Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Zweiter Band
Jules Verne

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Neuntes Capitel.

In dem einzig und allein vom Jupiter, dem großen Störenfried der Kometen, die Rede ist.

Palmyrin Rosette bemühte sich in der That nur im Interesse des abstrakten Wissens. Er kannte die Ephemeriden seines Kometen, seine Bahn durch den interplanetarischen Weltraum, wie die Dauer seines Umlaufs um die Sonne. Das Uebrige, wie Masse, Dichtigkeit, Anziehungskraft und selbst der Metallwerth der Gallia, konnte nur ihn allein interessiren, nicht aber seine Gefährten, welche nur den Wunsch hegten, der Erde an der bezeichneten Stelle ihrer Bahn und zur berechneten Zeit wieder zu begegnen.

Man überließ also den Professor seinen rein wissenschaftlichen Arbeiten.

Der folgende Tag war der 1. August oder, um uns der Ausdrucksweise Palmyrin Rosette's zu bedienen, der 63. Gallia-April. Während dieses Monats mußte sich der Komet, indem er 9.900.000 Meilen in seiner Bahn zurücklegte, bis auf 118.200.000 Meilen von der Sonne entfernen. Er mußte noch 48.600.000 Meilen zurücklegen, um am 15. Januar sein Aphel zu erreichen. Von diesem Punkte aus begann er sich der Sonne wieder zu nähern.

Dabei eilte die Gallia aber durch eine Welt von Wundern, die noch kein menschliches Auge so in der Nähe geschaut hatte.

Gewiß, der Professor that recht daran, sein Observatorium so gut wie gar nicht zu verlassen. Noch niemals ergötzte einen Astronomen – und ein Astronom ist mehr als ein Mensch, denn er lebt außerhalb der Erdenwelt – eine solche Augenweide. Wie schön waren diese Gallia-Nächte! Kein Windhauch, keine Wolke trübte deren Heiterkeit. Offen lag das große Buch des Firmamentes und leicht war seine Flammenschrift zu lesen.

Die glanzvolle Welt, der die Gallia zustrebte, war die Welt des Jupiter, des größten Planeten, den die Sonne im Kreise ihre Anziehung gefesselt hält. Sieben Monate verflossen schon seit dem Zusammenstoße der Erde mit dem Kometen, und dieser eilte schnellen Laufes auf den prächtigen Planeten zu, der vor ihm schwebte. Heute am 1. August trennte die beiden Weltkörper nur eine Entfernung von 36½ Millionen Meilen und bis zum 1. November mußten sie sich einander noch immer mehr nähern.

Lag in diesem Umstände wohl eine drohende Gefahr? Riskirte die Gallia nicht allzuviel, wenn sie so nahe dem Jupiter schwebte? Konnte die mächtige Anziehungskraft des Planeten, dessen Masse die ihrige so ungeheuer übertraf, nicht einen verderblichen Einfluß auf den schwachen Weltkörper äußern? Bei der Berechnung der Umlaufszeit der Gallia hatte der Professor sicherlich nicht nur die von dem Jupiter, sondern auch alle vom Saturn und Mars zu erwartenden Störungen in Betracht gezogen. Wenn er sich aber über die Größe derselben täuschte, wenn sein Komet eine stärkere Verzögerung erlitt, als er voraussetzte, was dann? Wenn etwa gar der schreckliche Jupiter, der ewige Verführer der Kometen . . .

Kurz, wenn sich die Berechnungen des Astronomen nicht bewahrheiteten, so drohte der Gallia, nach Lieutenant Prokop's Auseinandersetzung, eine vierfache Gefahr:

  1. Entweder stürzte die vom Jupiter unwiderstehlich angezogene Gallia auf diesen Planeten und ging dabei zu Grunde.
  2. Oder sie würde nur in dessen Attractionskreise festgebannt und dadurch zum Satelliten, vielleicht gar zu einem solchen zweiter Ordnung.
  3. Oder sie schlug in Folge der Ableitung von ihrer bisherigen Bahn einen neuen Weg ein, um nie wieder zur Ekliptik zurückzukehren.
  4. Oder endlich, sie traf, selbst wenn ihr Lauf nur um ein wenig verzögert ward, zu spät bei der Ekliptik ein, nachdem die Erde jenen Punkt schon passirt hatte.

Es ist einleuchtend, daß die Gallia-Bewohner bei dem Eintritt einer jeden dieser Möglichkeiten alle Aussichten verloren, jemals die Erdkugel wieder zu betreten.

