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Dreizehntes Kapitel

Was sie auch Helene Schehle sagten, sie blieb dabei: und wenn auch Ferdinand Ohm Frau und Kinder hatte, sie liebte ihn und ließ sich nicht von ihm abbringen. Es war ihr sogar wie eine Erlösung, daß sie's nun wußte. Nur aus Liebe hatte er eben geschwiegen, sein Unglück allein für sich getragen. Sie hatte der Mutter versprechen müssen, ihn jetzt nicht zu sehen, sie hatte dies Versprechen ganz ruhig gegeben, in Gedanken war sie ja doch bei ihm. Keine äußere Trennung konnte sie innerlich von ihm lösen.

»Hast du denn gar keinen Stolz mehr?« Die Mutter ließ sich hinreißen, sie faßte die Tochter hart an, sie rüttelte sie. Aber Helene neigte den Kopf demütig. Und dann hob sie ihn mit einem gewissen Trotz, es flammte auf in ihrem Gesicht, sie sah die Zornige starr an: »Sagt, was ihr wollt!« –

Johanna Henze sah im Spiegel, daß sie grau wurde an den Schläfen. Schon grau? Sie bekam einen Schreck. In dunklem Haar sieht man es so leicht. Das machte der Kummer um Helene. Wie konnte die so verrückt sein, so töricht?! Junge und unbescholtene Männer hätte sie haben können, und Ohm, der mußte sich doch erst scheiden lassen. Ach! Die Frau nickte ihrem Spiegelbild zu mit reuevollen Augen: ›Das ist dein Kind!‹

Der Meister hatte den Papierfabrikanten unsanft angefaßt, als der auf den Hof gekommen war, gerade so als sei nichts geschehen. Er hatte ihn fast vom Pferd gerissen: »Da rein!« und hatte ihn vor sich hergedrängt ins Glashaus, in das Privatkontor.

Auf einem Haufen standen Gottlieb und die Gesellen: au, da drinnen ging's gut zu! Da tagte es gewaltig! Man hörte des Meisters laute, zornige Stimme. Gottlieb schlich sich hinein bis an die Vorzimmertür; er stand gerade gebückt, das Ohr am Schlüsselloch, als die Tür aufging. Da kamen sie schon wieder heraus. Der Meister hochrot, der andere etwas blaß.

Der Meister hatte es durchgesetzt: Ohm mußte sich scheiden lassen. Aber wenn Frau Ohm das nicht wollte?!


Wenn die Lindenstraße abends leerer wurde oder am Morgen noch nicht belebt war, konnte man bemerken, wie eine Dame an der Schmiede vorbeiging. Sie ging immer auf und ab, halbe Stunden lang. Bald hielt sie sich dicht an der Hauswand, stand am Eingang still und spähte durch die offenstehende Toreinfahrt in den Hof; bald strich sie drüben auf der anderen Seite vorbei und musterte die Fenster des Vorderhauses. Etwas Ruheloses, etwas Verzweiflungsvolles war in diesem Hin- und Herlaufen.

›Wie 'n Tier hinters Jitter von die Menagerie,‹ dachte Gottlieb, der morgens den Bürgersteig fegte.

Oben klappte ein Fenster. Helene hatte es aufgemacht; es war noch früh, sie war noch nicht angezogen, aber es sah sie ja niemand. Im weißen Nachtjäckchen beugte sie sich heraus. Sonst hatte sie immer gern lange geschlafen, jetzt mochte sie nicht mehr mit offenen Augen daliegen, sich behaglich dehnen, die Arme hinterm Kopf verschränken und mit blinzelnden Augen nach den spiegelnden goldenen Lichtern sehen, die die Frühsonne durch die weißen Gardinen warf.

Wann sah sie ihn wieder?! Die Unruhe war groß in ihr und die Sehnsucht. Nun waren Wochen vergangen, sie hatte ihn nicht gesehen, keine Zeile von ihm erhalten. So war es verabredet, er hatte es versprechen müssen. »Sie kommen mir nich eher auf 'n Hof, als bis Sie Ihre Sache ins reine gebracht haben,« hatte der Schmied gesagt. Und doch hatte Helene immer gehofft.

Ihr war jetzt, als müßte ihr die Luft einen Gruß zutragen, diese Morgenluft, die rein und frisch ihre heißen Lippen umkoste. Sie lächelte. Sie war schön, sehr jung mit diesem Lächeln und kindlich vertrauend. Er liebte sie ja! Verträumt schaute sie in den erwachenden Tag. Das Haar, das sie für die Nacht nur lose geflochten hatte, hing ihr um wie ein seidiger Mantel, der hell-goldig flimmerte im Morgenlicht.

Die Frau gegenüber auf der Straße blickte starr hinauf. Wollte sie, daß das Mädchen sie bemerkte? Heftig erregt murmelte sie etwas; sie hob die Hand, als ob sie winken wollte, aber sie tat es doch nicht. Hastig knöpfte sie an ihren Hutbändern, band sie zu, band sie auf, ging ein paar Schritt vorwärts und stand dann unschlüssig wieder; man hätte es ihr ansehen können, daß sie etwas wollte. Sie war zu gut gekleidet für eine Bettlerin, und doch hatte sie etwas an sich, das eine teilnahmvolle Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte.

Aber Helene bemerkte nichts, sie war in Gedanken befangen, die sie glücklich machten; in Träumen. Wenn er sich erst hatte scheiden lassen, wenn er erst ganz, ganz allein ihr gehörte! »Lieber Gott, laß uns glücklich werden!« Sie faltete die Hände.

Unten im Hof fing ein Klappern an, über die Straße rasselte ein Wagen, aufgeschreckt schloß das Mädchen das Fenster. Die Frau unten ging fort.

Aber am nächsten Tag war sie wieder da und am folgenden auch. Und auch zu anderen Zeiten kam sie. Die spionierte ja förmlich ums Haus! Gottlieb sah sie, aber was ging's ihn an? Sie kam ihm nicht ganz richtig vor mit ihrem aufgeregten Benehmen. Aber alle Frauenzimmer waren ja mehr oder weniger verrückt.

Er hatte jetzt einen förmlichen Haß auf die Weiber. Mit Lieschen Krausnick war er entzweit. Das hätte er nie gedacht, daß der kleine Pussel aus Lübben so tück'sch sein könnte! Sie sprach nicht mehr mit ihm. Wenn er ihr eine ganze Schürze voll Kleinholz in die Küche brachte, sagte sie nur: »Danke,« ganz leise und drehte den Kopf weg. Da sollte sie sich ihr Kleinholz selber machen, die Spänchen, die sie zum Anfeuern brauchte, und die er ihr mit seinem Taschenmesser immer so fein, so ganz dünn geschnitzelt hatte. Nun würde er sich nicht mehr ihretwegen in die Finger schneiden. Jetzt brachte er ihr einen Arm ganzer Kloben herauf und schmiß ihr die beim Herd hin, daß es krachte.

Verrücktes Frauenzimmer! Das brauchte sie doch nicht gleich krumm zu nehmen, daß er, als er den Meister bei ihr in der Küche fand, gesagt hatte: »Lassen Se sich man immer mit dem ein – na, ich danke! Ick habe Ihnen doch immer for 'n anständijes Mädchen jehalten!« Was brauchte sie denn da gleich loszuheulen? Aus der Küche war sie gerannt, hatte ihn nicht mehr angesehen seitdem. Und es war doch nur gut gemeint gewesen! Gottlieb litt schwer darunter.

Sie litten alle im Haus. Die Magd hatte oft rotgeweinte Augen, die Tochter hing den Kopf; es wurde Helene schwer und immer schwerer zu ertragen, daß sie gar nichts von dem Geliebten hörte. Johanna machte ein Gesicht wie ein grauer Tag, an dem die Wolken dräuen. Die alte Majunke hatte wieder ihre Gicht, sie war so krank, daß der Meister davon gesprochen hatte, sie nach Bethanien zu tun; aber davon wollte Gottlieb nichts wissen.

Nur der Meister selber war vergnügt. Er tat wenigstens so; er wehrte sich gegen das alltägliche Einerlei, er suchte sich aufzufrischen. Die Schmiede ging jetzt eigentlich ganz von selber, die Kunden kamen, die Gesellen machten ihre Arbeit, er brauchte sich kaum mehr darum zu kümmern. Bequem konnte er an der Toreinfahrt stehen, ruhig abwarten, was der Tag ihm brachte, die Lindenstraße hinunterblinzeln, sie hinaufblinzeln, bis zum Platz, allen hübschen Mädchen der Nachbarschaft, die er kannte, ein Neckwort zurufen und mit denen, die er noch nicht kannte, anbandeln.

Der Schmied, der Hofschmied, war bekannt im ganzen Viertel. Und da war mancher, der auf ihn schimpfte, auf ihn fluchte ganz mörderlich.

Gottliebs Gesicht wurde, wenn er den Meister so dastehen sah, fahl vor verbissenem Grimm und vor Neid. Er schämte sich seines Neides; aber mußte es einen denn nicht mißgünstig machen, daß so einer alles an sich riß?

»Was willst du in der Fremde tun,
Es ist ja hier so schön –«

das sang Gottlieb nicht mehr. Wäre seine Anhänglichkeit nicht gewesen, die an diesen Mauern hing wie eine Katze an dem Hause, in dem sie gefuttert wird und Mäuse fängt, er wäre auf und davon. Aber so konnte er ja nicht. Schon nicht wegen der Majunken. »Se feift uf 'n letzten Loch,« sagte er sich mit trübseliger Miene.

Aber auch der Hausherr war nicht so vergnügt, wie der Hausknecht glaubte. Das mit Helene ärgerte ihn zu sehr. Das schöne Mädchen sollte der Ohm nun kriegen?! Er hatte einen unbestimmten Haß auf den Papierfabrikanten. Alle Erkundigungen, die er eingezogen hatte, stimmten freilich überein: Ohm hatte immer Geld gehabt – von seiner Mutter her – aber nun der Alte tot war, hatte er erst recht viel Geld. Helene wurde eine reiche Frau. Aber macht denn der Reichtum allein glücklich?! Henze stieß einen Seufzer aus und faßte sich mit der Hand zwischen Hals und Kragen.

