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War es möglich, daß Scholastika das Heimweh hatte? Heimweh nach dem verschneiten grauen Hause an dem gefrorenen Alpsee? Heimweh nach der spießbürgerlichen dumpfen Luft des Elternhauses? Heimweh nach dem rauhen und häufig recht rohen Volk Oberbayerns? Heimweh auch – nach wem? Doch nicht etwa nach ihrem Jugendfreund und Vetter, dem Junker, der äußerlich sowohl wie innerlich den feinen Herren des galanten Frankreichs so wenig glich, von dem Grafen Honoré Charles von Roquebrune gar nicht zu reden. War es für eine Bewohnerin des Fürstenschlosses von Monaco möglich, Heimweh zu haben? Wenn Scholastika bisweilen derartigen Stimmungen erlag, so trugen daran die Lamentationen ihrer Kammerfrau die Schuld. Zenz war unglücklich, nicht nur über die verkehrte Welt, in welcher Sommer war, wo es doch Winter hätte sein müssen; fühlte sich unglücklich über die fürstliche Pracht, in der sie mit ihrer jungen Herrin lebte. Sie speiste mit der vornehmen Schloßdienerschaft, die Französisch sprach, was auf dem Seehof nur der Schorschl konnte. Man war gegen sie nicht gerade unhöflich, aber doch sehr von oben herab. Das welsche Wesen überhaupt – Welcher Christenmensch speiste am Abend zu Mittag? »Diner« hieß es. Für das »Diner« machte ihre Komtesse Toilette. Aber nur in den ersten Tagen zog sie das schöne weiße Seidenkleid an. Dann fuhr die Frau Gräfin mit ihrer Herrin nach einer Stadt, die Nizza hieß, zu einer Pariser Schneiderin und einer Pariser Modistin. Alsbald trafen neue Kleider und neue Hüte ein. Was wohl die Gräfin-Mutter dazu gesagt hätte? Und wie ihre Komtesse in den neuen Kleidern aussah! Ganz verändert! Freilich wunderschön, zehnmal schöner als die Gräfin von Roquebrune oder sonst eine der Damen, die auf das Schloß zu Besuch kamen. Ihre Komtesse wurde denn auch – Jean Baptiste machte es der Alten begreiflich – von allen höchlichst bewundert. Besonders von dem Herrn Grafen, der doch auf der Welt nur eine einzige Frau zu bewundern hatte, und das war seine eigene Frau Gräfin. Die Zenz ärgerte sich über diese Bewunderung; denn ihre Komtesse durfte nur von einem einzigen Mann bewundert werden: von dem Vetter Freiherrn Hanns Wolfram von Wagging. Das war ein Mann; ja, der!

Nur ein Hauch von Heimweh war's, an dem Scholastika litt, und das nur in den allerersten Tagen, herbeigeführt weniger durch die überwältigende Fremde, als durch den lauten Kummer der Alten. Als dieser endlich auf ihren Befehl verstummte, gab sie sich ganz den neuen Eindrücken hin. Ein Sonnenrausch war's in dem Sonnenlande, ein Frühlingstraum. Daß die Welt so wunderschön sein konnte! Aber in dieser Welt die Menschen – sie schienen die Schönheit überhaupt nicht zu sehen, geschweige zu fühlen. Es schien für sie nur das Vergnügen zu geben. Vergnügen nannten sie aber Zerstreuung und Aufregung, Eleganz und Luxus. Tag für Tag nichts andres als das Eine und Einzige. Dazu kamen Leidenschaft und – »Verhältnisse«. Leidenschaften auch des verheirateten Mannes für die Frau des andern, die oft die Frau des Freundes war.

Leidenschaften und Verhältnisse!

Was wußte Scholastika davon? Kein volles Jahr war sie von der Freundin getrennt gewesen, seit kaum einem Vierteljahr war diese Gattin geworden, und sie sprach von Leidenschaften und Verhältnissen wie von selbstverständlichen Dingen: auch von Verhältnissen verheirateter Männer mit Damen jener Gattung, wie sie Scholastika am Tage ihrer Ankunft gesehen und die ihr gleich beim ersten Anblick einen unheimlichen Eindruck gemacht hatten. Vollkommen harmlos sprach die Gräfin von Roquebrune in ihrer Gegenwart von dergleichen Dingen, anmutig plaudernd, lächelnd. Und es war doch dieselbe Yvonne, welche die nämliche Klostererziehung wie Scholastika erhalten hatte. Freilich hatte auch Scholastika gewisse Bücher und Dichtungen heimlich gelesen, jedoch ohne sie zu verstehen, nur mit einem Gefühl dumpfer Angst und unverständlicher Sehnsucht.

