Hermine Villinger
Aus meiner Heimat
Hermine Villinger

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Die Bettler ums Himmelsbrot.

In einer Gasse der Hauptstadt stießen zwei Menschen, rechts und links um die Ecke biegend, aufeinander und schüttelten sich die Hände.

»Bei Gott,« rief der eine, »so kann nur Peter Renk die Augen zusammendrücken – im übrigen aber hast du dich – Donnerwetter –«

»Glückspilz,« unterbrach ihn der andere, »Professor an der Universität – Afrikareisender – und wahrhaftig noch das alte Bubengesicht zwischen der blonden Mähne – ja, ja, mein lieber Hans, Glück muß der Mensch haben! Ich trug unterdessen meine Jugendhoffnungen hübsch zu Grabe und hab's zum Bibliothekar an der Volksbibliothek gebracht.«

Hans nahm den bitter Auflachenden beim Arm: »Ich begleite dich – und nun erzähle, alter Peter.«

Der war in großer Verlegenheit: »Nun – du weißt – mein Vater – jeden Kreuzer rackerte er zusammen – nährten uns jahrelang von nichts als Brot und Wurst – und Wurst und Brot – alles fürs Studieren – ja, prost! starb weg, der alte Mann – und nach elendem Hungern, Mühseligkeiten aller Art, wurde mir durch Vermittelung eines Schulkameraden 84 die Stelle angeboten, die ich nun bald zwölf Jahre inne habe.«

»Und deine Mutter,« fragte der andere.

»Starb – an meinen verfehlten Hoffnungen. – Ja, manchmal hätte wohl einer das Zeug, sich aus der Niederung zu erheben – aber die Verhältnisse! – Wohne jetzt hinter der Bibliothek im Hof – drei Treppen, bei einer alten Frau, die mir kocht und wäscht.«

»Also nicht verheiratet?«

»Gott soll mich bewahren, das fehlte noch, hab' das sorgenvolle Dasein satt, lebe jetzt recht zufrieden – in Ruhe und Behagen, kann mich satt essen und leg' sogar noch was zurück.«

»Peter,« sagte der Professor, indem er kopfschüttelnd vor sich nieder sah, »du hast dich sehr verändert.«

»Nun, natürlich – natürlich,« meinte der andere, »der schöne Ehrgeiz, und was man sonst in der Jugend fühlt, sind Dinge, die nichts einbringen – aber komm' mit herein, hier ist meine Bibliothek; ich muß sie des Sonntags zeitig öffnen, sonst brummen meine Leser.«

Sie traten ein, und es währte in der That kaum ein paar Minuten, kam ein Mann nach dem anderen, holte sich eine Zeitung oder bat um ein Buch und verfügte sich damit in das große, luftige Lesezimmer nebenan. – Der Professor hatte auf dem Tisch Platz genommen, und mit den Beinen baumelnd, ließ er den Blick über die Leser schweifen, die mit den Ellenbogen über ihren Büchern und Zeitungen lagen, fast lauter gefurchte Stirnen, arbeitsmüde Züge. Der Bibliothekar fuhr unterdessen einen Menschen an, der 85 sein Buch in üblem Zustand zurückgebracht, machte sich überaus wichtig und gab sich die erdenklichste Mühe, den Freund von der Größe seiner Macht zu überzeugen. Da ging die Thüre auf und herein stampfte eine dicke, kleine, gesundheitsstrotzende Frau, der ein ungefähr achtzehnjähriger, höchst verlegener Bursche auf dem Fuße folgte.

