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Fünfzehntes Kapitel

Ein Duft von Knoblauchwürsten und geräucherten Bücklingen, von sauren Gurken und Schmalzlerchen, von Bierneigen und Kartoffelpuffern in siedendem Öl, von sich drängenden Menschen und überreifen Hundepflaumen, von gestopft vollen Schaubuden und staubigen Kleidern, von greinenden Kindern und pomadegestriegelten Köpfen, von Kaffee und Kuchen, von Schießständen und Schaukeln, von all den Vergnügungen, so hergebracht seit hundert Jahren und mehr, und von vielem Tabaksqualm zog in dicken Wolken wie ein blauer Nebel über die Spree. Am Steuer eines Nachens saß ein Leierkästner, er drehte eine Arie aus der ›Nachtwandlerin‹, aber – ›Wenn Fischzug is, wenn Fischzug is, dann bin ich sehr fidele‹ – die Nachtwandlerin wurde übertönt hiervon. Bei Tübbeke und im Storchnest war Tanzmusik.

In den tiefen Gärten, die bis an die Spree hinuntergehen, kochten die Familien Kaffee, es kreisten die großen Fünfquartkannen; in der Küche harrten grüner Aal und Gurkensalat, im Tanzsaal wirbelten die Paare.

Es war ein Lärmen über dem sonst so stillen Stralau, ein Fiedeln und Flöten, ein Leiern und Klimpern, ein Trommeln und Trompeten, ein Orgeln und Blasen, ein Schießen und Karussellgedudel, ein Jauchzen und Lachen, ein Gröhlen und Schreien heute am Tage des großen Fischzugs, daß Johanna Henze erschrocken nach Lieschens Arm faßte. So hatte sie sich das doch nicht vorgestellt. Aber das runde Weibchen lachte: so was kannte sie von Lübben her, wenn's Jahrmarkt war, ging es immer so zu. Sie fand es lustig. Dann hätte die Madam eben nicht hergehen müssen an solchem Tag.

Ja, das hätte sie auch nicht! Die Meisterin kniff die Lippen zusammen. Sie hatte Lust, zu zürnen: auf Lieschen, die hatte ihr so zugeredet – nein, auf sich. Warum hatte sie sich packen lassen von diesem unwiderstehlichen Verlangen, zu sehen, was er trieb! Finster, die Augen zu Boden geheftet, ging sie.

Vor ihr schwatzten welche und lachten, hinter ihr schwatzten welche und lachten; alle gingen sie dem Vergnügen entgegen. Köchinnen mit ihren Soldaten, Gesellen und ihre Bräute, Meister mit ihren Frauen, hübsche Bürgermädchen und ihre Anbeter, junge, kaum der Schule entwachsene Bürschchen, Jüngferchen, denen die Haare noch in Zöpfen hingen – alle verliebt. Und verliebt auch die Sonne. Sie küßte die spiegelnden Wellen der Spree, daß die glänzten wie polierter Stahl; sie küßte das Ufer, daß der Rasengrund grün leuchtete, obgleich er bestaubt und zertreten war. Sie küßte jede einzelne bescheidene kleine Blume. Sie warf Küsse in die Luft, die umherflatterten wie goldene Lichter, sich zärtlich anschmiegten, dort dem alten Gemäuer des Stralauer Turmes, hier den Bäumen, den Häusern, den Menschengesichtern. Alles war voll Licht, voll Wärme, voll Heiterkeit. Noch war die Sonne heiß, echte Sommersonne, kein Mensch dachte an Herbst.

Johanna senkte den Kopf wie beschwert von Ahnungen: nur sie dachte daran. Sie ging allein. Sie kam sich wie eine Ausgestoßene vor. So viel muntere Farben, rote, blaue, grüne Kleider, alles mögliche Bunt – nur sie allein war dunkel gekleidet. Das stumpfe, traurige Schwarz hatte ihrer Stimmung entsprochen, jetzt bedrückte sie das noch mehr. Sie sah an sich herunter: warum hatte sie sich denn schon äußerlich aufgeprägt, wie ihr innerlich zumute war?

Wenn er nun böse wurde, heftig? Sie fühlte ihr Herz klopfen: ach, er konnte so brutal sein! Schehle war anders gewesen. Besser? Schlimmer? Sie runzelte die Stirn. Aber damals hatte sie sich eben nicht so viel daraus gemacht.

Lieschen kicherte neben ihr; in ihrem weißen, rotgetupften Jakonettkleid sah sie mit ihren blühenden Wangen noch aus wie ein junges Mädchen.

Ein strammer Grenadier hatte sie angekriegt: »Na, Jungfer, ooch auf'n Schwof? Woll'n wer mal?«

Sie verbarg schnell ihre rechte Hand in der Kleiderfalbel, der Filethalbhandschuh deckte nicht den blinkenden Trauring. Wenn das Gottlieb wüßte, daß sie so einen Ankratz hatte! Für ihr Leben gern hätte sie einmal herumgetanzt, aber! Sie versuchte ihren trippelnden Schritt gemessener zu machen, sie gab dem schmucken Soldaten gar keine Antwort: sah der dreiste Mensch denn nicht, daß er's mit einer verheirateten Frau zu tun hatte? Würdig schritt sie neben der Meisterin her.

Nun waren sie an der Festwiese.

Verstohlen sah Lieschen jetzt von der Seite die Finstere an: fand Frau Henze denn kein bißchen Vergnügen hier? Sie selber ergötzte sich, wenn sie sich auch ärgerte, daß sie ihren Gottlieb noch immer nicht gefunden hatte.

