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17

Scholastika machte täglich einen weiten Spaziergang. Da sie in aller Frühe aufstand, hatte sie einen langen Vormittag vor sich. Yvonne wußte nichts von der Schönheit des Morgens, erhob sich niemals vor dem Mittag und bedurfte für ihre Toilette einer vollen Stunde. Auch der Graf war kein Frühaufsteher. Gewöhnlich begab er sich nach dem Diner oder auch erst nach der Vorlesung der Mireïo, also häufig nach Mitternacht, nach Monte Carlo, von wo er häufig erst im Morgengrauen zurückkehrte. Scholastika erfuhr davon durch die Zenz, verbot dieser jedoch, ihr von den Vorgängen im Hause zu berichten.

Also gehörte der Vormittag, die ihr liebste Tageszeit, ihr allein. Ihr Lieblingsweg führte sie auf die Felsenstraße gegen Nizza zu. Hier hatte sie das Meer zur Linken, häufig tief unter sich an senkrecht abfallenden Klippen brandend, zur Rechten über einem tropischen Gartengefilde die rotbraunen Steinmassen der Tête de Chien; und vor ihr erhob sich, einer Fata Morgana gleich, das Esterelgebirge mit seinen in die wolkenlose Bläue aufsteigenden Zinken und Zacken.

Bei der Station Eze, nahe dem Meere, inmitten von Blumengefilden, Orangengärten und Palmenhainen befand sich ein Landhaus, das immer von neuem ihr Entzücken war. Wegen der Farbe seiner Mauern hatte sie der Villa den Namen des »blauen Hauses« gegeben, und wegen seiner traumhaften Schönheit erschien es der Deutschen als die blaue Blume landschaftlicher Schönheit des Südens.

Wer mochten die Bewohner sein? Gewiß ein junges Paar, ein glücklicheres, als Graf und Gräfin von Roquebrune waren. Denn nur glückliche Menschen konnten in dem blauen Hause über der leuchtenden Meeresflut unter den königlichen Palmen, inmitten der Blütengefilde leben; nur solche, die sich liebten.

Scholastika schritt an dem blauen Hause vorüber. Sie passierte den Tunnel der Felsenstraße und gelangte zu dem wegen seiner tropischen Vegetation »das kleine Afrika« genannten Teil des Villenviertels von Beaulieu. Auch hier hielt sie sich nicht auf, sondern setzte ihren Spaziergang fort bis zur Halbinsel von Saint Jean, auf welcher der galante König der Belgier ein von Wellen umrauschtes Buen Retiro sich geschaffen hatte. Sie schlug einen Pfad längs des Meeres ein, der nach dem Kap von Saint Hospice führte. Dort war es feierlich schon. Jede Stunde an dieser Stätte verbracht, ward für sie, die fromme Katholikin, zur Andacht, zu einer Art von Hochamt der Natur. Das Brausen der Meeresbrandung vertrat die Stelle der Orgel, der Sturm erschien ihr als die Stimme des Priesters, und sie hätte es für kein Wunder gehalten, wäre über die Wogen der Herr zu ihr geschritten gekommen.

Auf dem in die See weit vorspringenden Riff lagen die Reste einer Sarazenenburg, sowie ein einsames Kirchlein, von verwilderten Gräbern umgeben. Fischer von Saint Jean erzählten der fremden goldhaarigen Frau, dort fänden jene Toten die letzte Ruhe, die von den Wellen an den Strand geworfen wurden. Namenlos erhoben sich über den Hügeln die morschen Kreuze.

Scholastika liebte es, inmitten der Gräber zu ruhen und darüber zu sinnen, wer wohl die Namenlosen gewesen sein mochten? Gewiß weinte um sie in fernen Landen immer noch eine Mutter, Gattin oder Braut; gewiß waren sie immer noch unvergessen, die angesichts der schönsten Küste der Welt ihr tragisches Ende gefunden hatten. Unbegrenzt flog von dort aus der Blick über Gestade und Meer, bis blauende Dünste wie ein Vorhang über einem zauberischen Schauspiel sich senkten.

Die morschen Kreuze der Schiffbrüchigen waren zum Teil niedergeweht und die namenlosen Grabstätten dem felsigen Erdboden gleich geworden. Statt der Blumen umwucherte sie Unkraut.

Bei jedem Besuch machte sich Scholastika daran, eines der trostlosen Gräber von Gestrüpp und Unkraut zu befreien und eine Fülle wilder Blumen darüber auszustreuen. Wenn dann das verlassene Grab einem bunten Teppich glich, so freute sie sich. Was sie bei dem frommen Werk immer von neuem bedrückte, war ein Gefühl, als vollzöge sie damit eine Buße.

Für welche Schuld?


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