»Schön guten Morgen,« keuchte sie, atemlos vom raschen Gehen, »empfehle mich den Herren, bin Wäscherin meines Zeichens und muß in Gottes Namen heut' meine Kirch' opfern, denn die Wege sind weit und die Beine kurz, und der Bub' da liegt mir nun schon drei Wochen ununterbrochen in den Ohren, ich soll mit hergehen und ihm das Büchl kaufen –›Michel Kohlhaas‹ heißt der Kerl, und weiß der Teufel, was er für einen Narren an ihm gefressen; aber ich bitt' Sie, er nimmt das Büchl mit ins Bett und will nicht davon lassen, und was thut eine Mutter nicht für ihr Kind, obwohl ich noch drei andere hab' und mir unnötige Ausgaben weh thun, denn das weiß der liebe Himmel, 's Leben ist teuer, als hätt' man sich drum gerissen, aber der Bub' soll das Büchl haben, denn ich bitt' Sie, eine Freud' ist eine Freud', und was hat denn der Mensch sonst auf der Welt als Plag, und darum kurz und gut – was kost's?«

»Ja, liebe Frau,« sagte der Bibliothekar, »das Buch müßt Ihr wo anders kaufen, Ihr kriegt's da linker Hand um die Ecke –«

»Was,« fuhren ihm Mutter und Sohn in die Rede und machten so lange Gesichter, als sei ihnen damit 86 alle Hoffnung benommen, das teure Buch zu besitzen. Der Professor nahm es seinem Jugendfreund aus der Hand.

»Wenn euch aber gerade das lieb ist, so sollt ihr's auch haben, ich werde schon sorgen, daß ein neues Exemplar in die Bibliothek kommt, und den Beutel lassen Sie ruhig stecken, gute Frau, es macht mir Freude, das Buch dem jungen Mann zu schenken, und will er was Neues haben, so wende er sich nur unverzagt an den Herrn da, denn der ist zum Helfen und Raten auf diesen Posten gestellt.«

Nun war eine Sekunde lang nichts zu hören, als das laute Atemholen des überraschten Burschen, dann streckte die Frau ihre vom Waschen rote Hand aus dem Umschlagetuch hervor und schüttelte die Rechte des Professors mit festem Druck: »Sie müssen auch guter Leute Kind sein – Sie wissen, was es heißt, eine Freud' machen, Sie haben's Herz, den Blick und die rechten Worte dazu – Sie braucht man nicht zu segnen, Sie sind schon gesegnet – gieb die Hand Bub',« wandte sie sich an den großen Burschen; der that's, und im nächsten Augenblick waren sie zur Thüre draußen. Dem Bibliothekar schnürte etwas die Kehle zusammen; er brummte vor sich hin, und platzte endlich mit der Bemerkung heraus: »Das könnte dir wohl Spaß machen, ja wohl, so meine ganze Bibliothek wegzuschenken – verrückter Kerl, der du immer warst.«

Hans kam mit einem Sprung über den Tisch, er packte den Schulkameraden beim Rockkragen: »Mensch, Mensch, knausere nicht am Himmelsbrot, das dir zum Verteilen in die Hände gegeben ist – alter Peter, du 87 kannst an diesen hier zum Herrgott werden und diesmal hängt's nur von dir ab, die beneidenswerteste Höhe zu gewinnen.« –

Er stülpte den Hut auf den Kopf und rannte davon.

Peter starrte ihm nach. »Noch ganz wie früher – ganz wie früher.« –

Ein Seufzer entstieg seiner Brust; er nahm mechanisch Bücher entgegen, holte andere herbei und schrieb Nummern ein, aber zwischen den Gestalten, die kamen und gingen, tauchten plötzlich allerlei Gesichter aus vergangenen Zeiten auf, und es war, als mahnten sie ihn: Auch du hast einmal hochherzig gedacht und empfunden und an deines Freundes Seite für alles Edle, Große und Gute geschwärmt. – Er schüttelte den Kopf und beugte sich nieder auf die weißen Seiten seines Buches, allein die Zahlen verschwammen vor seinen Blicken, es that sich ein Garten vor ihnen auf – der schöne, weite Nachbarsgarten, in dem er als Knabe gespielt; er hörte fröhliche Kinderstimmen, Hans stürmte daher, ein Buch in der Hand, die Wangen glühend, die Augen voll Thränen.