Wir bemerken hier auch, daß Palmyrin Rosette freilich von jenen vier Eventualitäten für sich nur zwei fürchtete. Ihm, dem abenteuerlustigen Astronomen, konnte es nicht genehm sein, wenn die Gallia etwa in das Verhältniß eines Mondes oder gar eines Nebenmondes der Jupiterwelt übertrat; wenn sie dagegen das Zusammentreffen mit der Erde verfehlte und selbstständig um die Sonne weiter gravitirte oder selbst durch den leeren Weltraum etwa auf die Nebelmassen der Milchstraße, zu deren System vielleicht alle sichtbaren Fixsterne gehören, zueilte, das wäre so nach seinem Geschmack gewesen.

Seine Begleiter mochte wohl der unwiderstehliche Wunsch beseelen, zurückzugelangen nach der schönen Erde, wo sie Angehörige und Freunde hinterlassen hatten; das war ja erklärlich; Palmyrin Rosette dagegen besaß keine Familie mehr und auch keine Freunde, da es ihm stets an Zeit mangelte, sich solche zu erwerben. Wie hätte ihm das auch bei dem Charakter, den wir an ihm kennen, je gelingen können? Da er sich nun einmal in der ganz ausnahmsweisen Lage befand, auf einem neuen Gestirn durch den Himmelsraum zu fliegen, so hätte er auch Alles darum gegeben, jenes nie wieder zu verlassen.

So verfloß denn ein Monat auf der einen Seite unter den Befürchtungen der Gallia-Bewohner, auf der anderen unter den Hoffnungen Palmyrin Rosette's. Am 1. September betrug die Entfernung zwischen der Gallia und dem Jupiter nur noch 22¾ Millionen Meilen, war also etwa gleich groß wie die zwischen Erde und Sonne. Am 15. schrumpfte sie schon auf 15½ Millionen Meilen zusammen. Der Planet nahm dabei sichtlich an Größe zu und die Gallia schien nach demselben hin angezogen zu werden, so als hätte sich ihre elliptische Bahn unter dem Einflusse des Jupiter in eine geradlinige verwandelt.

In der That, es ist ein ungeheurer Planet, der hier den Lauf der Gallia zu stören drohte. Ein wirklich gefährlicher Stein des Anstoßes! Man weiß, seit Newton, daß die gegenseitige Anziehung der Körper im geraden Verhältnisse ihrer Massen und im umgekehrten des Quadrates der Entfernung steht. Die Masse des Jupiter aber ist eine sehr große, und die Entfernung, in welcher die Gallia an ihm vorüberkommen sollte, eine ziemlich kleine.

Der Durchmesser dieses Riesen beträgt nämlich 21.474 Meilen, d. h. elfmal mehr als der der Erde, sein Umfang aber mißt 67.464 Meilen. Sein Volumen übertrifft das der Erde 1414mal, d. h. es wären 1414 Erdkugeln nöthig, um ihn an Größe zu erreichen. Seine Masse ist 338mal beträchtlicher als die unseres Planeten; mit anderen Worten, er wiegt 338mal so viel wie die Erde, d. i. ziemlich zwei Octillionen Kilogramm – eine Zahl, welche mit Ziffern geschrieben achtundzwanzig Stellen hat. Wenn die aus seiner Masse und seinem Volumen berechnete Dichtigkeit desselben nur den vierten Theil von der der Erde erreicht und die des Wassers nur um ein Drittel übersteigt – woraus man sich zu folgern berechtigt glaubte, daß der ungeheure Planet vielleicht ganz, mindestens an seiner Oberfläche flüssig sei – so blieb seine Masse eben für die Gallia noch bedrohlich genug.

Zur Vervollständigung dieser physikalischen Notizen über den Jupiter diene hierbei, daß er seine Kreisbahn um die Sonne, nach Erdenzeit ausgedrückt, in elf Jahren, zehn Monaten, siebzehn Tagen, acht Stunden und zweiundvierzig Minuten durchläuft, bei einer Schnelligkeit von dreizehn Kilometer in der Secunde und einer Bahnlänge von nahe 728 Millionen Meilen; daß sich die Rotation um seine Achse in neun Stunden fünfundfünfzig Minuten vollzieht, die Dauer der Tage gegenüber den unserigen also eine wesentlich kürzere ist; daß sich demnach jeder Punkt des Aequators siebenundzwanzigmal schneller fortbewegt als ein Aequatorpunkt der Erde, wodurch jeder seiner Pole eine Abplattung von 465 Meilen erlitt; daß die Achse des Planeten fast rechtwinkelig auf seiner Bahnebene steht, woraus wiederum folgt, daß Tage und Nächte fortwährend annähernd gleich lang sind und von einem Wechsel der Jahreszeiten kaum die Rede sein kann, da die Sonne stets nahezu in der Ebene des Aequators bleibt; endlich, daß die Intensität des Lichtes und der Wärme, welche der Planet empfängt, nur den fünfundzwanzigsten Theil des Lichtes und der Wärme an der Erdoberfläche ausmacht, denn der Jupiter beschreibt eine Bahn, welche ihn im Minimum 113, im Maximum gar 124 Millionen Meilen von der Sonne entfernt hält.

