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II.
Das Fest der Störche.

Am 23. November bot die Ebene von Sung-Ettelateh, die sich außerhalb der Mauern von Tripolis ausbreitet, einen merkwürdigen Anblick dar. Wer hätte an jenem Tage behaupten wollen, ob diese Ebene dürr oder fruchtbar ist? Ihre Oberfläche bedeckten vielfarbige Zelte, die mit Quasten und in schreienden Farben gehaltene Fähnchen ausstaffirt waren; elende Schänken, deren verblichene und vielfach geflickte Leinwandumhüllungen ihre Gäste gegen die unfreundliche »Gibly«, den trockenen Südwind, nur unzulänglich beschützen konnte; hier und dort sah man Gruppen von reich nach orientalischer Manier aufgeschirrten Pferden, von Meharis, die ihre platten Köpfe, welche wie halbleere Schläuche aussahen, im Sande ausstreckten, von kleinen Eseln, die wie große Hunde aussahen und großen Hunden, die kleinen Eseln ähnelten, von Mauleseln, die den riesigen arabischen Sattel trugen, dessen Sattelbausch und Sattelknopf sich abrunden wie die Höcker des Dromedars; Reiter mit Flinten über dem Rücken, Knien in Brusthöhe, Füßen, die in pantoffelartigen Steigbügeln steckten, mit dem doppelten Säbel im Gürtel; sie galoppirten durch die Menge von Männern, Frauen und Kindern, ohne sich im Geringsten darum zu scheeren, ob Jemand ihnen im Wege stand; schließlich Eingeborene, die fast ohne Unterschied in den Burnus gehüllt waren, unter dem man einen Mann nicht von einer Frau unterscheiden könnte, wenn nicht die Männer die Falten dieses Mantels auf der Brust mit Hilfe eines kupfernen Schlosses zusammenhalten würden, während die Frauen den oberen Zipfel so über das Gesicht fallen lassen, daß nur das linke Auge sichtbar bleibt – ein Kostüm, welches je nach dem Stande seiner Träger variirt, denn die Armen tragen nur den einfachen, leinenen Mantel, unter dem sich ihr bloßer Körper zeigt, die Wohlhabenden tragen die Jacke und das breite Beinkleid der Araber, die Reichen kostbaren, weiß und blau carrirten Schmuck auf einem zweiten Gazemantel, auf dem die leuchtende Seide sich mit dem Matt der Wolle über dem mit goldenen Flittern besetzten Hemde mischt.

Doch nicht Tripolitaner allein bewegten sich auf der weiten Ebene. An den Ausgängen der Hauptstadt drängten sich Kaufleute aus Ghadames und Sokna mit dem Gefolge ihrer schwarzen Sclaven; ferner Juden und Jüdinnen der Provinz; sie zeigten unverhüllte, schmutzige Gesichter nach der Sitte des Landes und waren in wenig geschmackvoller Form »behost«; sodann Neger; sie waren aus einem benachbarten Orte gekommen und hatten ihre elenden Kabachen aus Binsen und Palmen verlassen, um Theil an dieser öffentlichen Lustbarkeit zu nehmen – ihre Kleidung zeichnete sich weniger durch einen Aufwand an Leinen als vielmehr an Schmucksachen, dicken Kupferarmringen, Halsketten von Muschelwerk, »Rivièren« von Thierzähnen, silbernen Ringen in den Ohrläppchen und Nasenknorpeln aus; schließlich Benulier, Awagujer, aus dem Küstenlande der großen Syrte stammend, denen die Dattelpalme ihres Landes Wein, Früchte, Brod und Näschereien liefert. Inmitten dieser Ansammlung von Mauren, Berbern, Türken, Beduinen und selbst von »Mußafirs«, das heißt Europäern, promenirten Paschas, Scheiks, Kadis, Kaïds, alle Edelleute der Ortschaft; sie spalteten die Menge der Raayas, die sich demüthig und vorsichtig vor dem blanken Säbel der Soldaten oder dem Polizistenstocke der Zaptiehas öffnete, wenn mit seiner erhabenen Gleichgiltigkeit der Generalgouverneur dieser afrikanischen Provinz des türkischen Reiches, deren Verwaltung vom Sultan selbst abhängt, vorüberschritt.