Die beiden Männer waren nirgend zu sehen. Willenlos ließ sich Johanna von der kleinen Frau fortziehen; sie sagte kein Wort. Vom Wasser her kam ein feuchtes Wehen. Wo steckte er?! Sie erschauerte, fröstelnd wickelte sie sich in ihren Schal. Sie war ein Stadtkind, sie wußte nicht, wie draußen die Lüfte wehen. »Wir müssen zurück!«

Das Treiben um sie her beängstigte sie. Das war wüster geworden; es gab schon viele Betrunkene. Die beiden Frauen ohne Männerbegleitung wurden angejohlt. Fast flüchtend eilten sie fort. – –

Henze war gar nicht auf der Festwiese gewesen. Heute in der Frühe, als die Fischer das Netz ausstellten, da war er wohl dabei gewesen, er hatte zugesehen, und sie hatten dann bei Tübbeke ordentlich eins getrunken. Den übrigen Tag aber war er in seinem Schlupfwinkel geblieben vor seiner Angelbude. Einen Steg hatte Gottlieb gebaut, der ging hinaus in den See, und da saß er nun im angebundenen Nachen und angelte. Er fing nichts; er achtete gar nicht, ob die Fische bissen, ob der Köder unter das Wasser gezogen ward. Die Schlauen hatten ihm längst die Lockspeise vom Haken gefressen, sie schwänzelten und schnalzten.

Die Sonne prallte dem Angler auf den Rücken, er ließ sich rösten, der Schweiß trat aus allen Poren. Die Luft war weich, fast zu warm; schwer. Und lähmend kroch die Stille an ihn heran. Vom Festtrubel drang nichts bis hierher. Der See wurde heute nicht heimgesucht von Nachen, alle schwammen vorüber auf der belebten Spree, hin nach Treptow und gegenüber nach dem Eierhäuschen, wo auch Musik lockte, Menschen in den Wirtshäusern saßen und von dort das bunte Schauspiel von Stralau genossen.

Das grobe Hemd hatte der Schmied auf der Brust geöffnet, der verwitterte Strohhut saß ihm im Nacken. Er konnte sich nicht aufraffen, aufstehen und zu Gottlieb hingehen. Der würde wohl an seinen Blumen basteln; es war nichts von ihm zu sehen. Drüben in Schulzes Bude war Leben gewesen; am Mittag um Zwei ungefähr hatte sich da die ganze Familie versammelt – Lachen und Tassengeklapper – nun waren sie alle zum Festplatz gegangen. Es war totenstill.

Brütend lag die Nachmittagssonne auf dem See, die glatte Wasserfläche glimmerte und gleißte; sie hatte etwas Zwingendes, Festhaltendes, der Blick wurde gebannt. Man konnte nicht anders, man mußte starren, immer starren ohne Gedanken, ohne irgend eine Bewegung. Der Angler saß regungslos. Erst hatte er gegähnt, jetzt gähnte er nicht einmal mehr. Perlmutterfarbene Libellen umschwebten ihn, langbeinige Mücken umsummten ihn dürstend – ßßßß – ßßßß – er rührte die Hand nicht. Plötzlich drehte er die Augen vom Seespiegel ab, langsam kehrte er den Kopf. Nun stand er schwerfällig auf.

»Du da – he, Junge, biste des Deibels?« Er drohte mit der Faust.

Der kleine Knabe, der nebenan bei Schulzes sich ganz still ans Wasser heruntergeschlichen hatte, mit Schuhen und Strümpfen schon drinne stand und versuchte, ein Papierschiffchen treiben zu lassen auf dem großen See, hörte nicht; da sprang Henze mit einem Satz ans Ufer. Der See schwuppte hinter ihm in den schaukelnden Kahn.

Er hatte den Knaben vom Wasser zurückgezogen: »Du willst wohl versaufen, was?« Er hatte Lust, dem vorwitzigen Bengel einen Klaps zu geben. Das zarte, dunkelhaarige Jungchen sah ihn mit sanften, braunen Augen unschuldig an, da sank ihm die Hand.

Von der Laube kam jetzt die Mutter gelaufen, die laute Männerstimme hatte sie aufgestöbert; sie war erschrocken. »Du darfst doch nicht runter ans Wasser gehen!« Sie gab ihrem Jungen einen Klaps, und dann klagte sie, ein wenig errötend: »Ach, die Jungens! Wenn Sie nicht dazu gekommen wären! Danke, danke!«

Herr Gott, das war ja die Minne! Der Schmied kniff blinzelnd die Augen halb zu. Er erkannte sie. Aber ob sie ihn erkannte? Sie sagte nichts. Unwillkürlich gab er sich etwas mehr Haltung und zog das Hemd über der Brust zusammen: sie war doch immer noch eine hübsche Frau.

Als sie nun mit dem Kind in die Laube gegangen war, stapfte er in seinen Kahn zurück. Aber er saß nicht mehr lange ungestört. Über den Plankenzaun ließ sich August Lehmanns Stimme vernehmen: »He, oller Sünder, wo steckste denn?«

Gottlieb erhob sich verschlafen oben auf dem Dach aus seinem Mastkorb: aber beruhigt legte er sich wieder nieder: er war ja nicht gemeint.

Henze tat, als hörte er nicht.