Das war es: die Sehnsucht, zu verstehen, die Sehnsucht, wissend zu werden ...

Yvonnes anmutige Plaudereien über dergleichen Dinge hörten plötzlich auf, als der Graf eines Tages zu bemerken glaubte, wie unbehaglich das junge Mädchen sich dabei fühlte. Fortan lenkte er selbst die Unterhaltung. Gleich in erster Stunde hatte er dem deutschen Gast das Kompliment gemacht, das Französische wie eine Pariserin zu sprechen. Gab es ein größeres Lob?

Lachend sagte die Gräfin zur Freundin: »Mein Mann ist wirklich komisch. Stelle dir vor, daß er mir verboten hat, in deiner Gegenwart von gewissen Dingen zu reden. Ganz ernsthaft hat er es mir verboten! Zu komisch, nicht wahr? Als ob du keine moderne junge Dame wärst? Als ob die Aufklärung über gewisse Dinge nicht sozusagen zu den Unterrichtsgegenständen der modernen Jugend gehörte? Als ob du nicht täglich mit eigenen Augen sähest – du brauchst dich nur eine Viertelstunde vor dem Kasino aufzuhalten oder einen Abend im Hotel de Paris zu verbringen, um mit eigenen Augen zu sehen. Aber auf höchsten Befehl soll ich dir gegenüber stumm bleiben. Halte deine Augen nur offen und im übrigen – deine Tugend, meine geliebte deutsche Sentimentale, steht so unerschütterlich fest, wie dort oben der Fels der Turbie.«

Und das Geschöpfchen, dessen Geplauder wie Vogelgezwitscher klang, umarmte die Unerschütterlich-Tugendhafte und deutsche Sentimentale unter silberhellem Gelächter. Dann huschte sie fort, das Parfüm ihres Haares und Gewandes zurücklassend. Als Scholastika nach diesem Gespräch mit der Freundin deren Gemahl wiedersah, traf den ritterlichen Herrn aus ihren großen ernsthaften Augen ein Blick freundlichen Dankes. Fortan bewegte sie sich in Gegenwart des Mannes, der von so zarter Empfindung war, um vieles ungezwungener. Sie wurde mit jedem Tag heiterer, ergab sich dem Zauber der sie umgebenden Erdenschönheit und Lebensfreude, ohne sich dagegen länger zu wehren. Nur mitunter überkam sie das Gefühl, daß ihr die Heimat zu entschwinden schien, gleichsam in unermeßliche Fernen entrückt. Das quälte sie anfangs. Allmählich hörte auch das auf ...

Dankbar hatte Scholastika den Grafen angesehen, mit einem tiefen Blick aus Augen, deren schwärzliches Blau mit ihrem goldig blonden Haar solchen pikanten Gegensatz bildete und ihrer etwas allzu ernsthaften Schönheit einen eigentümlichen Reiz verlieh. Dankbar war sie dem Gatten der Freundin für sein rücksichtsvolles Benehmen in Wahrheit und sie wunderte sich, daß der Graf dieses Zartgefühl gerade ihr gegenüber zeigte, und das mehr als selbst gegen seine junge Frau, in die er doch leidenschaftlich verliebt war. Verliebt? Nein, leidenschaftlich liebte er die Reizende! Seltsam, daß dieser Mann so viel von den Frauen geliebt worden war. Denn trotz seiner Ritterlichkeit ihr gegenüber glich der gefährliche Mann – ein solcher sollte er sein! – dem Bilde, welches sie sich in ihrer Einsamkeit von ihm gemacht hatte, nur in wenigen Zügen. Auch konnte sie den Blick nicht vergessen, mit dem er sie bei ihrer Ankunft angesehen, sie gewissermaßen gemustert hatte. Als sie zu Yvonne das ritterliche Benehmen des Grafen erwähnte, sah diese sie erstaunt an und sagte: »Wie sollte er anders sein? Ich schrieb dir ja doch, daß der Graf wegen seiner unwiderstehlichen Art sogar in Paris berühmt sei. Stelle dir vor, was das heißt: sogar in Paris! Aber das kannst du dir nicht vorstellen. Und ich schrieb dir, daß sich mein Herr Gemahl in dich verlieben würde, ernstlich verlieben! Aus dem Grunde ernstlich, weil du so ganz anders bist als wir leichtsinnigen, hübschen Geschöpfe. Natürlich geschah es, wie ich voraussagte. Genau so geschah es.«