Während man mehr als eine Million fünfmalhunderttausend Einwohner auf Tripoli rechnet, nebst sechstausend Mann Soldaten, besitzt die Stadt Tripolis für sich allein höchstens nur zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Seelen. An jenem Tage aber konnte man dreist behaupten, daß die Bevölkerung durch den Zufluß der Neugierigen, die von allen Seiten des Festlandes herbeigeströmt waren, sich verdoppelt hätte. Diese »Landleute« hatten allerdings kein Unterkommen in der Hauptstadt der Regentschaft selbst gesucht. Weder die Häuser, deren schlechte Baumaterialien sie bald in Trümmer fallen ließen, noch die engen, pflasterlosen, gewundenen Straßen – man könnte sie fast himmellose nennen –, noch das an den Molo grenzende Stadtviertel, in welchem sich die Consulate befinden, noch der westliche Theil, wo die Juden ansässig sind, noch die für die Bedürfnisse der muselmännischen Rasse ausreichenden sonstigen Theile der Stadt wären, innerhalb der wenig elastischen Mauern der Umwallung, einem solchen Völkerstrome gewachsen gewesen.

Die Ebene von Sung-Ettelateh jedoch war groß genug für die Menge der Zuschauer, die zu dem Feste der Störche, dessen Andenken noch immer in den orientalischen Ländern Afrikas in Ehren gehalten wird, zusammengeströmt war. Diese Ebene – ein gelbsandiges Stück der Sahara, welche das Meer vielfach bei Ostwind überfluthet – umgibt die Stadt auf drei Seiten und mißt in der Breite ungefähr einen Kilometer. An ihrem südlichen Ende entwickelt sich, ein wundersam berührender Gegensatz – die Oase der Mendschjeh mit dem blendenden Weiß ihrer Bauten, ihren Gärten und Orangen-, Citronen-, Dattelbäumen, den Massen ihrer grünenden Gesträuche und Blumen, ihren Antilopen, Gazellen, Flamingos – eine riesige Enclave, auf der sich eine Bevölkerung von mindestens dreißigtausend Einwohnern vorfindet. Jenseits der Oase beginnt die Wüste, die mit keinem anderen ihrer Endpunkte dem Mittelmeere so nahe kommt wie hier; die Wüste beginnt dort mit ihren wandernden Dünen, ihrem unendlichen Sandteppiche, auf dem, wie Baron von Krafft sagt, »der Wind ebenso wie auf dem Meere Wellen formt«, das libysche Meer, dem selbst die aus undurchdringlichem Staube sich bildenden Nebel nicht fehlen.

Tripoli – ein fast ebenso großes Gebiet, wie Frankreich selbst ist, umfassend – breitet sich zwischen der Regentschaft von Tunis, Aegypten und der Sahara aus und nimmt über dreihundert Kilometer des Gestades des mittelländischen Meeres ein.

In diese Provinz, eine der am wenigsten bekannten Nordafrikas, in der man vielleicht am allerlängsten sich allen Nachforschungen entziehen kann, hatte sich Sarcany nach dem Verlassen von Tetuan geflüchtet. Tripolitaner von Geburt, war es nur natürlich, daß er in sein Heimatland, auf den Schauplatz seiner ersten Versuche, zurückkehrte. Wie man nicht vergessen haben wird, war er überdies mit der furchtbarsten Secte Nordafrikas sehr bekannt, er wußte also, daß er bei den Senusisten, deren Agent in der Fremde behufs Beschaffung von Waffen und Munition er zu sein nie aufgehört hatte, ausreichenden Schutz finden würde. Deshalb hatte er sich auch sofort nach seiner Ankunft in Tripolis in dem Hause des Moyaddems Sidi Hazam, des wohlbekannten Chefs der Sectenbrüder dieses Districts, einquartiert.

Sarcany hatte nach der Aufhebung von Silas Toronthal auf der Landstraße von Nizza – ein Vorgang, der ihm völlig räthselhaft geblieben war – sofort Monte Carlo verlassen. Die von dem letzten Gewinne erübrigten wenigen tausend Franken – er gebrauchte die Vorsicht, sie nicht als allerletzten Einsatz auf's Spiel zu setzen – hatten hingereicht, um die Kosten der Reise zu decken und den Eventualitäten vorzubeugen, vor denen er zunächst Front machen mußte. Es stand in der That zu befürchten, daß der zur Verzweiflung gebrachte Silas Toronthal sich gedrängt fühlte, sich an ihm zu rächen, entweder dadurch, daß er Sarcany's Vergangenheit enthüllte oder Sarah's Lage verrieth. Denn der Bankier wußte wohl, daß diese in Tetuan, in den Händen Namir's sich befand. Daraus entsprang Sarcany's Entschluß, Marokko in kürzester Frist zu verlassen.

Es war das klug gehandelt, weil Silas Toronthal nicht zögern würde zu sagen, in welchem Lande und in welcher Stadt das junge Mädchen unter der Obhut der Marokkanerin zurückgehalten werde.