»O Peter, das ist der letzte Schiller – ich hab' ihn fertig; jetzt ist nichts mehr auf der Welt des Lesens wert, jetzt kann nichts Schöneres mehr kommen.«

Peter nahm den Band in Empfang; er wollte den Kameraden mit sich ziehen, allein dessen Geschwister kamen herbei, sie umringten die Knaben und forderten energisch, daß sie am Spielen teilnehmen sollten. Peter wartete, mit seinem Schiller in der Hosentasche, die nächste Gelegenheit ab, sich in die Einsamkeit zu retten; der 88 Platz, den er sich aussuchte, war der Hühnerstall; rückwärts in die Oeffnung kriechend, streckte er sich, unempfindlich gegen den Schmutz und Geruch, in dem dunkeln Stall aus, und den Kopf unter der Oeffnung, das Buch vor sich, so las er seinen Tell. Der Abend kam, das Mondlicht leuchtete dem eifrigen Leser, der Vesper- und Abendbrot vergaß und taub blieb für das verzweifelte Gackern des Hühnervolkes, das ihn umringte und in sein Nest verlangte.

Und als das Buch zu Ende war, überkam auch ihn die Gewißheit, daß nun nichts Schöneres mehr im Leben folgen konnte, und er barg den Kopf in die Arme und weinte bitterlich.

Wie diese Kinderthränen den Erwachsenen nun anklagten, wie sie ihn mit seinem gegenwärtigen Selbst in Konflikt brachten! –

»Ach was, Dummheit – völlig abgeschmackt,« fuhr er auf.

»Ich wollt' nur bitten,« sprach eine schwache, meckernde Stimme, die er schon oft gehört, »bitten wollt' ich, daß ich den Schiller-Tell nochmals vier Wochen behalten dürft', wenn Sie gütigst nichts dagegen einzuwenden hätten, lieber Herr –«

Peter schaute wie aus einer anderen Welt auf das kleine armselige Männlein herab, das ihn mit glanzlosen Augen anstarrte und – »ja, schön bitten wollt' ich« – mit zahnlosem Mund wiederholte.

Schon oft hatte Peter dem Verlangen des Alten, ohne ein Wort dabei zu verlieren, entsprochen; als er es eben auch thun wollte, sprach plötzlich eine Stimme 89 in seinem Inneren: »Knausere nicht am Himmelsbrot, Peter, das dir in die Hände gegeben ist.« – Der Bibliothekar ging einen Augenblick zum Fenster, trommelte gegen die Scheibe und kehrte zurück: »Sagen Sie mir doch, Alter,« fragte er, »was haben Sie eigentlich mit dem Tell so lang zu schaffen?«

»Lieber Herr, lieber Herr, haben Sie Geduld, bin alt, seh' nur noch einen Schimmer, nichts als einen Schimmer – war Schuster, ein tüchtiger Schuster, hab' bessere Tage gesehen, gute Tage – und er spitzte den Mund und rieb sich die Hände – ging kaum ein Schiller über die Bretter, kaum ein Schillerstück, saß Schuster Schops drin – nun, wo's Augenlicht fehlt, lieber Herr, stockt die Arbeit – Not, nein, ich leide keine Not, hab' ein braves Kind, Gott sei Dank, ein rechtschaffenes Kind, thut doppelte Arbeit – schafft für zwei im Maschinennähen, aber lesen thut sie schlecht, recht schlecht, lieber Herr; sie ist zu müd, wenn der Abend kommt, und mein Ohr ist verwöhnt; ich bin ein verwöhnter Mann, nicht gerade anspruchsvoll, aber meine Poesie und mein Orleansbaum sind meine Passionen – und darum liest mir die Tochter des Sonntags abends eine halbe Stunde, aber wie gesagt, schlecht – recht schlecht –«

Und der Alte nickte und legte die Hände resigniert übereinander. Peter blätterte im Tell: »Wissen Sie was, wenn's Ihnen Spaß macht, kommen sie heute abend 6 Uhr auf meine Stube im Hof, drei Treppen hoch, ich lese Ihnen etwas, alter Mann –«

Der neigte sich hastig über den Tisch: »Sie – mir?«

90 »Ja, ja –«

»Das ist brav – brav – brav – o das ist brav –« und den Zeigefinger in der Luft schüttelnd und dazu fortwährend »brav« schreiend, tastete er sich zur Thüre hinaus und verschwand.

