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VI.
Die Erscheinung.

Die Dampfyacht ging um Mittag unter den Befehlen des Kapitäns Köstrik und des zweiten Lieutenants Luigi Ferrato in See. Sie hatte nur den Doctor, Peter und Maria als Passagiere an Bord, welch Letztere beauftragt war, Frau Bathory ihre Sorgfalt angedeihen zu lassen, für den Fall es unmöglich sein sollte, sie unverzüglich von Carthago nach Antekirtta zu befördern.

Man begreift, ohne daß ein directer Hinweis eigentlich noch nöthig wäre, die Herzensbeklemmungen Peter's. Er wußte, wo seine Mutter sich befand, er sollte sie wiedersehen! ... Doch warum hatte Borik sie Hals über Kopf von Ragusa fort und an die ferne Küste Tunesiens geführt? In welchem Elend würde man Beide antreffen?

Maria erwiderte auf die Klagen, die Peter vor ihr ausschüttete, unablässig mit Worten der Hoffnung und des Trostes. Sie fühlte jedenfalls etwas vom Walten der Vorsehung in der Thatsache, daß der Brief Borik's beim Doctor eingetroffen war.

Es war Befehl gegeben worden, den »Ferrato« das Maximum von Schnelligkeit entfalten zu lassen. Mit Hilfe seiner Heizapparate legte er durchschnittlich fünfzehn Meilen in der Stunde zurück. Die Entfernung zwischen dem Golfe der Sidra und Kap Bon, welches auf der äußersten Nordostspitze der tunesischen Küste gelegen ist, beträgt höchstens tausend Kilometer; von Kap Bon bis La Golette, das den Hafen von Tunis bildet, brauchte die schnell fahrende Dampfyacht nur anderthalb Stunden zur Ueberfahrt. In dreißig Stunden, vorausgesetzt, daß kein Sturm oder ein Unfall die Fahrt verlangsamte, konnte der »Ferrato« an seinem Bestimmungsorte anlangen.

Das Meer war außerhalb des Golfes ruhig, aber der Wind kam aus Nordwest, ohne eine Neigung zum Stärkerwerden zu verrathen. Kapitän Köstrik steuerte etwas unterhalb von Kap Bon auf die Küste zu, um bequemer den Schutz des Landes zu erreichen, für den Fall, daß die Brise plötzlich auffrischte. Er mußte also die Insel Pantellaria vollständig abseits liegen lassen, welche sich ungefähr auf halbem Wege zwischen Malta und Kap Bon erhebt, da er die Absicht hegte, so dicht als möglich am Kap vorüber zu fahren.

Außerhalb des Golfes der Sidra buchtet sich die Küste breit nach Westen aus und beschreibt eine Curve mit großem Radius. Dort entwickelt sich specieller das Gestade der Regentschaft Tripolis, das bis zum Golf von Gabes, zwischen der Insel Dscherba und der Stadt Sfax hinaufreicht; dann wendet sich die Küste wieder ein wenig nach Osten gegen Kap Dinias, um den Golf von Hammamet zu bilden, und dann entwickelt sie sich nach Süden und Norden bis zum Kap Bon.

Also genau genommen richtete der »Ferrato« auf den Golf von Hammamet zu seiner Fahrt. Dort mußte er zuerst das Land doubliren, so zwar, daß er es bis La Golette nicht mehr zu verlassen brauchte.

Während des 3. November und der darauf folgenden Nacht schwollen die Wogen der offenen See sichtbar an. Es gehört nicht viel Wind dazu, um das Meer der Syrten aufrührerisch zu machen, durch welches die eigensinnigsten Strömungen des Mittelmeeres ihren Weg nehmen. Am folgenden Morgen gegen acht Uhr wurde bereits, genau in der Höhe von Kap Dinias, Land gemeldet und unter dem Schutze der hohen Küste ging die Weiterfahrt glatt und schnell von Statten.

Der »Ferrato« hielt knapp zwei Meilen vom Lande ab und man konnte daher von ihm aus viele Einzelheiten an demselben erkennen. Jenseits des Golfes von Hammamet, in der Breite von Kelibia, dampfte er noch näher an die kleine Rhede von Sidi-Yusuf heran, welche im Norden von einer langen Reihe dicht stehender Klippen geschützt wird.

Rückwärts breitet sich ein herrlicher Sandstrand aus. Dahinter schließt sich eine Reihenfolge von Hügeln an, welche mit kleinen, verkrüppelten Staudengewächsen bedeckt sind; sie entsprossen einem Boden, der an Steinen reicher ist als an treibendem Erdreich. Im Hintergrunde schließen sich hohe Berge den »Djebels« an, welche die Gebirge des inneren Landes bilden. Hier und dort verliert sich ein verlassener Marabut, wie ein weißer Fleck in das Grün der fernen Höhenzüge. Im Vordergrunde tauchte ein kleines, in Ruinen liegendes Fort auf, weiter oben erhebt sich ein in besserem Zustande befindliches Fort auf dem Hügel, der im Norden die Bucht von Sidi-Yusuf abschließt.

