Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Zweiter Band
Jules Verne

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Sechzehntes Capitel.

In welchem Kapitän Servadac und Ben-Zouf weggehen und wiederkommen, wie sie fortgegangen sind.

Es verhielt sich so. Seitdem Isaak Hakhabut seinen ehrlichen Handel längs der Küsten begonnen, hatte er auch nach falschem Gewichte verkauft. So weit wir den Mann kennen gelernt haben, wird das Niemand verwundern. An dem Tage aber, wo er aus dem Verkäufer zum Käufer ward, wendete sich das Blättchen gegen ihn. Das Hilfsmittel seines Vermögens war jene Schnellwaage, welche, wie sich nun herausstellte, um ein Viertel zu viel zeigte – was den Professor veranlaßte, seine Rechnungen wieder aufzunehmen und nun von einer richtigen Basis auszugehen.

Wenn die Schnellwaage auf der Erde das Gewicht eines Kilogrammes anzeigte, so wog der betreffende Gegenstand in der That nur siebenhundertfünfzig Gramm. Von dem für die Gallia gefundenen Gewichte mußte der Professor also ein volles Viertel abziehen. Es liegt auf der Hand, daß seine Rechnungen, welche sich auf ein um ein Viertel zu großes Gewicht des Kometen gründeten, nicht richtig sein und mit den Positionen der Nerina nicht übereinstimmen konnten, da letztere von der Masse der Gallia bestimmt wurden.

Nachdem Palmyrin Rosette seine Wuth gekühlt und Isaak Hakhabut tüchtig durchgeprügelt hatte, ging er sofort an die Arbeit, um bezüglich der Nerina in's Reine zu kommen.

Wie es Isaak Hakhabut nun erst nach diesem Auftritte erging, das versteht sich wohl von selbst. Ben-Zouf versicherte ihm einmal über das andere, daß er wegen Gebrauches falschen Gewichtes verklagt, sein Geschäft geschlossen und er vor das Zuchtpolizei-Gericht gestellt werden würde.

»Aber wo und wann?« fragte der Jude.

»Auf der Erde, nach unserer Rückkehr, alter Spitzbube!« antwortete Ben-Zouf.

Das widerliche Männchen mußte sich in seine Ecke verkriechen und ließ sich so wenig als möglich sehen.

Noch zweiundeinhalb Monate trennten die Gallia-Bewohner von dem Tage, an dem sie der Erde zu begegnen hofften.

Seit dem 7. October war der Komet wieder in die Zone der teleskopischen Planeten eingetreten, aus der er früher die Nerina mit weggeführt hatte.

Am 1. November wurde auch die Mitte der Zone, in welcher jene, wahrscheinlich von dem Zerspringen eines größeren Planeten herrührenden Asteroiden zwischen Mars und Jupiter kreisen, glücklich überschritten. Im Laufe dieses Monats sollte die Gallia in ihrer Bahn ein Bogenstück von 24 Millionen Meilen durchlaufen und sich der Sonne dabei bis auf 46,8 Millionen Meilen nähern.

Die Temperatur wurde jetzt erträglicher und hob sich auf zehn bis zwölf Grad unter Null. Noch zeigte sich natürlich keine Spur von Thauwetter. Die Meeresfläche ruhte noch immer unter der starren Eisdecke und die beiden Fahrzeuge schwebten auf ihrer krystallenen Unterlage über dem verderblichen Abgrunde.

Jetzt erinnerte man sich auch gelegentlich der auf dem Eiland von Gibraltar eingesperrten Engländer. Niemand bezweifelte übrigens, daß sie die furchtbare Kälte des Gallia-Winters gewiß ohne Schaden überstanden hätten.