Aber August turnte unten am Wasser, wo der Zaun aufhörte, ins Nachbargrundstück herüber und sagte, angelegentlich seine naßgewordenen Stiefel betrachtend: »Nee weeßte, nu komm aber mal rüber! Mensch, sei nich mehr unjemütlich. Sie wird sich sehr freuen!«

Also sie hatte ihn doch erkannt?! Das war freilich nicht schwer gewesen, sie mußte ja wissen, daß er nebenan seine Bude hatte. Henze blickte an sich herunter: wie sah er denn aber aus?

»Denn ziehste dir ebend um!« August ließ nicht nach. Es war ihm immer leid gewesen, daß Henzes Freundschaft mit den Schulzes in die Brüche gegangen war; nun war so eine schöne Gelegenheit, das wieder zu leimen.


Johanna Henze und Lieschen hatten sich nun doch zurechtgefragt. Bei Tübbeke, wo sie eine Tasse Kaffee tranken, erfuhren sie, daß da drüben Herr Henze seine Angelbude hatte, sie sollten nur reingehen.

Mit einem Ausruf des Entzückens sprang Lieschen durch den Stachelbeergang voran. Eine Flut von Heimatsgefühlen schwemmte über sie her: akkurat so war's in Lübben gewesen, da gab's auch solche Gärten am Wasser! Ach, Gottlieb mußte sie öfter mit hernehmen, war's hier schön, so schön! Wie ein lichter Schmetterling flatterte sie im rotbetupften hellen Kleid vor der dunklen Frauengestalt her.

Die Meisterin folgte langsam. Er hatte es nicht haben wollen, er wollte sie hier nicht – das hielt sie zurück. Und doch drängte etwas sie voran. Warum hatte er sie hier nicht haben wollen? Weil er hier etwas zu verbergen hatte!

Nun war der Gang zu Ende. Da war die Angelbude. Ganz wie Gottlieb sie beschrieben hatte, grün gestrichen, mit einem Bänkchen davor. Blumen, die süß dufteten – der stille See, kein Nachen schwamm auf seinem Wasserspiegel – nirgendwo ein Haus, nirgendwo Fenster – kein Lauscher. Hier war ein heimlich verschwiegener Platz.

Johanna Henze stand still. Es ertönte eine Stimme, die sie fürchtete, wenn sie barsch sprach, und die doch auch freundlich sprechen konnte – nur nicht zu ihr. Eine große Bitterkeit überkam die Frau und ein plötzlicher Zorn. Ihr blasses Gesicht rötete sich: jetzt wußte sie, was sie hier herausgetrieben hatte, was ihre Begier größer hatte sein lassen als ihren Stolz, was sie ihm hatte nachspüren lassen den ganzen Nachmittag: jetzt, jetzt wußte sie's.

In ihre schwarzen Augen kam ein Funkeln, ihr blasser Mund, der schmal geworden war vom vielen Schweigen, verzog sich höhnisch: jetzt erwischte sie ihn. Und doch ging sie nicht vorwärts, sondern stand lautlos und hörte – hörte. Hörte ganz nahe, da nebenan hinterm Plankenzaun, seine Stimme. Seine freundliche Stimme! Von anderen Stimmen hörte sie nichts, nur seine Stimme – und eine Frauenstimme! Eine Frauenstimme, noch jugendlich hell. Und jetzt sprach ein Kind. Er tändelte mit dem Kinde, o so freundlich, so zärtlich! – – ›Ich hab 'nen Jungen, 'nen kleinen Jungen!‹ – – – er hatte es ja selber gesagt.

Es flimmerte Johanna vor den Augen. Alles drehte sich mit ihr im Kreise herum. Sie griff mit beiden Händen um sich; es war wie das Flügelschlagen eines getroffenen Vogels. Hilflos hoben sich ihre Arme und senkten sich wieder: was sollte sie tun?!

Lieschen zupfte sie: »Der Meister is nich hier!«

Gottlieb stand und griente verlegen. Ihm war's gewiß recht, daß sein Lieschen kam, – aus seinem Mastkorb war er förmlich heruntergeflogen, immer wieder suchte er nach ihrer Hand und drückte sie verstohlen – aber was würde der Meister zu dem Besuch sagen?! »Woll'n Se sich nich 'n bißken setzen?« fragte er ganz bekniffen. Die Meisterin stand noch immer und starrte auf einen Fleck. Ei weh, machte die böse Augen! »Er is wirklich nich zu Hause,« versicherte Gottlieb.

»Nicht zu Hause?« Sie durchbohrte förmlich die Luft mit ihrem Finger: » Da ist er ja!«


Henze war drüben sitzen geblieben. Die alten Schulzes waren noch ganz unverändert. Die Zeit hatte stille gestanden. Auch Minne war eigentlich dieselbe geblieben, nur ein bißchen aus der Form geraten; sie erwartete ja nun auch das Sechste. Aber sie konnte noch immer erröten.

Frau Heinemann war zuerst etwas verlegen gewesen, sie wußte nicht recht, sollte sie den früheren Anbeter so begrüßen, als kennte sie ihn gar nicht mehr? Das würde er ja doch nicht glauben. Sie hatte ihn gleich erkannt. Als August ihn herüberholen wollte, war sie erst dagegen gewesen: wozu? Wenn wenigstens Heinemann schon von den Buden zurück wäre! Aber Christian Schulze war sehr dafür: er war dem Henze immer gut gewesen, warum sollte er sich nun mit ihm nicht wieder freundlich stellen?