Ihm war jetzt oft enge. Zu enge. Sein Haus war eng, die Straße eng, die Stadt eng, die ganze Welt zu eng. Und viel zu still. Man konnte sie förmlich fühlen, diese lähmende Stille. Nahm man eine Zeitung vor, nichts als Klatsch, lauter Klatsch, Demagogenriecherei und kleinliches Gezänk. In der Zeit war kein großer Zug. Sie stand still wie ein Wasser, das kein Wellenspiel hat, weil es keinen Zufluß hat und keinen Abfluß, und weil niemand die Angel auswirft oder mit dem Ruder hineinplatscht. Ein Wasser, das so still ist, daß es faulig wird. Das tolle Jahr war entschwunden, als sei es nie gewesen; die Bürger wußten nichts mehr davon – ›Ruhe ist die erste Bürgerpflicht‹.

»Sein Se man bloß stille von Politik! Da hat man jenug von jekriegt. Allens Mumpitz. Mit dem König is det faul – der arme Mann! Un was der Willem los hat, der nu auf 'n Sprung is zum Prinzrejent, det weiß man doch auch noch nich. Na, überhaupt – na, un denn – na was jeht uns Deutschland an?!«

Von dem Junker, für den der Meister ein Interesse hatte – denn wenn der auch ein Junker war, er war ein Kerl – wußte kein Mensch etwas. Sie kannten nicht einmal seinen Namen.

Der Schmied ließ den Hammer oft ruhen; auch er war laß geworden. Mit seiner Lust an der Arbeit, mit der Tatfreudigkeit, die ihm eigentlich im Blut steckte, in dem gewaltigen Körper, dem nur wohl sein konnte, wenn er sich ausarbeitete, starb die Erinnerung an Stunden, in denen er in der Stube des Studenten auf das Wehen des Frühlingssturmes gehorcht hatte mit frohen Ohren, mit leuchtenden Augen. Was kümmert das noch einen Mann, der so satt ist?!

Er nahm Mieze auf den Schoß. Er saß jetzt regelmäßig, vor- und nachmittags, eine Stunde bei ihr in der Ritterstraße. Sie hatte sich einen Bräutigam angeschafft.

»Na, was krieg ich denn zur Hochzeit?« fragte sie. »Na?« und faßte ihn vorn am Rockknopf und sah ihm ganz nahebei dreist in die Augen.

Der mußte er schon was Ordentliches geben! Er war ihr etwas schuldig geworden. Henze nahm sich das weiter nicht übel, daß er noch manch einer etwas schuldig war. Warum kamen sie ihm auch alle so entgegen?!

Als er heute von Mieze nach Hause ging, lachte er in sich hinein; aber es war ein verbissenes Lachen. Der Bräutigam war gerade dazu gekommen, aber er war zusammengesetzt gewesen aus lauter Respekt und Höflichkeit. Wenn er und seine Braut erst ihren Budikerkeller aufgemacht hatten in der Feilnerstraße, würde der Herr Hofschmied hoffentlich doch so freundlich sein und sie auch da beehren? Ja, das würde er, wenn der Esel es denn nicht anders haben wollte! Des Schmieds Gesicht verzog ein Lachen, das seine Lippen wulstig machte.

Er war unlustig, als er auf seinen Hof kam. »Gottlieb!« Der sollte kommen und ihn abplumpen.

Der Sommer war vorbei, ein erkältender Herbstregen rieselte fein nieder, aber den Eisernen fror nicht. Und wenn's ihn auch fröre! Etwas Verächtliches war in seinem Gesicht. So ein Kerl von Bräutigam – hätte der ihn nicht eigentlich herausschmeißen müssen? Aber nein, noch zum Kommen aufgefordert hatte ihn der!

Henze riß sich den Rock herunter und stand in Hemdärmeln im Regen. Warum kam die Schnecke, der Gottlieb, denn nicht? Jetzt endlich kam er. »Was siehste mich denn so an?«

Da machte Gottlieb ein ganz merkwürdiges Gesicht. »Meister,« sagte er langsam und so stockend, als ob ihm ein Schrecken die Zunge gelähmt hätte, »der Stallmeister – is tot. Vorhin – war – eener hier vons Hippodrom – 'n Junge. Der – hat 'nen Brief abjejeben von 'n Stallmeister – ›persönlich‹. Ich hab 'n rin ins Kontor jelegt!«

Der Meister zog die Brauen hoch; er ging ins Kontor.

Gottlieb folgte ihm auf dem Fuß; er war ganz käsebleich. Ach je! Er zitterte. Das kam bloß alles von der leidigen Liebe! – – –

»Nach meinem Tode abzugeben an Herrn Hofschmiedemeister Henze. Persönlich.«

Der Meister hatte zu Ende gelesen. Es stand nicht viel in dem Brief.

 

›Dem Fräulein gefällt meine Nase nicht. Mir auch nicht. Ich habe lange gekämpft: soll ich oder soll ich nicht? Ich lasse das Fräulein noch verehrungsvoll grüßen. Ich bitte Sie, Meister, ihr das auszurichten, und bitte Sie alle, ein freundliches Andenken zu bewahren

Ihrem ganz ergebenen
von Goldenap,

Premierleutnant a. D. im II. Pomm. Dragoner-Reg., gewesener Stallmeister im Hippodrom.

Berlin, 4. September 1857‹

 

Also gestern schon?! Der Meister ließ den Brief sinken.

»Ja, gestern abend schon,« wimmerte der käsbleiche Gottlieb. »Das hat der nur aus Liebe jetan! Er hat sich erschossen mit's Pistol in seiner Stube. Das rauchte noch neben ihm, sagte der Junge. Er war aber schon tot. Auf 'n Tisch lag der Brief!«

»Jammerlappen!« brummte Henze. Aber dann wurde das starke Rot seines Gesichts auch ein wenig blasser; leid tat es ihm doch. Ein schnurriger Kauz, aber eine ehrliche Haut! Was würde Helene wohl dazu sagen?!

Er nahm es ihr fast übel, daß sie nicht trauriger war. Sie war erschrocken, es tat ihr leid, aber traurig konnte sie um so etwas nicht sein. Ihre Gedanken waren erfüllt von andrem.


Tagelang, wochenlang war Frau Ohm um die Schmiede gestrichen. Sie mußte das Mädchen sehen; das Mädchen, das ihren Kindern den Vater nehmen wollte. Sie hatte Helene gesehen – ein junges, reines, unschuldiges Gesicht. Nun mußte sie das Mädchen sprechen. Die würde doch einmal ausgehen; dann würde sie hinter ihr herschleichen, sie am Arme packen, auf den Belleallianceplatz hinter das wilde Gesträuch des Flieders ziehen und ihr da sagen – ah, dann würde die ihn schon wieder frei geben, die hatte dann genug!

Aber Helene Schehle ging jetzt gar nicht aus; allein nie, höchstens einmal mit der Mutter. Wenn sie Luft schöpfen wollte, schlich sie hinters Glashaus in den dunklen Garten; da saß sie auf der Bank, die Gottlieb für eine andere gezimmert hatte, ließ die Hände im Schoße ruhen und träumte.

Es kam wenig Luft in den Garten. Die hohen Bäume, die eng beieinander standen, hielten sie ab. Ob auch die Sonne draußen brannte, hier war tiefer Schatten; aber der Schatten war doch heiß. Warm, schwül, stickig wie in einem Treibhaus war die Luft. Unterm gefallenen Laub, das noch dalag vom vorigen Jahr und moderte, schossen Pilze. Gottlieb hatte seinen Garten verabsäumt, er war nicht mehr der alte Gottlieb. – –

Aus dem schwülen Dunkel war Helene heute wieder aufgetaucht, draußen wehte schon der Herbstwind klärend durch die Straßen, nur hinterm Glashaus saß noch die ganze Sommerglut. Des Mädchens Gesicht war bleich, als sie über den Hof huschte; der Stiefvater rief ihr nach, sie blickte sich nicht um nach ihm. Es war ihr jetzt unangenehm, mit ihm allein zu sein. Er war nicht anders gegen sie als früher, immer hatte er sie gern an sich gezogen, und sie war vor ihm davongelaufen – nein, sie ließ sich nicht küssen! – aber sie hatte es mehr aus Neckerei getan, aus Spaß. Jetzt verstand sie ihn. Im schwülen Dunkel hatte sie ihre Unbefangenheit verloren: jetzt wußte sie, was Begehren ist.

Als sie die Treppe zum Vorderhaus hinauf wollte, trat rasch eine Frau vom Toreingang her an sie heran. Die mußte da gelauert haben; sie vertrat dem Mädchen den Weg. »Fräulein Schehle? Ich bin Frau Ohm!«

Sie hätte das kaum zu sagen brauchen, Helene hätte es auch ohne Wort gewußt. So mußte die Frau aussehen, die ihn unglücklich gemacht hatte, die Frau, von der er sich wegsehnte! Das Mädchen neigte kühl den Kopf: »Was wünschen Sie?«

Die Frau mit dem abgeblaßten, ganz gewöhnlichen, nichtssagenden Gesicht blickte wirr umher. »Sind wir allein? Wird uns auch niemand hier stören?«

Helene zuckte die Achseln: sie beide hatten sich wohl nichts zu sagen.

Aber die Frau drängte: »Ich muß Sie sprechen! Ganz allein sprechen! Ich muß – ich muß!«

Diese Aufgeregtheit war ansteckend. Helene fühlte, daß ein leichtes Zittern sie überkam: was hatte ihr die zu sagen? Eine Neugier bemächtigte sich ihrer und zugleich eine Abwehr. Sollte sie nicht lieber davonlaufen, die Frau stehen lassen, gar nicht hören, was die sagte? Aber die Fremde haschte nach ihrem Kleid. Helene konnte nicht entfliehen; die Füße wurden ihr auch plötzlich ganz schwer. »Kommen Sie,« sagte sie stockend. »Leise! Auf meine Stube. Da sind wir allein!«

Es hatte sie niemand heraufkommen hören.

»Nehmen Sie Platz!« Helene verging fast der Atem. Nun waren sie allein, nun konnte die sprechen! Sie hatte Angst. Warum sprach die denn nicht?