Punkt sechs saßen der Bibliothekar und der Schuster einander gegenüber. Peter hatte sich vorgenommen, eine halbe Stunde zu lesen, aber der alte Mann da vor ihm mit den andächtig gefalteten Händen und den weit aufgesperrten Augen, die mehr zu verlangen schienen, zwangen den Leser, immer weiter zu lesen.

Als der Alte, vom langen Sitzen und anstrengenden Aufpassen ermüdet, beim Erheben auf den Beinen schwankte, drückte ihn der Bibliothekar auf seinen Stuhl zurück und ließ das Abendbrot bringen.

»Sieh mal an,« sagte er zu sich selber, während er dem Schuster den Teller füllte, »das ist auch das erste Mal, daß du einem anderen als dir selber zum Sattwerden verhilfst.«

Der Alte aber erklärte beim Fortgehen: »Wie einer vom Theater – ganz accurat wie einer vom Theater – ja, und kann ich vielleicht nächsten Sonntag wiederkommen, lieber Herr?«

Das »In-Gottes-Namen« des Bibliothekars kam ihm nicht ganz von Herzen, aber der Alte wiederholte die drei Worte in einer so eigentümlichen Weise – in Gottes Namen – ja, in Gottes Namen darf ich wieder kommen, daß es dem Obenstehenden wie ein Ruck durch die Seele fuhr. Hatte denn mit einem Male alles eine Bedeutung gewonnen – Worte, die er sein ganzes 91 Leben lang gedankenlos gesprochen und gehört, standen sie nicht plötzlich, wie lebendig geworden, auf und richteten sich gegen ihn! Er trat in seine Stube, leuchtete mit der Lampe über das Büchergestell, und in seinem hageren Gesicht ging eine eigentümliche Veränderung vor: Ein Kapital, nach dem Tausende lechzen – in dessen Besitz ich auf dem Punkt war, vom Leben abzufallen wie ein dürres Reis! – Heil dir, Kamerad, dessen zündendes Wort mich von den Toten erweckt, und du mein Schiller, hilf mir die Funken in der Asche anfachen – denn es war ja doch einmal etwas da –

Als der Bibliothekar sich am Sonntag Punkt sechs in seine Wohnung verfügte, fand er eine merkwürdige Gesellschaft auf dem kleinen Vorplatz seiner harrend.

»Ich bitt', verzeihen Sie, lieber Herr,« rief ihm der Schuster entgegen, »die Gunde, die durchaus nicht hat mit wollen und doch noch nichts Rechts gehört im Leben – ich hab' sie glücklich hergebracht – was sonst da ist, ist Bagage – bloß Bagage, lieber Herr!«

»Ach was – Gott bewahr', es sind liebe Leut' – unsere Mitbewohner –« ließ sich eine warme lebensvolle Stimme vernehmen, und aus dem Häufchen Menschen trat dem Bibliothekar ein Mädchen entgegen mit einem kleinen Kind auf dem Arm.

»Sind Sie die Tochter des Alten?« fragte er.

»Ja,« erwiderte sie und setzte, mit einem mitleidigen Blick ihn von oben bis unten betrachtend, hinzu: »sehen Sie dünn und verfroren aus, lieber Gott im Himmel!«

Darüber öffnete Peter etwas ungeschickt die Thüre, und die Leute drängten sich über die Schwelle.

92 »Haben Sie nur keine Angst,« sagte Gunde, »das Kleine schreit nicht, es zahnt und darum kann man's nicht allein lassen; wenn ich's aber auf dem Arm habe und halt' ihm 's Köpfchen, ist's mäuschenstill. Setzen Sie sich nur ungeniert neben mich, Frau Frei – es ist die Mutter, eine geplagte Frau, wird nie fertig; auf der Gass' spielen noch drei, den Großen haben wir mit heraufgenommen, weil er keine Ruhe gibt – stell dich neben den Vater, du, und wenn du Possen machst, hau' ich dir gleich eins hinter die Ohren.«

»Sie scheinen sehr gutherzig zu sein,« meinte Peter.

