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Siebzehntes Kapitel

Der Winter war immer stiller für die Schmiede als der Sommer; es wurden dann weniger Pferde beschlagen, es kamen nicht so viele Fuhrwerke durchs Hallesche Tor, die Gesellen frühstückten länger, gingen früher zu Bett, krochen später heraus. Aber dieser Winter war so still, daß der Meister verzweifelt wäre vor innerer Ungeduld, hätte er nicht seinen steten Ärger mit der Scheidung gehabt.

Die betrieb er mit Nachdruck. Helene sollte frei werden, mußte frei werden, sobald als möglich. Er hatte einen tüchtigen Anwalt für sie angenommen. Aber der beste Anwalt war sie sich selber. Wenn die junge Frau in dem schwarzen Kleid zum Termin erschien, so bleich, so in sich gekehrt, wenn sie den Kopf neigte wie eine Blume, auf die tötender Reif gefallen ist, dann konnte keiner sich einer mitfühlenden Regung verschließen. Es war ein Jammer um diese Jugend!

Im Halleschen Torviertel war man nun der Meinung, daß der Ohm ein Halunke sein müßte. Man brauchte ja nur die junge Frau anzusehen; die war ganz gebrochen.

Helene Ohm, die in Scheidung liegende Frau, hatte jetzt mehr Freunde als damals die Prinzessin Helene. Wenn sie gegen Abend, sobald es dämmerte, nach dem Bellealliance-Platz schlich, um ein bißchen Luft zu schöpfen, folgten ihr teilnehmende Blicke: die arme Frau! So jung noch und schon solche Erfahrung gemacht! Wer das früher gedacht hätte! Man sprach sie an, man versicherte sie seiner Teilnahme. Es war gut gemeint, aber Helene eilte, sie floh, sie traute sich nicht mehr heraus. Nicht vors Tor, da hatte sie sich einstmals mit ihm getroffen; nicht in den Garten, da hatte sie ja von Glück geträumt.

Wenn sie nur erst geschieden wäre! Henze lief wieder zum Anwalt: war's denn noch nicht so weit? Er trieb den Mann, er hetzte ihn, er ließ ihm keine Ruh: das mußte doch vorwärts zu bringen sein, so eine Scheidung. Man mußte sich tüchtig dahinter setzen. Er boste sich; die ganze leidige Angelegenheit war ihm längst über – Scherereien, Aufregungen, immer neue Schwierigkeiten machte Ohm – aber wenn Henze Helene anblickte, war ihm doch nichts zu viel. Wie schön müßte es sein, wenn sie wieder aussähe wie früher! Wollte sie nicht einmal mit ihm spazieren gehen, an seinem Arm? Die Schlittschuhbahn sehen? Er würde sie Schlitten fahren. Sie konnten ja auch einmal in die Friedrich-Wilhelm-Stadt gehen oder ein feines Konzert besuchen von der Neuen Berliner Liedertafel.

Aber sie wollte nicht. »Nein, nein, nirgendwo hin!«

Liebte sie den Ohm im Grunde vielleicht immer noch? So einen Kerl?!

Aber Johanna sagte: »Wenn man mal einen sehr lieb gehabt hat, da bleibt doch noch immer etwas übrig.«

Der Mann konnte das nicht begreifen. Aber freilich – er sah von seiner Frau weg und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte – wenn Johanna es sagte, dann würde es wohl so sein! – –

Wie einst saß Helene der Mutter gegenüber am Nähtisch und machte feine Stiche. Eine Handarbeitskünstlerin wie die Mutter war sie nie gewesen, zu Klosterarbeiten hatte ihr früher die Geduld gefehlt. Und auch jetzt war es ihr manchmal, als seien alle diese Stickereien von Perlen und Seide, von Chenille und Wolle, diese Hohlsäume, Leinendurchbrüche, haarfeine Häkeleien und Frivolitäten, zart wie Spitzen, nur traurige Notbehelfe. Etwas, an das man sich klammert, wenn sich die Gedanken nicht zur Ruhe geben wollen. Eine Perle und noch eine Perle – eine Masche und noch eine Masche – hierhin ein Stich und dorthin ein Stich.

Wie ruhig die Mutter geworden war! Helene sah ihr verstohlen in das blasse Gesicht.

Johanna Henze hielt die Augen auf ihre Arbeit gesenkt, Schatten lagerten unter den gesenkten Lidern; sie sah nicht, daß ihre Tochter sie beobachtete, es zeigte sich offen der Leidenszug um den feinen Mund.

»Mutter,« sagte Helene plötzlich und legte die Hand, an der sie den Trauring nicht mehr trug, auf die fleißigen Hände; nun konnten die nicht mehr weiternähen. »Mutter, wie ist es eigentlich jetzt mit dir und dem Vater? Du warst sehr unglücklich, ich weiß es – und wie ist es nun?«

Der Meisterin blasses Gesicht rötete sich wie das eines Mädchens, es wurde auf einmal fast jugendlich. »Es ist besser,« sagte sie leise. »Er zerbricht ja ein Hufeisen mit der Hand – ich habe mich eben schicken müssen, wollte ich nicht zerbrechen. Und wenn ich vergleiche« – sie zögerte, sie wollte die Tochter ja nicht verletzen –, »dann muß ich doch immer noch sagen: Gott sei Dank!«

»Das mußt du auch!« Helene war sehr ernst. Die Finger der Mutter, die sich freigemacht halten und hastig, als hätten sie sich schon zu lange versäumt, anfangen wollten, wieder zu nähen, festhaltend, sagte sie herzlich: »Er ist gut. Ich wünschte, du sähest das ein, wie ich's jetzt einsehe!«

Darauf sagte die Meisterin nichts. Aber sie horchte den Schlägen der Uhr, jener Uhr aus dem Holze fremder Länder, in denen ewig die Sonne scheint. ›Die Uhr schlägt zweien Glücklichen.‹ Es hatte Zeiten gegeben, in denen Johanna die Uhr hatte zerschlagen wollen; aus einer Stube hatte sie sie in die andere verbannt, recht weit weg. Aber die Uhr hatte einen so silbernen Klang, der war in der ganzen Wohnung zu hören.

