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Einem Sommer, der in jenem Teile des Deutschen Reichs Scheuern des Landmanns mit Getreide, dem täglichen Brot der Menschen, füllte, folgte ein strahlender Herbst. Auf den Wiesen blühten violette und blaue Federgenzianen und an feuchten Stellen entstanden die Beete der Zeitlosen, diese zartesten Blüten des Jahres, die das Nahen des Winters ankündigten, so wie der Krokus die Botschaft bringt, Mutter Erde sei vom Wintertode erstanden.

Purpurfarbene, scharlachrote, goldfarbene Laubfluten stürzten sich die Hügelwellen der Vorberge nieder und hüllten sie in Königsfarbe. Aus dem Dunkel der Tannen schlugen die Flammen der Lärchenbäume gleich lodernden Fanalen empor; über den bunten Wäldern umglänzte Neuschnee die Gipfel. Sie entbrannten im Morgenrot und der Sonnenuntergang entzündete sie aufs neue.

Von den Alpen wurde das Vieh abgetrieben. Diejenigen Herden, denen kein Unglück widerfahren, glichen geschmückten Opferzügen. Leitkuh und Stier trugen vergoldete Masken und schritten hochmütig voraus. Immergrünes Alpenrosenkraut, mit Rosetten aus buntgefärbten Holzspänen verziert, kränzte das Jungvieh, und kleine Tännchen, glitzernd von Schaumgold, waren zwischen den Hörnern befestigt. Trotz des hellen Glockengeläuts war es ein wehmütiges Fest: Abschied vom Sommer, Heimkehr in die Ställe. Wenn auch die Herden bis zum Eintritt des Frosts die Wiesen abweideten, war die Heimkehr doch traurig. Denn es ward Winter.

Dichte Nebel hüllten jede Höhe, füllten jede Tiefe. Sie wälzten sich durch die Schluchten, wallten auf und ab, lagerten schwer über dem Lande. Unmöglich konnte der Himmel je wieder blau werden, die Sonne je wieder scheinen. Unmöglich konnte je wieder Frühling sein, der Mensch je wieder in heller Lebensfreude sein Glück hinausjubeln in eine leuchtende Welt ...

Über den Freiherrn hatte der graue Nebelgeist freilich keine Macht. Er besaß dagegen einen Talisman: die Arbeit! Es gab mehr zu tun, als er bewältigen konnte. Besonders in den Wäldern, die um diese Jahreszeit durchforstet werden mußten, durften ohne seine Erlaubnis seine Beamten keine Tanne fällen. Zur Arbeit gesellte sich die Lust des Jägers. Die Hirsche schrien; Rehbock und Gems wurde nachgestiegen, Dachs und Fuchs wurden erlegt.

Trübe aber war's im Seehof. Schier gespenstisch erhob sich das graue Gemäuer aus einer Nebelflut, unter dem von Gewölk umbrauten Gebirge. So währte es Wochen und Wochen.

Eigentlich sollte die Familie nach München übersiedeln und ihr Palais in der Brienner Straße beziehen. Eigentlich hätte die Komtesse den Majestäten vorgestellt und in die Welt eingeführt werden müssen. Aber das alte Haus war so behaglich durchwärmt, die Köchin des Seehofs eine solche Meisterin ländlicher Kochkunst, der echt oberbayrischen, fetten, die Übersiedlung so mühsam, ebenso die Vorstellung bei Hof, das Einschreiben und die Audienzen bei den Prinzessinnen, die Besuche bei Verwandten und Bekannten, die Diners und Soupers, die Abendempfänge. Und erst die Bälle! Die Eltern mußten das Töchterlein auf Bälle führen, mußten selbst Empfänge veranstalten, selbst Bälle geben, eine Aussicht, die den beiden Behaglichen allen Appetit verdarb. Schließlich war es auch nächsten Winter immer noch Zeit genug, um die Heimgekehrte auszuführen.

Das Töchterlein war nun zwar eine ausgewachsene junge Dame, hoch und schlank, fein und schön, für den Vetter Freiherrn auf seinem Bergschloß eigentlich viel zu fein – wie Hanns Wolfram bisweilen selbst denken mußte. Nur daß seine Liebe kraftvoll genug war, zu hoffen, einst auch die viel zu Feine sich zu eigen zu machen. Die Zeit, wo sie sein Bräutchen werden würde, mußte sicher kommen, gerade so sicher, wie es wieder Frühling werden mußte.

Inzwischen las Scholastika in ihrem Kinderzimmer französische Romane, schrieb französische Briefe und empfing solche. Jeden Tag schrieb sie an die Herzensfreundin in Paris, an die kleine entzückende anmutige Yvonne d'Yvray. Die Briefe von dieser waren weniger häufig: war doch das Fräulein in die Pariser Welt eingeführt worden, in die große Welt von Paris! Was das hieß, davon konnte sich die Entfernte keinen Begriff machen, die Gute, Liebe, Arme! Yvonne bemühte sich, der in Verbannung Lebenden von der Herrlichkeit der Hauptstadt Frankreichs, die der Welt die Kultur geschenkt, einen Begriff zu geben. Es funkelte und flimmerte in den Briefen aus Paris, daß es die Augen der Einsamen blendete, Augen und Seele! Es war ein Schillern und Schimmern, ein Glanz und eine Glorie, daß die Empfängerin solcher Schilderungen die Augen schloß, um die Nebelfluten um sie her, die Dunkelheit und Öde des Hauses nicht sehen zu müssen. Schlimm genug, daß sie sie fühlte.