Sarcany beschloß deshalb, in die Regentschaft von Tripolis sich zurückzuziehen, woselbst ihm sowohl Actions- als Vertheidigungsmittel zu Gebote stehen mußten. Sich dorthin mittelst der Packetboote der Küste oder mittelst der algerischen Eisenbahnen begeben, hieß aber – wie der Doctor ganz richtig vermuthet hatte – zuviel Gefahr laufen. Er zog es daher vor, sich einer Senusisten-Karawane anzuschließen, welche in die Cyrrhenäische Halbinsel zog und aus neu angeworbenen Mitgliedern aus den größten Vilajets von Marokko, Algerien und der tunesischen Provinz bestand. Diese Karawane, die in Eilmärschen zwischen Tetuan und Tripolis fünfhundert Meilen zurückzulegen hatte, indem sie der nördlichen Grenze der Wüste folgte, brach am 12. October auf.

Jetzt befand sich Sarah vollständig in der Macht ihrer Peiniger. Ihr Entschluß war aber trotzdem ein unerschütterlicher geblieben. Weder die Drohungen Namir's, noch die Wuthausbrüche Sarcany's hatten auf sie Eindruck machen können.

Beim Aufbruche von Tetuan zählte die Karawane bereits fünfzig Mitglieder oder Khuans; sie standen unter der Oberleitung eines Imam, der sie militärisch organisirt hatte. Die Provinzen, welche der französischen Regierung unterworfen waren, wurden übrigens sorgfältigst umgangen, um ja keine Schwierigkeiten hinsichtlich des Durchzuges zu haben.

Der afrikanische Continent bildet in Folge der Küstenbildung der algerischen und tunesischen Gebiete einen Bogen bis zur Westküste der großen Syrte, die jäh nach Süden abfällt. Es folgt daraus, daß die direkteste Straße, um von Tetuan nach Tripolis zu gelangen, die ist, welche die Sehne dieses Bogens bildet und die im Norden nicht höher als bis nach Laghuat steigt, einer der äußersten Städte unter französischer Hoheit an der Grenze der Sahara.

Die Karawane zog zuerst nach dem Verlassen des marokkanischen Gebietes an der Grenze der reichen Provinzen Algeriens entlang, welche man das »neue Frankreich« nennt und die in Wirklichkeit Frankreich selbst vorstellen – mit mehr Berechtigung als Neu-Kaledonien, Neu-Holland, Neu-Schottland, Schottland, Holland und Kaledonien vorstellen, weil die afrikanischen Provinzen Frankreichs nur dreißig Stunden zu Wasser von diesem selbst entfernt sind.

In Beni-Mutan, in Oulad-Mail, Scharfat-El-Hamel verstärkte sich die Karawane durch eine ziemliche Anzahl von Bundesbrüdern. Ihre Theilnehmerzahl belief sich auf mehr denn dreihundert Menschen, als sie die tunesische Grenze am Ende der großen Syrte erreichte. Sie brauchte jetzt nur noch dem Zuge der Küste zu folgen und kam, während sie sich in den verschiedenen Ortschaften der Provinz durch neue Khuans verstärkte, am 20. November, nach einer sechswöchentlichen Reise an der Grenze der Regentschaft an.

Zur Zeit, als unter großem Gelärm das Fest der Störche begangen werden sollte, waren Sarcany und Namir erst seit drei Tagen die Gäste des Moyaddem Sidi Hazam, dessen Behausung gleichzeitig Sarah Toronthal als Gefängniß diente.

Diese von einem schlanken Thurm überragte Behausung macht mit ihren weißen, fensterlosen Mauern, die von einigen Schießscharten durchbrochen waren, mit ihren mit Zinnen versehenen Terrassen, mit ihrer schmalen und niedrigen Thür, allerdings den Eindruck einer Art Festung. Diese vollkommene Zauiya lag außerhalb der Stadt, an dem Saume der Sandwüste und der Anpflanzungen der Mendschje, deren durch eine hohe Mauer beschützten Gärten auf die Domäne der Oase hinüberreichten.

Das Innere zeigte die gewöhnliche Einrichtung der arabischen Baulichkeiten, nur hier in dreifacher Gestalt, das heißt man zählte anstatt eines drei Patios oder Höfe. Diese Patios umschloß ein Viereck von Säulengalerien und Arkaden, auf welche wiederum die zahlreichen, meist reich ausgestatteten Zimmer führten. Im Hintergrunde des zweiten Hofes fanden die Besucher oder Gäste des Moyaddem eine ungeheure »Skifa«, eine Art Vorhalle, in der schon oft Conferenzen unter dem Vorsitze des Sidi Hazam abgehalten worden waren.