Der alte Schulze war ehrlich erfreut, Henze wiederzusehen. Sie schüttelten sich die Hände. Auch Frau Lene reichte ihm ihre Rechte; ihre Minne kam ja nun nicht mehr in Frage, und er war ja auch jetzt nicht nur ein Schlossergeselle wie früher.

Sie bezeigten ihm alle einen gewissen Respekt. Groß und breit saß er da, hintenüber gelehnt, mit seinem Stuhl leise kippend, in einem sonntäglichen Schifferanzug von blauem Tuch, in weiten Hosen und mit einer Kapitänsmütze.

»Fein, was?« sagte Lehmann und lachte zufrieden; er fühlte sich als geschickter Vermittler. Ihm war's ganz recht, daß die andern noch auf dem Festplatz waren, besonders, daß Heinemann noch nicht da war, so konnten die Zweie, die sich doch mal so geliebt hatten, ganz ungestört Wiedersehen feiern.

Henze hatte das Kind auf den Schoß genommen; er langweilte sich, wäre gern wieder drüben gewesen, aber er fand nicht den rechten Moment, aufzustehen. Er strich des Knaben weiches Haar.

Mit einem schüchternen Lächeln schmiegte sich der Kleine an ihn, und als ihn der fremde Mann nun freundlich nach seinen Spielsachen fragte, gab er zutraulich Antwort.

»Er ist en juter Junge,« sagte der Großvater und patschte dem Enkel das weiche Gesicht. »Was die andern sind, die sind viel rauhbeiniger. Mir wundert, det er sich ans Wasser runter jetraut hat. Er schlägt am meisten nach Minnen – die war ooch immer bange.«

Henze sah in des Kindes Gesicht: ein niedlicher Junge – ja, und er hatte auch etwas von Minne. Von der Minne, die früher gewesen war! Mit einem zerstreuten Lächeln glättete er die dunklen Härchen. Bange – –! Das hatte ihn früher so sehr entzückt.

Frau Heinemann sagte: »Ja, wenn die Luise nich gewesen wäre – damals – die hat mich immer beschützt!« Sie lachte, aber dann wurde sie doch ein wenig ernsthaft.

Eine Erinnerung war plötzlich in den Garten getreten, vor die grüne Laube. Mitten in der hellen Sonne stand sie da, dunkel und blutig – Luise Witte!

Auch der Schmied dachte an sie. Als er Minne zum ersten Mal gesehen hatte, war ja die Luise dabei gewesen. Es wurde ihm auf einmal alles wieder lebendig. Er sah das finstere Plätzchen hinter der Böhmischen Kirche, er sah beim Laternenschein die hübsche Minne und das blonde sommersprossige Mädchengesicht mit der kecken Nase. Geküßt würde er die Luise wohl auch mal haben – ja, jetzt fiel's ihm ein: auf dem Wilhelmsplatz im Dunkeln. Sie hatte gebrannt wie Feuer. So jung hatte sie sterben müssen. Bei der Barrikade war sie gefallen. Es hatte damals in allen Zeitungen gestanden. Mit ihr war jene Zeit auf einmal wieder da – die Zeit der Tat. Eine glückliche Zeit! Da war er dem Wehen des Frühlings gefolgt, selber ein Sausewind, ein Sturm. Er seufzte – ja, damals, damals!

»Was macht denn eigentlich die alte Witten?« fragte er gepreßt.

»Och, die jeht es janz jut!« Christian Schulze mampfte behaglich an einer großen Birne, die seine Lene eben aus ihrem Strickbeutel vorgeholt hatte.

»Besser als früher,« sagte seine Frau. »Ihren Ollen is se nu los jeworden, er starb ans Dilirium.«

»Und immer noch bei die Arbeit – 'ne düchtige Frau!« Schulze klopfte dem Enkel auf den Kopf: »Den hier hat se ooch jeholt. Un die andern alle! Un se hat sich nich zu entschuldigen gebraucht wie damals bei mir. Drei Jungens, zwei Mädchens!« Er wandte sich an seine Tochter: »Wirste ihr denn jetzt ooch wieder nehmen, Minneken?«

»Ich weiß nich. Sie war das letzte Mal nich so besonders mehr.« Frau Heinemann war zerstreut. Warum blieb Heinemann nur so lange aus? Sie liebte es, ihren Mann bei sich zu haben. Für die Kinder war es auch Zeit, die mußten nach Hause.

Wenn die Erinnerung auch noch da stand im Eingang der Laube, Frau Heinemann kehrte sich nun nicht mehr daran. Jetzt hatte sie zu tun. Nervös fing sie an zusammenzusuchen: Schürzen, Mützen, Tücher, Jäckchen, Spielzeug. Daß die Kinder auch immer alles herumschmissen! Wo war denn nun Hansens Schippe? Und Gretchens Eimerchen? Und Karlchens Fahne? Und Heinemanns Cachenez, daß er sich's umbinden konnte, wenn es kühl wurde? Daß nur ja kein Stück zurückblieb! Sie packte in den großen Freßkober. Die Alte wollte ihr helfen, aber sie wehrte ab: nein, nein, das machte sie allein besser. Und dann quengelte sie: »Laß doch, Mutter, laß! Siehste, nu haste mir das schon ganz verknüllt!«

Also die hast du mal so geliebt? Ohne die hast du mal gemeint, nicht leben zu können? Henze maß die rundliche kleine Frau, die mit einem Ausdruck tiefen Kummers die weiße Kinderschürze betrachtete, die der Alten steifgewordene Finger ein wenig zerknittert hatten, mit einem erstaunten Lächeln.