Kapitän Servadac besprach diese Angelegenheit von einem Gesichtspunkte aus, der seinem edelmüthigen Charakter alle Ehre machte. Er sagte, daß es ihm, trotz des unfreundlichen Empfanges bei dem ersten Besuche der Dobryna, angezeigt erscheine, sich mit Jenen in Verbindung zu setzen und sie von alledem zu unterrichten, was ihnen wahrscheinlich unbekannt geblieben war. Die Rückkehr zur Erde, welche aller Voraussicht nach nur unter einem wiederholten Zusammenstoß erfolgen konnte, bot ja die ernstlichsten Gefahren. Man mußte die Engländer aus rein menschlicher Rücksicht darüber aufklären und sie womöglich veranlassen, diesen Gefahren im Vereine mit allen Uebrigen entgegenzutreten.

Graf Timascheff und Lieutenant Prokop stimmten Kapitän Servadac's Anschauung unumwunden bei. Es betraf ja eine Frage der Menschenpflicht, welche sie niemals unempfindlich ließ.

Wie sollte man zu dieser Jahreszeit aber nach dem Eiland von Gibraltar gelangen?

Natürlich über das Meer, und zwar unter Benützung der festen Eisfläche, die es jetzt noch darbot.

Das war übrigens die einzige Art und Weise, von einer Insel zu andern zu kommen, denn nach Eintritt des Thauwetters mußte jede Kommunication unmöglich werden. In der That konnte man ja in Zukunft weder auf die Goëlette noch auf die Tartane rechnen. Die Verwendung der kleinen Dampfschaluppe für ähnliche Zwecke hätte den Verbrauch einiger Tonnen Kohlen erfordert, welche man sorglich aufbewahrte, im Falle die Kolonisten gezwungen wären, nach der Insel Gourbi zurückzukehren.

Nun blieb noch der schon zum Segelschlitten umgewandelte You-You übrig. Man erinnert sich, wie schnell und sicher mit ihm die Ueberfahrt von Formentera nach Warm-Land vor sich ging.

Dieser benöthigte aber des Windes, um sich zu bewegen, und von Wind zeigte sich auf der Oberfläche der Gallia keine Spur. Vielleicht entstanden nach eingetretenem Thauwetter, wenn die sommerliche Wärme erst wieder Dünste entwickelte, auch neue Störungen der jetzt so stillen Gallia-Atmosphäre? Das war sogar zu befürchten. Vorläufig indessen herrschte vollkommene Ruhe, so daß der You-You unmöglich zur Fahrt nach Gibraltar Verwendung finden konnte.

Man sah sich demnach in die Nothwendigkeit versetzt, den langen Weg zu Fuß oder vielmehr auf Schlittschuhen zurückzulegen. Er betrug gegen fünfundsechzig Meilen; – konnte man den Versuch unter den jetzigen Umständen wagen?

Kapitän Servadac erbot sich zu dem Unternehmen. Zwölf bis achtzehn Meilen des Tages, also etwa fünf Viertelmeilen in der Stunde, zurückzulegen, das schreckte einen so geübten Schlittschuhläufer wohl nicht zurück. Binnen acht Tagen konnte er Gibraltar besucht und Warm-Land wieder erreicht haben. Einen Kompaß, um die Richtung einzuhalten, eine kleine Menge kaltes Fleisch und eine Spiritus-Kaffeemaschine, mehr verlangte er nicht, und dieses etwas waghalsige Unternehmen war ja von Anfang an schon so recht eigentlich nach seinem Sinne.

Graf Timascheff und Lieutenant Prokop bestanden darauf, ihn zu begleiten oder ganz an seine Stelle zu treten. Kapitän Servadac lehnte dankend ab. Im Falle eines eintretenden Unglücks mußten der Graf und der Lieutenant doch auf Warm-Land sein. Was wäre ohne diese bei der Rückkunft nach der Erde aus ihren Gefährten geworden?

Graf Timascheff mußte nachgeben. Kapitän Servadac wollte durchaus nur einen Begleiter mitnehmen, seinen getreuen Ben-Zouf. Er fragte ihn also, ob ihm die Sache wohl passe.