Die Ortschaft war keineswegs öde. Unter dem Schutze der Klippen ankerten mehrere Schiffe der Levante, Schebecken und Polaken, in der Entfernung einer halben Ankerlänge vor der Küste über einer Tiefe von fünf oder sechs Fäden. Die Klarheit dieser grünen Gewässer ist indessen eine so bedeutende, daß man deutlich den Grund aus schwarzen Steinen mit leicht darüber hingestreuten Streifen Sandes sah, in dem die Anker hafteten. Die Fluth gab ihren Widerschein in phantastischen Formen wieder.

Längs des Ufers, am Fuße der kleinen mit Mastixbäumen und Tamarinden bestandenen Dünen, zeigte ein aus etwa zwanzig Gurbis bestehender Duar seine Zelte aus ungebleichter gelbgestreifter Leinwand. Es sah aus, als wäre ein ungeheurer arabischer Mantel unordentlich auf das Ufer geworfen worden. Außerhalb der Falten dieses Mantels weideten Hammel und Ziegen; sie sahen von Weitem wie dicke schwarze Raben aus, die ein einziger Flintenschuß auseinander sprengen kann. Ein Dutzend Kameele, von denen die einen sich in den Sand ausgestreckt hatten, während die anderen unbeweglich dastanden, als wären sie versteinert worden, wiederkäuten nahe einer Klippenreihe, welche als Anlege-Quai dienen konnte.

Der Doctor konnte beim Vorüberfahren an der Rhede von Sidi-Yusuf beobachten, wie man Munitionen, Waffen, ja selbst einige kleine Feldgeschütze ausschiffte. In Folge ihrer abseitigen Lage auf den Grenzgestaden der Regentschaft Tunis eignete sich die Rhede von Sidi-Yusuf nur zu gut zur Landung solcher Contrebande.

Luigi machte den Doctor ebenfalls auf die Ausschiffung der genannten Gegenstände an dieser Küste aufmerksam.

»Ja, Luigi, antwortete dieser, wenn ich mich nicht täusche, sind es Araber, welche die Lieferung von Kriegsmaterial in Empfang nehmen. Ich weiß bereits zu viel, als daß ich mich noch bei dem Glauben beruhigen könnte, diese Waffen seien für die Bergbewohner bestimmt, zu ihrer Vertheidigung gegen die französischen Truppen, welche jetzt in Tunesien gelandet werden. Es muß leider angenommen werden, daß die Lieferung für Rechnung der zahlreichen Verbündeten der Senusisten vor sich geht, dieser Land- und Seeräuber, die sich augenblicklich auf der Cyrrhenäischen Halbinsel zu sammeln beginnen. Ich glaube sogar unter diesen Arabern viel mehr Typen aus dem Innern Afrikas als aus den tunesischen Provinzen zu erkennen.

– Widersetzen sich denn die Behörden der Regentschaft, wenigstens die französischen Autoritäten nicht dieser Einschmuggelei von Waffen und Munition? fragte Luigi.

– Man weiß in Tunis wohl kaum, was auf dieser Seite des Kaps Bon geschieht, antwortete der Doctor, und wenn die Franzosen selbst Herren von Tunesien sein werden, steht es leider zu befürchten, daß dieser ganze östliche Abhang der Djebels ihnen auf lange hinaus noch entschlüpft. Wie dem auch immer sei, diese Waare scheint mir sehr verdächtig und würde die Schnelligkeit unseres »Ferrato« uns nicht vor jedem Angriffe sicher stellen, so würde jene Flottille gewiß nicht gezögert haben, auf uns loszugehen.«

Wenn die Araber wirklich die Gedanken hegten, welche ihnen der Doctor unterschob, so war in der That nichts zu befürchten. Die Dampfyacht hatte in weniger als einer halben Stunde die kleine Rhede von Sidi-Yusuf durchmessen. Nachdem sie die Spitze von Kap Bon erreicht hatte, das so massiv aus dem tunesischen Festlande herausgearbeitet ist, doublirte sie schnell den Leuchtthurm auf seinem äußersten Ende, das ganze wundervolle System von starrenden Klippen.

Der »Ferrato« dampfte mit voller Geschwindigkeit durch den Golf von Tunis, den man zwischen Kap Bon und Kap Carthago liegend versteht. Zu seiner Linken entwickelte sich die Reihe der Abhänge des Djebels Bon-Karnin, des Djebels Rossas und des Djebels Zaghuan mit einigen Ortschaften, welche hier und dort in den Grund der Schluchten hineingebaut sind. Rechts schimmerte im ganzen Glanze des arabischen Kasbah im vollen Sonnenlichte die heilige Stadt Sidi-Bu-Saïd, die vielleicht eine der Vorstädte des alten Carthago ist. Weiter hinten stieg Tunis, weiß erglänzend in der Sonne über dem See von Bahira auf, ein wenig rückwärts von dem Arm, den La Golette allen den von den europäischen Packetbooten Ausgeschifften entgegenstreckt.