Es erübrigt noch von den vier Monden zu reden, welche bald über einem Horizont vereinigt, bald getrennt, die Jupiternächte gewiß prachtvoll beleuchten.

Von diesen vier Satelliten umkreist der eine den Jupiter etwa in derselben Entfernung wie der Mond die Erde. Ein zweiter ist ein wenig kleiner als unser Gestirn der Nacht. Alle vollenden ihre Revolution aber weit schneller als unser Mond; der erste binnen einem Tage, achtzehn Stunden und achtundzwanzig Minuten; der zweite binnen drei Tagen, dreizehn Stunden und vierzehn Minuten; der dritte braucht dazu sieben Tage, drei Stunden und dreiundvierzig Minuten; der vierte endlich sechzehn Tage, sechzehn Stunden und zweiunddreißig Minuten. Der letzte kreist in einer Entfernung von 279.000 Meilen von der Oberfläche um den Hauptplaneten.

Bekanntlich gelang es zuerst durch die Beobachtung dieser Satelliten, deren Bewegung ganz zuverlässig bekannt war, die Geschwindigkeit des Lichtes zu bestimmen. Jene eignen sich gleichzeitig zur Bestimmung eines gesuchten Längengrades auf der Erde.

»Man kann sich demnach den Jupiter,« sagte Lieutenant Prokop eines Tages, »als eine ungeheure Uhr vorstellen, dessen Satelliten die Zeiger bilden, und welche die Zeit mit größter Genauigkeit mißt.«

»Für meine Tasche wäre das Uehrchen freilich etwas zu groß,« bemerkte Ben-Zouf.

»Wenn unsere Uhren,« setzte Lieutenant Prokop hinzu, »höchstens drei Zeiger zu haben pflegen, so hat diese hier deren vier . . .«

»Und wir wollen Acht geben, daß sie nicht bald gar einen fünften erhält!« sagte Kapitän Servadac, anspielend auf die der Gallia drohende Gefahr, unter das Satellitensystem des Jupiter gezogen zu werden.

Wie man leicht begreifen wird, bildete diese sich tagtäglich vergrößernde besondere Planetenwelt jetzt fast das einzige Thema der Unterhaltung zwischen Kapitän Servadac und seinen Gefährten. Sie vermochten ihre Augen nicht mehr von diesem Ziele abzuwenden, ihre Gedanken nicht mehr auf ein anderes Object zu richten.

Eines Tages führte das Gespräch auf die Frage nach dem Alter der verschiedenen, um die Sonne kreisenden Planeten, welche Frage Lieutenant Prokop gar nicht besser beantworten konnte als durch Vorlesung einer einschlagenden Stelle aus Flammarion's »Berichten aus der Unendlichkeit«, von denen er eine russische Uebersetzung besaß.

»Die entferntesten (dieser Gestirne), lautete jene Quelle, sind die ehrwürdigsten und die in ihrer Entwicklung am meisten fortgeschrittenen. Neptun, 690 Millionen Meilen entfernt, hat sich zuerst aus der Nebelmasse der Sonne und sicher schon vor Milliarden von Jahrhunderten losgelöst. Jupiter, dieser Koloß in 114 Millionen Meilen von der Sonne, mag etwa siebzig Millionen Jahrhunderte alt sein. Uranus, der in einer mittleren Entfernung von 420 Millionen Meilen vom Attractionscentrum der Planetenwelt gravitirt, ist gewiß mehrere hundert Millionen Jahrhunderte alt. Mars wird etwa 1000 Millionen Jahre alt sein; sein Abstand von der Sonne beträgt 33,6 Millionen Meilen. Die Erde, in einer Entfernung von etwas über 20 Millionen Meilen von der Sonne, ist deren glühendem Schooße wahrscheinlich vor 100 Millionen Jahren entsprossen. Seit etwa 50 Millionen Jahren mag sich die Venus losgerungen haben; der Halbmesser ihrer Bahn beträgt 15½ Millionen Meilen. Der Merkur endlich wird nur 10 Millionen Jahre alt sein (Entfernung 8½ Millionen Meilen) und entstammt derselben Mutter, während unser Mond seinen Ursprung unzweifelhaft von der Erde abzuleiten hat.«

