Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Zweiter Band
Jules Verne

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Neunzehntes Capitel.

Ich welchem Minute für Minute die Empfindungen und Eindrücke der Gondel-Insassen nebst anderen Dingen verzeichnet werden.

Die Montgolfiere erreichte eine Höhe von zweitausend fünfhundert Metern und Lieutenant Prokop beschloß, sie in dieser Zone zu erhalten. Auf einem unter dem Ballon befestigten und mit trockenem Laube beschickten Netze von Eisendraht konnte leicht das nöthige Feuer entzündet werden, um die Luft im Innern des Apparates auf dem gewünschten Grade von Verdünnung zu erhalten und dem Sinken der Montgolfiere vorzubeugen.

Die Passagiere der Gondel ließen ihre Blicke unter sich, rings umher und über sich schweifen.

Unten breitete sich ein großer Theil des Gallia-Meeres aus, das ein concaves Becken zu bilden schien. Im Norden zeigte sich ein einzelner dunkler Punkt, das war die Insel Gourbi.

Im Westen hätte man vergeblich die Eilande von Ceuta und Gibraltar gesucht. Diese waren und blieben verschwunden.

Im Süden erhob sich der Vulkan, der das Ufer und das ausgedehnte Gebiet von Warm-Land beherrschte. Diese Halbinsel grenzte an den Continent an, welcher das ganze Gallia-Meer als fester Rahmen umschloß. Ueberall jener fremdartige Anblick, jene Lamellenbildung, jetzt übergossen von den irisirenden Strahlen der Sonne. Ueberall derselbe mineralische Stoff, jenes Goldtellurid, das allein die Kruste und das Gerüst des Kometen, den harten Kern der Gallia zu bilden schien.

Rund um die Gondel bis jenseit des Horizontes, der sich mit dem Aufsteigen der Montgolfiere gleichsam Schritt für Schritt erweiterte, strahlte der Himmel in unvergleichlicher Reinheit. In der Richtung nach Nordwesten aber gravitirte, jetzt in Opposition zur Sonne, ein neues Gestirn, nein, weniger als ein Gestirn, weniger als ein Asteroïd – höchstens ein ungeheurer Meteorstein – das Bruchstück, welches eine innere Kraft von Seite der Gallia losgesprengt hatte. Die enorme Masse bewegte sich auf eigener, neuer Bahn und ihre Entfernung betrug jetzt wohl schon einige tausend Meilen. Sie war übrigens nur wenig sichtbar und erschien nach Einbruch der Nacht nur als ein kleiner, leuchtender Punkt im Weltraume.

Ueber der Gondel in etwas schräger Richtung zeigte sich die Scheibe der Erdkugel in vollem Tagesglanze. Sie schien auf die Gallia zuzustürzen und nahm einen beträchtlichen Theil des Himmels ein.

Diese strahlend-helle Scheibe blendete die Augen. Die Entfernung bis zu derselben war verhältnißmäßig schon sehr gering, so daß man ihre beiden Pole zu gleicher Zeit unmöglich genau erkennen konnte. Die Gallia stand ihr augenblicklich um die Hälfte näher als der Mond in seiner mittleren Entfernung, und diese Entfernung verminderte sich jede Minute in zunehmender Proportion. An der Oberfläche derselben zeigten sich verschieden erleuchtete Stellen, die einen hell glänzend, das waren die Continente, die anderen dunkler, weil sie die Sonnenstrahlen mehr verschluckten, das waren die Oceane. Darüberhin zogen langsam weißliche Streifen, welche auf der entgegengesetzten, also der Erde zugekehrten Seite wohl dunkel erscheinen mochten, das waren die in der Erd-Atmosphäre schwebenden Wolken.

Bei der Schnelligkeit der Bewegung von fast 17½ Meilen wurde das bis dahin etwas unklare Bild der Erde bald deutlicher. Die großen Meeresküsten und die Terrainverschiedenheiten hoben sich deutlicher hervor. Berge und Ebenen waren nicht mehr zu verwechseln. Die ebene Landkarte verwandelte sich und es schien den Insassen der Gondel, als schwebten sie vor einer Reliefkarte hin.

Um zwei Uhr siebenundzwanzig Minuten Früh trennten den Kometen kaum noch achtzehntausend Meilen von dem Erdsphäroid. Die beiden Gestirne flogen auf einander zu. Um zwei Uhr siebenunddreißig Minuten waren nur noch neuntausend Meilen zurückzulegen.

