Hermine Villinger
Aus meiner Heimat
Hermine Villinger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der weise Salomon.

Im Jahre 1855 umfaßte der Amtsbezirk B. im oberen Schwarzwald 13 978 Einwohner und einen Israeliten. Fast zum alten Mann war er geworden, bis er's erreicht, zur Gemeinde gezählt zu werden. In jungen Jahren hatte Salomon das Hausieren mit seinem Vater getrieben, dessen einziges Sinnen und Trachten dahinausging, in einem der kleinen Thalorte das Heimatsrecht zu erlangen. Gerade auf die gesegnetste Ortschaft des Bezirks hatte es der alte Hausierer abgesehen, allwo die Bauern nicht nur keine Abgaben zu zahlen hatten, sondern sich jeder sein Holz umsonst aus dem Wald holen durfte, ein Stück Wiesenlandes zum Abmähen erhielt und zu Neujahr zwölf Gulden aus der Gemeindekasse. Allein hier ebensowenig als in den übrigen Dörfern des Bezirks wollte man den Juden haben, welcher, mit zäher Kraft an seinem Ziele festhaltend, nicht aufhörte, zu bitten und betteln, bis ihn der Tod eines Tages auf seiner Wanderschaft ereilte. Salomon fuhr den Vater in ein entferntes Städtchen, allwo den Juden eine Ecke in der Muttererde angewiesen war, und trieb alsdann das Geschäft allein weiter. Er trug ein Ziegenbärtchen, und wenn 143 er lachte, nahm sein Mund von der ganzen Breite seines Gesichtes Besitz, was ihn durchaus nicht verschönerte; nichtsdestoweniger hörte er nie auf, zu lächeln, um die Menschen für sich einzunehmen; denn was der Vater nicht erreicht, wollte er erreichen. Also wanderte er von Ort zu Ort, handelte mit seinen Spitzen, Broschen und Schmucknadeln und kehrte bei den Bürgermeistern ein, um es ihnen mit demütiger Beredsamkeit plausibel zu machen, daß er doch auch ein Mensch sei, also lieber in der Gemeinschaft mit Menschen, als abseits in einem Hüttlein hause, das weder zum Dorfe rechts, noch zum Dorfe links gehöre. Indes mit der Zeit wurde die Zungenfertigkeit des nie von seinem Thema ablassenden Juden den Herren Bürgermeistern zuwider, und keiner ließ sich mehr in der Wirtsstube blicken, sobald der Hausierer erschien. Nur einer machte eine Ausnahme – just der Bürgermeister des gesegneten Thales; er hatte so viel Zeit übrig; die Leute seiner Gemeinde machten ihm wenig zu schaffen, indem sie fröhlich und behaglich dahin lebten, den lieben Gott einen guten Mann sein ließen und schließlich mit Fettbäuchlein aus der Welt schieden. Also war dem Bürgermeister die Ankunft des Hausierers allemal eine willkommene Zerstreuung; es nahm ihn wunder, was er Neues vorbringen mochte, und obgleich er auf Salomons Bitten stets die gleiche Antwort gab: »Jud', das rührt mich nit,« so war sein Herz doch von warmer Liebe für seine Mitmenschen erfüllt, deren ganze Zuneigung er besaß. Nur war der Jude für die Ortsbewohner eben kein Mitmensch; es wurde ihm noch zu lebhaft nachgetragen, daß er den Heiland ans Kreuz 144 geschlagen, und wer's ihn büßen lassen konnte, der that's. Und der Bürgermeister ragte durchaus nicht über die Anschauung seiner Zeit hinaus; er blieb, so oft ihm der Jude etwas vorlamentierte, gerade so ungerührt, wie's vor nicht zwei Jahrhunderten die Herren Richter angesichts der ihre Unschuld beteuernden Hexen geblieben waren. Wenn jedoch ein paar Tage über die Zeit hingingen, in der Salomon zu erscheinen pflegte, streckte der Bürgermeister alle Augenblick den Kopf zum Fenster seiner Wirtsstube hinaus, ungeduldig vor sich hin murmelnd: »Wo bleibt er denn, der Maulaff', das Fratzengesicht, der Judassohn?«

Mit derselben Sehnsucht war er auch heute wieder erwartet worden. Freilich, als Salomon eintrat, zaghaft, mit gekrümmtem Rücken, that der Bürgermeister ganz so, als käme ihm nichts auf der Welt ungelegener.