Das war die neue Planetentheorie, welche Kapitän Servadac zu der Bemerkung veranlaßte, »es möchte Alles in Allem doch wohl vorzuziehen sein, vom Merkur gefangen zu werden, statt vom Jupiter. In jenem Falle diente man mindestens einem noch jüngeren Herrn, der gewiß leichter zu befriedigen sein werde«.

Während der zweiten Hälfte des September näherten sich die Gallia und der Jupiter einander immer mehr. Am 1. dieses Monates hatte der Komet die Bahn des Planeten gekreuzt und am 1. des folgenden mußten die Gestirne in kürzester Distanz von einander stehen. Ein directer Stoß war zwar nicht zu fürchten, da die Ebenen der Jupiter- und Gallia-Bahnen nicht zusammenfielen, dennoch standen sie eine zur anderen nur schwach geneigt. Die Ebene, in welcher der Jupiter sich bewegt, steht in der That nur in einem Winkel von 1° 19' zur Ekliptik, und der Leser hat wohl nicht vergessen, daß die Ekliptik und die Bahn des Kometen seit dem Zusammenstoße mit der Erde nahezu in eine Ebene fielen.

Im Laufe dieses halben Monates wäre der Jupiter auch seitens eines minder interessirten Beobachters, als der Bewohner der Gallia, der höchsten Bewunderung sicher gewesen. Seine von den Sonnenstrahlen erleuchtete Scheibe warf ihr Licht mit einer gewissen Intensität auf die Gallia zurück. Alle Gegenstände erschienen in früher fast unbekannten Farbentönen. Wenn sich Nerina in Opposition zum Jupiter, also in Cunjunction mit der Sonne befand, war sie in der Nacht kaum zu bemerken. Ununterbrochen in sein Observatorium festgebannt, das Fernrohr unverrückt nach dem prächtigen Gestirne gerichtet, schien Palmyrin Rosette bis in die letzten Geheimnisse der Jupiterwelt eindringen zu wollen. Dieser Planet, den ein Astronom auf der Erde noch niemals näher als 90 Millionen Meilen vor Augen hatte, trat hier bis auf 7,8 Millionen Meilen an den enthusiastischen Professor heran.

Die Sonne dagegen erschien, bei der großen Entfernung, in welcher die Gallia jetzt dahinschwebte, nur noch als eine Scheibe von 5' 46" Durchmesser.

Einige Tage vor Erreichung des geringsten Zwischenraumes zwischen Jupiter und Gallia wurden die Satelliten des Planeten für das unbewaffnete Auge sichtbar. Wie bekannt, ist es ohne Fernrohr so gut wie unmöglich, von der Erde aus die Jupitermonde wahrzunehmen. Nichtsdestoweniger ist es constatirt, daß einige, mit ausnahmsweise scharfem Sehvermögen ausgestattete Personen diese Satelliten ohne Hilfe jedes optischen Instrumentes zu sehen vermochten. Die Annalen der Wissenschaften erwähnen als solche z. B. Möstlin, den Lehrer Kepler's; einen sibirischen Jäger Namens Wrangel, und nach Boguslawski, dem Director der Sternwarte zu Breslau, noch einen Schneidermeister aus dieser Stadt. Die durchdringende Schärfe des Gesichts dieser wenigen Sterblichen zugegeben, so hätten sie zahlreiche Rivalen erhalten, wenn sie jetzt Warm-Land und die Zellen des Nina-Baues bewohnt hätten. Die beträchtlichen Nebenplaneten waren hier eben für Jedermanns Auge sichtbar. Man konnte sogar erkennen, daß der erste in mehr oder weniger lebhafter weißer Farbe, der zweite in blassem Blau, der dritte in gleichmäßigem Weiß und der vierte bald mehr orange, bald mehr röthlich erglänzte. Es sei hierbei auch bemerkt, daß dem Jupiter, in dieser Nähe gesehen, das bekannte Flimmern ganz abzugehen schien.