Dieses Haus wurde in natürlicher Weise von seinen hohen Mauern beschützt; es schloß außerdem aber auch ein zahlreiches Personal ein, welches im Falle eines Ueberfalles seitens der Nomaden oder selbst der tripolitanischen Behörden, deren Anstrengung darauf hinauslief, den Senusisten der Provinz wirksam die Hände zu binden, nachdrücklich über seine Sicherheit wachen konnte. Es befanden sich im Hause fünfzig Bundesbrüder, die sowohl zur Vertheidigung wie zum Angriff gleich gut gerüstet waren.

Eine einzige Thür gewährte Einlaß in diese Zauyia; doch diese sehr dicke und unter ihren Schlössern höchst solide Thür war nicht leicht aufzudrücken, und wenn sie selbst aufgestoßen war, nicht leicht zu durchschreiten.

Sarcany hatte also bei dem Moyaddem ein sehr sicheres Asyl gefunden. Dort hoffte er seine Unternehmung zu einem guten Ende führen zu können. Seine Heirat mit Sarah mußte ihm ein beträchtliches Vermögen einbringen und nöthigenfalls konnte er auf den Beistand der Brüderschaft rechnen, die direct an dem Gelingen seines Planes interessirt war.

Die von Tetuan angelangten oder in den Vilajets aufgelesenen Senusisten hatten sich über die Oase von Mendschje zerstreut, bereit, sich beim ersten Zeichen zusammenzufinden. Dieses Fest der Störche diente überaus der Sache der Senusisten, das war für die tripolitanische Polizei eine ausgemachte Sache. Dort auf der Ebene von Sung-Ettelateh sollten die Khuans von Nordafrika die Parole von den Muftis erhalten, um danach ihre Concentration auf der Cyrrhenäischen Halbinsel ins Werk zu setzen und dort unter der allmächtigen Oberhoheit eines Khalifen ein vollkommenes Piratenreich zu begründen.

Die Umstände lagen so günstig als möglich, denn gerade in dem Vilajet von Bhen-Ghazi zählte die Brüderschaft bereits die meisten Parteigenossen.

Am Tage des Festes der Störche in Tripolis spazierten drei Fremde inmitten der Menge aus der Ebene von Sung-Ettelateh umher.

Diese Fremden in ihrer arabischen Tracht hätte Niemand für Europäer gehalten. Der Aelteste von den Dreien trug die seinige mit einer so vollkommenen Unbefangenheit, wie sie nur lange Uebung hervorbringen kann.

Es war Doctor Antekirtt, ihn begleiteten Peter Bathory und Luigi Ferrato. Pointe Pescade und Kap Matifu waren in der Stadt zurückgeblieben, woselbst sie gewisse Vorbereitungen zu treffen hatten; sie wollten jedenfalls erst in dem Augenblick auf dem Schauplatze erscheinen, in welchem ihre Arbeit begann.

Erst vierundzwanzig Stunden früher war am Nachmittage der »Electric 2« im Schutze der Klippen vor Anker gegangen, welche für den Hafen von Tripolis eine Art natürlichen Dammes bilden.

Die Ueberfahrt war auch diesmal wieder eine äußerst schnelle gewesen. Nur drei Stunden Aufenthalt in Philippeville, auf der kleinen Rhede von Filfila, sonst nichts – damit war genügend Zeit zur Beschaffung der arabischen Kostüme gewonnen worden. Dann war der »Electric« unverzüglich wieder abgefahren, ohne daß seine Anwesenheit im Numidischen Golfe signalisirt worden wäre.

Als der Doctor und seine Gefährten – nicht auf den Quais von Tripolis, sondern an den Klippen außerhalb des Hafens gelandet, waren es nicht fünf Europäer, die den Fuß in die Regentschaft von Tripolis setzten, sondern fünf Orientalen, deren Kleidung in keiner Weise Aufmerksamkeit erregen konnte. Vielleicht würden sich Peter und Luigi in Folge mangelnder Gewohnheit in den Augen eines sorgfältigen Beobachters leicht verrathen haben. Pointe Pescade und Kap Matifu jedoch, die im Kostümwechsel bewandert waren, wie ihn der Seiltänzerberuf in vielgestaltiger Weise mit sich bringt, setzte diese Maskerade in keiner Weise in Verlegenheit.