»Aber lesen thut sie schlecht, recht schlecht,« murmelte der Schuster, während Frau Frei mit ernstem Kopfnicken erklärte: »Sie ist die reine Barmherzigkeit.«

»Heiliger Gott,« fuhr Gunde auf, »wenn ich so dumm reden hör'! Mag ich einen Menschen leiden und thu' ihm was Gut's, versteht sich's doch von selbst. Aber der Herr kann jetzt anfangen, damit wir wieder heim kommen.«

»Was denn?« fragte Peter.

»Schiller – Tell natürlich!« rief der Schuster.

Und Gunde nickte: »Ja wohl, von dem wissen wir auch schon – so fremdes Zeug ist nicht schön.« –

Peter that es leid, ins Buch schauen zu müssen; es war ihm in seinem ganzen Leben noch kein Gesicht so angenehm gewesen wie das des jungen Mädchens; kein Zug darin war schön, aber alles durchleuchtet von Seelengüte und Heiterkeit. »Die friert nicht, o die friert nicht« – sagte er sich und fröstelte dabei leise in sich zusammen. Während er las, hingen Gundes 93 Augen groß an ihm; dabei hielt sie das Köpfchen des Kindes fortwährend an ihre Wange gepreßt und diente zugleich mit der linken Schulter der eingeschlummerten Frau als Stütze. Der alte Schuster lauschte wieder mit andächtig gefalteten Händen, und neben ihm auf der Erde lag der Bube lang ausgestreckt und kaute an den Fingernägeln. Das energische Geschrei des kleinen Kindes machte der Vorlesung nach dreiviertel Stunden ein Ende.

»Heiliger Gott,« rief Gunde und schoß wie eine Kugel auf den Leser zu: »wenn ich doch etwas für Sie thun könnt' – dürft' ich Ihnen ein Paar Socken stricken?«

»Aber, liebe Gunde,« sagte Peter, »Sie schaffen ja für zwei, wo wollten Sie die Zeit hernehmen?«

»In der Nacht.«

»O nein, nein, nein!« unterbrach er sie, »ich will's durchaus nicht – es darf nicht sein.«

Da ergriff sie seine dürftige Hand und schüttelte sie kräftig: »Ach Gott, nicht einmal die Hand drücken können Sie, aber dafür, was haben Sie für Gedanken im Kopf! und dem Herrn Tell seine herzigen Kinder, und wie möcht' man so gern was recht Gutes thun in der Welt, wenn man so schöne Dinge hört – ach, ich kann Sie gar nicht genug bewundern – berghoch kommen Sie mir vor gegen unsereinen.«

»Aber liebe Gunde,« verteidigte sich Peter, »Schiller hat ja den Tell gedichtet, nicht ich.« –

»Das ist mir einerlei,« erklärte sie, »und jetzt marsch,« wandte sie sich zu den andern, »'s ist Zeit, 94 daß wir gehen. Sonntag lesen Sie weiter, gelt? Heiliger Gott, wenn ich dem Geßler was anthun könnt' – und so ein herzhafter Mann, wie der Herr Tell einer ist – schad', das so Leut' nimmer leben.« Damit nahm sie den Buben bei der Hand, schob den Vater vor sich her, lachte noch einmal zurück und schlug die Thüre hinter sich zu.

»Nicht einmal die Hand drücken« – sagte Peter, als er allein war und beschaute wehmütig seine magere Rechte, aber sie kann's – Gott, welch' eine warme, gute Hand – daß ich auch so alt sein muß« – da fing er an zu lachen: »ja, wie alt denn, schlotteriger Geselle – siebenunddreißig – erst siebenunddreißig – das ist ja eigentlich noch kein Alter – allgütiger Himmel, was muß ich thun, damit mich dieses Geschöpf – damit ich wieder jung werde –«