»Ob sie mir paßt, alle Wetter,« antwortete Ben-Zouf. »Ob mir die Sache paßt, Herr Kapitän! Eine so schöne Gelegenheit, sich die Beine einmal wieder auszulaufen! Glauben Sie denn, ich hätte Sie überhaupt allein abfahren lassen?«

Die Abreise wurde für den nächsten Tag, den 2. November, festgesetzt. Gewiß trieb den Kapitän Servadac in erster Linie der Wunsch, den Engländern zu nützen, und das Bedürfniß, einer Pflicht der Menschlichkeit zu genügen. Vielleicht ruhte aber doch noch ein anderer Gedanke in seinem Gehirn verborgen. Noch hatte er einen solchen freilich Niemandem mitgetheilt und wollte ihn offenbar gerade vor Graf Timascheff verborgen halten.

Doch wie dem auch sein mochte, jedenfalls begriff Ben-Zouf, daß »die Sache noch ein Häkchen« haben müsse, als sein Kapitän am Abend vor dem Aufbruche zu ihm sagte:

»Ben-Zouf, solltest Du im Hauptmagazine nicht irgend welche passende Stoffe finden, um eine dreifarbige Fahne herzustellen?«

»Gewiß, Herr Kapitän,« versicherte Ben-Zouf.

»Nun gut, so sorge mir, ungesehen von den Anderen, für eine solche Flagge, packe sie in Deine Reisetasche und nimm sie mit.«

Ben-Zouf fragte nicht weiter und gehorchte.

Was hatte Kapitän Servadac aber eigentlich vor und warum sprach er sich darüber nicht gegen seine Gefährten aus?

Bevor wir hierauf näher eingehen, müssen wir einer gewissen psychologischen Erscheinung erwähnen, die, wenn sie auch nicht zur Kategorie der Himmelserscheinungen zählte, doch nicht minder natürlich, nämlich in einer Art menschlicher Schwäche begründet war.

Seit der Wiederannäherung der Gallia an die Erde entstand zwischen Graf Timascheff und Kapitän Servadac, wohl in Folge eines Widerstreites ihrer Empfindungen, eine sich mehr und mehr erweiternde Kluft, möglicher Weise ganz ohne ihr Wissen. Die Erinnerung ihrer, während eines zweiundzwanzig Monate langen Beisammenseins fast vollständig vergessenen Nebenbuhlerschaft wachte erst in ihrem Kopfe, dann in ihrem Herzen wieder auf. Sollten diese zwei Gefährten eines unerhörten Abenteuers nach der Rückkehr zur Erde nicht wieder die beiden Nebenbuhler von ehedem werden? Wenn man auch Gallia-Bewohner war, hat man ja darum nicht aufgehört, Mensch zu sein. Frau v. L . . . . war vielleicht noch frei – o, es wäre schon ein Verbrechen gewesen, daran nur zu zweifeln! . . .

Kurz, aus all' diesen Gründen entwickelte sich zwischen Kapitän Servadac und Graf Timascheff, mit oder gegen deren Willen, eine zunehmende Kälte. Ein feinerer Beobachter hätte übrigens bemerken müssen, daß zwischen Beiden niemals eine herzliche Zuneigung, sondern nur jene Freundschaft herrschte, wie sie unter den gegebenen Umständen eben nothwendiger Weise aufwuchs.

Nach dieser erklärenden Einleitung treten wir dem Projecte des Kapitän Servadac näher – einem Projecte, welches ganz geeignet schien, zwischen dem Grafen Timascheff und ihm nur neue Eifersüchteleien zu erregen. Diese zu vermeiden, suchte er es eben, geheim zu halten.

Wir müssen gestehen, daß der hier vorliegende Plan des phantastischen Kopfes, dem er seine Entstehung verdankte, ganz würdig war.

Bekanntlich hielten die auf ihrem Felsen eingeschlossenen Engländer Gibraltar noch immer für Albion besetzt. Dagegen wäre ja in dem Falle nichts einzuwenden, daß dieses britische Besitzthum sich wirklich unversehrt der Erde wieder einfügte. Mindestens würde ihnen Niemand den Besitz streitig gemacht haben.

