murmelte Bones.

»Ich schicke sofort ein Telegramm an Jane und teile ihr mit, daß ich nichts mehr gegen Spiritismus habe, das heißt, wenn es sich um wirkliche Geister handelt.«

Aber als sie wieder bei der Residenz an der Mündung des Großen Stromes ankamen, zeigte es sich, daß das überflüssig war. Der Telegrafist überreichte Mr. Murdock bei der Ankunft ein Telegramm:

»Du hast recht. Geister sind Humbug. Detektive fanden Fingerabdrücke des Professors auf den Trompeten. Komme zurück.

Jane.«

Donald schüttelte wieder den Kopf.

»Es wird jetzt schwer sein, sie vom Gegenteil zu überzeugen«, meinte er.


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