»Nich wahr, Minne hat sich jar nich verändert – bis auf die Fazohn?!« August warf einen bezeichnenden Blick auf die Gestalt der jungen Frau und lachte breit; er freute sich über seine witzige Bemerkung.

Henze gab keine Antwort; immer noch strichen seine Finger über das Haar ihres Kindes, aber seine Gedanken glitten weit ab von ihr. Vor ihm stand noch immer die Erinnerung. Da – da –!

Er blickte starr. Da stand sie im Grünen. Aber hinter ihr war der Himmel blutrot, gleich feurigen Schwertern kreuzten sich Strahlen, ein Dunsten stieg auf wie Pulverdampf. Die Erscheinung schwand. Es hob sich wie Sehnsucht in ihm und wie Bedauern: was, was war es doch gewesen, das er versäumt hatte –?!

Er stellte den Knaben auf den Boden und stand dann rasch auf.

Die Sonne ging unter. Wie ein Feuerball sank sie im Westen, der ganze Himmel lohte, vom Widerschein schwamm der See gelbrot.

»Es wird doch nich gewittern?« Frau Heinemann war ängstlich. Das Rot war fahl und fahler geworden, ein schwarzes Wolkenkissen hatte die Glut ausgedrückt.

Henze wollte sich entfernen – hier hielt ihn nichts – aber August ließ ihn noch nicht los. Er mußte ihm doch noch die Schwäger vorstellen, die jetzt sämtlich mit ihren Frauen und den Kindern von den Buden zurückkehrten.

Die kleine Miele, an deren Flachskopf Henze nur eine schwache Erinnerung hatte, war eine stattliche Madam geworden. Die Schulzes Töchter sahen alle noch gut aus; hübsche Frauen in ihren Sonntagskleidern mit Reifröcken und Mantillen. Nur Male war heute nicht dabei; Sieberts besuchten ihren Ältesten, der war nun schon in Brandenburg in der Lehre, da lernte er die feine Herrenschneiderei.

Der Tierarzt hatte sich mit dem Laubennachbar bekannt gemacht: »Heinemann.«

»Henze.« Sie waren sich noch nicht vorgestellt.

August Lehmann beobachtete gespannt: wie die sich wohl miteinander benehmen würden? Heinemann wußte doch, daß der Schmied die Minne so gern hatte haben wollen.

Heinemann war ein ruhiger Mann, er ließ sich nichts merken. Er sprach mit Henze vom Wetter, und daß sie hoffentlich nichts auf den Hals kriegten, und daß er am Tor eine Droschke nehmen würde; es war ja anzunehmen, daß da jetzt welche hielten.

Aus seinem Freund Henze konnte August nicht klug werden. Ein Gesicht machte der, als wäre es ihm hier über. Und es war doch so nett, so riesig nett und gemütlich!

Die letzten Stullen mit Schweinebraten und Käse wurden verteilt, die Männer zündeten sich Zigarren an; Tücher, Jacken, Schürzen waren gefunden, die Kinder wurden zusammengetrieben. Gelächter, Geschelte, Gejage, Geschrei.

Mit einem Aufatmen sah der Schmied sie gehen. Wenn er sich dachte, da wäre er nun auch als Schwiegersohn drunter?! Seine Frau war doch anders!

Er hatte heute noch gar nicht an Johanna gedacht; in der Frühe war er fortgegangen ohne Adieu. Wenn sie morgen oder übermorgen nach der Stadt zurückkehrten, konnte Gottlieb ihr ja ein paar Blumen mitnehmen. Gott sei Dank, daß man Ruhe hatte! Jetzt aber herunter mit der Kluft! In Hemd und Hosen. Vielleicht ins Wasser noch. Und dann eins getrunken. »Brrr!« er schüttelte sich. Mit einem Anlauf nahm er den Plankenzaun, schwer kam er drüben zur Erde – da stand seine Frau. –


Johanna hatte auf ihn gewartet. Ganz allein. Gottlieb war mit seinem Lieschen zur Liebesinsel hinübergerudert. Mit einem bitteren Lächeln hatte die Einsame dem Kahn der Glücklichen nachgesehen, der im verglimmenden Wasser silberne Furchen zog. Sie sah ihren Mann jetzt an, mit einem Gesicht, das blaß war, und die Stirn wirr, wie gekraust von den Gedanken: was waren das für Leute, mit denen er so vertraut war? Was war das für eine Frauenstimme gewesen?

Sie war erschrocken, als Henze so plötzlich vor ihr stand, sie hatte gar nicht mehr Zeit, sich die rechte Anrede auszusinnen, sie sagte nichts. Erst sein erstauntes »du –?« gab ihr Worte.

Er hatte es nicht unwillig gesagt und nicht abweisend, sie aber hörte nur Unwillen heraus.

»Du hast wohl jemand anderes erwartet? Hast du an denen zu Hause denn noch nicht genug? Was war das für eine da drüben?«

Er war zu überrascht um sie zu verstehen. Ihren Schmerz, ihr Gekränktsein, ihre zitternde Angst herauszuspüren, das vermochte er ohnehin nicht. Er lachte aber nicht, wie er sonst wohl zu lachen pflegte; er war ärgerlich: nun kam er wieder nicht zu seiner Ruhe! Verdrossen sagte er: »Was geht's dich an? Du kennst sie ja doch nicht!«

Er sagte nicht: ›Setz dich, du wirst müde sein!‹ Ein Erfreutsein hatte sie ja nicht erwartet, aber wenigstens artig hätte er sein können, das hatte sie zu verlangen. Sie besann sich plötzlich auf ihren Stolz. Nun war es wieder die Meisterin von ehemals, die dem Gesellen gegenüberstand: »Ich hatte eben Lust, mal herauszukommen!« Und sie nahm ihren Hut ab und setzte sich auf die grüne Bank vor der Tür.