Gibraltar gegenüber aber erhob sich das Eiland Ceuta. Vor dem Zusammenstoße gehörte dasselbe Spanien und beherrschte es die eine Seite der Meerenge. Da Ceuta jetzt herrenlos war, gehörte es Demjenigen, der zuerst seinen Fuß darauf setzte. Sich also nach dem Felsen von Ceuta zu begeben, davon im Namen Frankreichs Besitz zu ergreifen und daselbst die französische Fahne aufzupflanzen, das war die geheime Absicht des Kapitän Servadac.

»Wer weiß denn,« so sprach er zu sich selbst, »ob Ceuta nicht wohlbehalten zur Erde gelangt und später vielleicht ein wichtiges neues Mittelmeer beherrscht? Wohlan, die auf jenem Felsen aufgepflanzte französische Flagge wird dereinst Frankreichs Ansprüche sichern!«

Das waren die Gründe, weshalb Kapitän Servadac und seine Ordonnanz Ben-Zouf, ohne etwas davon zu sagen, auf Eroberung auszogen.

Man wird übrigens zugeben, daß Ben-Zouf ganz dazu geschaffen war, seinen Kapitän zu verstehen. Ein Stückchen Felsen für Frankreich zu erwerben! Den Engländern ein Schnippchen zu schlagen! Das war Wasser auf seine Mühle.

Nach dem Aufbruche, als das Abschiednehmen am Fuße des steilen Ufers zu Ende war, erhielt Ben-Zouf genauere Kenntniß von den Absichten seines Kapitäns.

Da stieg die Erinnerung an die lustigen Soldatenlieder wieder in ihm auf und er sang mit heller Stimme.

»Und wenn die Sonne dem Meer entrückt
Die ersten schrägen Strahlen schickt –
Halloh! Ihr Jungen, d'rauf und d'ran,
Halloh! Die Zephyrs fliegen voran!«

Kapitän Servadac und Ben-Zouf eilten, warm gekleidet, die Ordonnanz den Reisesack mit den nöthigsten Bedürfnissen auf dem Rücken, Beide die Schlittschuhe an den Füßen, hurtig über die weiße Ebene und verloren bald die Höhen von Warm-Land aus den Augen.

Die Fahrt ging ohne Unfall von statten. In gemessenen Zwischenräumen hielten sie Rast, um etwas zu ruhen und gemeinschaftlich ihr einfaches Mahl einzunehmen. Die Temperatur wurde selbst in der Nacht recht erträglich, und drei Tage nach dem Aufbruche, am 5. November, kamen die beiden Helden einige Kilometer von der Insel Ceuta an.

Ben-Zouf brannte vor Begierde. Wäre ein Sturm nöthig gewesen, so hätte er nur gewünscht, sich in Colonne, womöglich »als Carré« formiren zu können, um die feindliche Reiterei zurückzuschlagen.

Es war jetzt Morgen. Vom Abfahrtspunkte bis hierher hatten sie die gerade Richtung mittels des Kompasses bestimmt und genau eingehalten. Von den Strahlen der Morgensonne übergossen, erschien der Felsen von Ceuta etwa fünf bis sechs Kilometer von ihnen entfernt am westlichen Horizonte.

Die beiden Abenteuerjäger hatten Eile, ihren Fuß auf diesen Felsen zu setzen.

Plötzlich hielt Ben-Zouf, der sich eines sehr scharfen Gesichtes erfreute, ungefähr drei Kilometer vor dem Ziele, im Laufe inne.

»Herr Kapitän, sehen Sie doch!«

»Was denn, Ben-Zouf?«

»Dort bewegt sich etwas auf dem Felsen.«

»Gehen wir darauf los!« antwortete Kapitän Servadac.

Zwei Kilometer wurden binnen wenigen Minuten durchlaufen. Da hielten Kapitän Servadac und Ben-Zouf noch einmal an.