Paris, das Leben in Paris. Es war – eben Leben! Wonne des Lebens war's! Der Mensch, der in Paris lebte, wurde nicht erst nach seinem Tode selig; hatte er doch schon im Leben alle Glückseligkeiten genossen.

Man machte Yvonne den Hof. Die Freundin in Deutschland konnte sich nicht vorstellen, mit welcher Leidenschaftlichkeit ihr der Hof gemacht wurde und wie entzückend das war, sich den Hof machen zu lassen. In dieser Kunst waren die Pariser Meister. Meister in der Galanterie waren sie überhaupt. Von welcher Eleganz und Grazie sie waren, von welcher Unwiderstehlichkeit! Wie sollte Yvonne dem »Liebling« – das war Scholastikas Kosename – davon eine Vorstellung geben? Sie mußte es selbst erleben. Da war der Graf Soundso, der Marquis X., der Herr von V. und noch viele andre, die Yvonne d'Yvray umschwärmten wie Falter eine Blume. Bis vor kurzem war diese noch Knospe gewesen. In der Pariser Sonne, unter den Strahlen des Pariser Lebens, hatte sich die Knospe erschlossen, gleichsam über Nacht zur Blüte entfaltet, zur vollen, duftenden.

Jeder der eleganten und – ach! so galanten Herren wurde dem Liebling genau beschrieben. Da war besonders einer, der Bezauberndste, Berückendste, Unwiderstehlichste von allen. Dabei von einer Eleganz – Wäre der junge Herr aus Troja, welcher seinerzeit der Venus den Apfel reichte und dem als Lohn die Schönste der Schönen sich neigte, ein Pariser gewesen, so hätte die gute liebe arme Scholastika von jenem einen sich ein Bild machen können. Sie sollte sich Held Paris in Gottes Namen als geborenen Pariser vorstellen. Vielleicht, daß das Bild der Wirklichkeit nahekam.

Dieser Eine und Einzige hieß Honoré Charles Graf von Roquebrune und war ein leiblicher Neffe des Fürsten von Monaco; stammte daher gleichfalls aus dem Hause der Grimaldi. Ob die gute liebe arme Scholastika wisse, was es bedeute, aus dem Hause der Grimaldi zu stammen? Da sie davon sicher keine Ahnung besaß, sollte sie im Konversationslexikon nachschlagen. Inzwischen möge sie erfahren, daß es darum etwas Großes sei, einen Grimaldi zum Ahnherrn zu haben. Was nun den Grafen von Roquebrune betreffe, so müsse der Liebling ihn kennen lernen, um zu verstehen – Seine Unwiderstehlichkeit nämlich.

Und wahrhaftig! Gehorsam begab sich Scholastika in die Bibliothek, dem trübseligsten Raum im Seehof, von dem jetzt lebenden Geschlecht kaum jemals betreten, um bewußtes Lexikon zu suchen. Sie fand auch eine Reihe verstaubter Bände: Pierers Universallexikon, erste Auflage. Sie nahm den Band dreizehn: »Metternich – Ostindien« und las in der Geschichte des Fürstentums Monaco: »Kaiser Otto der Erste soll im Jahre 968 das Fürstentum Monaco zugunsten der Familie Grimaldi gegründet haben.«

Jetzt war sie belehrt. Also bereits im zehnten Jahrhundert gab es ein Haus der Grimaldi, und aus diesem Hause stammte der Unwiderstehliche, Honoré Charles mit Namen. Das Lexikon besagte ferner: Honoré sei ein Familienname der Grimaldi. Die Begeisterung, mit welcher die Freundin von diesem einen Honoré sprach, ließ darauf schließen, daß Yvonne in nicht allzu ferner Zeit Gräfin von Roquebrune werden würde, dann auch sie ein Mitglied des Hauses der Grimaldi!

Nicht ohne leise Wehmut wünschte Scholastika der geliebten Freundin schon jetzt alles erdenkliche Glück: diese selbst würde ihr dann wohl verloren sein. Einige Zeit würde man sich noch schreiben, allmählich weniger und weniger, bis schließlich – eben der Schluß kam. So war es das Gewöhnliche.

Und ihre eigene Zukunft?

Grau, wie draußen der Nebeltag, lag sie vor dem jungen Mädchen. Dabei fühlte sie einen unwiderstehlichen Drang nach Leben und Lebensfreude. War das ihre Schuld? Gewiß. Also beichtete sie ihre Schuld dem guten geistlichen Herrn, der sie frei von Schuld sprach. Dennoch fühlte sie sich nicht befreit und büßte im geheimen dafür.

Was war bisher ihr Leben gewesen?

Eine kurze Kinderzeit im Elternhause, eine strenge Klostererziehung, der die Jahre in Brüssel folgten: Jahre, die sie lehrten, daß das Leben lachen und leuchten kann. Nach der Rückkehr in das ihr fremd gewordene Elternhaus, in die ihr fremd gewordene Heimat, schien ihr das Lachen des Lebens verstummt, sein Leuchten erloschen. Daß es ihr so schien, fühlte sie als Schuld. Und als Schuld fühlte sie ihre Sehnsucht nach etwas Fernem, Lockendem, Leuchtendem.

Vetter Hanns Wolfram –

Als sie noch ein Kind und er ein großer Junge war, hatte er sie, halb im Spiel, sein Bräutlein genannt. Aus dem Spiel ward Ernst, aus der Liebe des Jünglings die Liebe des Mannes, der ein guter Mensch war. Das fühlte sie, und dennoch –

Auch dieser Schuld: daß sie den guten Menschen nicht wieder liebte, klagte sie sich an.


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