»Zwölf Uhr!« Die Frau legte jetzt schnell die Arbeit zusammen. »Er wird gleich zum Essen kommen.« –

Henze empfand es: seit Helene zu Hause war, war es im Vorderhaus behaglicher. Sie war ja still, und traurig war sie auch noch, vergnüglich war es bei den beiden Frauen gerade nicht, aber er kam doch öfter herüber. Sonst war er, wenn im Glashaus kein Gast bei ihm war, immer ins Wirtshaus gegangen, jetzt hörten Gottlieb und Lieschen am Abend seine Stimme heraufschallen in ihre Mansardenwohnung.

»Wenn er bloß die Kinder nich aufweckt,« seufzte Frau Thorweg. Aber Herr Thorweg verwies ihr das Seufzen: »Laß ihn se man ufwecken, det 's janz eenjal. Ick freue mir diebisch, hör ick ihn unten posaunen!« – – – – –

Frühlingsanfang stand im Kalender, als der Schmied seiner Stieftochter das Scheidungsurteil aufs Zimmer brachte.

»Da haste 'nen Brief! Heb ihn dir auf! 'nen schlechten Brief, sagen die Bauern, dann sind's schlechte Karten – du hast 'ne gute Karte. Freu dich, Mädel, nu biste ihn los!«

Aber so freuen, wie er meinte, konnte Helene sich doch nicht. Gott sei Dank, ja! – sie nahm das Papier und verschloß es in eine Schublade – eine Qual war von ihr genommen, sie brauchte jetzt nicht mehr zum Termin zu gehen, sich ansehen zu lassen von den fremden Menschen, sie brauchte vor ihnen nicht mehr ihr ganzes Leid aufzudecken, in zitternder Scham. Jetzt konnte sie in sich bergen, was sie noch trug an Schmerzen. Mit ihrem Mädchennamen würde sie sich wieder nennen, sie war ja nicht mehr die Frau von Ferdinand Ohm. Das war so viel besser, und doch –! Sie sank auf einen Stuhl und weinte bitterlich. – – – – –

Draußen in Stralau blühten Veilchen an sonnigen Plätzen. Gottlieb hatte einmal die ersten hingepflanzt, sie waren gut angegangen, hatten kleine, runde, lila-grüne Kapselchen getragen, und der reife Samen hatte die Kapseln gesprengt, und ein hilfreicher Wind hatte ihn ausgetragen. Nun war es schon ein ganzes Feld geworden. Überall Veilchen. Andere Blumen blühten noch nicht. Aber dieses Blau war ja auch schöner als alles andere. Helene Schehle liebte die Veilchen; sie hatten etwas so Freundlich-Tröstendes nach einem langen und trüben Winter.

Gottlieb hatte das erste Sträußchen mit nach Hause gebracht, für seine Frau. Aber als er Frau Ohm auf der Treppe begegnete, die einen dicken Schal um die Schultern trug und noch recht blaß aussah, ihn aber mit ruhiger Freundlichkeit grüßte, da gab er sie ihr: »Da, Fräulein Helene!« Sie lächelte ihn an dafür.

»Jroßartig, wie se sich benimmt,« sagte Gottlieb oben zu seiner Frau. »Ick hätte der Helene det früher jar nich so zujetraut. Da war se man bloß hochjeschnuffen, jetzt is aber doch noch was anderes bei. Se hat eben doch 'nen Droppen mit im Blut, von dem unsereins keene Spur nich hat.« Gottlieb zog sein lahmes Bein an sich heran und stellte sich in Positur. »Unsereins is doch och nich von schlechte Eltern, aber stell dir man bloß vor, Lieschen, ick würde dir den Scheidebrief jeben, würdst du dir denn so halten, wie die sich hält?«

»Sie hat ihn ihm gegeben, nich er ihr,« sagte Frau Thorweg ganz patzig.

»Das 's janz eenjal, ob sie ihm oder er sie. Scheidung is Scheidung, allens eene Wichse. Und 'ne verflucht eklige Sache!« Gottlieb vergrub die Hände in den Taschen seiner Hose und legte das Gesicht in tief-nachdenkliche Falten. »Wenn ick so dächte, du wärst nu uf eenmal nich mehr meine Frau oder ick nich mehr dein Mann, du kochtest mich det Essen nich mehr, und ick wäre nu wieder so janz alleene –«

»Ach, quatsche nich!« Lieschen fuhr ihn an. Aber ihre Wangen waren doch ganz blaß geworden und ihre runden blauen Augen noch runder. Und dann ging sie zu ihm hin und legte ihren glatten braunen Kopf an seine Schulter: »Gottlieb, wo kriegste bloß so'ne Gedanken her? Ich heulte ganz Berlin zusammen!«

»Det jlaube ich,« sagte er überzeugt. Und dann küßte er sie. »Kleener Pussel aus Lübben!« – –

»Wenn wir ihr man bloß mit nach Stralau rauskriegten,« sagte Gottlieb zum Meister. Jetzt sproßten da alle Sträucher, die Amseln sangen. »Denn brauchte se jar nich mit der Frau so weit nachs Bad zu reisen; det kost't unnötich Jeld. Se sollten man beede rauskommen, was, Meester?«

Henze nickte: ihm wäre es schon recht. Aber Johanna würde nicht kommen. Eine Wolke zog über seine Stirn; eine Erinnerung war in ihm aufgestiegen, die ihm nicht lieb war. Und doch – er sann ein paar Augenblicke – Gottlieb konnte es ja mal versuchen. Er selber mochte es ihr nicht sagen.

Und Gottlieb übernahm mit Diplomatengeschick diese Mission. Zuerst wurde geschimpft auf den düsteren Winkel hinterm Glashaus; der war ungesund, verdiente gar nicht den Namen Garten. Das Fräulein holte sich nur feuchte Füße da und den Schnupfen. Da ging sie besser auf dem Platz spazieren; aber freilich, da war sie nie ungeniert, und das wollte sie doch gerade sein. Auch stand da nicht mal ein grünes Bänkchen. Überhaupt, wie konnte man in Berlin spazieren gehen, da waren ja nur lauter Straßen, nicht ein bißchen Landluft. Und gerade die brauchte Fräulein Helene. Die Meisterin durfte es gar nicht leiden, daß das Fräulein so wenig gute Luft schnappte, die Schwindsucht kriegte sie noch davon.