»Herr Kapitän!«

»Nun, Ben-Zouf?«

»Da ist unbedingt Jemand auf Ceuta, der gegen uns Bewegungen mit den Armen macht. Er scheint die Arme auszustrecken, wie ein Mensch, der aus langem Schlafe erwacht.«

»Mordio!« rief Kapitän Servadac, »sollten wir zu spät kommen?«

Beide drangen weiter vor, bis Ben-Zouf ausrief:

»Ah, Herr Kapitän, es ist nur ein Telegraph!«

Es war in der That ein Telegraph, ähnlich jenen Semaphoren der Seeküsten (Zeichentelegraphen zur Kommunication mit Schiffen auf offener See), der auf dem Felsen von Ceuta functionirte.

»Mordio!« wiederholte Kapitän Servadac, »wenn sich dort aber ein Telegraph befindet, so muß ihn wohl Einer errichtet haben.«

»Wenigstens,« bemerkte Ben-Zouf, »wenn auf der Gallia die Telegraphen nicht etwa wie Bäume wachsen.«

»Und wenn er gesticulirt, so muß ihn Jemand in Bewegung setzen.«

»Wahrhaftig!«

Sehr enttäuscht wandte Hector Servadac den Blick gen Norden.

Da, an der Grenze des Horizontes erhob sich der Felsen von Gibraltar und auf dem Gipfel des Eilandes sah Ben-Zouf sowohl wie er selbst einen zweiten Telegraphen errichtet, der auf die Zeichensprache des ersteren zu antworten schien.

»Sie haben Ceuta schon besetzt,« sagte Kapitän Servadac mürrisch, »und unser Erscheinen wird nach Gibraltar hinüber gemeldet.«

»Nun und dann, Herr Kapitän? . . .«

»Dann, Ben-Zouf,« erwiderte dieser, »müssen wir unser Project der Eroberung aufgeben und zum bösen Spiele gute Miene machen.«

»Aber, Herr Kapitän, es können höchstens fünf bis sechs Engländer zur Verteidigung Ceutas bei der Hand sein . . .«

»Nein, nein, Ben-Zouf,« erklärte Kapitän Servadac bestimmt, »sie sind uns zuvorgekommen, und wenn meine Argumente sie nicht bestimmen, den Platz zu räumen, so ist eben nichts zu machen.«

Hector Servadac und Ben-Zouf langten jetzt, nicht in bester Stimmung, bei dem Felsen von Ceuta an. Plötzlich erschien eine Wache, als habe den Mann eine Feder emporgeschnellt.

»Wer da?«

»Gut Freund! Frankreich!«

»England!«

So lauteten die zuerst gewechselten Worte, als vier Soldaten auf dem oberen Theile des Eilandes sichtbar wurden.

»Was wünschen Sie?« fragte Einer von den Leuten, welche zur Garnison von Gibraltar gehört hatten.

»Ich möchte Ihren Vorgesetzten sprechen,« antwortete Kapitän Servadac.

»Den Kommandanten von Ceuta?«

»Den Kommandanten von Ceuta, wenn Ceuta schon einen Befehlshaber hat.«

»Ich werde es ihm melden!« antwortete der englische Soldat.

Kurze Zeit darauf trat der Kommandant von Ceuta in voller Uniform auf die äußersten Felsen des Eilandes vor.

Es war kein Anderer als Major Oliphant.

Nun klärte sich Alles vollkommen auf. Kapitän Servadac's Gedanken, Ceuta zu besetzen, hatten die Engländer nicht nur ebenfalls gehabt, sondern ihn auch früher zur Ausführung gebracht. Nach Besitzergreifung des Felsens höhlten sie in demselben einen wohlkasematirten Wachtposten aus. Lebensmittel und Heizmaterial wurden auf dem Boote des Kommandanten von Gibraltar schon übergeführt, bevor das Meer zufror.

Eine dichte, aus der Felsmasse selbst aufsteigende Rauchsäule bewies, daß hier während des Gallia-Winters tüchtig gefeuert worden sein und die Garnison trotz seiner Strenge nicht Noth gelitten haben mochte. Die britischen Soldaten zeigten in der That ein sehr befriedigendes Embonpoint und selbst Major Oliphant war, so unbequem ihm das auch sein mußte, etwas behäbiger geworden.