In einer Entfernung von zwei oder drei Meilen vom Hafen ankerte ein Geschwader französischer Kriegsschiffe; weiter dem Lande zu schaukelten einige Handelsschiffe vor ihren Ketten; ihre verschiedenen Flaggen gaben der Rhede ein buntes Aussehen.

Es war ein Uhr, als der »Ferrato« die Anker warf, drei Längen vor dem Hafen La Golette. Nachdem die üblichen Formalitäten erfüllt waren, wurde den Passagieren der Dampfyacht der freie Zutritt zum Festlande gewährt. Der Doctor, Peter, Luigi und seine Schwester nahmen in dem Schiffsboote Platz, welches sofort abstieß. Nachdem es den Molo passirt hatte, glitt es durch den schmalen Canal, der stets von an beiden Seiten des Quais ankernden Schiffen dicht gefüllt ist, und langte vor dem unregelmäßigen, mit Bäumen bepflanzten, von Landhäusern, Agenturen, Café's eingerahmten Platze an, auf dem Malteser, Juden, Araber, französische Soldaten und Eingeborene durcheinander wimmeln, vor dem Eingange zur Hauptstraße von La Golette ...

Der Brief von Borik war aus Carthago datirt, und dieser Name, nebst einigen auf der Erdoberfläche zerstreut liegenden Ruinen ist Alles, was von der Stadt Hannibal's übrig geblieben ist.

Um an die Küste von Carthago zu kommen, braucht man nicht die kleine italienische Eisenbahn zu benutzen, die La Golette und Tunis verbindet und an dem See von Bahira herum führt. Entweder am Ufer entlang, dessen fester und harter Sand den Fußgängern einen vortrefflichen Fußpfad bietet, oder auf einer staubigen Straße, die etwas weiter zurück durch die Ebene geführt ist, langt man bequem an den Fuß des Hügels, der die Kapelle des heiligen Ludwig und das Kloster der algerischen Missionäre trägt.

Als der Doctor und seine Begleiter ausstiegen, befanden sich gerade mehrere Wagen, mit kleinen Pferden davor, wartend auf dem Platze. Im Handumdrehen hatte man den einen dieser Wagen bestiegen und dem Kutscher Befehl ertheilt, in möglichster Eile nach Carthago zu fahren. Der Wagen durchfuhr im schnellsten Trab seiner Pferde die Hauptstraße von La Golette und passirte die prächtigen Landhäuser, welche die reichen Tunesen während der großen Hitze bewohnen, ferner die Paläste von Keradine und Mustapha, die sich an der Küste, an den Eingängen zu den alten Häfen der carthaginiensischen Hauptstadt erheben. Vor mehr als zweitausend Jahren bedeckte die Nebenbuhlerin Roms diese ganze Uferstrecke, von der Spitze von La Golette bis zum Kap, welches jetzt noch ihren Namen trägt.

Die auf einem kleinen, zweihundert Fuß hohen Hügel erbaute Kapelle des heiligen Ludwig erhebt sich auf demselben Platze, auf welchem, wie festgestellt ist, der König von Frankreich im Jahre 1270 gestorben ist. Sie nimmt den Mittelpunkt einer kleinen Anlage ein, die mehr antike Scherben, architektonische Fragmente, Bruchstücke von Statuen, Vasen, Säulen, Inschriften, Capitälen, Pfeilern als Bäume oder Gebüsche zählt. Dahinter befindet sich das Kloster der Missionäre, deren Prior augenblicklich der Vater Delattre, ein gelehrter Archäologe, ist. Von der Höhe dieser Anlage beherrscht man die ganze Sandküste, von Kap Carthago an bis zu den ersten Häusern von La Golette.

Am Fuße des Hügels erheben sich einige Paläste arabischer Bauart mit Säulenreihen nach englischer Mode; sie spiegeln im Meere ihre eleganten Verpfählungen wieder, an denen die Boote der Rhede anlegen können. Jenseits liegt der herrliche Golf, dessen sämmtliche Vorgebirge, Kaps, Bergzüge in Ermangelung von Ruinen mit geschichtlichen Erinnerungen bedacht sind.