Die Frau hatte sich umgesehen mit einem langen Blick; sie blieb stumm. Man hörte ihren Atem rasch gehen. Jetzt sagte sie endlich: »So war's auch mal bei mir! 's ist lange her. So glücklich, so friedlich. Eh' ich ihn kannte, eh' –« die Stimme erstickte ihr. Und dann lachte sie bitter. Aufgeregt fing sie an, an ihren Hutbändern zu knüpfen, riß sie auf, band sie wieder zu und kehrte dann ihr Gesicht gegen das Mädchen. »Und so einen wollen Sie sich nehmen, das riskieren Sie?«

Helene warf den Kopf in den Nacken, sie sah hochmütig aus. Das Mitleid, das sie hatte beschleichen wollen bei dem: ›So war es auch mal bei mir‹, war geschwunden. Das hätte sie ja denken können, daß diese Frau, diese ganz gewöhnliche Frau, versuchen würde, ihn herabzusetzen. Aber das gelang der nicht! Sie richtete sich auf in ihrer ganzen Schlankheit, fast um einen Kopf größer war sie als die andere. Mit kalten Augen sah sie die Frau an: »Wenn Sie sich über Ihren Mann beklagen wollen, tun Sie's wo anders. Ich höre mir so etwas nicht an!«

»Sie sollen mich aber hören, Sie müssen mich aber hören!« Die Gereizte fuhr auf. »So hochmütig?! Gerade, nun gerade sollen Sie's hören, wie er mir nachgestiegen ist. Von morgens bis abends. Er wohnte damals in derselben Straße wie wir – gegenüber – ich war hübsch, sehr hübsch!« Sie lachte grell, sie mochte den Ausdruck der Ungläubigkeit wahrnehmen in dem schönen Mädchengesicht. »Es ist noch gar nicht so lange her, da war ich ebenso hübsch wie Sie. Das glauben Sie wohl nicht? Ja, Fräulein, das glauben Sie man! Ferdinand Ohm steigt nur den Hübschesten nach. Und dann kann er reden – o, er versteht 's Kirremachen! Ich war nur ein ganz einfaches Bürgermädchen, aber ein anständiges. Ich war keine Prinzeß, und Geld hatte ich auch nicht; mich hat er aber nicht so gekriegt. Oh, was hab ich mir eingebildet, was mach ich für'n Glück, als er mich geheiratet hat! Ein schönes Glück!«

Sie schrie es laut; sie trat auf Helene zu, so nah, daß diese zurückfuhr. Die Frau zischte ihr ins Gesicht: »Geschlagen hat er mich nicht, geschimpft hat er mich auch nicht, aber unglücklich hat er mich doch gemacht. 'n Verbrecher!«

Helene war weit zurückgewichen, der heiße Atem der Frau war ihr widerlich. Die war wohl krank?! Jetzt fiel ihr ein, was er ihr einmal erzählt hatte von einer Frau, die krank war, ›hysterisch‹, das heißt so viel wie verrückt; die ihrem Mann zusetzte mit Eifersucht, mit Verdächtigungen, die seine Ehre kränken mußten. Die ihn peinigte und doch verfolgte mit ihrer Liebe, Tag und Nacht. Er hatte nicht gesagt: das ist meine Frau – aber die war's gewesen, ja, ja! In Helenes Augen funkelte es auf. Wie konnte die Frau sagen: Verbrecher?! Warum?! O, wie viel edler war er! Er hatte kein böses Wort für diese Frau gehabt, er hatte sie nicht bloßgestellt. Und er hatte doch gewiß Grund genug zum Klagen.

»Gehen Sie weg!« Helene streckte beide Hände abwehrend aus. »Ich will nichts mehr hören!«

Aber die Frau faßte des Mädchens ausgestreckte Hände, hielt sie fest mit einer Kraft, die nur Verzweifelung diesen mageren, blutlosen Fingern geben konnte. »Und doch will ich mich nicht scheiden lassen – nein, ich laß mich nicht scheiden! Gerade weil er so'n Schubiak ist, gerade darum nicht! Er soll seinen Willen nicht haben. Nein. Fräulein, und wenn er Sie gehabt hat, dann, Fräulein, schmeißt er Sie weg, wie er mich weggeschmissen hat!«

»Ich würde von selber gehen!« Helenes bleiches Gesicht wurde noch bleicher, sie setzte die Zähne fest aufeinander. Ein Stolz war in ihr, der größer war, als sie selber es ahnte. Es war etwas Königliches in der Bewegung, mit der sie den Kopf hob. Aber dann trat wieder das Blut in ihre Wangen, sie lächelte: ach, das war ja alles nicht wahr! Aber wozu die Frau reizen? Die war krank, halb verrückt – aber die liebte ihn doch noch. Und die sollte ihn nun hergeben! Das Mitleid regte sich wieder in ihr; sie sagte sanft: »Frau Ohm, beruhigen Sie sich doch – Ihnen bleiben ja noch Ihre Kinder. Die läßt er Ihnen; er hat es gesagt!«

»Die wird er mir wohl gerne lassen, die elenden Würmer!« Die Frau fuhr auf: »Die muß er mir ja auch lassen, er hat kein Recht auf sie. Aber zahlen soll er für sie, ganz gehörig zahlen!« Ihre Augen funkelten auf in Wut, aber gleich darauf füllten sie sich mit Tränen; in einem Schauer zuckte sie zusammen. Ihre geschwächten Nerven hielten nicht mehr stand, halb ohnmächtig brach sie auf einem Stuhl zusammen. Sie lachte und weinte durcheinander: »Meine Kinder, meine armen Kinder! Sie sind man kümmerlich – ach, so schwächlich! Aber ich hab sie doch lieb. Meine Kinderchens, meine armen Kinderchens – krieg ich sie wohl groß?« Sie schluchzte herzbrechend.

Ein Kummer war in diesem Schluchzen, ein so großer, hoffnungsloser Kummer, daß des Mädchens Herz den Widerwillen überwand gegen die Frau. Diese Frau hatte ihre Kinder sehr lieb! Die Arme! Erregt wie sie war, fing Helene an mitzuweinen. Sie kehrte sich ab, sie biß auf ihr Taschentuch, sie wollte ihre Tränen nicht sehen lassen.

Aber die andere gewahrte sie doch. Frau Ohm hielt ein mit Schluchzen; den Kopf hebend, mit ihrem verstörten Blick Helene suchend, sagte sie mit einem Anflug von Würde: »Ich bin nicht schlecht, Fräulein. Sie sind auch nicht schlecht, Fräulein, das sehe ich ein. Ich hab's auch schon an Ihrem Gesicht gesehen, damals – da!« Sie wies aufs Fenster. »Wenn Sie ihn denn haben wollen – da haben Sie ihn!« Sie machte eine Handbewegung, als schleudere sie dem Mädchen etwas vor die Füße. »Ich bin auch stolz – ich gehe mit meinen Kinderchens. Aber das sage ich Ihnen, Fräulein, Sie werden's bereuen. Sie haben mit mir geweint, drum rat ich Ihnen zum Guten – ich will ihn ja nicht mehr, ich ließe mich nu doch scheiden – lassen Sie ihn laufen, jetzt, wo es noch Zeit ist. Er ist Sie nicht wert – keine wert!«

Sie band sich die Hutbänder fest, ohne Abschied ging sie aus dem Zimmer.

Auf den Stuhl, den die Frau verlassen hatte, fiel Helene nieder. Jetzt mußte sie weinen, laut weinen und war doch wie betäubt von Glück, ganz betört von Freude. Jetzt gehörte er ihr! Die Frau ließ sich scheiden!


Als Bräutigam kam Ferdinand Ohm nun ins Haus. Man merkte es ihm nicht an, daß er schon verheiratet gewesen war; er war wie ein ganz Junger, wie einer, der zum allerersten Male verliebt ist. Er war so nett, so freundlich, alle waren entzückt von ihm. Gottlieb bekam solche Trinkgelder, daß er sich sagte: ›Da könnt ich auch bald 'ne Hochzeit von ausrichten.‹ Und Lieschen Krausnick, die noch immer nicht gekündigt hatte, trotzdem sie beim Schlächter drüben gesagt hatte und auch bei Bäcker Piesich, sie hielte es nun nicht mehr länger aus, überlegte sich das Kündigen noch.

Selbst Johanna Henze mußte sich nach und nach eingestehen: es war doch ihres Kindes Glück. Wenn das schöne Paar über den Hof dem Garten zuschlenderte, Arm in Arm – beide fast gleich groß, ebenmäßig schlanke Gestalten –, dann sah ihnen die Mutter vom Fenster aus nach: schade, daß sie sich noch nicht zusammen auf der Straße zeigen konnten!

Die Verlobung Helene Schehles mit Ohm hatte großes Aufsehen im Viertel gemacht. Der ganze Hallesche Torbezirk sprach vier Wochen von nichts anderem.

Ohm bemühte sich nicht nur um der Meisterin Gunst, auch um die des Meisters. Er kam jetzt fast alle Abend, und dann brachte er Frau Johanna jedes Mal eine seltene Blume mit, die sein Gärtner im Treibhaus gezogen hatte, oder ein feines Occhi-Muster, einen Spitzendurchzug, eine Perlenstickerei auf Kanevas. Johanna konnte nicht anders, sie mußte bewundern, wie er es verstand, was einer Frau gefiel. Und er erzählte von der feinen Welt: von Gardeoffizieren, von den jungen Attachés der Gesandtschaften, mit denen er zusammenkam im Jockeiklub oder bei den Rennen auf dem Tempelhofer Feld. Und was Johanna am meisten für ihn einnahm, war, daß er nie eines jener Kraftwörter gebrauchte, die sie an ihrem Manne so entsetzten; dazu hatte er viel zu viel Achtung vor ihr, und für Helene viel zu viel zarteste Liebe. Er war durch und durch ein vornehmer Mann, wenn sein Vater, der alte Ohm, auch ganz klein, sehr klein angefangen hatte.