Die Engländer von Ceuta lebten dabei gar nicht so sehr vereinsamt, da sie nur zweiundeinhalb Meilen von Gibraltar trennten, so daß sie entweder durch Ueberschreitung der alten Meerenge oder durch ihren Telegraphen stets in Verbindung mit ihren Genossen blieben.

Wir bemerken hierbei gleichzeitig, daß Brigadier Murphy und Major Oliphant nicht einmal ihre Schachpartie unterbrochen hatten und sich ihre wohl überlegten Züge telegraphisch übermittelten.

Sie ahmten damit jenen zwei amerikanischen Gesellschaften nach, welche im Jahre 1846 trotz Sturm und Regen telegraphisch eine berühmte Schachpartie zwischen Washington und Baltimore auskämpften.

Wir brauchen es wohl nicht ausdrücklich zu sagen, daß es sich zwischen Brigadier Murphy und Major Oliphant noch immer um jene Partie handelte, welche sie schon vor dem Besuche Kapitän Servadac's auf Gibraltar begonnen hatten.

Inzwischen erwartete der Major sehr ruhig, was die beiden Fremdlinge von ihm begehrten.

»Der Herr Major Oliphant, glaub' ich?« begann Kapitän Servadac salutirend.

»Major Oliphant, Gouverneur auf Ceuta,« erwiderte der Officier und setzte sogleich hinzu: »Mit wem hab' ich die Ehre zu sprechen?«

»Mit Kapitän Servadac, General-Gouverneur von Warm-Land.«

»Ah, sehr schön,« antwortete der Major.

»Erlauben Sie mir, mein Herr,« fuhr Hector Servadac fort, »Ihnen meine Verwunderung auszudrücken, Sie hier, auf dem Ueberbleibsel einer früheren Besitzung Spaniens, als Kommandanten eingesetzt zu sehen?«

»Das ist Ihnen unbenommen, Herr Kapitän.«

»Darf ich auch fragen durch welches Recht? . . .«

»Durch das Recht der ersten Besitznahme.«

»Das ist ja recht schön, Major Oliphant. Glauben Sie aber nicht, daß jene Spanier, welche sich jetzt auf Warm-Land aufgehalten haben, mit einigem Rechte reclamiren könnten? . . .«

»Das glaube ich nicht, Kapitän Servadac.«

»Und weshalb, wenn ich bitten darf?«

»Weil das dieselben Spanier sind, welche den Felsen von Ceuta in aller Form an England abgetreten haben.«

»Contractlich, Major Oliphant?«

»In bester, unumstößlicher Form.«

»Wirklich?«

»Noch mehr, sie haben den Preis dieser Abtretung in baarem englischen Gelde ausgezahlt erhalten.«

»Aha,« rief Ben-Zouf, »da wissen wir's ja, warum Negrete und seine Leute so viel Gold in der Tasche hatten!«

Die Sache war in der That so vor sich gegangen, wie Major Oliphant sagte. Der Leser erinnert sich, daß die beiden Officiere von Gibraltar einen heimlichen Besuch in Ceuta abgestattet hatten, als die Spanier noch daselbst weilten, wobei sie jene leicht zu erreichende Cession des Eilandes an England erwirkten.

Das Argument, auf welches Kapitän Servadac sich ein wenig zu stützen gedachte, zerfiel also in sich selbst, was eine ungeheure Enttäuschung des Eroberers und seines Generalstabs-Chefs zur Folge hatte. Er hütete sich auch sehr wohl, auf seinem Vorhaben zu beharren oder es überhaupt nur durchblicken zu lassen.

»Darf ich erfahren,« begann Major Oliphant wieder, »was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?«

»Ich kam, Herr Major,« antwortete Hector Servadac, »um Ihnen und Ihren Leuten einen Dienst zu erweisen.«

»So!« versetzte der Major mit dem Tone eines Mannes, der von Niemand eine Gefälligkeit nöthig zu haben glaubt.