Die Meisterin öffnete ihre Augen erschrocken: sah Helene denn so viel schlechter aus? Der Arzt war doch ganz zufrieden. Und wenn sie jetzt die Kur im Bade gebrauchte, vielleicht später noch einmal, dann – ach! Eine heiße Angst befiel aufs neue die Mutter: es würde doch wieder ganz gut werden mit Helene?

Aber Helene lächelte heimlich über Gottlieb: wo wollte denn der hinaus?

Der ehrliche Kerl wurde rot unter ihrem forschenden Blick. Jetzt legte er sich aufs Lügen. Er hatte einmal eine Frau gekannt, der war's gerade gegangen wie Fräulein Helene, nicht essen mögen, nicht schlafen können, kaum mehr kriechen konnte die, und das Lachen war ihr ganz vergangen. Da ging sie alle Tage raus nach Stralau, setzte sich am See in die Sonne, hörte die Vögel singen, roch die Blumen und lernte davon wieder lachen. »So wahr ick lebe,« bekräftigte Gottlieb. »Un wenn man wieder lachen kann, denn kriegt man ja ooch Hunger, Fräulein Helene. Die hat sechs Maß kuhwarme Milch uf'n Dag jetrunken; unjelogen. Zehn Eier jejessen und zwanzig Stullen, abjesehen von's Mittagbrot!«

Helene lachte laut auf: o, wie log der Gottlieb! Also durchaus nach Stralau sollte sie?

Da griente Gottlieb, ganz selig nickend: »Ja, Fräulein Helene, ja!« Der Meister würde sich auch sehr darüber freuen, wenn die beiden Damen fleißig herauskämen!

Er sah sich um, die Meisterin war still aus dem Zimmer gegangen. Da wurde sein Gesicht pfiffig, er blinzelte, und hastig flüsterte er: »Se will nich. Ick weeß wohl, se haben sich beede da mal bös' vorjehabt. Nu will er nischt sagen; er traut sich jar nich von Stralau anzufangen. Aber, Fräulein Helene,« – der Hausknecht faßte nach der Hand der jungen Frau und drückte die bedeutungsvoll: »Kommen Sie man immer hübsch raus nach Stralau, und bringen Se ihr immer mit! Wir zwee beede –« er blinkte ihr wieder zu – »wir werden det schon bedeichseln, was?«

In der Seele des Hausknechts, des Großstadtkindes, das gefunden worden war unterm Torweg in Packpapier, war eine Überzeugung tief eingewurzelt: draußen, da draußen, da wurde man gesund! Wenn man da säete, jätete, pflanzte, begoß, so emsig schaffte, daß der Schweiß floß, dann schaffte man sich alles Ungesunde aus dem Leibe. Und wenn man auch nur auf dem grünen Bänkchen saß, oder oben im Mastkorb und über den See hinträumte mit wachen Augen, mußten einem ja gute Gedanken kommen. Lauter gute Gedanken. Da draußen, da konnte keiner dem andern so böse mehr sein. – –

Gottlieb fühlte eine ungeheure Genugtuung, als das dunkle Kleid der Meisterin zum ersten Mal wieder seine Beete streifte. »Det war mal nich vorbeijelungen!«

Der Meister sagte: »Hier hab ich voriges Jahr hochstämmige Rosen gesetzt; Gottlieb hat sie okuliert, dies Jahr werden sie blühen. Wenn ihr mich dann besucht, schneid ich euch welche ab.« – – –

Und die Rosen blühten. Dies Jahr sehr reich und schön. Und es war wirklich eine Erholung draußen im Garten der Angelbude. Der Meister war von Sonnenaufgang an schon dort, es flatterte lustig ein Wimpel auf dem Mast des Daches; am Nachmittag kamen die Frauen nach, und dann fanden sie Henze bei seinen Rosen, wie er ihnen Raupen ablas, den Rost entfernte und sie begoß. Oder er saß auf dem Steg mit der Angel, in Hemd und Hosen; das grobe Linnen auf der Brust geöffnet, den verwitterten Strohhut im Nacken. Gottlieb briet Fische.

Vom Markgrafendamm her konnte man schon die Flagge des Daches sehen, die wie ein rotes Tüchlein schwenkte überm Grün der Felder, durchs dunkle Kiefernholz winkte, wehte über den geduckten Hütten des Dorfes. Konnte man dreist kommen oder mußte man heute umkehren?

»Det kann man nu ooch nich uf eenmal von ihm verlangen,« hatte Gottlieb vertraulich gesagt, »det er nu janz mit seine Jewohnheiten bricht. Passen Se jut uf, Fräulein Helene, hisse ick halbmast, denn kehren Se um. Denn is nischt los mit ihm – er is nackigt. Und denn muß ick plumpen!«

Und Helene verstand ihn.

Meist aber kamen die Frauen Henze recht. Sie störten den Meister nicht. Mit einer Art Scheu hatte er dem ersten Besuch Johannas entgegengesehen: wie würde sie sein, froh oder traurig, freundlich oder unfreundlich? Es wäre ihm nicht angenehm vor Helene, wenn sie die Miene aufsetzte, von der August Lehmann gesagt hatte: ihr vornehmer Tick. Die reizte ihn allemal.

Mit Scheu war auch die Meisterin nach Stralau gekommen. Was sollte sie da, sie, die nichts mehr da zu suchen hatte? Zwischen den blühenden Beeten würde sie doch gehen wie zwischen Gräbern; selber eine Abgeschiedene.

Und wie in Scham hielt sie die Augen zu Boden gesenkt, als sie eintrat. Ob er wohl auch noch an jenen Abend dachte? Und dann wandelte sie wie im Traum zwischen Gottliebs Beeten umher. Die Erde duftete, Amseln sangen ihr Frühlingslied, ganz voll und weich und getragen; fast war es ein Choral, ein ›Danket Gott!‹ Hoch oben die Wipfel der alten Bäume neigten sich, in die Silberweiden der Liebesinsel griff der Wind mit starken Händen; wie Orgelton klang es herüber. Und wie im Traum hörte Johanna ihres Mannes Stimme.

Und wie im Traum dachte sie dann: war sie es denn wirklich, die hier saß auf dem grüngestrichenen Bänkchen vor der Angelbude?!