Immer bestimmter zeichneten sich die Linien der Landumrisse ab, und plötzlich riefen Lieutenant Prokop, Graf Timascheff und Graf Servadac wie aus einem Munde:

»Europa!«

»Rußland!«

»Frankreich!«

Sie täuschten sich nicht. Die Erde wandte der Gallia diejenige Seite zu, auf welcher sich das Festland Europas in voller Mittagsbeleuchtung ausdehnte. Die Formen jedes Landes waren sehr leicht erkennbar.

Die Passagiere des Ballon-Nachens blickten in lebhaftester Erregung nach der Erde, welche sie in sich aufnehmen sollte. Sie dachten nur noch daran, auf derselben zu landen, keineswegs aber an die Gefahren dieser Landung. Endlich sollten sie ja unter die Menschheit zurückkehren, die sie nie wiederzusehen geglaubt hatten.

Ja, das war Europa, das sich dort sichtbar vor ihren Augen ausbreitete. Sie erkannten die verschiedenen Staaten mit ihrer oft sonderbaren Gestalt, welche sie entweder der Natur oder den Völkerverträgen verdanken.

England, eine Lady, die in ihrem Kleide mit weichem Faltenwurf und das Haupt mit Inseln und Eilanden geschmückt nach Osten zu geht.

Schweden und Norwegen, ein prächtiger Löwe mit kräftigem, von Bergen gebildetem Rückgrat, der sich auf das nördliche Inner-Europa stürzt.

Rußland, ein gewaltiger Eisbär, welcher den Kopf nach Asien zu wendet und die linke Tatze auf die Türkei, die rechte auf den Kaukasus stützt.

Oesterreich, eine große in sich zusammengekrümmte Katze, in unruhigem Schlafe.

Spanien, das am Ende Europas hängt wie eine Fahne, deren Schaftende Portugal zu bilden scheint.

Die Türkei, ein Hahn mit aufrecht stehenden Federn, der sich mit dem einen Fuße an das asiatische Ufer klammert und mit dem anderen Griechenland niederhält.

Italien, ein feiner, eleganter Stiefel, der mit Sicilien, Sardinien und Corsica Ball zu spielen scheint.

Preußen, eine furchtbare Axt, welche tief in das deutsche Kaiserreich einschneidet und deren eines Ende Frankreich streift.

Endlich Frankreich, ein wohlgebildeter Torso mit Paris als Herz desselben.

Alles das sah man nicht nur, das fühlte auch Jeder. In jeder Brust herrschte eine fieberhafte Erregung. Da mischte sich plötzlich ein komischer Ton in diese allgemein ernste Stimmung.

»Der Montmartre!« rief Ben-Zouf.

Niemand hätte dem Burschen des Kapitän Servadac begreiflich machen können, daß er seinen Leib- und Lieblingshügel aus dieser Entfernung unmöglich erkennen könne.

Palmyrin Rosette seinerseits beugte den Kopf über die Gondel hinaus und hatte nur Augen für die verlassene Gallia, welche 2500 Meter unter ihm schwebte. Er wollte diese Erde, die ihn wieder an ihr Vorhandensein erinnerte, gar nicht sehen, sondern betrachtete einzig und allein seinen Kometen, den die allgemeine Lichtfülle des Weltraumes gleichfalls lebhaft beleuchtete.

Mit dem Chronometer in der Hand zählte Lieutenant Prokop die Minuten und Secunden. Auf den Herd legte man nach seiner Anordnung von Zeit zu Zeit etwas frisches Brennmaterial nach, so daß sich die Montgolfiere in der gewünschten Höhe erhielt.

In der Gondel wurde nur sehr wenig gesprochen. Kapitän Servadac und Graf Timascheff betrachteten unablässig die sich nähernde Erde. Die Montgolfiere schwebte im Verhältniß zur letzteren etwas seitwärts und hinter der Gallia, so daß der Anprall des Kometen vor dem des Aërostaten erfolgen mußte – ein günstiger Umstand, insofern dieser, wenn er in die Erd-Atmosphäre hinüberglitt, sich nicht vollständig umzukehren brauchte.

Wo aber sollte er niederfallen?

Vielleicht auf einem Continente? Und wenn das der Fall war, bot dieser Continent dann einige Hilfsquellen? Konnte man von der betreffenden Stelle aus leicht nach bewohnten Theilen der Erde gelangen?

Oder fiel er in das Meer? Durfte man in diesem Falle auf das Wunder eines in der Nähe befindlichen Fahrzeuges rechnen, das die Schiffbrüchigen retten könnte?

Wie viele Gefahren auf allen Seiten! Hatte Graf Timascheff damals nicht recht gehabt, als er sagte, daß seine Begleiter und er allein in der Hand Gottes ständen?

»Zwei Uhr zweiundvierzig Minuten!« meldete Lieutenant Prokop unter allgemeinem Schweigen.