Die verkümmerte Frau blühte noch einmal auf im Liebesglück der Tochter. Wie sie es ertragen sollte, wenn Helene aus dem Hause gegangen war und dann diese Abende vorbei waren, an denen sie dem Hand in Hand auf dem Sofa sitzenden Paar gegenüber saß, den Zukunftsplänen zuhörte, die so schön waren, daß Helene mit einem Aufjauchzen den blonden Kopf an die Schulter des Geliebten schmiegte, das wußte sie nicht. Sie drückte die Augen zu mit einem Aufseufzen; sie wollte nichts sehen, als dieses Glück. Dieses große Glück.

Lieschen Krausnick mußte kochen und braten und backen; die Meisterin stand den halben Tag mit in der Küche, wenn abends der Bräutigam kam. An diesen Mahlzeiten nahm Henze aber meistens nicht teil, er aß außer dem Hause. – – –

Vor Weihnachten schon war die Hochzeit. Ohm war geschieden, nun hatte auch Helene nicht länger warten wollen. Sie reisten nach Paris. Und jetzt war es so einsam um Johanna Henze, so todeseinsam, daß der Meister nur hätte brauchen an ihre Fingerspitzen zu rühren, so hätte sie ihm die ganze Hand gegeben; die seine nicht mehr von sich gestreift. Aber jetzt dachte er nicht mehr daran.

Er lud sich Gesellschaft ins Glashaus. Nach dem Einweihungsfest hatte er noch ein zweites Fest mit Damen gegeben; aber die Meistersfrauen hatten Johanna nicht zugesagt, und die fühlten sich selber auch nicht behaglich, die Henze war zu steif. Selbst August Lehmanns Mieke und Male Siebert hatten ihrer Munterkeit nicht vollen Lauf gelassen; sie hatten nur tüchtig gegessen und für die Kinder daheim eingesteckt.

»Weißte was,« sagte jetzt Lehmann freundschaftlich zu Henze, »wir kommen nu lieber alleine. Unsere Frauen machen sich nischt draus. Denn laß du ooch man deine Olle weg. Denn sind wir hübsch angter nanu!«


Über den Hof schallte in jeder Woche einmal, und Sonntags auch, wieherndes Gelächter. Die Scheiben des Glashauses leuchteten wie große gelbe Augen hinaus in den Schnee.

Es war Winter; tiefer Winter. Man ging wie durch Watte, weiche, weiße, wollige Watte; jeder Fußtapfen war wattiert. Man hörte gar nichts; nur das Lachen im Glashaus war laut.

Gottlieb hatte viel Schnee zu fegen; am Morgen war er fußhoch gegen die Werkstattür geweht, so daß man sie nicht öffnen konnte. Aber der Hausknecht ließ ihn liegen: bei so 'nem Wetter arbeitete der Meister ja doch nicht. Der hatte zudem Kopfweh. Sie hatten wieder lange gesessen gestern abend und eine Punschbowle getrunken, die so stark war, daß einer vom Riechen schon betrunken werden konnte. Und das waren sie denn auch alle gewesen.

Gottlieb erlaubte sich jetzt dann und wann etwas gegen den Meister; er hatte nicht mehr so den früheren Respekt. Wenn Henze auch nicht betrunken war wie die anderen, nüchtern blieb er doch auch nie ganz, sonst könnte er nicht so darüber lachen, wenn einer sich neben den Stuhl setzte oder unter den Tisch fiel, oder wenn sein Freund Lehmann das heulende Elend bekam und so weinte, daß er seine Rockschöße zu Hilfe nehmen mußte, um seine Tränen zu trocknen und um sich darein zu schneuzen.

Es war etwas Grausames in dem Schmied aufgestiegen. Er empfand es wie Wollust, wenn sich alle am Boden wälzten, und nur er allein noch stand.

Diese Abende waren sein einziges Interesse; auf die freute er sich. Zu den Stammgästen waren noch andere Gäste hinzugekommen: ein Versicherungsagent, ein verkrachter Gutsbesitzer, und einer, von dem niemand recht wußte, was er eigentlich war. Und Herr Kawalski. Kawalski war in jungen Jahren einmal königlicher Tänzer gewesen, nun aber besorgte er in den verschiedenen Lokalen, die Tanzvergnügen anzeigten – im Orpheum und in Antons Saal – die Ordnung der Reigen, beaufsichtigte die Zahlungen und führte die Polonaise an, gegen Freibier und Abendbrot und eine kleine Vergütung. Das waren doch Leute, die sich schon versucht hatten im Leben! Die waren Henze amüsanter als die ehrbaren Handwerksmeister Piesich und Schmedewald, Feierabend und Dusterberg.

Die Herrenabende im Glashaus sprachen sich herum, sie waren etwas ganz Besonderes. Sie waren im Viertel bekannt und – gesucht.

Der Hauptgenuß war, wenn Kawalski die ›Miß Allisson‹ zum besten gab. Er tat es nicht gern; er klebte noch immer am königlichen Tänzer, und es reute ihn nachher. Aber sie ließen ihm keine Ruhe.

»Es ist ja allens in diesem Leben
Nur Jaukelei und Possenspiel –«

das hatten sie eben gesungen, und Kawalski hatte zugehört mit tief-ernstem Gesicht und hochgezogenen Brauen. Aber nun streiften sie ihm die Ärmel auf, hinter jedes Ohr ins ergraute Haar kam eine Blume; wie die Ärmel, so wurden auch die Beinkleider in die Höhe gekrempt, die schäbigen Beinchen in grauweißen Strümpfen kamen mager zum Vorschein. Eine Gardine gab den Ballettrock her. Ein Schwung – der starke Arm des Schmiedes hatte den Alten hochgehoben – er stand mitten auf dem Tisch. Sie brüllten: »Das Kutscherlied, das Kutscherlied!«

Und nun sang Kawalski; die Rockschöße zierlich mit beiden Händen fassend, kokett sich wiegend, auf den Zehenspitzen sich herumwirbelnd, Pirouetten schlagend und zärtliche Blicke austeilend. Miß Allisson mit dem Peitschenknall hatte in der Walhalla bezaubert; er hatte ihr's genau abgesehen, bei dem Refrain jeder Strophe sich herumzudrehen, dem Publikum die Rückseite zuzukehren – ein Schlag mit der flachen Hand, klaps, hinten drauf – ein Laut, dem Knall einer Peitsche zum Verwechseln ähnlich – die Zuhörer wanden sich vor Lachen. Hatte der eine Mimik! Der hätte Schauspieler werden sollen. Der war ja größer als Döring und Dessoir, als Rott und Hendrichs!

Mit dem gezierten Lächeln des Tänzers, den Mund gespitzt, nahm der alte Mann den Beifall entgegen. Für kurze Augenblicke war er glücklich; er war wirklich Miß Allisson mit Liebhabern und Juwelen. Aber dann kroch er, auf einmal steifbeinig geworden, schwerfällig vom Tisch herunter – es war vorbei. Was war er doch jetzt für eine jämmerliche, heruntergekommene Ruine! Er zog die Mundwinkel herab, langsam rollte ihm rechts und links eine Träne über die stoppelige Wange.

Das Publikum jauchzte: das war zu schön, noch schöner als die Miß Allisson! Das mit anzusehen, machte den meisten Spaß. Sie tranken ihm zu, sie nötigten dem Alten die starke Punschbowle ein; er war bald so weit, daß er vom Stuhle sank. Mitleidig zog ihn Gottlieb an den mageren Beinchen unterm Tische vor, zerrte ihn bis zum Sofa und legte ihn da hin.

Bald waren ihrer noch mehrere so weit. Und die wenigen, die noch saßen, hingen auf ihren Stühlen, blaß wie Kreide, und stierten in ihre Gläser mit ausdruckslosen Augen. Der Meister allein war noch aufrecht. Der Eiserne. Mit einem schier grimmigen Vergnügen sah er übers Schlachtfeld hin. Er wurde Gottlieb ordentlich unheimlich. Mit einer Stimme, die wie ein Donner grollte, hub er an zu singen:

»Es geht ein Rundgesang an unserm Tisch herum
      Vidibum –«

Was, sang denn keiner mehr mit?! Ein paar versuchten es wohl noch, aber es wurde nur ein Lallen. Da sang der Meister immer kräftiger. Es klang gewaltig:

»Drei mal drei ist neune,
Ihr sauft ja wie die – – –
      Vidibum!«

Und er schlug mit der Faust so mächtig auf den Tisch, daß Gläser und Flaschen zusammenklirrten, und die Letzten von ihren Stühlen sanken. Dann schritt er über sie weg.

Auf den Hof, an die Pumpe schritt er hin. »Plumpen!« Da kam Gottlieb gelaufen und pumpte zitternd.

Es war kalt, vor den Lippen gefror einem schier der Hauch, aber der Meister schien's nicht zu fühlen. »Mehr noch, mehr, immer mehr, zum Teufel noch mehr!«

Er stand wasserüberströmt, Rock und Hemd waren ihm völlig durchnäßt, er schnaufte wie ein Seehund.

Aber dann richtete er sich auf; er reckte das struppige Haupt zu den Sternen empor, aus seinen Augen sah es wie Sehnsucht.

›Müde kehrt ein Wandersmann zurück,
Nach der Heimat, seiner Liebe Glück!‹ –

Das summte in ihm; er war gerührt bis zu Tränen.


Gottlieb hatte gekündigt. Nein, nun wollte er nicht mehr. Er war nun schon ewig lange hier, so lange als er denken konnte, jung war er auch nicht mehr – wenn er recht berichtet war, an die Fünfunddreißig – nun war es höchste Zeit, er mußte sich mal verändern.

»Ich halte dich nicht,« hatte der Meister gesagt; aber er ging umher mit einer finsteren Miene. Das war ihm doch hart, daß sein Gottlieb fortwollte. Wer sollte denn nun das Glashaus besorgen, die Gäste nach Hause bringen, ihn abplumpen? Überhaupt, wer konnte den Gottlieb ersetzen?

Auch der Meisterin war es leid: also auch der ging? Einer, der übrig geblieben war aus jener Zeit, an die sie jetzt mit einer aus Wehmut und Bitterkeit gemischten Empfindung zurückdachte. Sie fragte das Mädchen: »Habt ihr euch gezankt?«

Lieschen Krausnick schüttelte den Kopf: »Nee, nee!« Aber dann heulte sie laut heraus: sie wollte es der Meisterin nur gleich sagen, sie ging auch fort.