Sie faltete heimlich die Hände: ja, sie war es, sie lebte doch noch.


Es war sehr friedlich draußen in Stralau, und die freie Luft tat Helene gut. Ihre Augen blickten heiterer, ihre Wangen wurden frischer, sie bräunten sich leicht. Und wenn sie auch noch nicht wieder so blühen konnten wie damals, als sie im weißen Kleid, Rosen im Haar, neben dem seligen Stallmeister beim Einweihungsfest im Glashaus gesessen hatte, der Meister konnte doch wieder mit Wohlgefallen seinen Blick an ihr weiden. Mit dem alten Stallmeister war's damals nichts geworden – der war auch nichts für sie, bewahre, die Nase! – aber es gab ja noch andere Leute.

Der Bruder von Bäcker Piesich hatte sich bald nach Helenens Verheiratung auch verheiratet, aber die Frau war ihm im Wochenbett gestorben; nun sah er sich nach einer zweiten um. Der Materialist war auch noch zu haben; er hatte außer seinen Zitronen mit dem Austernkranz, nebenan über der Tür noch drei goldene Kugeln. Da hatte er jetzt noch eine Butterhandlung aufgemacht; das Haus hatte er schon gekauft, es ging ihm glänzend.

Wie die Bären, die honiglüstern antappen, nahten die früheren Freier sich wieder. Jetzt wagte der Materialist sich schon näher. Die schöne Helene kam ihm nicht so unerreichbar mehr vor, und er hatte ja nun noch die Butterhandlung. Andere zeigten auch Absichten; man machte sich eine Ausrede, um auf den Hof der Schmiede zu kommen. Da stand man denn herum, und Peter, der Altgeselle, ärgerte sich: was wollten die hier? Wenn einer rankam, dann war er derjenige. Der Henze hatte sich ja auch eingeheiratet – warum denn nicht er?! Er hantierte ganz gefährlich mit Eisenstangen und Kolben; manch Lästiger kriegte unversehens einen Stoß ab. Aber die Freier trotzten seiner Ungnade. Vielleicht machte sich's, und man bekam die junge Frau zu sehen! Man setzte sich auch im Privatkontor dem Meister auf den Hals und wich nicht, bis dieser mit einem furchtbaren Gähnen den Besucher zur Tür hinausgraulte.

Es war ein ganz verschmitztes Schmunzeln, mit dem der Meister hinter so einem herblinzte: »Na, Lenchen?«

Aber der jungen Frau eben noch heiteres Gesicht wurde tief-ernst. Sie legte dem Schmunzelnden die Hand fest auf den Arm: »Laß das! Damit darfst du mir nie mehr kommen!« Es war etwas sehr Trauriges in ihrer Stimme. »Das ist vorbei.« Aber gleich darauf lächelte sie wieder; sie legte den Kopf auf die Seite, mit der alten, ihr schon als Kind eigenen Bewegung, und sah den Stiefvater freundlich an: »Willst du mich denn wieder los sein? Ich bleibe bei euch. Braucht ihr mich denn nicht?!«

Henze seufzte. Schade, schade! Und er hatte doch im stillen an einen gedacht, der ihm so gut gefiel. Wenn der blonde Stallmeister aus dem Hippodrom vor seine Werkstatt geritten kam, dann war's ihm, als klopfe die Jugend an. Wäre der nichts für die Helene?!

»Die heirat't nich wieder, da kannste Jift drauf nehmen,« sagte Gottlieb zu ihm und schüttelte den Kopf. »Was Lieschen ooch sagt! Un die is sonst helle, beinah so helle wie die Majunken war!«

Aber Henze wollte und konnte die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn sie nur erst wieder ganz die alte Helene war! Hatte sich denn nicht schon manches geändert, ganz auf einmal, und gerade in letzter Zeit? Überall geändert?

Wenn er jetzt ins Wirtshaus ging, wo sie vordem nur Stadtklatsch breitgetreten hatten, fand er nun Leute, die mit einander die Zeichen der Zeit besprachen. Die für und wider waren, die lobten und schalten, die aber alle in dem einen einig waren: der Graf war ein Schade für Preußen. Der König hatte unbegreiflicherweise den Junker zum Grafen gemacht. Ein Krieg mit Österreich konnte nicht ausbleiben, wenn der so weiter fortmachte. Der tat ja einfach, als hätte in Schleswig-Holstein nur Preußen zu regieren, sagte zu Österreich: »Du hältst's Maul!«

Die Krauses und die Schlefkes schüttelten ihre Köpfe. Sie unkten beim Weißbier: das ging nie und nimmer gut! Aber auch die Gerechten und Einsichtsvollen waren erregt und betrübt: wollte er es denn zum äußersten treiben, etwas heraufbeschwören, dessen Ende gar nicht abzusehen war? Man war beunruhigt, empört, erbittert. Und aufs höchste gespannt.

Die Zeitungsexpeditionen wurden fleißig belaufen. Dienstmädchen in weißen Schürzen und kurzärmeligen Kleidern lauerten vor der Tür der Ausgabe aufs Abendblatt für den Herrn. Die Madam, die sonst nur schöne Literatur las: Paul de Kocks Romane und den ›Monte Christo‹, ›Die Welfenbraut‹ von Amely Bölte und Kriminalgeschichten von Temme, ließ sich jetzt auch die ›Vossische‹ holen oder die ›Spenersche‹. Krauses waren beim Kaufmann abonniert, da teilten sich sieben Parteien in das eine Intelligenzblatt – da hieß es jetzt, sich in Geduld üben.

Seit Achtundvierzig war's so gewitterschwanger nicht mehr gewesen. Was nun, was nun?! Konnte man denn auch wirklich noch ruhig schlafen?!


Eine Hitzwelle war über Berlin gekommen. In den Straßen brütete eine Hundstagsschwüle jetzt schon gegen Ende des Mai. Feuer fiel vom Himmel herab aufs Pflaster der Straßen; Funken sprühten die Steine. Berlin war ein Ofen, darinnen man Glut schürt. In den Cafés und Konditoreien schlug man die matten Fliegen mit Klappen tot.