Den Blick heftete sie auf den dämmernden See, in dem der Abendwind Wellchen kräuselte, die am Ufer leise glucksend zerbrachen. Er sollte nicht sehen, wie es in ihren Augen zuging, wie die sich feuchteten und doch aufblitzten. O, er amüsierte sich, aber immer, immer ohne sie! Heute hatte sie Lust, ihm einmal alles zu sagen, ihm vorzuwerfen, was sie lange verschwiegen hatte – allzu lange. Sie wußte selber nicht, was sie heute dazu trieb. War es denn nicht immer so? Wußte sie denn nicht immer: Du bist betrogen, seit Jahren betrogen, er liebt dich nicht, hat dich nie lieb gehabt? Sie war ihm gewesen wie eine, die man sich einmal nimmt und dann wieder wegschickt. Er hatte sie nur geheiratet der Schmiede wegen! In glühender Scham rötete sich ihr blasses Gesicht. Immer hatte sie geschwiegen, Wochen, Monate, Jahre – o Gott, was waren das für Tage, an denen sie die Achseln zucken mußte, wenn einer kam und nach ihm fragte! Er saß bei irgend einem Frauenzimmer. Was waren das für Nächte, in denen der Lärm aus dem Glashaus bis zu ihr ins Vorderhaus schallte, in denen die Stimmen Betrunkener gemeine Lieder sangen und seine Stimme am lautesten war! Stumm hatte sie es ertragen. Aber heute, heute konnte sie es nicht mehr ertragen. Woher kam das nur? Woher?!

War es Neid, der sie packte, Neid, daß alles so vergnügt und glücklich war, nur sie nicht?! War es das Gefühl der Zurücksetzung: er drüben mit anderen, sie allein, eine Bettlerin hinterm Plankenzaun?!

Was sie hetzte, war dieser letzte Sommertag. Waren diese weißen Fäden, die der Wind über die Stoppeln jagte. War diese Sonne, die, ehe sie bleich wurde, doppelt feurig erstrahlte. War dieses Reifen der Früchte in den Gärten – sie wurden abgepflückt. War diese verzweifelte Lust, die genießen möchte, den Tag auskosten, das Fest feiern, das für lange Zeit das letzte ist. Der Herbst war vor der Tür – sie war bald eine alte Frau.

Ein verworrenes, gewaltiges Durcheinander von lauter Pein war in ihr, sie wußte kaum, was sie tat. Sie sah ihn an wie eine Richterin.

»Du willst mich wohl verhören?« Er lachte auf.

»Ja, das will ich heut!« Es klang schneidend.

Er war vor ihr auf und ab gegangen, die Hände in den Taschen der weiten Hose. Nun blieb er stehen.

Sie war von der Bank aufgesprungen; jetzt war sie dicht vor ihm, ihre Augen funkelten ihn an, ganz hell, grell, wie die einer Tigerkatze, die hinterm Gitter gesessen hat, die nun aber herausfährt, sich anschickt zum Sprunge.

Er wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

Sie drängte ihm nach. Unnatürlich ruhig sprach sie dann, aber es klang lauter, eindringlicher als empörtes Schreien: »Durch mich hast du die Schmiede bekommen – Geld – Stellung – alles – kannst du mir nicht mal deine Weibsbilder vom Halse halten? Ich muß es mit ansehen, daß sie auf den Hof kommen, gerade als wäre es ihr Hof. Nachts hör ich sie im Glashaus. Und hier draußen, was treibst du hier draußen? Du hast 'nen Jungen, 'nen kleinen Jungen – du hast es selber gesagt – den hast du wohl hier? Den versteckst du hier. Und ich – und ich« – ihre Stimme schlug um, die unnatürliche ruhige Stimme wurde zum hohen, durchdringend-hellen Schrei: »Ich werde vergessen, ich werde betrogen, ich werde ausgelacht. Was geht dich die Frau an, die ist ja so dumm, so langweilig, die kann nur nähen und stricken, die ist nur gerade gut genug, um fürs Essen zu sorgen, für was weiter is die nicht! Hätt ich dich doch niemals zu sehen bekommen!«

Sie brach in ein wildes Schluchzen und Stammeln aus. Es hörte sich an, als ob ein Tier im Walde in Verlassenheit heult; unbeschreiblich jammernde Töne. »Ich verfluche den Tag, an dem du zu Schehle gekommen bist, den Tag, an dem ich« – sie stockte.

Er hatte sie bis dahin nicht unterbrochen. Er war starr vor Staunen gewesen: war das die Frau, die immer so stumm war?! So verstand er sie besser. Und recht hatte sie ja: er hatte sie auch nur geheiratet der Schmiede wegen. Aber warum hatte sie sich mit ihm eingelassen? Warum war sie ihm denn so entgegengekommen, vor Schehles Tod schon? Warum hatte sie hinter der Gardine zu ihm hinuntergelauscht? Warum hatte sie mit ihm gesessen beim Wein, wenn alle anderen schon schliefen? Es stieg ihm heiß zu Kopf. Er unterbrach sie rauh: »Verfluch nur den Tag, aber der war nicht allein schuld. Hättst du mich nich raufrufen lassen dazumal durch Gottlieb – du standest breit vor'm Tisch, ich konnte ja weiter nichts sehen – hättst du mich damals nich belogen: du willst verkaufen, weil du keinen Mann hast, nie wäre es so gekommen. Mich wolltest du aber rankriegen, zum Heiraten zwingen! Kannst du sagen, ich lüge das?«

Nein, das konnte sie nicht. Sie gab keine Antwort.