Der »Electric« verbarg sich, als die Nacht angebrochen war, auf der anderen Seite des Hafens, in einer der wenig bewachten Buchten des Ufers. Dort sollte er sich bereit halten, zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht in See gehen zu können. Der Doctor und seine Gefährten stiegen nach ihrer Landung die felsigen Uferpartien hinan und betraten nach Ueberschreitung des aus groben Blöcken hergestellten Quais, der nach Bab-el-Bahr führt, durch das Meerthor die engen Straßen der Stadt. Das erste Hotel, auf welches sie stießen – die Auswahl war überhaupt keine große – schien ihren Bedürfnissen, während eines Aufenthaltes von wenigen Tagen, wenn nicht nur von wenigen Stunden, vollkommen zu genügen. Sie gaben sich daselbst das Ansehen anspruchsloser Leute, von einfachen tunesischen Kaufleuten, die bei ihrem Aufenthalte in Tripolis die Gelegenheit, das Fest der Störche mitanzusehen, wahrnehmen wollten. Da der Doctor das Arabische ebenso correct wie die anderen Idiome am Mittelmeere sprach, so konnte seine Sprache kaum den Verräther spielen.

Der Hotelier empfing die fünf Reisenden, welche ihm die große Ehre, bei ihm vorzusprechen, zu Theil werden ließen, mit Auszeichnung. Er war ein dicker, geschwätziger Mann. Der Doctor, der ihn anfeuerte zu erzählen, hatte bald gewisse Dinge, die ihn besonders interessirten, von ihm erfahren. Er hörte zunächst, daß jüngst eine Karawane von Marokko in Tripolis angelangt wäre; ferner erfuhr er, daß der in der Regentschaft sehr bekannte Sarcany dieser Karawane sich angeschlossen hätte und der Gastfreund im Hause Sidi Hazam's wäre.

Deshalb hatten sich am selben Abend noch der Doctor, Peter und Luigi unter Beobachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln, um nicht erkannt zu werden, unter die Nomadenmassen gewagt, die auf der Ebene von Sung-Ettelateh lagerten. Auf ihrem Spaziergange jedoch beobachteten sie genau das Haus des Moyaddem am Saume der Oase von Mendschjeh.

Dort also war Sarah Sandorf eingeschlossen. Seit des Doctors Aufenthalte in Ragusa waren Vater und Tochter nie wieder so dicht beieinander gewesen, wie jetzt. Aber eine unüberschreitbare Mauer trennte sie. Peter hätte, um sie zu befreien, zweifellos Allem beigestimmt, selbst einem Vergleiche mit Sarcany. Graf Mathias Sandorf und er wären gern bereit gewesen, das Vermögen fahren zu lassen, welches der Schuft zu erlangen wünschte. Sie durften aber nicht vergessen, daß sie gleichzeitig auch an dem Verräther Stephan Bathory's und Ladislaus Zathmar's Vergeltung zu üben hatten.

Jedenfalls boten in der Lage, in welcher sie sich augenblicklich befanden, ein Festnehmen Sarcany's und die Entführung Sarah's aus dem Hause des Sidi Hazam fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Eine Entführung mit Gewalt mußte mißglücken, würde das Unternehmen mit einer List ausgeführt, besser glücken? Würde das Fest am folgenden Tage die Ausführung ermöglichen? Man nahm es an und mit diesem Plane beschäftigten sich der Doctor, Peter und Luigi noch am selben Abend – einem Plane, der dem Gehirn Pointe Pescade's entsprungen war. Der tapfere Kerl konnte bei der Ausführung desselben sein Leben einbüßen; selbst wenn es ihm gelang, in die Behausung des Moyaddem zu dringen, würde es ihm schwer möglich sein, Sarah Sandorf zu befreien. Seinem Muthe und seiner Geschicklichkeit aber schien nichts unmöglich.

Behufs Ausführung des gutgeheißenen Planes fanden sich deshalb am folgenden Abend der Doctor Antekirtt, Peter und Luigi auf der Ebene von Sung-Ettelateh ein, während Pointe Pescade und Kap Matifu sich zu Hause auf die Rollen vorbereiteten, welche sie auf dem Feste der Störche zu spielen gedachten.

Bis zu dieser Stunde hatte sich auf dem Festplatze noch nichts ereignet, was den Lärm und das Gewühl ahnen lassen konnte, die später am Abend beim Scheine unzähliger Fackeln die Ebene beherrschen sollten. Man konnte kaum inmitten der gedrängten Massen das Gehen und Kommen der senusistischen Parteigänger bemerken, die in möglichst einfache Gewänder gehüllt waren und sich nur mittelst eines freimaurerischen Zeichens die Befehle ihrer Führer mittheilten.

Es ist hier der geeignete Platz, das orientalische oder vielmehr afrikanische Märchen kennen zu lernen, dessen Hauptereignisse durch dieses Fest der Störche veranschaulicht werden sollen, welches auf die Muselmänner einen Hauptreiz auszuüben pflegt.