»Wenn Österreich sich diesmal einschüchtern und demütigen ließ, dann konnte es nur sein Testament in Deutschland machen,« so hatte eine österreichische Zeitung selber geschrieben. Nein, es würde sich diesmal schon nicht einschüchtern, seine Wünsche, seine Rechte nicht erschlagen lassen wie matte Fliegen! Man fröstelte in der heißen Stadt. Bismarck wollte Krieg!

Daß er doch lieber getroffen worden wäre am 7. Mai! Da hatte einer auf ihn geschossen Unter den Linden, gerade als er vom König kam. Aber es war ihm nichts geschehen. Ruhig war er nach Hause gegangen. Den armen Studenten aber, den tapferen Jungen, hielt man gepackt.

In die Hofschmiede hatte der Altgeselle Peter die Kunde gebracht. Was, wo, wer war geschossen?! Der Meister, der in der Sofaecke saß, fuhr aus dem Mittagschlaf auf: das war unmöglich, wie konnte einer so frech sein!

Der Rheinländer lachte: »Warum dann nit? So einer muß weg!«

Da traf ihn des Meisters Faust so kräftig unter die Nase, daß er das Letzte verschluckte mit seinem quellenden Blut.


Nur in Stralau war es noch immer friedlich; da merkte man nichts von der Schwüle der Stadt und von der Erregung [ihrer] Bewohner. Also Krieg, einen unseligen Bruderkrieg wollte er Preußen auf den Hals laden? Dafür sollte man seine Söhne hingeben, seine Brüder, so viel teueres Blut?

In Stralau blühten jetzt wieder die Rosen, aber nur Gottlieb las ihnen die Raupen ab und lief mit der großen Gießkanne zwischen den Beeten herum. Der Meister hatte jetzt keine Zeit.

Aus der benachbarten Kaserne war zum Hofschmied geschickt worden; die Regimentsschmiede wurden nicht allein fertig mit all der drängenden Arbeit. Es waren eiligst zu viele Pferde zu beschlagen. Das Schmiedefeuer wurde höher geschürt, der Lehrjunge setzte den Blasebalg in Bewegung, daß ihm der Arm schmerzte, die Gesellen murrten über die Hetze, der Meister wetterte über den Hof.

Aus den vielen Fensterchen der alten Kaserne erklang das Klopfen mit Rohrstöcken den ganzen Tag; aus den Fenstern der neuen Kaserne vorm Halleschen Tor kam das gleiche Klopfen. Die Soldaten prügelten da ihre Monturen so kräftig aus, als wären's schon lauter Feinde. Die Anwohner hörten das Pfeifen der Mannschaft von früh bis spät; von der Reveille bis zum Zapfenstreich war reges Leben. Lieder, die man lange nicht vernommen hatte, wurden laut.

»Das Volk steht auf, der Sturm bricht los, –
Wer legt noch die Hände feig in den Schoß?!«

Aber das Volk brachte diesem Sturm, der losbrechen sollte, nicht die Begeisterung früherer Sturmzeiten entgegen. Die Mädchen, die abends, wenn es dunkelte, in den Büschen vorm Tor ihren Soldaten am Hals hingen, schimpften erbost: war das nötig, in so einen Krieg zu ziehen? Sie hingen sich fester an die bunten Röcke: dazu gaben sie ihre Liebsten nicht her!

Aber in den Schmied war es gefahren wie Kampfeslust, die Unruhe, die ihm im Blute steckte, fand jetzt Betätigung. Sein Hof war ein Heerlager, da war ein Getrappel den ganzen Tag. Die Offiziersburschen brachten die Rosse ihrer Herren, schöne Tiere mit klugen Augen, die unruhig stampften. Die lange Markgrafenstraße herauf jagten die Pferde vom königlichen Marstall, Remonten trappelten durchs Hallesche Tor, Fouragewagen rasselten, überall Leben.

Wenn's nur erst losgehen würde! Der Schmied fühlte es schon jetzt wie eine Befreiung. Was wollten die Dummen mit ihrem Haß? War der Graf denn nicht doch der Allergescheiteste? Der mußte es ja so machen. Ergriff eben die Gelegenheit um jeden Preis, Hammer zu werden. Poch, poch – rauf auf Österreich und alle die, die es Preußen nicht gönnen wollten, groß zu werden!

Henze stand am Amboß vor seiner Werkstattür, es war ihm heiß. Er hätte sich gern abplumpen lassen, aber Gottlieb war noch in Stralau. Und die Gesellen hatten Feierabend gemacht, die Lehrjungen auch. Der Schweiß rann dem Eisernen. Sechs Dutzend Hufeisen, große und kleine, waren zu schmieden bis morgen früh; sie waren noch nicht fertig. O, er kriegte die sechs Dutzend schon noch voll, und sollte er sich an die Arbeit halten die ganze Nacht!

Hoch hob er den Hammer in der mächtigen Faust und ließ ihn niederfallen – poch, poch. Jetzt lohnte es sich, zu arbeiten – poch, poch. In die Stille der Zeit war's wie Sturmwind gefahren. So war es auch damals im März gewesen wie jetzt zu Sommers Beginn. Voller Hoffnung und Mut.

Auf dem Herd der Werkstatt loderte hoch die Glut. Er setzte selber den Blasebalg in Bewegung – das Eisen wurde rot, immer röter im Feuer – auf den Amboß damit! Jetzt ist es wie Wachs – poch, poch – jetzt kann man es breitschlagen, krummschlagen, ausrecken, biegen, ihm jede Form geben, ganz wie man will.


Von der Jerusalemer Kirche ertönten die Glocken. Aber ihr dunkles Trauergeläut ging unter im hellen Lärmen der großen Stadt. Von der Schützenstraße her kam ein stilles Fuhrwerk. Es bog über die Friedrichstraße und ratterte dann langsam durchs Hallesche Tor. Der gelbe Tannensarg lugte durch die knappen verschossenen Behänge, deren Schwarz fuchsig geworden war von Sonne und Regen. Ein Reicher war's nicht, der da herausgefahren wurde.

Aber es gingen viele hinterher. Die alte Witten war so bekannt gewesen im Halleschen Torviertel, sie hatte so manchem auf die Welt geholfen, daß man sich's jetzt auch nicht nehmen ließ, ihr herauszuhelfen.