»Potz Hagel und Stroh, da ist Er ja schon wieder, ja, was will Er denn, glaubt Er vielleicht, ich hab' nichts zu thun, als Seine Jeremiaden anzuhören! Er denkt wohl gar, ich sei ganz allein für Ihn auf der Welt!«

»Nichts denk' ich,« versicherte Salomon, beteuernd die Hand aufs Herz legend, »wo werd' ich mir erlauben, was zu denken, wenn's dem Herrn Bürgermeister kommt ungelegen.«

»Ungelegen kommt mir der ganze Kerl,« fuhr ihm jener ins Wort, »Tagedieb, Er, mit der geschmierten Zung' 'raus, 'raus, und mach' Er's kurz, was in des Teufels Namen hat er sich schon wieder ausgesonnen?«

145 Salomon schluckte ein paarmal; seine sonst blassen Wangen waren heute gerötet, seine Augen glitzerten.

»Mag es der Herr Bürgermeister nicht übel nehmen, weil es steht geschrieben in der heiligen Schrift: ›Es is' nicht gut, daß der Mensch allein sei‹, und also hab' ich mich umgethan und hab' sie gefunden, schön is sie auch und sparsam, daß es eine Lust wär', zu führen 'ne Wirtschaft und Kinder zu erziehen in der Furcht vor Gott und vor allzu großen Unkosten, mit einem Lädchen, auf daß die geehrte Einwohnerschaft hätt' ihre Freud' an der prächtigen Auslag' und Billigkeit der War', 's fehlt nur die Ortschaft.«

»Was der Kerl für Geschichten erzählt,« fuhr der Bürgermeister auf, der nie gröber that, als wenn er sich innerlich recht ergötzte, »und da soll man hinstehen und eine Geduld haben wie der heilige Hiob, als ob einem die Popp was anging! Ei, so heirat' Er sie doch, und zieh' Er in Gottes Namen nach Jerusalem, und lass' Er uns fürderhin ungeschoren!«

Salomon schüttelte das Haupt. »Mein Geschäft lass' ich nicht, nicht daß ich mir's erlaub', zu hoffen, oder gedenk' zu verdienen die Ehr' mir zu gründen 'ne Heimat in einer Gemeind' von so großem Ruf, ich spekulier' auf was andres als auf meinen Unwert, ich spekulier' auf die christliche Barmherzigkeit; denn wär's nicht 'ne herrliche Gelegenheit der Barmherzigkeit, einem Ausgestoßenen zu sagen: Gehör' zur Gemeind' und sei 'n gemachter Mann!«

»Das glaub' ich,« lachte der Bürgermeister, »aber das rührt mich nit, wir wollen ebensowenig einen Pfarrer 146 als einen Juden im Ort haben; mag der eine des Sonntags 'rüber kommen und predigen, der andere sein Lädlein durchs Dorf tragen, das ist unsere Meinung, Punktum, Jud'.«

Und Salomon verneigte sich und schob sich mit seinem sich immer gleichbleibenden Lächeln rückwärts zur Thüre hinaus, »nichts für ungut, nichts für ungut« murmelnd.

Aber so schweren Herzens wie diesmal hatte er noch nie des Bürgermeisters Schwelle überschritten; er mußte nun der Braut das Warten plausibel machen, und sie war ein junges eigensinniges Mädchen, das durchaus wollte, daß er sich in ihrem Vaterstädtchen niederließ. Den langen Kampf endigte er mit der Erklärung: »Von meinem Geschäft lass' ich nicht, solang ich leb' –« und sie: »Und ich wart' nicht länger als ein Jahr.«

Das Jahr ging herum, auch ein zweites, drittes und viertes.

Die beiden handelten noch immer miteinander:

»Salomon, ich wart' nimmer.«

»Ich rat' dir, wart', sonst reu't dich's.«

Und die frischen Wangen des Mädchens blaßten allmählich ab, ihre Jugend schwand dahin, und es fing an, ein wenig lächerlich zu werden, sie noch immer behaupten zu hören: »Salomon, ich wart' nimmer.«

Er aber fuhr mit heiligem Eifer fort, sie mit den denkbar triftigsten Gründen zu beruhigen, sich bald bei ihr, bald bei dem Bürgermeister in Beredsamkeit erschöpfend; auf seinen Wanderungen aber suchte er die Beweise zusammen, welche das Herz des Bürgermeisters 147 zu seinen Gunsten, das der Braut zum Warten bewegen sollten.

An einem schönen, warmen Frühlingstag war's, als Salomon zum erstenmal ein Gefühl von Müdigkeit auf seinen Wanderungen befiel. Also ließ er sich nieder am Ufer eines kleinen Weihers, drin sich die Sonne spiegelte. Und Salomon blickte in das stille Gewässer; plötzlich riß er die Augen weit auf, fuhr zurück, schaute wieder hinein, schaute von rechts, schaute von links, – keine Täuschung – sein Ziegenbärtchen war grau.

»Gott der Herr!« stöhnte er auf, »ich bin geworden ein alter Mann und hab's nicht gemerkt.«

Als er gegen Abend im Ort ankam, schritt er einher wie ein müder, hoffnungsloser Greis; aus alter Gewohnheit lenkte er die Schritte nach dem Wohnhaus des Bürgermeisters, blieb jedoch plötzlich stehen, die Worte murmelnd: »Was nutzt's? – was hat's genutzt? –« kaum hatte er jedoch ein paar Schritte weiter gethan, reute es ihn wieder, und er kehrte um. Dies wiederholte er etliche Male, und der Hund des Bürgermeisters saß vor der Hausthüre und beobachtete des Juden Gebaren mit kritisch argwöhnischem Blick. Dieser Hund, ein häßliches, bösartiges Tier, war der Schrecken des ganzen Ortes; da jedoch der Bürgermeister viel auf seinen ruppigen Köter hielt, so duldete man diesen in Gottes Namen und hütete sich, in seine Nähe zu kommen.