Er war zorniger geworden mit jedem Wort, drohend ging er auf sie zu.

Wollte er sie schlagen? Täte er's nur! Schlüge er sie doch tot! Sie fühlte mit Entsetzen, nun brauchte er nur noch zu sagen: ›Hast du denn überhaupt eine Ehre, zu reden, mir vorzuwerfen, ich betrüge dich? Hast du nicht den Schehle betrogen, betrogen mit mir, und vorher betrogen mit –‹ Wimmernd sank sie in sich zusammen. Nein, sie hatte nicht das geringste Recht, ihm Vorwürfe zu machen, ihre Schuld war so groß wie die seine! Aber dann wollte sie auch nicht mehr leben.

Da war das Wasser – o, wie das floß, floß, es war schon dunkel, niemand sah es – und der Mann hier, der würde sie ja nicht halten, der war froh, wenn er sie los war! Sie machte einen verzweifelten Satz. Jetzt hatte sie alles verloren, sie hatte nicht einmal das Recht des Vorwurfes mehr.

Wie ein Nachtvogel, der die Finsternis sucht, die Arme gleich schwarzen Flügeln gebreitet, stürzte sie mit einem gellenden Aufschrei dem Wasser zu.

Da packte sein Arm sie. Vergebens wehrte sie sich. Der Arm war stark wie Eisen, er hielt sie fest.


Die Frau war davongestürzt, der Mann hatte sie nun nicht mehr gehalten. Durch den Garten lief sie laut weinend; er ließ sie laufen und weinen. Vom Dach aus hatte er ihr dann nachgesehen: jetzt war sie auf der Chaussee – da! Sein scharfes Auge erkannte sie noch im Dämmerschein.

Ihren Hut hatte sie vergessen. Den mußte er Lieschen mitgeben. Thorwegs landeten eben von ihrer Fahrt, recht von Herzen vergnügt. Aber erschrocken sahen sie in des Meisters finsteres Gesicht: wo war denn die Meisterin? »Schon fort!« Er schickte alle beide hinter ihr her.

Nun war er allein. Aber das Behagen, das er sich versprochen hatte von diesem Abend, das stellte sich nicht ein. Es kam ihm erstickend vor hier im Winkel; es war zu eng, das hielt er nicht aus. Er riß die Kleider vom Leibe. Er holte sich Bier aus dem Erdloch, das sie sich gegraben hatten als Keller hinter der Bude.

Soviel hatte Henze kaum je getrunken auf einen Sitz wie diesen Abend. Er hatte das ganze Loch leer gemacht, und noch immer war er nicht betrunken. Ganz deutlich hörte er noch die Nachtvögel pfeifen und das Wispern des Windes im Rohr.

Es war eine sehr dunkle Nacht. Von der Chaussee herüber tönte kein Lärm, alles hatte sich beizeiten geflüchtet aus Angst vor dem Wetter. Das nahte schon. Tiefe Finsternis auf der Erde. Das Wasser spiegelte nicht im Mondschein. Der Mond war verdeckt von der schwarzen Wolke, die sich schon gezeigt hatte bei Sonnenuntergang, aber sie war nun größer und größer geworden, sie überzog den ganzen Himmel, kein Stern blickte durch. Sonst sah man um diese Zeit so viele Sternschnuppen fallen; mit langem Schweif schossen sie nieder, wie Lichter löschten sie erst aus unten im See, man hatte lang genug Zeit, sich etwas zu wünschen.

Was sollte er sich wünschen? Der Halbtrunkene stierte vor sich hin. 'ne Schmiede hatte er, 'ne Angelbude hatte er, in der Stadt ein Haus, hier 'nen Garten, alles genug! Und krank war er nicht wie der alte Meister, er war stark, noch ein Kerl! Und satt war er, ganz satt – aber doch, aber doch – 'ne Frau hatte er auch, 'ne Frau, aber die – – –

Henze brummte Unverständliches. Und dann stand er plötzlich auf, packte die Flasche, die neben ihm auf dem Bänkchen stand, und schleuderte sie weit von sich mit einem Schwung hinaus in den See. Das klatschte im Wasser – oh, wie das klatschte! Jetzt taumelte er.

Er taumelte bis ganz vorn an den See. Man erkannte den kaum, es war alles gleich schwarz, Himmel, Erde, Wasser. Wenn sie dahineingesprungen wäre! Wollte sie es? Wollte sie es wirklich tun?

Ja, sie wollte es!

Fern grollte ein Donner. Ein Wetterleuchten erhellte flüchtig die Nacht.

Henze tappte sich nach seiner Bude zurück; nun hatte er genug, die Glieder waren so schwer. Er stieß sich an der niedrigen schmalen Tür. Er faßte sich an den Kopf und seufzte laut. Das Herz klopfte ihm hart, wie mit einem Hammer ging es: poch, poch. Und sehr heiß war es ihm. Er warf sich auf die eiserne Bettstatt, die in der Ecke aufgestellt war; das Liegen war ihm jetzt Wohltat. Sie hatte in den See springen wollen, in den See – seine Frau –! Schlafen – schlafen!