Wo ihre Luise begraben lag, hatte die Witten gewünscht, auch zu liegen. Aber gehörte sie denn dahin? Sie kam auf den Halleschen Friedhof in die Nähe von ihrem Mann. –

Christian Schulze hatte einen schwarzen Flor um den Hut; er ging im langen Rock, das greise Haupt gesenkt, der Reihe der Nachbarn mit kleinen Schrittchen voran. Nähere Verwandte hatte die Witten nicht, er war ihr von ihren Bekannten der bekannteste gewesen; und lange Jahre hatten sie sich gegenüber gewohnt, und sie hatte ihm siebenmal ein Kind aus ihren Armen entgegengehalten. Nun war er aufrichtig betrübt. Und er hätte es seinen Schwiegersöhnen sehr übel genommen, wenn sie nicht alle mitgegangen wären, ganz gleich, ob sie die Hilfe der Witten in Anspruch genommen hatten, oder nicht. An seinem Arm ging Frau Lene; sie schluchzte in ihr Taschentuch, als ob ihr eine Schwester beerdigt würde, trotzdem sie doch immer eine geheime Scheu vor der Witten gehabt hatte.

Auf dem Bürgersteig blieben Leute stehen und sahen der Witten nach: das war auch noch eine von früher, so ein Wahrzeichen des Viertels! Wie war die wackere Frau immer losgeschoben mit ihrer Tasche, noch bis in die letzten Jahre; dann ging es auf einmal nicht mehr. Sie standen und blickten nach mit einem gerührten Lächeln. Nur die Kinder, die nichts von der Witten wußten, rannten achtlos vorbei.

Am Belleallianceplatz schloß sich auch Henze dem Zuge an. Gottlieb hatte draußen in Stralau den alten Schulze in seinem Garten Blumen schneiden und Frau Schulze einen Kranz daraus winden sehen; dadurch hatte man's zu wissen gekriegt vom Tode der Witten.

Der Schmied war in aller Eile in seinen Rock gefahren. Es war eine Mühe gewesen, sich den Ruß abzuwaschen, aber er hatte es gern getan. Und wenn es auch heute schlecht paßte bei all der Arbeit, und wenn er auch kaum je viele Worte mit der Witten gewechselt hatte, er ging doch hinter ihr her.

Von der Jerusalemer Kirche verhallten die Glocken. Das hatte sich die Witten extra bestellt, in ihrem Testament vom geringen Nachlaß das Geld dafür bestimmt: wenigstens unter Glockengeläut wollte sie begraben werden, wenn die Kanonen und Flintenschüsse denn fehlen mußten.

Eine komische Frau! Gottlieb hatte sich darüber aufgehalten. Das war doch, wenn man denn schon tot sein mußte, ganz egal. Aber fein war es so, und der Prediger von der Jerusalemer Kirche, den die Meisterin auch so gern hörte, der beerdigte sie.

Aus der Dragonerkaserne, dem Kirchhof gegenüber, ertönte Trompetenschall; es übte einer Fanfaren. Man hörte sie auf dem Friedhof sehr deutlich. Der alte Schulze schüttelte unwillig den Kopf, das war eine Störung. Es war überhaupt hier längst nicht mehr so still wie ehemals, als er hier dichte bei, seinen schönen Kohl baute. Jetzt rasselten Omnibusse und Droschken draußen an der Mauer entlang, und horch, jetzt zogen Truppen aus der Kaserne mit klingendem Spiel! Keine Ruhe mehr. Betrübt hing der Greis den Kopf.

In das Schmettern der Trompete, in das Wirbeln der Trommeln und das Schrillen der Piccoloflöten hinein, sprach der Geistliche:

»Psalm 9, Vers 3. Ich freue mich und bin fröhlich in dir, und lobe deinen Namen, du Allerhöchster, daß du meine Feinde hinter sich getrieben hast!«

Seltsam berührt hob Henze den Kopf. Er hatte gerade nachgedacht: heute morgen hatte er von Helene, die mit der Mutter im Bade weilte, einen Brief bekommen, sie schrieb, die Mutter hätte keine Ruhe mehr so fern. Man hörte von Krieg – da wollten sie lieber beim Vater sein, sagte die Mutter. Also zu ihm wollte Johanna? Bangte sie sich nach ihm? Oder, bangte sie um ihn? Warum wollte sie zu ihm – zu ihm?!

Er hatte sich ganz in diese Fragen hineingesonnen, nun merkte er doch auf: eine Stimme erweckte ihn. Ein pastörlicher Ton, und doch war etwas darin, was ihm so vertraut war. –

Warum wählte der Pastor eigentlich gerade diesen Text bei der alten Witten? Christian Schulze sah verwundert seine Lene an und dann August Lehmann, der ihm zunächst stand. Das paßte doch gar nicht her?!

Der Geistliche sprach:

»Teure Leidtragende! Wir begraben heute eine Frau, eine teure Schwester in Christo, eine Stillgewordene, mit Worten, wie sie eigentlich einem Manne geziemen, einem Krieger, der auszog mit Schild und Speer wider die Feinde, wie einst Saulus, der streitbare Held, auszog gegen die Amalekiter.

»Auch sie zog aus, zu kämpfen, in einer Zeit, die wohl von uns allen, die wir hier um die Grube versammelt sind, noch nicht ganz vergessen ist. Als ein Wirbel die Welt ergriffen hatte, als Frühlingsstürme den öden Winter verjagten, der uns eingebettet hielt so tief unter Bergen von Schnee, von Vorurteilen, von Bevormundungen, von Bedrückungen – ein schwerer Winter, der die Flügel der Jugend belastete, daß sie die nicht regen konnte zu freiem Flug – ein langer Winter, der das Volk hungern ließ und fast verschmachten – da war auch sie unter jenen, die ihre Stimmen und Hände erhoben, um zu kämpfen gegen die Feinde. Auf, lasset uns kämpfen! Mir wollen nicht länger Tyrannenknechte mehr sein! Auf, auf für unsere Freiheit!«

In Henzes Augen blitzte es, mit Spannung hatte er zugehört: das klang wie ein Schlachtenruf. Wer hatte doch einst auch so zu ihm gesprochen mit markiger Stimme? Mit schwungvoller Handbewegung jedes Wort begleitet? Mit großen Schritten die Stube durchmessen? Begeistert die wallenden Locken geschüttelt? Mit Feuer das Rapier von der Wand gerissen, es ausgelegt zu Stoß und zu Abwehr? Ein plötzliches Erkennen durchzuckte ihn: Herrgott, der – der da, war der wohl der Student?! Ja, der Student, sein Richard John!