Noch fünf Minuten fünfunddreißig und sechs Zehntel Secunden, dann sollten die beiden Weltkörper zusammenprallen! . . . Sie befanden sich jetzt nicht mehr 5000 Meilen von einander.

Da bemerkte Lieutenant Prokop, daß der Komet eine etwas schiefe Richtung nach der Erde einhielt. Die beiden Massen bewegten sich nicht in ein und derselben Linie. Immerhin mußte man darauf rechnen, daß der Komet werde plötzlich und vollständig aufgehalten werden, und daß es zu einem bloßen »Abstreifen«, wie vor zwei Jahren, nicht kommen würde. Wenn die Gallia die Erdkugel auch nicht in normaler Richtung träfe, so würde sie, wie Ben-Zouf sich ausdrückte, »doch kräftig an die Bande anschlagen«.

Im Falle nun Keiner der Passagiere der Gondel den Zusammenstoß überlebte, wenn die Montgolfiere, dahin gerissen von den entsetzlichen Luftwirbeln bei der Vermischung der beiden Atmosphären, selbst zerriß und auf die Erde niederstürzte; wenn Keiner von diesen Bewohnern der Gallia unter Seinesgleichen zurückkehrte, sollte dann jede Erinnerung an diese, an ihren Aufenthalt auf dem Kometen, an ihre Reise durch die Sonnenwelt für immer vernichtet werden?

Nein! Kapitän Servadac hatte einen glücklichen Einfall. Er riß ein Blatt aus seinem Taschenbuche. Auf dasselbe schrieb er den Namen des Kometen, bezeichnete die vor zwei Jahren durch diesen entführten Theile der Erde, führte dann die Namen aller seiner Gefährten auf und bescheinigte Alles durch seine Unterschrift.

Dann verlangte er von Nina die Brieftaube, welche diese an der Brust verborgen hielt.

Nach einem zärtlichen Kusse gab ihm das kleine Mädchen ohne Zaudern die Taube.

Kapitän Servadac ergriff das Thierchen, befestigte ihm sein Notizblatt an dem Halse und warf es dann hinaus in die Luft.

In großen Kreisen fliegend, senkte sich die Taube durch die Gallia-Atmosphäre und hielt sich in derselben in tieferen Schichten als die Montgolfiere.

Noch zwei Minuten und ungefähr achtzehnhundert Meilen! Die beiden Weltkörper sollten in kürzester Zeit mit einer dreimal größeren Geschwindigkeit zusammenstoßen, als diejenige ist, welche die Erde in der Ekliptik hat.

Wir brauchen nicht besonders hervorzuheben, daß die Insassen der Gondel von dieser entsetzlichen Schnelligkeit nicht das Geringste verspürten und daß ihr Apparat in der umgebenden Atmosphäre unverrückt still zu stehen schien.

»Zwei Uhr sechsundvierzig Minuten!« sagte Prokop.

Die Entfernung noch 1020 Meilen. Wie eine ungeheuere Tonne schien die Erde sich unter dem Kometen auszuhöhlen. Man hätte sagen mögen, sie öffnete sich, um jenen zu empfangen.

»Zwei Uhr siebenundvierzig Minuten!« meldete Lieutenant Prokop.

Noch fünfunddreißig und sechs Zehntel Secunden mit einer Geschwindigkeit von 162 Meilen in der Secunde!

Da ließ sich eine Art heftigen Zischens und Brausens vernehmen. Es rührte von der Luft der Gallia her, welche von der Erde angesaugt wurde, gleichzeitig mit der Montgolfiere, die sich so sehr in die Länge zog, daß man befürchtete, sie werde dabei zerreißen.

Entsetzt und starr vor Schrecken klammerten sich Alle an den Rand der Gondel . . .

Jetzt flossen die beiden Atmosphären ineinander. Urplötzlich entstand eine ungeheuere Wolkenmasse, die sich regellos durcheinander wälzte. Die Passagiere der Gondel sahen nichts mehr über und nichts mehr unter sich. Es schien ihnen, als wirbele eine furchtbare Flamme rings um sie und als fehle ihren Füßen jede Stütze, bis sie sich plötzlich, ohne zu bemerken wie und ohne sich den Vorgang erklären zu können, auf dem Boden der Erde wiederfanden. Betäubt hatten sie früher die Erde verlassen, betäubt kehrten sie wieder zu ihr zurück.

Von dem Ballon war keine Spur zu sehen.

Gleichzeitig entfloh die Gallia seitwärts etwa in tangentialer Richtung, nachdem sie die Erdkugel wider Erwarten auch diesmal nur gestreift hatte, und verschwand schon fern im Osten des Planeten.

 


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