Am härtesten aber traf es die Majunke. Von Lieschen hatte sie es erfahren, daß Gottlieb am nächsten Ersten ging. Nun war es der Majunke, als hätte sie nichts mehr auf Erden zu suchen. Sie machte sich reisefertig.

Wollte sie einen Pastor haben? Die Meisterin bot es ihr an. Da wurde aber das alte Weib ganz ungezogen: »'nen Pastor? Nee, ich danke!« Ihren Frieden sollte sie doch mit dem Himmel machen, meinte die Meisterin. Nein, nein, sie wollte ja gar nicht in den Himmel! Die Majunke strampelte mit Händen und Füßen. In die Hölle wollte sie viel lieber, da drehte ihr Majunke die Orgel, und alle Moritaten, die auf Erden geschehen waren, konnte sie da absingen! Sie war schon nicht mehr ganz bei sich, ihr Geist war verwirrt.

In einer Dämmerstunde war es, als die Meisterin Gottlieb rufen ließ. Er war hinterm Glashaus im Garten, da grub er's faule Laub unter. Ehe er fortging, wollte er doch noch alles, was er versäumt hatte, nachholen. Er arbeitete, daß er schwitzte.

Aus der modrigen Erde stieg es wie Verwesungsgeruch zu ihm auf, und doch wie eine Verheißung neuen Lebens: hier würden bald die Schneeglöckchen blühen. Schon reckten sie ihre ersten blaßgrünen Spitzchen. Er grub vorsichtig um sie herum. Die würde er hier nicht mehr blühen sehen! Das Herz tat ihm plötzlich weh; eh er sie noch zerdrücken konnte, kullerte ihm eine Träne über die Backe und fiel auf die sprossende Frühlingshoffnung.

Da kam Lieschen Krausnick. »Sie sollen mal bei die Majunken kommen. Die Meisterin is auch oben bei se!«

War es schlechter mit der Majunke? Gottlieb bekam einen Schreck; er wollte Lieschen fragen, aber schon war sie weg. Er sah nur noch ihre klappenden Pantinen im Durchgang des Glashauses verschwinden.

Als Gottlieb in die Dachstube stolperte, legte die Meisterin den Finger an die Lippen: »Sst, sie schläft jetzt!«

»Ick denke jar nich dran,« sagte die Majunke sehr ärgerlich und machte ihre unter dicken Schrumpeln und Lidfalten ganz versunkenen Äugelchen auf. »Ick wer' doch nich jetzt schon schlafen!«

Ihre spitzige Nase war noch spitzer geworden; um den eingefallenen, ganz bleichen Mund lagerten grünliche Schatten. Aber in ihren Augen funkelte noch etwas. Und das sah Gottlieb an: warum willst du denn fortgehen? He, he, das ist wohl wegen der Krausnick? Raus mit der Sprache! Das muß ich noch wissen!

Gottlieb kam ganz nahe ans Bett heran. Was murmelte sie? Was wollte sie? Er schrie ihr ins Ohr: »Was woll'n Se, Majunken?«

»Dummer Junge!« Sie wollte ihm einen Backenstreich geben, sie hatte dazu nicht mehr die Kraft. Aber sie kicherte in sich hinein, kicherte immer mehr und mehr, kicherte so, daß sie den Schlucken bekam.

Besorgt beugte sich die Meisterin über sie: »Ist Ihnen schlecht, Majunken?«

Die Majunke gab keine Antwort. Für sie gab es jetzt keine Meisterin mehr, sie sah an ihr vorbei – sie sah nur den Gottlieb. Und das Händchen ein wenig hebend, das ganz gekrümmt war von Gicht und Alter, kicherte sie: »Lieschen – Lieschen Krausnick – was willst du in der Fremde tun, es ist ja hier so schön – Jottlieb, Lieschen, nich in de Fremde – Lieschen, Jottlieb – –!« Sie nickte, und dann fielen die Lidfalten wieder über die aufgefunkelten Äugelchen.

»Die Nacht bricht an, man ruhet sanft –
Man ahnet keine Leiden –«

Aha, jetzt war sie wieder in ihrer alten Moritat!

Gottlieb hielt den Atem an; auch die Meisterin stand stumm. Sie wagten nicht, sie zu stören.


Auf der steilen Treppe, die zur Majunke heraufführte, vor der Tür, an der sein Kinderhändchen so oft, Einlaß erbittend, gekratzt hatte, saß jetzt Gottlieb und weinte. Die Majunke war tot. Er konnte sich noch gar nicht dareinfinden. Und doch war's ihm wie eine Erleichterung, daß er sie nicht zurückzulassen brauchte, wenn er ging. Ja, wenn er nun ging! Er weinte heftiger. Das Sacktuch, mit dem er auch über die Stiefel zu wischen pflegte, so daß dessen Rot zuweilen schwarz war, war heute ganz durchnäßt. Er drückte sein Gesicht fester hinein.

Da setzte sich jemand neben ihn.

Er sah nicht auf.

»Weinen Se doch nich so, Herr Gottlieb, der is nu wohl!«

War das eines Engels Stimme? Nein, aber die von Lieschen Krausnick. Nun sah Gottlieb auf.

Lieschen hatte sich auf die schmale Treppe neben ihn gezwängt; sie saß mit ihm auf der gleichen Stufe. Und ihre Augen sahen ihn treuherzig an und auch ganz verweint. »Es tut mich so leid, daß die Majunken tot is, als wär's meine Mutter gewesen – ach, so leid!«

Das rührte ihn tief: sie war doch ein gutes Mädchen. Aber er sagte ihr das nicht; er hatte ja überhaupt gar nichts mehr mit ihr zu sprechen, er ging ja nun fort.

Doch sie sagte ganz leise – man konnte sie kaum verstehen – und unterdrückte ein Schluchzen dabei: »Ich geh nu auch fort. Wo gehn Sie denn nu hin?«

Das wußte er noch nicht. Sie auch nicht. Sie hatten sich ja beide ein bißchen gespart, abwarten konnten sie's. Aber nicht allzu lange.

Wenn ich wüßte? dachte Gottlieb und sah Lieschen von der Seite an. Sollte die, die da hinter der Tür wie ein ganz kleines Häufchen, wie ein verschrumpftes Püppchen in ihrem letzten Bette lag, recht haben mit ihrem: ›Was willst du in der Fremde tun, es ist ja hier so schön?‹ Ja, die Majunken war eine kluge Frau gewesen, o, eine ganz schlaue! Unwillkürlich lächelte Gottlieb; sollte sie gewußt haben, daß – Gottlieb, Lieschen – Lieschen, Gottlieb –?! Er faßte sich ein Herz: »Sind Sie mich noch böse, Lieschen?«

»I wo!« Sie lachte unter Tränen.

Er schnüffelte. »Se haben mir zwar nur untern Torweg jefunden, injewickelt in'n Stücksken Packpapier, aber wenn Sie – wenn Sie –«

Sie unterbrach ihn: »Das's mich ganz egal,« und reichte ihm die Hand mit einer so glückseligen Verschämtheit, daß er ganz genau wußte, woran er war.

Sollte die selige Majunke noch einmal lebendig geworden sein? Drinnen entstand ein Gepolter. Lieschen stürzte sich mit einem Schreckensschrei an Gottliebs Hals. Aber als dieser vorsichtig die Tür öffnete, jagte eine große schwarze Katze, die durchs Dachfenster in die Kammer gestiegen war und dort etwas umgestoßen hatte, die Treppe herunter. Die Majunke lag ganz ruhig im Sarg. Aber ihr Geist war doch lebendig gewesen. – – –

Henze freute sich: also Gottlieb und Lieschen Krausnick wollten sich heiraten? Das war ja schön, da blieb Gottlieb doch bei ihm. Sie konnten gleich oben in die Wohnung der Majunke ziehen, eine kleine Küche ließ er ihnen noch herrichten.

Aber Gottlieb stand stumm und steif.

Was, wollte er nicht? Was guckte ihn der Mensch so dämlich an?! Der Meister war schlechter Laune, denn vorhin war die Mieze dagewesen, die Mieze mit ihrem Bräutigam. Und die beiden waren so frech, hatten so unverschämte Forderungen gestellt – viel, viel unverschämtere noch als die Cilla in Häsen, die auch oft genug schrieb – daß er sie am liebsten hinausgeworfen hätte aus seinem Privatkontor. Aber gerade war der neue Stallmeister vom Hippodrom auf den Hof geritten gekommen, ein junger, hübscher Mensch, frisch und frei, der den Pferden auf den Buckel sprang wie eine Katze und voller Lust und Liebe bei seiner Sache war – vor dem Jungen konnte er sich doch nicht solche Blöße geben! So hatte Henze denn an sich gehalten: er würde sich's überlegen, sie würden sich schon einigen. Er war froh gewesen, daß er die Beiden mit leidlichem Anstand herauskomplimentiert hatte – bis morgen. Denn die würden wiederkommen. Die lustige Mieze und der höfliche Bräutigam zeigten jetzt auf einmal Krallen; sie brauchten Geld für ihre Einrichtung.

Des Meisters Gesicht war hochrot, sein Nacken, der stark war mit mächtiger Hautfalte wie bei dem Stier, beugte sich vor. Mit rollenden Augen sah er den blassen Gottlieb an: warum freute der dumme Esel sich denn nicht?

Gottlieb rang nach Luft; er schluckte ein paarmal, dann sagte er – es wurde ihm schwer –: nein, er blieb nicht, und da oben zog er nicht rein.

»Und warum denn nicht, wenn ich fragen darf?« Jetzt höhnte der Meister. War wohl für den hochwohledelgeborenen Herrn nicht gut genug?

Da flammte der beleidigte Gottlieb auf. »Wenn ick ooch untern Torweg jelegen habe, injewickelt in'n Stück Packpapier, meine Frau will ick for mir alleene haben, for mir janz alleene, verstehste mir?« Mutig sah er seinem Herrn ins zornrote Gesicht. »In deinem Haus wohne ick nich; wir ziehen beede fort, Lieschen un ich. Du, Hauswirt?! So in de Nähe? Det hieße ja den Bock zum Gärtner jesetzt. So jerne ick hier bleiben möchte, – nee, det kann ick nich!«

»Das kannste nich?«

Gottlieb war darauf gefaßt, der Heftige würde ihm eine herunterhauen; schon wich er aus.