Unwillig drehte sich der alte Schulze nach dem Schmied um: »Pst!«

Mit Mühe nur hielt Henze an sich. Es drängte ihn, zu dem da hinzustürzen, seine Hand zu pressen mit freudigem Druck – seinem Richard, seinem Freund, seinem Gefährten in großer Zeit!

»Ich habe sie nicht gekannt in jenen Tagen,« sprach der Geistliche weiter. Er runzelte die Stirn: einen Augenblick hatte er nach dem Schmied hingesehen. Seine Stimme, die eben noch stark gewesen war, aufmunternd, anfeuernd, groß im Ton, wurde jetzt ganz milde, ganz sammetweich.

»Ich habe sie gekannt nur in ihren letzten Tagen, als sie nur mehr ausziehen konnte wie David, der Hirtenknabe, mit einer Schleuder. Ich habe viel mit ihr geredet in stillen Stunden, als sie schwach auf ihrem Bette lag, von dem sie sich nicht mehr erheben sollte. Noch lebte der alte Adam in ihr, sie hatte viel gegen innere Feinde zu kämpfen, die teure Schwester. Alt war sie, ihr Rücken gebeugt, ihr Haar schneeweiß, aber es war noch immer etwas in ihr, das sich empören wollte. ›Warum habe ich nur Arbeit und Sorgen gehabt in meinem Leben? Was hat meine Luise verschuldet, meine brave Luise, daß, sie weggerissen wurde in ihrer blühendsten Jugend, ohne Freude gekannt zu haben, ohne ein bißchen Glück? Ich habe Opfer gebracht, drei schwere Opfer: meine Tochter, zwei Söhne, all meine Kinder. Und was wird mir zum Lohn? Ich sterbe allein!‹«

Der Mann im Talar richtete die Augen empor, sein Ton wurde wieder stärker:

»Aber ich habe sie gelehrt, die Schleuder des frommen Hirtenknaben recht zu gebrauchen – ein demütiges Gebet allein ist Wehr und Waffen gegen alle Feinde. Und ich hoffe, sie schlug den Riesen tot, der ihr den Weg verstellte zur himmlischen Gnadenpforte. Sie ist jetzt eine Stillgewordene, eine Feindeslose. Darum freuen wir uns und sind fröhlich und loben dich, du Allerhöchster! Freuet euch mit mir, teure Leidtragende, erhebet eure Hände zum Lobe! Unserer Schwester läuten die Glocken der Kirche, nicht wie einst zu rebellischem Kampf, nein, zu jenem Frieden, da sie die Palme des Sieges trägt!«

Frau Lene schluchzte auf: das war zu rührend. Auch Christian Schulze zog sein buntes Sacktuch: der sprach wirklich erhebend. Sie waren alle ergriffen. August Lehmann suchte, halb gerührt, halb verschmitzt blickend, Henzes Blick: sie, sie beide waren ja damals auch mit dabei gewesen!

Aber Henze erwiderte diesen Blick nicht. Finster sah er den Mann an, der da stand im schwarzen Talar mit den weißen Bäffchen. Klein, rundlich, die Hände, die wohlgepflegt waren wie Frauenhände, gefaltet über den Sarg hebend. Noch immer hing ihm das Haar lang, aber nicht in wallenden Locken; es war glatt gestrichen.

Und Hermann Henze verwunderte sich: war das wirklich sein Richard? Ach, von dem war nicht mehr viel übrig geblieben! Ein Trotz hob sich in ihm: den wollte er auch gar nicht wiedererkennen. Die Erinnerung war ihm lieber, als der Mann, der dort stand.

Er beeilte sich, kaum, daß das Abschiedsamen gesprochen war und er seine drei Hände voll Erde dem Sarg nachgeworfen hatte, den Friedhof zu verlassen. Aber ein Kirchendiener kam hinter ihm hergerannt: Pastor John wünsche ihn zu sprechen. Es widersetzte sich etwas in Henze, und doch ging er mit; wissen wollte er doch wenigstens, wie das so gekommen sein konnte. Sein Richard, sein bewunderter und dann schmerzlich vermißter Freund, der Jüngling mit dem feurigen Blick der blauen Augen!

Die Augen des Pastor John waren noch immer schön; aber sie waren nicht feurig mehr. Sanft-freundlich sahen sie jetzt den vor ihm Stehenden an: »Wie freue ich mich, Sie wiederzusehen! Welch eine Fügung!«

Sie hatten sich die Hände geschüttelt. Die Leidtragenden waren fortgegangen, sie waren allein. Aber der Schmied brachte kein Wort heraus: er hätte so gern gefragt: wo warst du, was triebst du, warum hast du denn gar nichts von dir hören lassen?! Das ›Sie‹ verschloß ihm den Mund. Er sah zu Boden.

Pastor John lächelte fein. Er schien sich vor sich selber ein wenig zu schämen. Und doch seufzte er, und ein wehmütiges Bedauern zog flüchtig über sein noch immer sympathisches Gesicht, als er sprach: »Jugendtorheiten. Sie sind vorbei! – Haben Sie mich denn erkannt? Ich habe Sie sofort erkannt. Sie haben sich wenig verändert!«

»Sie haben sich sehr verändert!« Der Schmied ließ den Blick jetzt frei auf des andern Gesicht ruhen.

»Das glaube ich wohl!« Pastor John lächelte wieder. »Sie konnten mich ja auch nicht als Theologen vermuten. Ich habe lange bei dem Bruder meiner Mutter im freien Lübeck mich aufgehalten, dann habe ich dem dringenden Wunsche meines Vaters nachgegeben und in Halle weiterstudiert – Theologie. Und ich habe es nicht bereut. Ich bin bald ins Amt gekommen. Meine liebe Frau habe ich in Schönebeck kennen gelernt. Wir kamen dann nach Burg bei Magdeburg, dann nach Erfurt, und jetzt bin ich hier!« Er hielt dem Schmied die Hand hin: »Besuchen Sie mich bald einmal, lieber Henze! Sie erzählen mir dann, wie es Ihnen inzwischen ergangen ist. Ich habe fünf Kinder – eine vielversprechende junge Schar – nicht wahr, Sie kommen einmal?«

Eine Dame in Trauer hatte sich genähert, sie grüßte zu dem Geistlichen herüber.