Es existirte ehedem auf dem afrikanischen Continent eine Rasse der Djins. Unter dem Namen der Bu-Ihebrs bewohnten diese Djins ein mächtiges Gebiet, welches auf der Grenze der Wüste Hammada, zwischen Tripoli und dem Königreich von Fezzan gelegen war. Sie bildeten ein mächtiges Volk, das ebenso furchtbar war als es gefürchtet wurde. Denn es war ungerecht, treulos, unmenschlich und kriegslustig. Noch kein afrikanischer Herrscher hatte es zu unterjochen vermocht.

Eines Tages geschah es, daß der Prophet Suleyman versuchte, nicht die Djins anzugreifen, sondern sie zu bekehren. Zu diesem Zwecke sandte er ihnen einen Apostel, der ihnen die Liebe zum Guten, den Haß des Bösen predigen sollte. Verlorene Mühe! Die wilden Horden bemächtigten sich des Missi0onärs und nahmen ihn gefangen.

Die Djins zeigten deshalb sich so außerordentlich kühn, weil sie wohl wußten, daß in ihr isolirt gelegenes und schwer zugängliches Land kein König mit seinem Heere sich wagen würde. Sie glaubten überdies, daß kein Bote den Prophet Suleyman unterrichten würde, welches Schicksal sein Sendling gefunden hatte. Sie täuschten sich darin.

In ihrem Lande gab es eine Unmenge Störche. Das sind, wie man weiß, wohlgesittete Thiere, außerdem sind sie äußerst intelligent und sehr zartfühlend, denn die Sage behauptet, daß sie niemals ein Land bewohnen, dessen Name auf einem Geldstücke figurirt – das Geld ist nämlich die Quelle jedes Uebels und der mächtigste Verführer des Menschen zu schlechten Leidenschaften.

Die Störche, die wohl sahen, in welchem Unglauben die Djins lebten, beriefen eines Tages eine Rathsversammlung und beschlossen einen aus ihrer Mitte zum Propheten Suleyman zu schicken, um die Mörder des Missionärs seiner gerechten Rache zu empfehlen.

Alsbald befahl der Prophet seinem Wiedehopf, der sein Lieblingsbote war, alle Störche der Erde in den hohen Luftschichten des afrikanischen Himmels zu versammeln.

Das geschah und als die unzähligen Geschwader dieser Vögel vor dem Propheten Suleyman vereinigt waren, »bildeten sie,« so sagt die Legende wörtlich, »eine Wolke, die das ganze Land zwischen Mezda und Morzuq beschattet haben würde.«

Darauf nahm jeder Storch einen Stein in seinen Schnabel und flog dem Lande der Djins zu. Darüber hinstreichend steinigten sie diese gemeine Menschenrasse, deren Seelen jetzt für die Ewigkeit auf dem Grunde der Wüste Hammada eingekerkert sind.

Das ist das Märchen, welches das Fest der Störche veranschaulichen sollte. Mehrere hunderte von Störchen waren unter mächtigen Netzen, die über die Oberfläche der Ebene von Sung-Ettelateh gespannt waren, vereinigt worden. Dort erwarteten sie, meistens auf einem Beine stehend, die Stunde ihrer Befreiung, und das Klappern ihrer Kinnbacken drang oft wie Trommelwirbel durch die Lüfte. Sobald das Zeichen gegeben war, sollten sie aufsteigen und unter dem Geheul der Zuschauer, dem betäubenden Lärm der Instrumente, Flintenfeuer und beim Aufleuchten der vielfarbigen Fackeln unschädliche Steine aus fester Erde auf ihre Getreuen fallen lassen.

Pointe Pescade kannte das Programm dieses Festes und dieses Programm hatte in ihm den Gedanken rege gemacht, eine Rolle in demselben zu spielen. Er konnte unter solchen Umständen am Leichtesten in das Innere des Hauses Sidi Hazam's dringen.

Sobald die Sonne untergegangen war, gab ein auf der Festung Tripoli gelöster Kanonenschuß das von den Massen auf Sung-Ettelateh sehnsüchtigst erwartete Signal.

Der Doctor, Peter und Luigi wurden zuerst halb betäubt von dem das Trommelfell zerreißenden, ringsherum sich erhebenden Lärm, dann fast geblendet von den tausenden von Lichtern, die auf der ganzen Ebene erglänzten.