»Aber Yvonne!«

»Was denn? Ich bin nicht eifersüchtig. Auch dann nicht, wenn auch du dich in ihn verlieben solltest. Wir Pariserinnen, meine Liebe, müssen uns beizeiten die Eifersucht abgewöhnen. Unsre Herren Ehemänner selbst gewöhnen sie uns ab. Was mich betrifft, so bin ich eine gelehrige Schülerin, war es schon vor meiner Heirat ... Starre mich nicht so entsetzt an! Wie du siehst, kann ich bei der Lektion: wie aus einer klugen reizenden jungen Dame eine kluge reizende Gattin ward, ein sehr heiteres Gesicht machen ... Bitte, keinen Ausbruch von Gefühl! Ich bin eine durchaus glückliche Gattin. Und wenn in der Ehe manches anders ist, als wir Unschuldslämmer uns träumen, so können wir es eben nicht ändern und wären Närrinnen, wollten wir deswegen den Kopf hängen lassen und Trübsal blasen. Fällt uns gar nicht ein! ... Heute abend fahren wir nach Beaulieu und speisen in der ›Reserve‹ Bouillabaisse. Dazu spielen die Zigeuner. Einfach berückend, sage ich dir.«

Der Graf in sie verliebt! Ernstlich in sie verliebt! Der Gatte ihrer Freundin, deren Gast sie war und die nicht eifersüchtig war, weil ihr die Eifersucht von ihrem Mann abgewöhnt wurde, und das schon jetzt, kaum vermählt. War dergleichen möglich? Freilich hatte es Yvonne im Scherz gesagt; aber der Scherz war häßlich. Leichtfertig hatte Yvonne die Pariserinnen und sich selbst genannt. Im Scherz natürlich! Nicht ihr Wesen war leichtsinnig, sondern nur ihr Gerede. Es klang zwar sehr anmutig, aber sie nahm sich doch vor, Yvonne zu bitten, mit ihr nicht mehr so – anmutig zu plaudern ...

Jeden Morgen wurde von dem jungen Hauskaplan in der prachtvollen, mit Stuck und Vergoldungen überladenen Schloßkapelle Messe gelesen. Jeden frühen Morgen stand das Ehepaar auf, um mit Gästen und Dienerschaft dem Hochamt beizuwohnen. Für Scholastika war die heiße Inbrunst, mit welcher ihre Wirte dem Mysterium sich hingaben, ein Gegenstand stets neuen Staunens. Wie konnte der Mensch so fromm sein und zugleich so weltlich? Denn der Graf war ein berühmter, um nicht zu sagen berüchtigter Lebemann; die Gräfin, obgleich in klösterlicher Anstalt erzogen und soeben erst ins Leben getreten, hatte bereits Ansichten über die höchsten Dinge, die Scholastika nicht verstand, die ihr Furcht einflößten, Furcht vor etwas Unbekanntem, Gefahrdrohendem. Dieses Unheimliche empfand sie anfangs in allem, was sie umgab. Und sie merkte es kaum, daß sie sich allmählich daran gewöhnte, daß es aufhörte, für sie unheimlich zu sein.

Auch die Beichte nahm der junge, elegante Geistliche den Herrschaften ab. Was Scholastika betraf, so hätte sie dem Ehrwürdigsten nicht die geringste Sünde bekennen können. Überhaupt – das Christentum im Fürstentum Monaco mit der Spielbank in Monte Carlo! Unterhalb der Tête de Chien sollte sich der Friedhof der Selbstmörder befinden, tief verborgen und versteckt, eine trostlose Stätte ungeweihter Erde, darüber sich der rote Fels wie ein mit Blut bespritztes gewaltiges Grabmal anklagend gen Himmel erhob. Auch gab es zwischen Monte Carlo und dem benachbarten Condamine einen überbrückten grauenvollen Abgrund, in den hinab die Opfer des Spiels sich stürzen sollten.

Und dann Kirchen und Priester im Fürstentum Monaco! Der gekreuzigte Heiland hätte sterbend sein dornengekröntes Haupt von diesem irdischen Paradiese abwenden und der Wein im Kelch, den der Priester am Altar zu Christi Gedächtnis über der Gemeinde erhob, sich in Blut wandeln müssen.

Aber nicht in das göttliche Blut, welches für eine solche Welt und eine solche Menschheit vergeblich geflossen war.


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