»Verzeihen Sie, lieber Henze!« Pastor John drückte ihm noch einmal die Hand. »Da ist Frau Geheimrätin Schönerstedt, deren Mann ich vorgestern beerdigt habe, ich muß mit ihr sprechen!«

Henze sah nicht nach, wie der schwarze Talar sich zwischen den Hügelreihen hindurchwand. Er ging mit starkem Schritt zum Kirchhof hinaus. Sein Herz krampfte sich für Augenblicke zusammen: also das war Richard John? Der Schwärmer von Achtundvierzig? ›Sie‹, nicht mehr ›du‹ – und nicht einmal gesagt: ›verzeih mir, daß ich dir keine Nachricht zukommen ließ, mein Freund! Aus dem und dem Grunde konnte ich es nicht!‹

O, den Grund wußte er schon. Viele Gründe! Ein grimmiges und zugleich mitleidiges Lächeln zog die Mundwinkel Henzes herab. Er machte mit seiner großen Hand eine Bewegung durch die Luft wie: vorbei. Man muß auch aufräumen können, wenn's nötig ist. Er würde zum Pastor John nicht hingehen. Kräftig schlug er die Gitterpforte hinter sich zu: abgetan wie die alte Witten und ihre Zeit. –

In der Kaserne war der Fanfarenbläser verstummt. Da schien jetzt unheimliche Stille zu herrschen. Und doch sah Henze, als er beim Vorübergehen einen Blick durchs Tor warf, daß es da auf dem großen Hof so bewegt herumwimmelte, wie in einem Ameisenhaufen. Offiziere, höhere Offiziere und Leutnants, standen in der Mitte des großen Platzes beisammen; man hörte eine Stimme ruhige Befehle erteilen, und Mannschaften liefen im Trab hin und her.

Als er durchs Hallesche Tor kam, brüllte der Zeitungsverkäufer, der dort seinen Stand hatte: »Extrablatt! Extrablatt!« Gruppen von Menschen standen beisammen. Von der Friedrichstraße herauf tönte der gleiche Schrei: »Extrablatt! Extrablatt!«

Er achtete es nicht. Er war noch befangen; so rasch schüttelte er sich das doch nicht ab. Aber als er an seine Einfahrt kam, stand Gottlieb darin und winkte mit beiden Armen: »Meester, man fix, man fix, wo bleibste denn so lange? Was unser zweiter und dritter Jeselle is, die haben ebend den Einberufungsbefehl jekriegt – binnen drei Tagen auf un davon. Nur der Peter bleibt, der is ja man Landsturm. Det uns Jott bewahre – Krieg! Krieg! Man fix, Meester, massenhaft Arbeit. Man fix!« Er faßte schon nach des Meisters Rock, um ihm den herunterzuziehen.

Mit einem Ruck schleuderte der Schmied die Sonntagskleidung von sich. Schon lag das blaue Hemd, die Arbeitshose, der Lederschurz auf dem Hauklotz bereit.

Aus der Werkstattür lodernder Schein, Spielen tanzender Flammen. Die Glut brannte hoch, der Blasebalg fauchte wie ein wütendes Tier. Rot glühte das Eisen. Und rot war der dunkle Schuppen erhellt, darinnen standen gleich Riesen geschwärzte Männer. Des Meisters Blick haftete auf dem Amboß, seine Hand griff nach dem Hammer.

Eben kam der blonde Stallmeister auf den Hof; er kam aus der Kaserne vorm Halleschen Tor, er suchte den Meister nur rasch noch einmal auf im Vorübergehen. Als Vizewachtmeister trat er in die Werkstatt ein; er steckte schon in der blauen Dragoneruniform, die stand ihm gut. Er sagte nicht guten Tag, er reichte auch nicht die Hand zum Gruß, er legte sie nur an die Mütze: »Krieg, Krieg, mobil gemacht!« Er lachte über das ganze glühende Gesicht. »Österreich ist bundesbrüchig geworden, das läßt der Bismarck sich nicht gefallen. Ob – wo unsere Truppen schon eingerückt sind, wer weiß es. Es geht alles wie der Wind. Das ist doch was anderes wie's vorige Mal! Prinz Friedrich Karl befehligt die erste Armee; man sagt, unser Kronprinz die zweite. Morgen rücken wir aus, mir ganz egal wohin, wenn ich nur mit dabei bin!«

Der Vizewachtmeister mußte getrunken haben, vielleicht war es auch nur die Aufregung. Er war wie im Taumel. Sein hübsches Gesicht mit dem blonden Schnurrbärtchen war heute schön in der hellen Tatenfreude. Mit lauter Stimme hub er an zu singen, die Gesellen schlugen im Takt dazu ein festes Poch, poch.

»Stoßt mit an, Mann für Mann
Wer den Säbel schwingen kann!«


Läuteten jetzt nicht die Glocken, rief's nicht von allen Türmen Sturm? Der Meister hob lauschend den Kopf. Nein, es war nur das Blut, das ihm zu Kopf gestiegen war, das ihm schneller durch die Adern schoß. Es brauste in seinen Ohren, in seinem Herzen wallte es heiß auf: wieder eine große Zeit herangelebt! Glücklich, daß er sie mit erleben durfte! Noch war der junge Mensch da nicht allein jung, auch er war noch jung, zu Taten fähig, wenn er dies auch nur zeigen konnte: hier. Hier!

Und er hob den Hammer und schlug ihn nieder mit so gewaltiger Kraft, daß der Amboß zolltief in den Erdboden einsank und die Gesellen bewundernd murmelten.

Poch, poch, eine neue Zeit bricht an – poch, poch – und immer weiter poch, poch, mit gewaltiger Kraft, mit einem Arm, der nicht müde wird – poch, poch, immer poch, poch – eine große Zeit!


Buchdruckerei Roitzsch Albert Schulze,
Roitzsch

 


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