»Vielleicht sind Sie, Major Oliphant, nicht völlig von dem unterrichtet, was vorgegangen ist, und wissen z. B. nicht, daß die Felsen von Ceuta und Gibraltar jetzt auf einem Kometen durch die Sonnenwelt irren?«

»Auf einem Kometen?« wiederholte der Major ungläubig lächelnd.

Kapitän Servadac theilte ihm nun mit kurzen Worten die Folgen des Zusammenstoßes der Erde und der Gallia mit, was der englische Officier mit gewohnter Ruhe anhörte. Er fügte dann hinzu, daß alle Aussicht vorhanden sei, bald nach der Erdkugel zurückzukehren und es sich vielleicht empfehlen möchte, daß alle Insassen der Gallia ihre Kräfte vereinigten, um die Gefahren der bevorstehenden Collision möglichst abzumindern.

»Ich stelle deshalb die Frage an Sie, Major Oliphant, ob Ihre kleine Garnison, sowie die von Gibraltar nicht etwa nach Warm-Land auswandern sollte?«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Kapitän Servadac,« erwiderte frostig Major Oliphant, »doch unseren Posten dürfen wir auf keinen Fall verlassen.«

»Und warum nicht?«

»Wir haben dazu von der Regierung keinerlei Befehl und warten noch tagtäglich auf die Ankunft eines Postschiffes, um den Rapport an Admiral Fairfax mitzusenden.«

»Ich wiederhole Ihnen aber, daß wir uns überhaupt nicht mehr auf der Erde befinden und daß der Komet erst binnen zwei Monaten wieder mit jener zusammenstoßen wird!«

»Das nimmt mich nicht Wunder, Kapitän Servadac, denn Englands Anziehungskraft allein dürfte dazu ausreichen!«

Offenbar glaubte der Major keine Silbe von dem, was ihm der Kapitän erzählte.

»Ganz nach Ihrem Belieben!« fuhr Letzterer fort. »Sie wollen also diese beiden Posten in Ceuta und Gibraltar unter allen Umständen nicht aufgeben?«

»Ganz gewiß nicht, Kapitän Servadac, denn sie beherrschen den Eingang zum Mittelmeer.«

»O, von einem Mittelmeer ist gar nicht weiter die Rede.«

»Ein Mittelmeer wird es stets geben, so lange das England für gut hält! – Doch verzeihen Sie, Herr Kapitän, eben übermittelt mir Brigadier Murphy telegraphisch einen sehr bedenklichen Zug – Sie erlauben . . . .«

Kapitän Servadac, der seinen Schnurrbart drehte, als ob er ihn ausreißen wollte, erwiderte vorschriftsmäßig den Gruß, mit dem sich Major Oliphant verabschiedete. Die englischen Soldaten zogen sich in ihre Kasematten zurück und die beiden Eroberer standen allein am Fuße des Felsens.

»Vorwärts also, Ben-Zouf.«

»Oder vielmehr rückwärts, Herr Kapitän!« antwortete Ben-Zouf, dem es gar nicht mehr einfiel, das Lied von den Zephyrs aus Afrika anzustimmen.

Sie kehrten also zurück, wie sie gekommen waren, ohne Gelegenheit gefunden zu haben, die französische Flagge aufzupflanzen.

Kein Unfall hielt sie auf und am 9. November schon setzten sie den Fuß wieder bei Warm-Land an das Ufer.

Sie kamen gerade zu rechter Zeit, um noch Zeugen eines sehenswerthen Zornesausbruches Palmyrin Rosette's zu werden. Und wahrlich, der geplagte Gelehrte hatte alle Ursache dazu.

Man erinnert sich, wie fleißig der Professor seine Nerina beobachtet und ihre Elemente berechnet hatte. Eben glaubte er seine Arbeiten abschließen zu können.

Nerina aber, welche am Abend vorher wieder hätte aufgehen sollen, erschien nicht am Horizonte der Gallia. Bei Durchschneidung des Kreises der teleskopischen Planeten war sie von einem mächtigeren Asteroiden ohne Zweifel wieder – weggefangen worden!

 


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