Wenn Palmyrin Rosette den Planeten mit keinem anderen Interesse als dem des Astronomen betrachtete, so fürchteten seine Gefährten dagegen mindestens eine Verzögerung, wenn nicht gar eine so mächtige Anziehung, daß sie einen Sturz der Gallia veranlaßte. Die nächsten Tage verliefen indessen, ohne letzteren Verdacht zu rechtfertigen. Sollte der große Störenfried wirklich keine anderen, als die in der Berechnung schon vorausgesehenen Wirkungen auf den winzigen Kometen äußern? Wenn man ein directes Niederstürzen in Folge der dem Haarstern ertheilten Anfangsrichtung ausschließen durfte, würde dieser erste Impuls hinreichen, ihn innerhalb der Grenzen derjenigen Störungen zu erhalten, die ihm, der Rechnung nach, gestatten sollten, seine Revolution um die Sonne binnen zwei Jahren zu vollenden?

Auf dieses Ziel richteten sich offenbar Palmyrin Rosette's Beobachtungen; gewiß aber wäre gar nicht daran zu denken gewesen, ihm seine eigenen Geheimnisse zu entlocken.

Dann und wann sprachen Hector Servadac und seine Freunde über dieses Thema.

»Ei, was da,« sagte dann Hector Servadac, »wenn die Dauer des Gallia-Umlaufes sich veränderte, wenn unser Komet unvorhergesehene Störungen erlitte, so würde mein Ex-Lehrer seine Befriedigung darüber nicht zu unterdrücken vermögen. Er fühlte sich gewiß zu glücklich dabei, uns auszulachen, und deshalb werden wir auch ohne directe Anfrage stets wissen, woran wir sind.«

»Gott gebe,« fügte Graf Timascheff ein, »daß er bei seinen ersten Berechnungen keinerlei Fehler gemacht hat.«

»Er, Palmyrin Rosette und einen Rechenfehler machen!« erwiderte Hector Servadac, »daran glaube ich nimmermehr. Den Ruhm eines verdienstvollen Beobachters kann man ihm nicht abstreiten. Ich vertraue der Verläßlichkeit seiner ersten Berechnungen bezüglich der Gallia, wie ich für die Sicherheit der zweiten einstehen würde, wenn er uns erklärte, daß wir auf jede Hoffnung, einst zur Erde zurückzukehren, verzichten müßten.«

»Ganz schön, Herr Kapitän,« meldete sich da Ben-Zouf, »aber wollen Sie mir erlauben auszusprechen, was mich recht quält?«

»So sag' uns, was Dich peinigt, Ben-Zouf.«

»Ihr Gelehrter verbringt die ganze Zeit in seinem Observatorium, nicht wahr?« begann Ben-Zouf mit dem Tone eines Mannes, der seine Rede reiflich überlegt hat.

»Ganz gewiß,« antwortete Hector Servadac.

»Und Tag und Nacht,« fuhr Ben-Zouf fort, »ist sein verwünschtes Fernrohr auf den Herrn Jupiter gerichtet, der uns verschlingen will.«

»Nun was weiter?«

»Sind Sie sich dessen sicher, Herr Kapitän, daß Ihr alter Lehrer jenen mit seinem Teufelsrohre nicht gar allmälig herbeilockt?«

»O, darüber bin ich ruhig!« antwortete Kapitän Servadac laut auflachend.

»Schon gut, Herr Kapitän, schon gut!« sagte Ben-Zouf kopfschüttelnd, als glaube er nicht recht daran. »Mir erscheint das gar nicht so ausgemacht wie Ihnen, und ich muß sehr an mich halten, um nicht . . .«

»Was denn?« fragte Hector Servadac.

»Um sein Unglücksinstrument nicht zu demoliren.«

»Wie? Du wolltest sein Fernrohr zertrümmern, Ben-Zouf?«

»In tausend Granatstückchen!«

»Versuch' es nur, ich lasse Dich hängen!«

»Oho, gleich hängen!«

»Bin ich nicht General-Gouverneur der Gallia?«

»Ja wohl, Herr Kapitän!« antwortete der brave Ben-Zouf.

Und sicherlich wäre er verurtheilt worden, er hätte sich gewiß selbst den Strick um den Hals befestigt, statt einen Augenblick lang »Seiner Excellenz Recht über Leben und Tod« in Zweifel zu ziehen.