Als der Kanonenschuß fiel, war die ganze Menge der Nomaden noch mit der Zurichtung ihres Abendbrodes beschäftigt gewesen. Hier gab es gerösteten Hammel und gekochte Hühner für die, welche Türken waren oder als solche erscheinen wollten; dort Kuskussu für die wohlhabenderen Araber; für die große Masse der armen Teufel, die in ihren Taschen mehr Kupfermahbubs als Geldmittel hatten, gab es eine einfache »Bazihna«, eine Art mit Oel durchsetzten Gerstenschleimes; in Strömen aber floß der »Lagby«, das aus dem Dattelbaume gezogene Getränk, welches, in den Zustand des alkoholhaltigen Bieres versetzt, vollständig berauschend wirkt.

Einige Minuten nach Abfeuerung des Schusses waren Männer, Frauen, Kinder, Türken, Araber, Neger nicht mehr zu halten. Es bedurfte der ganzen Sonorität der barbarischen Orchester, um dieses menschliche Tohuwabohu noch zu übertönen. Hier und dort sprengten Reiter einher, wobei sie ihre langen Flinten und Sattelpistolen abfeuerten, während Feuerwerkskörper und Kanonenschläge mit geschützartigem Knall explodirten – alles inmitten eines Tumultes, der sich unmöglich beschreiben läßt.

Hier führte beim Scheine der Fackeln, beim Wirbel der Holztrommeln und einem monotonen Singsang ein phantastisch gekleideter Negerführer, dessen Lenden vom Gerassel des an ihm hängenden Knochenschmuckes widertönten, während eine teuflische Maske sein Gesicht verdeckte, an dreißig Grimassen schneidende Schwarze zum Tanze in den Kreis konvulsivisch mit den Händen schlagender Frauen.

Wilde Aïssassuyas, die schon auf der letzten Stufe religiösen Wahnsinnes und alkoholischer Trunkenheit angelangt waren, denen der Schaum vor dem Munde stand, die Augen aus ihren Höhlen getreten waren, welche Holz zerkauten und Eisen zerbissen, sich die Haut abschunden und mit glühenden Kohlen jonglirten, umwickelten sich mit langen Schlangen, die sie in die Handgelenke, Knie, Lippen bissen und denen sie das Gleiche anthaten, indem sie ihren blutenden Schwanz auffraßen.

Doch bald drängte das Volk in ausgesprochener Weise dem Hause des Sidi Hazam zu, gerade als ob ein neuartiges Schauspiel es dort erwartete.

Zwei Männer, der Eine dick, der Andere dünn – zwei Akrobaten hatten sich dort eingefunden, deren wunderbare, mit Kraft und Geschicklichkeit ausgeführte Exercitien einen vierfachen Kreis von Zuschauern herbeilockten; brausende Hurrahs, wie sie nur tripolitanische Kehlen von sich zu geben im Stande sind, lohnten den Künstlern.

Es waren Pointe Pescade und Kap Matifu. Sie hatten den Schauplatz ihrer Thaten nur wenige Schritte vom Hause des Sidi Hazam entfernt gewählt. Beide hatten bei dieser Gelegenheit ihr Handwerk als Meßbudenakrobaten noch einmal ergriffen. Mit Flitterzeug angethan, das sie sich aus arabischen Stoffen zurechtgeschnitten hatten, gingen sie auf neue Erfolge aus.

»Wirst Du auch nicht schon zu steif geworden sein? hatte Pointe Pescade Kap Matifu gefragt.

– Nein, Pointe Pescade, hatte Jener geantwortet.

– Und Du wirst vor keinem Exercitium, welches es auch immer sein mag, zurückschrecken, um diese Dummköpfe zu begeistern?

– Ich? ... Zurückschrecken?

– Selbst wenn Du Kieselsteine aufbeißen und Schlangen verzehren solltest?

– Gekochte –? fragte Kap Matifu.

– Nein ... rohe.

– Rohe?

– Und lebendige!«

Kap Matifu hatte zwar ein schiefes Gesicht gezogen, aber er war entschlossen, wenn es nicht anders sein konnte, auch lebendige Schlangen zu essen wie der gewöhnlichste Aïssassuya.

Der Doctor, Peter und Luigi, die sich unter die übrigen Zuschauer gemischt hatten, verloren die beiden Genossen nicht aus den Augen.

Nein! Kap Matifu war gewiß nicht steif. Er hatte nichts von seiner wunderbaren Kraft eingebüßt. Zunächst hatten die Schultern von fünf bis sechs Arabern, die sich mit ihm hatten messen wollen, die Erde geküßt.

Dann waren es die Jongleurkunststückchen, welche die Araber entzückten, als entzündete Fackeln zwischen den Händen Kap Matifu's und Pointe Pescade's in krausen Linien einherflogen.