Als Salomon eben zum viertenmal zum Haus zurückkehrte, war auch der Hund zu einem Entschluß gekommen, sprang auf den Hausierer los, riß ihm den Rock vom Leib und zerfetzte ihm die Hose. Salomon 148 schrie laut auf, worauf der Bürgermeister am Fenster erschien und den Hund voll Zorn hereinrief. Kopfhängend verfügte sich das Tier ins Haus und kauerte sich demütig zu den Füßen seines Herrn nieder; Salomon war ihm gefolgt.

»Was hast du gemacht?« fuhr der Bürgermeister seinen Hund an, indem er ihm einen Tritt versetzte, »muß ich denn alle Tage eine Schandthat von dir hören!«

»Er is' ein Glückspilz,« meinte Salomon, mit seinem halb lustigen, halb rührenden Lächeln nach dem Hunde blickend, »er is' kein Jud' – also darf er getrost die Leut' beißen, ihre Kleider zerfetzen, ihre Haut schürfen und ihre Gäns' und Kinder verjagen – ich – muß mich ducken und bücken, und wenn auf mich niederprasselt der Hohn und Schimpf wie Hagelkörner, ich darf mir nicht erlauben zu schreien – au! Ich hab' die Mütz' aufzuheben, die der Krüppel vom Dorf vor mich hinwirft und mich klein zu stellen vor ihm – dafür bin ich ein Jud'! – Wenn der Hund aber draußen steht und is' ausgeschlossen aus Versehen, und es bricht ein die Nacht, daß er winselt und heult und an der Thür scharrt – steht nicht auf der Knecht oder die Magd, die Frau oder gar der Herr Bürgermeister selbst, um dem Hund zu öffnen das Thor? – Wenn aber ich winsle und klopfe – ein heimatloser Mann – und ruf' fast ein halb Jahrhundert lang: ›Macht mir auf – laßt mich eintreten in die Gemeinschaft der Menschen!‹ – wer steht auf, um mich einzulassen? Der Knecht nicht und die Magd nicht – und die Frau und der Herr 149 Bürgermeister auch nicht – weil ich bin ein Jud'! – Is' er nicht ein Glückspilz, der Hund?«

Salomon hatte gesprochen, ohne die Stimme zu erhöhen und schaute jetzt den Bürgermeister mit dem alten demutsvollen Lächeln an. Dieser hatte sich in all den Jahren nie Gedanken gemacht über den Jammer des Juden; in dieser einen Stunde jedoch fiel's ihm wie Schuppen von den Augen, und er sah mit Entsetzen in einen Abgrund schreienden Elends, schreiender Ungerechtigkeit.

»In des Teufels Namen,« wütete er gegen seine eigene Ergriffenheit, »warum habt ihr aber auch den Heiland ans Kreuz geschlagen?«

»Habt ihr keinen gekreuzigt, keinen gehängt, verbrennt und gesteinigt, der eueres Glaubens nicht war?« fragte der Jude, »aber ich bin überzeugt, Herr Bürgermeister, Sie können nichts dafür.«

»Er ist ein verdammter Kerl,« brauste der Bürgermeister auf, »ich – bei Gott, ich schwör's Ihm zu, Er soll herein in die Gemeind', und ich bin der Mann, der Ihm die Thür aufmacht.«

Da schwand das gewaltsame Lächeln von des Juden Angesicht und sich weit vorbeugend, mit zitternd ausgestreckten Händen und bebenden Lippen that er die Frage: »Is' es wahr?«

Der Bürgermeister schlug auf den Tisch: »Glaubt Er vielleicht, ich bin ein Unmensch – hinaus mit Ihm – verbitt' mir jeden Dank, alles Gewinsel, Geheul und Gegrein – will Ihm zeigen, was ein ordentlicher Christ ist – potz Wetter – ›ist's wahr?‹ fragt der Jud'! – ich hab' schon einmal gesagt, es ist was gut, wenn's schlecht 150 war? – Das ist Seine Sach' – und dort ist die Thür'.«

Salomon taumelte hinaus; er schwankte über die Gasse, daß jeder ihn für betrunken hielt und laut lachte; er aber sang unter Schluchzen, in gebrochenen Jubeltönen:

»Halleluja! Lobet Gott, den Herrn!
Lobet Gott in seinem Heiligtum, lobet Gott in der Feste seiner Macht!
Lobet ihn nach seiner Wunderkraft, lobet in nach seiner vollen Größe!
Lobet ihn mit Posaunenklang, lobet ihn mit Harf' und Zither,
Lobet ihn mit Pauk' und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Schalmeien!
Lobet ihn mit klingendem Geläute; lobet ihn mit klingendem Schalle!
Alles, was nur Odem hat, das lobe Gott! Halleluja!
Alles, was nur Odem hat, das lobe Gott! Halleluja!« 151

 


 


 << zurück weiter >>