Aber Henze ließ ihm nur die Hand schwer auf die Schulter fallen: »Das kannste doch!« Und mit einem Ernst, der seine Stimme milderte, seinem Gesicht den Zorn nahm und alles Brutale, sagte er: »Gottlieb, deine Frau is für mich nur deine Frau. Ich rühr se nich an. Du kannst ruhig sein, Gottlieb!«

Da willigte Gottlieb ein.


Die Eheleute Torweg hatten die Wohnung der Majunke bezogen. Wo die Alte mit dem Hexengesicht heruntergeglubscht hatte, da guckten jetzt die Augen der jungen Frau auf den Hof. Die sahen nichts, obgleich sie viel klarer waren als die der Majunke; die sahen nur ihren Gottlieb.

Der Meisterin war's lieb gewesen, daß sie Lieschen in der Nähe behielt; die hatte sich so gut eingelebt, die konnte, wenn sie selber nicht da war, nun öfter einmal nach dem neuen Mädchen sehen. Denn Ohms waren von einer fast halbjährigen Hochzeitsreise seit ein paar Wochen endlich wieder zurück, und die Mutter ging oft nach der schönen neuen Villa vor dem Anhaltischen Tor. Die lag in einem großen Garten mit Gewächshaus und Pferdestall.

Es war gute Luft hier außen, unweit floß der Kanal, und es war noch ganz ländlich; und doch kränkelte die junge Frau. Aber es war kein Kind zu erwarten; das wäre es nicht, sagte der Arzt. Helene versicherte, sie sei sehr glücklich, und doch hatten ihre Augen nicht mehr den früheren Glanz, dieses leuchtende, wie poliert spiegelnde Schwarz; sie waren jetzt wie stumpfer Samt. Und die junge Frau war oft müde und gleichgültig.

Also auch enttäuscht?! Johanna spähte, aber sie konnte nichts bemerken, was ihren Argwohn bestätigte. Ohm war genau so liebenswürdig wie vor der Verheiratung, er sagte zu Helene: »Meine kleine Maus,« obgleich sie ebenso groß war wie er; er litt es nicht, daß sie ihre Hände durch irgend eine Hausarbeit verunstaltete, dafür waren die Dienstboten da. Und er ließ die Schwiegermutter mit seinem Wagen nach Hause fahren. Sie hatten eine schöne Equipage, er ließ die Pferde nicht gern warten. Wenn er hereinkam: »Es ist angespannt,« mußte sie gleich aufstehen und gehen, ob auch Helenes Augen noch an ihr hingen. Die Mutter hatte oft eine unbestimmte Ahnung, eine Neigung, noch zu zögern, sie hatte das Gefühl: dein Kind möchte dir eigentlich noch etwas sagen.

»Warum kommt Lenchen so selten?« grollte der Schmied. Er selber ging nicht zu Ohms, aber es packte ihn oft ein Verlangen nach der blonden Helene. Alles um ihn herum war schwarz, zufällig gerade alles schwarz: die Meisterin, Lieschen Torweg, die schöne Schlächtersfrau drüben, und was sonst noch so in der Nähe herum wohnte. Alles schwarz; auch das neue Dienstmädchen, die Rosa. Die blonde Mieze hatte eine Budike in der Feilnerstraße bezogen, aber wenn es auch noch näher gewesen wäre, da ging er nicht mehr hin. Er würde sich hüten; er war froh, daß er sie mit dreihundert Talern los geworden war. Helene sollte kommen! Warum kam Helene denn nicht?!

Die Mutter zuckte die Achseln; sie wußte es auch nicht.

Da fuhr der Mann sie an: sie, sie war schuld, daß Helene den Ohm geheiratet hatte – so ein Glatter, Geschniegelter, ein Kerl wie lackiert –, hätte sie Helene nicht den Hochmutsteufel anerzogen, so wäre die jetzt Konditor Piesichs oder irgend eines Handwerksmeisters Frau und käme oft hierher. Die Schmiede wäre ihr noch gut genug. Man hätte sie unter Augen, man könnte sich an ihr freuen, oder – überhaupt, man hätte sie überhaupt noch ganz hier!

Ja, das wäre das Beste! Die Frau mußte ihm innerlich zustimmen, aber äußerlich widersprach sie: Helene war sehr glücklich, lebte eben ganz ihrem Glück. Es widerstrebte Johanna, diesem Mann, der Worte gebrauchte, über die sie rot wurde, diesem Mann, der von etwas Höherem keine Ahnung hatte – ihrem Mann davon zu sagen, daß auch sie Bedenken hatte. Was wußte er, der zwei-, dreimal die Woche jetzt seine Abende im Glashaus hatte, so daß sie vor Lärmen nicht schlafen konnte, von feineren Empfindungen?

Vergebens hatte die Frau ihren Kopf tief ins Kissen gesteckt, sich die Ohren zugehalten, die kräftigen Stimmen der lärmenden Männer, ihr Gelächter, ihr Gesang alarmierten die Nacht. Da hatte sie sich entschlossen, umzuziehen; sie war in Helenes Zimmer übergesiedelt, das lag nach der Straße heraus. Wo der blonde Mädchenkopf gelegen hatte in hoffnungsvollen Träumen, lag jetzt der schwarze Frauenkopf. Aber auch hier fand Johanna den Schlaf nicht. Eine Empörung toste in ihr, und mehr noch schmerzte sie eine verzweifelte Bitterkeit. Nichts, gar nichts hatte er dazu gesagt, daß sie sich von ihm getrennt hatte. Empfand er's denn nicht, daß das mehr war als eine bloß räumliche Trennung?! Sie wollte aufschluchzen, aber sie bezwang sich: nein, sie weinte um so etwas nicht mehr. Sie war ja selber schuld: warum hatte sie ihn sich genommen? Sie ballte die Faust: mochte er denn drüben mit seinen Kumpanen sitzen bis zum hellen Morgen, sie ging's nichts mehr an!

Und doch lauschte sie auf jedes Geräusch. Und als eines Nachts in die tiefen Männerstimmen sich Frauenstimmen mischten, kreischendes Weibergequiek, das alles durchdrang: Hof, Haus, Mauern, Zimmer und die Ohren, die sie sich vergebens mit den Fingern zu verstopfen suchte, da weinte sie doch lange und bitterlich. Also so weit war's gekommen?!

Sie schämte sich vor Gottlieb. Sie mochte ihn nicht deswegen fragen, aber er sagte ganz von selber am anderen Tag: »Es war so schlimm nich. Sie haben man bloß en bißken Radau jemacht, Meestern. Der Meester is die Weibsbilder bald über jeworden. Ick hab ihnen rausjesetzt – eins, zwei, drei!« Er hatte das Bedürfnis, der blassen Frau, die mit ihren schwarzen Augen wie geistesabwesend ins Leere starrte, etwas Tröstliches zu sagen.

»Hermann, wie konnt'ste bloß?« sagte Gottlieb, als der Schmied im Privatkontor sich noch auf dem Sofa rekelte und er ab und zu ging, um wieder in Ordnung zu bringen, was in Unordnung geraten war. Überall im Glashaus war Unordnung: so war es immer nach solchen Abenden. »Als ob die Vandalen jehaust hätten,« murmelte Gottlieb. Und dann sagte er lauter und vorwurfsvoll: »Nee, det durf'ste nich!«

»Was durft' ich nich?«

»Det weeßte alleene!« Gottlieb sah böse aus und setzte einen Stuhl, der umgestürzt war, so unsanft auf die Beine, daß eines abbrach. »Dreck!« Er wurde noch böser. »Wenn ick dir nich so jut wäre, Hermann, von früher her, un wüßte, wer du eejentlich bist, denn sagte ick jetzt: Schweinijel!«

»Sag's man dreiste!« Der Meister gähnte, daß man seinen letzten Zahn sah. »Was soll man denn sein?« Er reckte die Riesenarme über den Kopf und warf den schweren Körper herum, daß das Sofa krachte. »Ich bin's schon lange über, das Duckmäusern und Stillesitzen. Ist zum Sterben langweilig, 's ist ja sonst nischt los. Nirgendwo. Ich wünschte, ich könnte in den Krieg ziehen!«

»Ja woll, i ja!« Gottlieb guckte ungläubig. »In 'n Krieg? Jott bewahre uns vor Krieg. Un was hättste davon?« Es war ihm ganz merkwürdig, der Meister war doch nie Soldat gewesen, er hatte das Glück gehabt, sich freizulosen, und nun bedauerte er, nicht Soldat zu sein? Verrückt! Er mußte Kater haben; aber was für einen! Richtig, er stöhnte auch schon.

Der Mann hatte den mächtigen Leib wieder herumgeworfen, abermals krachte das Sofa und ächzte. Er seufzte auf.

»Na ja, un was hättste davon?« predigte Gottlieb weiter. »So 'ne Idee! Mit's Stelzbein rumloofen wie Vater Majunke? Krieg! Krieg is 'ne Schande für de zifelisierte Welt, un alle zifelisierten Leute –«

»Halt's Maul!« Unwirsch fuhr ihn der Meister an. »Du redst so. Aber wenn einer nu nich weiß, wohin mit sich? Trifft sie oder trifft sie nicht – da hat man doch wenigstens was, was einen aufmuntert! Ich habe gar nischt.«

»Na aber, haste denn nich deine Arbeit? Du könntest dir immer 'n bißken forscher dranhalten. Det schadete jar nischt!«

»Ich mag nicht!« Überlaut gähnte der Schmied und dehnte sich; er zog sich förmlich in die Länge. Aber dann sprang er auf mit einem Satz, so unversehens rasch, daß Gottlieb nach der Tür zu flüchtete: sollte seine Offenheit am Ende doch krumm genommen werden?