Er zog den Atem ein, er stieß ihn aus, durch die Bude rasselte ein rauhes Schnarchen.

Draußen war die Nacht hell von Blitzen geworden.


Ah, war das eine wunderbarliche, eine ganz helle Frühlingsnacht! Glocken läuteten. Die Tür der Bude war weit geworden. Eine Frau stand darin. Seine Frau?!

»Johanna, was willst du?«

Nein, die war es nicht. Es war auch nicht Minne – oh Gott bewahre, die war ja Frau Heinemann. Es war eine ganz andere!

Er starrte, er richtete sich halb auf: das war ja dieselbe von heute nachmittag drüben bei Schulzes! Da war sie auch vor die Laube gekommen.

Wer war es?!

Sie lächelte, sie nickte ihm zu, sie sah ihn an mit wehmütig-freundlichen Blicken.

Herrgott, wer war das doch gleich?! Die kannte er doch?! Ganz gut sogar. Blonde Haare, runde Wangen, ein keckes Näschen?!

Aha, das war wieder das Mädchen, die Freundin von Minne, die Tochter der Witten!

»Luise!« Sich hastig aufrichtend, rief er laut: »Luise, Luise!« Ein herzliches Verlangen war in seinem Ton, ein freudiges Erkennen. Nun wußte er auf einmal, daß die, die da ihm immer gefehlt hatte. Von einer plötzlichen Sehnsucht fühlte er sich heiß erfaßt. So lange hatte er die vergessen gehabt, aber jetzt, jetzt – –

»Komm, komm!« Er streckte die Arme nach ihr aus.

Sie aber schüttelte den blonden Kopf. »Ich bin ja ganz blutig. Und ich liege draußen im Friedrichshain. Warum rufst du: Luise? Die hast du einmal geküßt, und dann war's vorbei. Ich bin nicht die Luise. Ich bin die Freiheit.

»Aber auch nicht mehr die Freiheit, um die du gekämpft hast auf der Barrikade. Hör mal, wie der Sturm um die Ecken pfeift, der knickt starke Bäume! Er wird dich auch knicken, wenn du dich nicht durchringst zu mir. Du bist verludert – Weiber und Saufen – und du warst doch mal ein Kerl! Aber du hast zu lange faul gesäumt, ohne Taten dein Leben verbracht, das ist dir nicht gut. Das tut keinem gut. Wachet auf!«

Ein Donnerschlag krachte, der alte Turm von Stralau erbebte, als sollte er gleich in Trümmer sinken. Die Spree hatte Wellen wie ein Meer, der See fing an zu rumoren. Auf der Liebesinsel knackten die Bäume, mitten in die Weiden war ein Blitz gefahren; taghell standen sie.

Erschrocken fuhr Henze vom Bett auf. Er fürchtete ein Gewitter nicht, aber ihm war, als stünde etwas vor seiner Schwelle, so groß, so gewaltig, daß er sich fürchten müßte. Nicht fürchten, aber erschauern.

Die Nacht war hell geworden um ihn; durch den Rahmen der Tür, die aufgesprungen war, zurückgeflogen in ihren Angeln, sah er weit hinaus. Ein Chaos von verwehten Bäumen, zerknickten Ästen, aufgewühlten Wassern. Zerfetzter Himmel, durchweichte Erde. Wie Kanonen in Schlachten grollten die Donner. Blitze aus Feuerschlünden, prasselnder Hagel – Kleingewehrfeuer, Flintengeknatter. Durch die Eichen und Kiefern fetzten Stürme gleich Schwertern. Eine wilde Gewitternacht, in der alle Unholde los sind, alle Höllischen wach, und doch war himmlisches Jauchzen in ihr.

Der Mann riß sich noch Hemd und Hose herunter, auch das war zu viel; nackt gab er den Leib preis. Er stand am Ufer und ließ sich peitschen von Wind und Regen. Schutt auf Schutt goß auf ihn herunter. Das war doch noch etwas anderes, als wenn Gottlieb plumpte. Er fühlte sich belebt, ermuntert, gehoben. Seine Brust wurde frei: ha, war das ein Atemzug, der sprengte, was ihn umklammert hatte wie ein Reifen. Ha, diese Luft! Sturm, Donner, Blitz – aber die Welt ging doch noch nicht unter!

Er jauchzte über den See; langgezogen kam das Juhu zurück, vielstimmig, als riefen Geister in Luft und Wasser. Es rüttelte an ihm: hui, was für ein Unwetter war das! Er stemmte die Füße fester auf: nein, er ließ sich nicht umwerfen.

Das buschige Haar flog ihm zerzaust ums Gesicht, er schüttelte die graugesprenkelte Mähne; aufrecht hielt er den Kopf, er duckte sich nicht. Wie der Recke der Sage, wie der wilde Jaczo, der vor hundert und hundert Jahren hier in den tiefen Wäldern gehaust, stand der Schmied am wilden Wasser, im wilden Wetter. Er pfiff sich eins: so liebte er's. Jetzt fühlte er seine Kraft.

Und aus dem gewaltigen Grollen wurde ein fernes Rollen. Das grelle Blaufeuer der Blitze wurde zum milden Leuchten, den schwarzen Himmel färbte ein Morgenrot. Der Tag wollte anbrechen.

Ob sie sich geängstigt hatte in dieser Nacht? Der Mann dachte plötzlich an die Frau, die einsam zu Hause gewesen war. Und sie tat ihm leid.


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