Am 1. Oktober betrug die Entfernung zwischen Jupiter und Gallia nur noch 10,8 Millionen Meilen. Der Planet stand von dem Kometen also etwa noch hundertachtzigmal so weit ab als die Erde von dem Monde bei dessen größter Entfernung. In gleicher Distanz wie der Mond von der Erde würde die Jupiterscheibe den Mond im Durchmesser dreiundvierzigmal, an Oberflächenausdehnung gegen zwölfhundertmal übertreffen. Den Beobachtern der Gallia stellte er sich also auch jetzt schon in sehr ansehnlicher Größe dar.

Man unterschied z. B. sehr deutlich die verschiedenen, seinem Aequator parallel verlaufenden Streifen von grauer Farbe im Norden und im Süden, welche nahe den Polen abwechselnd hell und dunkel erscheinen, die Ränder des Gestirnes selbst aber in hellerem Lichte erscheinen lassen. Sehr erkennbare und ihrer Größe und Form nach wechselnde Flecken unterbrachen da und dort die Gleichmäßigkeit jener Streifungen.

Sollten beide Erscheinungen wohl auf Störungen in der Jupiter-Atmosphäre zurückzuführen sein? Erklärte sich ihr Vorhandensein, ihre Natur, ihre Ortsveränderung vielleicht durch Anhäufungen von Dunstmassen, durch Bildung von Wolken, welche Luftströmungen, ähnlich unseren Passatwinden, dahinführten und in umgekehrter Richtung zur Drehung des Planeten um seine Achse verbreiteten? Hierüber wußte Palmyrin Rosette eben so wenig zu sagen wie seine Kollegen von der Erde, und wenn er einst nach der letzteren zurückkehrte, hatte er nicht einmal den schönen Trost, den Schleier eines der interessantesten Geheimnisse der Jupiterwelt gelüftet zu haben.

In der zweiten Octoberwoche wurden die Befürchtungen lebhafter als je. Mit großer Geschwindigkeit näherte sich die Gallia dem gefährlichen Punkte. Graf Timascheff und Hector Servadac, welche sich sonst etwas reservirt, um nicht zu sagen kühl verhielten, brachte die gemeinschaftliche Gefahr einander näher, so daß sie fast unablässig ihre Gedanken austauschten. Wenn sie die Partie manchmal für verloren, die Rückkehr nach der Erde für unmöglich hielten, so verbreiteten sie sich im Gespräch über die Zukunft, die ihrer in der Sonnen-, vielleicht gar in der Fixsternenwelt harren möchte. Sie ergaben sich von vornherein in dieses Schicksal. Sie sahen sich versetzt in eine neue Menschheit und tranken aus dem Borne einer weiterblickenden Philosophie, welche die beschränkte Auffassung einer allein für den Menschen geschaffenen Welt verwirft und dagegen die ganze Ausdehnung eines bewohnten Universums umfaßt.

Wenn sie dabei aber ehrlich in ihr eigenes Innere blickten, fühlten sie dennoch, daß darin ein Fünkchen Hoffnung weiter glimmte und daß sie es noch keineswegs aufgaben, die Erde wiederzusehen, wenn sie einst am Horizonte der Gallia inmitten der unzähligen Tausende von Sternen erschiene. Entging sie nur den aus der Nachbarschaft des Jupiter entspringenden Gefahren, so hatte die Gallia, wie Lieutenant Prokop wiederholt versicherte, nichts weiter zu fürchten, weder vom Saturn, der in zu großer Entfernung blieb, noch vom Mars, dessen Bahn sie bei der Rückkehr nach der Sonne schneiden mußte. Welche Eile hatten sie nun Alle, gleich Wilhelm Tell, »den Todesweg hinter sich zu haben«.

Am 15. October standen die beiden Weltkörper in der kürzesten Entfernung von einander, welche sie erreichen sollten, im Falle keine besonderen Störungen eintraten. Die Entfernung betrug nur 7,8 Millionen Meilen. Jetzt mußte der Einfluß des Jupiter die Gallia an sich ziehen oder diese ihrer Bahn ohne weitere Verzögerungen, als die im Voraus berechneten, folgen . . .

Die Gallia ging vorüber.

Man sah das schon folgenden Tages an Palmyrin Rosette's entsetzlich schlechter Laune. Seinen Triumph als Rechner erkaufte er mit einer Niederlage als Abenteuerjäger. Er, der der Beglückteste aller Astronomen hätte sein sollen, er war der Unglücklichste aller Gallia-Bewohner.

Die Gallia selbst gravitirte auf ungestörter Bahn ruhig weiter um die Sonne und zuletzt folglich wieder nach der Erde zu.

 


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