Aber Henze rief laut und streckte seine Arme aus, als wollte er aus der Ferne etwas an sich reißen: »Ich möchte mal wieder begeistert sein. Richtig für was begeistert sein – das täte mir gut!« – –

»Er is doch so schlimm nich,« sagte Gottlieb zu seiner kleinen Frau. »Laß dir man nich von ihm abbringen, wenn er sich nu ooch schon mal besauft!«

»Ich lasse mir ja gar nich von ihm abbringen,« sagte Lieschen. »Du hast bloß immer was auf ihn gehabt – ich nie!«

»Nu ja, damals, aber nu – er läßt dir doch janz in Frieden, Lieschen?« Eine Welle der Eifersucht schlug Gottlieb zu Kopf. »Wenn er sich unterstünde, ick sage dir – ick –«

»Du kannst dir beruhigen!« Lieschen lachte ihren Gottlieb aus. »Der hat nu keine Augen mehr für mich im Koppe. Der hat andere genug!«

»Jotte doch!« Gottlieb seufzte aus Herzensgrund. »I ja, det kommt so, wenn eener so'n Riesenkerl is. Mir könnte det nich passieren. Aber dem bekommt det Stilleben nich. Mit dem is et wie mit der Stadt – da stinken die Jossen, wenn keen Besen rinfährt. Jott ja, wir brauchten 'nen Besen. Un 'nen frischen Wind!«


Gottlieb hatte recht: es war zu still in der Schmiede. Verdienst war wohl, es kamen noch die alten Kunden. Der Landmann zog wie ehemals durchs Tor mit seinem Karren, die Markgrafenstraße herauf jagten auch die Pferde aus dem Marstall, die Hauderer hielten vor der großen Einfahrt, und die Herren schickten ihre Reitknechte, es brannte alle Tage das Schmiedefeuer, der Blasebalg fauchte, es erklang das ›Poch poch‹, das Hämmern und Raspeln, das Rattern und Knattern der Werkstatt, Eisen glühte rot, aber im Feuer war doch nicht die Glut wie ehedem. Durch die offene Tür fiel nicht so hell-lodernder Flammenschein und tanzte in zuckenden Lichtern übers dunkelnde Pflaster des Hofes; der Funkenregen, der oft spät noch gesprüht, die Nacht feurig durchschießend, verlosch früher. Und es ging alles langsamer, gemächlicher. Es fehlte der Geist, der lebendig macht. –

Über den langen Straßen Berlins, über den geräumigen Plätzen, über den Häusern, die einförmig waren wie die Kasernen, breitete sich etwas aus und ließ sich schwer nieder. Es hängte sich der Zeit an die Flügel, mit Bleigewicht: das war Langeweile. Die Langeweile der Stille.

Es passierte gar nichts. Denn wie sich Preußen mit Österreich stand, ob diese Freundschaft bald schwankte, bald wieder fest war, ob Preußen Amboß war oder Hammer, hatte nur für die Diplomaten Interesse. Das Volk sah nur bis Potsdam, wo der kranke König in seiner Orangerie lebte, ein Stillgewordener, der nicht mehr zu seinen lieben Berlinern redete, der nicht mehr alles selbst machen konnte, wie er's so gern gewollt hatte, der seinen Bruder regieren lassen mußte an seiner Statt. Von dem Florentinischen Haus überm Paradiesgarten, das dem Schlosse des Großen Königs benachbart ist, so nahe den lustvollen, genußfreudigen Rokokogestalten im Parke von Sanssouci, schlich es herunter, langsam und traurig: ein welker Geist.

Der Bürger lebte seinen ruhigen Tag. Jetzt hatten Herr Krause und Herr Schlefke, Herr Müller und Herr Piesecke, der Kanzleisekretär und der Kammergerichtsaktuarius nichts mehr zu befürchten. Achtundvierzig war tot, und mit ihm alles Fürchten. Es ging alles hübsch seinen geregelten Gang. Sie saßen bei Weißbier und Pfeife wie ehedem; sie waren alle noch am Leben, und sie waren jetzt wohler daran wie ehedem – jetzt war ihre Zeit gekommen.


Vor seinem Haus in der Schützenstraße stand Christian Schulze. Er war behäbig geworden, ganz rund, seitdem er nur noch das Lädchen und keine Schankwirtschaft mehr hatte; und auch den Plan aufgegeben hatte vorm Halleschen Tor. Da waren ihm die Kirchhöfe zu nahe gerückt. Es war ihm unangenehm, wenn er seine Kohlpflänzchen einsetzte und, nur durch die Mauer von ihm getrennt, ganz aus der Nähe das Schottern der Erde, die auf Särge fiel, an sein Ohr tönte. Dann war es ihm, als strecke sich aus der verlangenden Erde auch eine Hand nach ihm aus. Es war ungemütlich, so an den Tod erinnert zu werden. Zudem gedieh der Kohl jetzt nicht recht mehr hier, der Boden war schon so ausgesogen. Und er selber hatte das Sichplagen ja auch nicht mehr nötig. Alle seine Töchter waren verheiratet, die eine von ihnen besser, die andere weniger gut, aber alle hatten sie ihr Auskommen; er brauchte nicht zu sorgen um sie.

Wie wär's, wenn er jetzt noch einen Stock auf sein Haus setzte? Denn das war gar nicht mehr zeitgemäß: so niedrig. Er könnte das Stockwerk vermieten. Die Schützenstraße war freilich noch immer still, aber die Friedrichstraße doch nahe. Vielleicht zogen Heinemanns 'rein. Wenn sie Platz hatten! Es war eine zahlreiche Familie, fünf Enkelkinder hatte er da schon. Ja, die Minne! Ein freundliches Lächeln zog über des alten Mannes Gesicht. Der ging es gut. Die hatte den besten Mann von allen gekriegt; feiner als August Lehmann, und er verdiente auch mehr. Siebert stand sich kaum so gut, und auch kaum der Böttcher, der Klempner, der Dachdeckermeister; nur Miele ihrer, der Kommis bei Gerson gewesen war und jetzt Teilhaber in einem Geschäft von Tuchen en gros, stand sich noch besser.

Ach was – der Vater der Sieben runzelte die faltige Stirn – er würde am Ende doch keinen Stock mehr aufs Haus setzen! Er scheute die Bauerei; jegliche Umwälzung. Keinen Stein ließen sie dann auf dem andern, und das pochte, das polterte – lieber den Tod! Nein, da wußte er sich etwas Besseres. Draußen in Stralau gab's noch billiges Land. Für das, was er verdient hatte beim Verkauf seines Ackers vorm Halleschen Tor, konnte er sich da gut ein größeres Stück kaufen oder pachten. Es war zwar weit dorthin, ein tüchtiges Ende, aber ein Omnibus ging jetzt durch die Köpenicker Straße bis zum Schlesischen Tor. Dann rasch über die Brücke, die immer gehörig schwankte, wenn ein Lastwagen drüber fuhr, und dann zu Fuß, immer am Wasser entlang, vorbei an den Wiesen der Spree und an den Gärtnereien, bis der alte Kirchturm auf der schmalen Landzunge auftaucht, die den Rummelsburger See von der breiten Spree trennt. Man biegt dann vorn im Dorfe bei Tübbeke links ab und geht hinunter zum See. Da taucht die Liebesinsel umbuscht aus den Fluten, die Rohrdommel pfeift, ein wilder Schwan sitzt auf dem Nest, Seerosen blühen. Da konnte man Kohl bauen, und der würde gedeihen. Und die Enkelkinder konnten buddeln und Papierschiffchen schwimmen lassen.


»Du,« sagte August Lehmann zu seinem Freund, dem Schmied, »mein Schwiejervater baut sich 'ne Laube draußen in Stralau. Ich kann nu in'n Sommer am Sonntag nich mehr nach's Jlashaus kommen. Ick muß draußen bleiben an'n Abend mit Mieken un den Kindern, sonst wird se böse.«

Es ärgerte Henze, daß August diese Familiensimpelei seinem Bierabend vorzog. Und doch, als er an diesem Abend in seinem eingeengten Garten hinterm Glashaus stand und die ganze Brutwärme eines Sonnentages noch unter dem bedrückenden Laubdach verspürte, als er sich vergebens das Hemd aufriß und nach einem freien Luftzug schnappte, kam auch ihm der Gedanke an Stralau. Daß er nicht von selbst darauf gekommen war!

Er erwog den Gedanken. Stralau –?! Es würde zwar nicht angenehm sein, die Schulzes mit Kind und Kegel dort zu treffen, aber was brauchte er sich um die zu kümmern?! Er schüttelte den buschigen Haarschopf aus der Stirn. »Gottlieb!«

Gottlieb kam angestürzt, des Meisters Stimme hatte ihn aufgeschreckt aus seinem Dachkammerparadies bei Lieschen. Sollte er plumpen?

»Gottlieb, geh mal morgen raus nach Stralau. – Nee, Fischzug is nich, aber ich will Fische da fangen. Fische!« Eine Lust überkam Henze, er schlug Gottlieb auf die Schulter, daß der fast zusammenknickte. »Ich hab's satt, den schönsten Sommertag in der Schmiede zu sitzen, nischt zu riechen als Ruß und Rauch!« Er blähte die Nüstern: bis hierher in den Garten roch man das verbrannte Horn der Pferdehufe. Da draußen aber roch es nach Fischen und Tang. Da würde er sitzen und angeln, nichts an als Hemd und Hose!

Gottlieb starrte ungläubig. »Stralau – nach Stralau?« Ein Leuchten ging über sein Gesicht. Davon hatte ihm die Majunke ja so viel erzählt! Er schloß wie geblendet die Augen.

›Und der Schuster wirft das Leder,
Legt den Pfriem zur Seite hin:
Juch! Es ziehet schon ein jeder
Nach dem grünen Stralau hin.‹ –

So hatte sie gesungen, als er noch ein ganz kleines Kind war. Er hatte sich immer dorthin gesehnt, aber er war niemals hingekommen. »Det kann ja nich sind,« stotterte er.