Dieses Publikum war gewiß nicht leicht zufrieden zu stellen. Es gab da eine ganz bedeutende Menge von Anhängern der halbwilden Tuaregs, »deren Geschicklichkeit derjenigen der furchtbarsten Thiere dieser Breitengrade gleichkommt«, wie sich die Ankündigung des großartigen Programmes der berühmten Bracco-Truppe ausdrückte. Diese Kenner hatten schon dem unbeugsamen Mustapha, dem Samson der Wüste, dem Kanonenkönige applaudirt, dem »die Königin von England durch ihren Kammerdiener hatte bestellen lassen, er möge seine Experimente nicht wiederholen, aus Furcht, es könnte Jenem ein Unglück zustoßen!« Doch Kap Matifu war in allen seinen Krafttouren unerreichbar und er hatte keine Nebenbuhler darin zu befürchten.

Ein letzter Trick sollte die Begeisterung der die europäischen Künstler umgebenden kosmopolitischen Menge auf die Spitze treiben. Er wird häufig in den Arenen Europas gezeigt, doch den tripolitanischen Gaffern war er jedenfalls noch unbekannt.

Die Zuschauer drängten so dicht als möglich an die beiden Akrobaten heran, die beim Scheine der Fackeln »arbeiteten«, um nichts von ihren Künsten zu verlieren.

Kap Matifu ergriff eine fünfundzwanzig bis dreißig Fuß lange Stange und hielt sie vertical mit seinen fest auf die Brust gestemmten Fäusten. An der Spitze dieser Stange, auf welche Pointe Pescade mit affenartiger Geschwindigkeit geklettert war, balancirte dieser in ausnehmend kühnen Stellungen, während er das obere Ende dadurch in beunruhigender Weise herunterbog.

Kap Matifu jedoch stand unerschütterlich; er fußte nur langsam hin und her, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Gerade als er sich dicht an der Mauer des Hauses von Sidi Hazam befand, hatte er noch die Kraft, die Stange auf Armeslänge von sich abzuhalten, während Pointe Pescade in der Haltung eines Siegers dem Publikum Kußfinger zuwarf.

Die durchaus bezauberte Menge der Araber und Neger heulte, klatschte in die Hände und trampelte mit den Füßen. Niemals hatte der Samson der Wüste, der unbeugsame Mustapha, der Kühnste der Tuaregs, sich zu einer solchen Leistung aufgeschwungen.

Plötzlich tönte ein zweiter Kanonenschuß von den Wällen der Festung Tripoli hinüber. Bei diesem Zeichen erhoben sich die plötzlich aus den Netzen, in denen sie gefangen gehalten worden waren, losgelassenen hunderte von Störchen in die Lüfte und ein Hagel falscher Steine prasselte auf die Ebene herunter inmitten des betäubenden Concerts überirdischen Geklappers, das mit nicht weniger großer Heftigkeit gegen das irdische Getöse ankämpfte.

Damit war der Höhepunkt des Festes erreicht, der Paroxismus stieg auf den Gipfel. Man konnte dreist behaupten, daß alle Irrenhäuser der Erde ihre Insassen auf die Ebene von Sung-Ettelateh bei Tripoli ausgespieen hätten.

Nur die Behausung des Moyaddem war, als wenn man in ihr taub und stumm gewesen wäre, während der Stunden allgemeinen Vergnügtseins nicht geöffnet worden, kein Einziger der Anhänger des Sidi-Hazam hatte sich an der Thür oder auf den Terrassen gezeigt.

Aber o Wunder! Gerade als die Fackeln nach dem Aufsteigen der Störche plötzlich erloschen, war auch Pointe Pescade plötzlich verschwunden, gerade als wenn er mit den treuen Thieren des Propheten Suleyman den Flug in die Lüfte gemacht hätte.

Was war aus ihm geworden?

Kap Matifu sah nicht so aus, als ob er gerade sehr besorgt wegen dieses Ereignisses wäre. Nachdem er seine Stange fortgeschnellt hatte, fing er sie an ihrem anderen Ende wieder auf und ließ sie, wie ein Tambourmajor, um die Finger wirbeln. Das Verschwinden Pointe Pescade's schien für ihn das natürlichste Ding auf Erden zu sein.

Das Erstaunen der Zuschauer war natürlich nun noch ein größeres und ihr Enthusiasmus endete in einem so brausenden Hurrah, daß man es über den Saum der Oase hinaus noch hörte. Keiner von ihnen zweifelte daran, daß der Akrobat einen kleinen Ausflug durch die Lüfte in das Königreich der Störche gemacht habe.

Hat nicht das Unerklärliche stets den größten Reiz für die große Menge?


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