Und mit jedem Sonntag standen nun ein paar Bettler mehr vor seiner Thüre, und allgemach sah's in seinen Vorlesungen aus wie in einem Spital, denn seine Zuhörerschaft bestand fast nur aus halb zu Tode Geschafften oder Arbeitsunfähigen. Aus diesem traurigen Häuflein Menschen aber ragte Gundes heiteres, lebenssprühendes Antlitz, und ihre Bewunderung für den Leser machte diesem sein Amt immer lieber und lieber. Was half's, so oft er ihr auch versicherte: »Ich hab's ja nicht gemacht – Schiller ist's.« – Nach jeder Vorlesung mußte er ihren warmen Händedruck für all das Schöne entgegennehmen, das ihre Seele bewegt, und mit der Zeit geschah's, daß sie an der Herzlichkeit seines Gegendrucks nichts mehr auszusetzen hatte.

95 An einem Sonntagmorgen nun machte er sich zum erstenmal auf, um Gunde in ihrem eigenen Heim zu besuchen.

Schuster Schops und seine Tochter bewohnten zwei kleine Stuben in einem düsteren Hof; in der einen stand ein großer Oleanderbaum, und in der vordern saß Gunde und nähte auf ihrer Maschine, von sämtlichen Kindern der Hauswirtin umringt; der Schuster rührte in einem Topf auf dem Ofen.

»Um Gotteswillen, was wollen Sie,« rief Gunde dem Eintretenden entgegen, »ist Ihnen was passiert?«

»Nein, ich möchte nur mit Ihnen reden,« sagte Peter und schaute mit einem etwas unglücklichen Gesicht über die vielen Kinder hin, die sich nicht von der Stelle rührten.

»Nur herzhaft 'raus damit,« ermutigte ihn Gunde, »Vater bleib beim Ofen, damit der Brei nicht anbrennt am heiligen Sonntag – und nun also, was kann ich für Sie thun, lieber Herr?«

Peter besann sich einen Augenblick, kam zu der Ueberzeugung, daß eine Veränderung der Situation schwer zu bewerkstelligen sei, und so meinte er leise, mit an sich gehaltener Empfindung:

»Da Sie allein zu sprechen, offenbar ein Ding der Unmöglichkeit ist, liebe Gunde, denn ich hab's schon sehr oft umsonst versucht, so bleibt mir – kurz, möchten Sie nicht meine Frau werden, liebe Gunde?«

Sie blickte von ihrer Arbeit auf: »Heiliger Gott – aber, aber – ich bin doch nur – ich –«

»Ja, gerade deshalb,« nickte er, »Sie sind gut, sehr gut – und das ist viel –«

96 »Hören Sie auf – du mein lieber Herrgott – was bin denn ich im Vergleich zu Ihnen –«

»Sie sind alles von Natur – von Natur gut und hochherzig und warm – ich – ja, das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, es fragt sich jetzt nur, wollen Sie meine Frau werden oder nicht –«

Der alte Schuster stand schon lange, den Kochlöffel in der Hand, neben dem Freier, und die Kinder umdrängten diesen eng und enger, als lauschten sie einem Märchen.

»Ach Gott, ich bin ja aber so ungebildet,« murmelte Gunde mitten unter dem Nähen, und ihr Vater fügte in bedauerlichem Tone hinzu:

»Ja, lesen thut sie schlecht, recht schlecht –«

»Aber es fragt sich ja doch nur,« meinte Peter, »ob Sie mir gut sind oder nicht –«

»Gut – nun flog die Arbeit weg – seelengut –« und sie ergriff seine beiden Hände und drückte sie gegen ihre Wangen. –

Die Kinder brachen in ein Freudengeschrei aus, der Schuster schluchzte. Im nächsten Augenblick jedoch hatte ihm die Tochter den Kochlöffel aus der Hand gerissen und rührte in dem Brei, dabei hielt sie aber die Schürze vors Gesicht.

Peter nahm seinen Hut.

»Heute abend ist Verlobung, bringt nur alle mit, hört ihr, alle – und ich will auch noch einen Gast bitten« – er eilte davon.

Draußen fuhr er mit den Händen wie verrückt in der Luft herum: »Und jetzt zu Hans – zu Hans!« 97

 


 


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