Der Meister war erheitert. »Ich kaufe mir 'n Stück. Ganz dicht am See. Ich bau mir 'ne Laube!« Er legte den starken Arm um Gottliebs Schultern und zog ihn zu sich heran. »Was stehste denn? Du kommst mit. Ich angle Fische, und du kannst sie braten!«

»Un Lieschen un die Meestern besuchen uns denn!«

Da wurde aber des Meisters eben noch so heiteres Gesicht verdrossen-abwehrend: »Nee, ich danke. Da will ich allein sein. Da brauche ich keine Weibsbilder!«


Die Meisterin sagte nur: »So?« wenn Lieschen, sagte: »Mein Mann und der Meister sind nach Stralau.« Und das sagte Lieschen sehr oft. Ihr Gottlieb war wie besessen, wenn der Meister pfiff: »Tüt, tüt – Stralau!« Sie war oft ganz ärgerlich darüber; dafür hatte sie sich doch nicht verheiratet, daß sie allein war den Tag, und oft sogar auch die Nacht. Und neugierig war sie auch. »Frau Henze, wir zwei könnten doch auch mal hingehn – sie überraschen!«

Aber dafür war die Meisterin nicht. Sie betrat nicht einmal das Glashaus, obgleich er ihr das nicht verwehrte, und nun sollte sie da hinausgehen, wo er sie nicht wollte? Er hätte ja sagen können: »Johanna, komm mit.« Er sagte es nicht. Durch Lieschen nur wußte sie, wie es draußen aussah. Schön, wunderschön. Bei der Laube hatte Tischler Lehmann geholfen, die war ganz solide, man konnte beim größten Pladder drin sitzen, nichts kam durch. Und ein Auslug war auf dem platten Dach, da konnten sie weit über den See sehen. Und um die Laube zogen sie Blumen. Gottlieb sprach sogar in der Nacht davon; er sagte: »Petunien, Stockrosen, Jungfer im Grünen und Habmichlieb,« und wenn Lieschen ihm dann einen Rippenstoß gab: »Gottlieb, was träumste denn?« sagte er ganz glückselig: »Ei, was for'n Rittersporn!«

Es war mit dem Mann nichts mehr anzufangen! Lieschen kriegte einen richtigen Haß auf Stralau. So oft sie ihren Gottlieb auch bat: »Nimm mich mal mit,« er schüttelte immer den Kopf: »Nee, nee!« Und wenn sie dann dringender wurde, ihre Augen sich mit Tränen füllten, dann sagte er: »Ich dürf doch nich – er will doch da keene Weibsbilder nich!«

Warum denn da nicht? Er war doch sonst nicht so. Was hatte er da zu verbergen?! Es wob sich etwas Geheimnisvolles um Stralau.

Als der Meister heute wieder dahin ausrückte, die lange Lindenstraße hinunter mit weitausholenden Schritten marschierte, sah ihm die Meisterin von ihrem Fenster aus nach. Es war noch früh am Morgen, kaum vergoldete erste Sonne die Firste der Häuser. Johanna sah überwacht und müde aus, älter als ihre Jahre. Die Frau hatte abgenommen in letzter Zeit; der Mann aber stürmte dahin wie ein Hengst, dem die Stalltür geöffnet worden.

In hohen Wasserstiefeln, in verschabten Lederhosen steckten seine Beine, stämmig, stark, wie zwei massige Säulen; die alte Leinenbluse deckte die breite Brust kaum, ein verwitterter Strohhut saß ihm im Nacken. Einen Köcher aus Rohr trug er an der Seite, einen Ledersack auf dem Rücken, der war bestimmt für die Fische. Aber die Meisterin bekam sie nie zu sehen.

Gottlieb keuchte hinter seinem Herrn drein mit einem Korb voll Brot und Wurst, voll Speck und Käse, voll Bierflaschen und Schnapsbutteln; sie hatten sich verproviantiert wie für eine Woche.

Eine köstliche Luft wehte über die Lindenstraße, selbst hier in der Stadt roch es nach Morgen, nach Frische, nach Tau. Die Frau schloß mit einem Seufzer das Fenster; sie würde nachher zu Helene gehen, was sollte sie so allein in der Wohnung? Hinten auf dem Hof rührte sich heute auch nichts, es war Sonntag. Die Gesellen schliefen erst einmal aus, und dann gingen sie fort. Eine Erinnerung kam Johanna an andere Sonntage. Aber so einsam waren die nie gewesen, nein, so einsam nicht! Da hatte sie doch das Kind gehabt. O Gott, wie war das alles anders geworden! Und damals hatte sie wenigstens ein verstohlenes Wünschen in sich getragen, ein Hoffen, von dem sie selber noch nicht recht wußte, auf was. Gottlieb hatte auf dem Hauklotz gesessen und Harmonika gespielt, und sie hatte hinter der Gardine des Hoffensters gestanden, hatte mit sehnsüchtigen Augen hinabgespäht – war er noch da – war er schon fort – wann kam er wieder?! Jetzt brannten ihr die Augen auch, aber nicht mehr vor Sehnsucht. Sie hatte ja abgeschlossen.

Johanna Henze stöhnte auf und verbarg das Gesicht in den Händen.


Als Henze heute die Stadt hinter sich ließ, als das Tor zurückblieb, die Brücke, die letzten hohen Häuser, als die Spree breit neben ihm herflutete, und nur ein Frühdampfer, prustend und schäumend, mit seiner Radschaufel die glatten Wasser schlug, daß sie aufbrausten zu schäumendem Gischt, fühlte er es wie eine Erlösung. Sein Fuß trat auf grünes Gras, das Heer der Gänseblümchen wirkte weiße Tupfen in das sanfte Grün, und der Uferwind spielte mit den Flaumfederchen der Gänse, die hier genächtigt hatten, sich gerupft und geputzt, ehe der Treiber die Herden einziehen ließ in die große Stadt.

Des Mannes Tritt war schwer. Jetzt hatte Henze mehr an sich herumzutragen als ehedem, jetzt war es nicht mehr der starke Knochenbau allein, der wog. In den dunklen Haarwusch, der ihm in buschigem Schopf in die Stirne hing, fingen an, sich vorwitzig graue Fäden zu mischen. Aber doch fühlte er sich heute noch so jung, daß er sich hätte mögen zur Erde hinwerfen, hin auf dieses grüne, beblümte Gras, mit beiden Händen darin raufen und vor ungestümer Lust aufbrüllen.

»Gottlieb!«

Gottlieb griente selig, zwinkerte mit den Augen in die goldene Sonne und hob wie ein Karnickel schnuppernd Nase und Oberlippe: »Riechste se, Hermann? Ich rieche se schonst, unse Petunien!«

Und dann das Wasser, das viele Wasser! Der Meister tat einen tiefen Atemzug. Das schwemmte weg, alles weg, was ihm auf der Seele gelegen hatte.

Die ersten Häuschen von Stralau kamen in Sicht; der Weg, der sich endlos dehnt in Staub und Hitze, war heute nicht lang gewesen in der Morgenfrische. Beim Plankenzaun, gegenüber der Wirtschaft von Tübbeke, nahm Henze den Schlüssel aus der Tasche, einen Schlüssel, so groß wie der, mit dem Petrus den Himmel schließt.

Und ein Himmel tat sich auch auf. Da war ein langer heimlicher Gang, von Stachelbeersträuchern eingefaßt und verwildertem Heckengrün, und dann plötzlich verbreiterte dieser Gang sich, und da war der See, silbrig-grau-grünlich, milchig-schimmernd gleich einer Perle. Ein Wind kräuselte ihn in Wellchen; er sah sich an wie bewegtes Meer.

Und am Ufer dieses Meeres stand die Angelbude; nur ein einfaches Holzhäuschen, aber grün gestrichen, mit Fenstern und Tür, und vor der Tür ein Bänkchen, und vom Dach herab eine Strickleiter, daß man hinaufklettern konnte. Das war die Idee von Gottlieb gewesen; er hatte da oben eine Stange errichtet: den Mast. Und neben dem Mast war ein Korb: der Mastkorb.

Gottlieb hatte sich schnell ins Seewesen gefunden; er sprach von Spritzwellen und steifer Brise, von Bramstange, Schuttseil, und er war Klüvermatrose. Er hätte für sein Leben gern ein rotes Hemde gehabt und einen steifen Matrosenhut aus glänzendem schwarzem Wachstaffet. Er kauerte im Mastkorb und sang in die Winde: »Das Schiff streicht durch die Wellen, Fiddelin!«

Weite, weite Fernsicht hier oben über Wasser und Land. Man sah die Kähne gleiten und die Fische schnalzen, fröhliche Menschen rudern und Verliebte sich ausbooten auf der Liebesinsel; man sah beim stürmischen Wetter die Möwen flattern und beim ruhigen die Vögel im Rohr sich auf Rispen wiegen. Man sah die Sonne ihr heißes Antlitz ins Wasser tauchen und den Mond seine silbernen Rosen streuen. Man sah auch hier aus dem sicheren Versteck die Landstraße, sah über den Plankenzaun weg, wer kam und ging; aber man wurde selber von niemandem gesehen. Das war ein Ort, um sich ganz zu verkriechen, zu vergessen, was man gern vergessen wollte, um loszuwerden, was das Leben an Staub und Kehricht zusammengefegt hatte unter seiner Schleppe.

Mit einem tiefen Aufatmen ließ der Meister sich auf das Bänkchen fallen, es krachte unter seinem Gewicht. Fische, Tang, wie gut das roch! Die Fische, die waren stumm, die machten einem nicht so den Kopf warm wie die Weiber. Er schüttelte sich. Da hatte die Mieze ihm gestern wieder schön was vorgeschwatzt! Es ging ihnen nicht gut in ihrem Budikerkeller; da sollte er immer herhalten. Ein Maulwerk hatte das Frauenzimmer, Gnade Gott! Johanna, die war wohl stumm, stumm wie ein Fisch, aber deren Stummheit war auch nicht angenehm. Verflucht die Weiber! Er wollte überhaupt nichts mehr mit ihnen zu tun haben, hier schon gar nichts! Und doch lauschte er: horch, war das nicht eine Frauenstimme?!

Nebenan war Schulzes Grundstück, das ebenso wie das des Schmieds lang und schmal bis zum See herabging. Ein Plankenzaun trennte die beiden Stücke. An den Plankenzaun lehnte sich Schulzes Laube. Darin raschelte und rührte es sich jetzt, Kinderstimmen plapperten. Und eine Frauenstimme sprach: »Noch keiner da?!«

Wo hatte er diese Stimme doch schon gehört?!


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