Neben den Palästen und Landhäusern, welche sich bis an die Stelle der alten Kriegs- und Handelshäfen hin erheben, findet man auch hier und dort, in den Falten der Hügel verstreut, inmitten der Steingerölle auf einem grauen und der Cultur fast unzugänglichen Boden, elende Häuschen, in denen die Armen der Umgebung wohnen. Die Meisten von ihnen kennen kein anderes Gewerbe, als auf der Erdoberfläche oder innerhalb der obersten Bodenlage, mehr oder weniger kostbare Scherben aus der carthaginiensischen Zeit, Bronzen, Edelsteine, Töpfereien, Medaillen, Geldstücke zu suchen, die das Kloster ihnen für sein archäologisches Museum gern abkauft – weit mehr aus Mitleid als aus Bedürfniß.

Einige dieser Unterschlüpfe haben nur zwei oder drei Mauerwände. Man könnte sie Ruinen von Marabuts nennen, die in dem Klima dieses sonnenreichen Gestades weiß geblieben sind.

Der Doctor und seine Gefährten fuhren von einem dieser Häuschen zum anderen und besichtigten sie alle; sie suchten die Behausung von Frau Bathory, mochten aber nicht glauben, daß sie bis zu diesem Grade des Elends gesunken war.

Plötzlich hielt der Wagen vor einer zerfetzten Behausung, deren Thür nur einem Loche glich, das in die halb von dem Grün der Pflanzen verdeckte Mauer gestoßen war.

Eine alte Frau, deren Kopf eine schwarze Kappe bedeckte, saß vor dieser Thür.

Peter hatte sie sofort wiedererkannt! – Er hatte einen Schrei ausgestoßen! ... Es war seine Mutter! ... Er stürzte zu ihr, ließ sich vor ihr auf die Knie nieder und schloß sie in seine Arme ... Doch sie erwiderte nicht seine Liebkosungen, sie schien ihn nicht wiederzuerkennen.

»Mutter! ... Mutter!« rief er, während der Doctor, Luigi, seine Schwester sich um sie drängten.

Um die Ecke der Ruine trat in diesem Augenblicke ein Greis.

Es war Borik.

Er erkannte zuerst den Doctor Antekirtt und seine Knie beugten sich. Dann bemerkte er Peter ... Peter, dessen Leichenzuge er bis auf den Friedhof von Ragusa gefolgt war ... Das war zu viel für ihn. Er fiel, ohne eine Bewegung von sich zu geben, um, nur seine Lippen stammelten noch die Worte:

»Sie hat keinen Verstand mehr!«

Jetzt, wo der Sohn seine Mutter wiederfand, war nur noch ein träger, bewußtlos handelnder Körper von ihr übrig. Der Anblick ihres Kindes, das sie todt glauben mußte, welches plötzlich vor ihren Augen auftauchte, war nicht einmal im Stande, ihr die Erinnerung an die Vergangenheit wiederzugeben.

Frau Bathory hatte sich erhoben, ihre Augen blickten verstört, aber doch lebhaft. Ohne irgend etwas gesehen, ohne ein Wort gesprochen zu haben, ging sie in den Marabut zurück, wohin ihr Maria auf einen Wink des Doctors folgte.

Peter war unbeweglich vor der Thür stehen geblieben, er war unfähig und wagte nicht einen Schritt zu thun.

Inzwischen hatte Borik durch die Bemühungen des Doctors sein Bewußtsein wiedererlangt.

»Sie, Herr Peter, Sie ... am Leben! rief er aus.

– Ja, antwortete dieser, ja, lebend ... wenngleich ich wünschte, todt zu sein!«

Der Doctor klärte mit wenigen Worten Borik über die Vorgänge in Ragusa auf. Dann erzählte der alte Diener seinerseits unter großer Anstrengung von den zwei Monaten ihres Elends.

»Vor allen Dingen, fragte der Doctor zunächst, hat der Tod ihres Sohnes Frau Bathory um den Verstand gebracht?

– Nein, Herr, nein,« antwortete Borik.

Er erzählte Folgendes.

Frau Bathory, die damals allein auf Erden stand, hatte Ragusa verlassen und sich in dem Dorfe Vinticello niedergelassen, woselbst noch einige Glieder ihrer Familie wohnten. Während dieser Zeit war man darauf bedacht, das Wenige zu veräußern, was noch in dem kleinen Hause ihr Eigenthum war, denn sie wollte es nicht länger bewohnen.

Sie kam deshalb sechs Wochen später in Borik's Begleitung nach Ragusa zurück, um ihre Geschäfte abzuwickeln, und als sie in der Marinella-Straße angelangt war, fand sie in dem Briefkasten am Hause ein Schreiben vor.

Sie las diesen Brief und stieß einen Schrei aus, gerade so, als ob der Inhalt ihrer Vernunft den ersten Stoß gegeben hätte, dann eilte sie die Straße hinunter in den Stradone, überschritt diesen und klopfte an die Thür des Hotels Toronthal, welche sich sofort öffnete.

»Des Hotels Toronthal? rief Peter.

– Ja! erwiderte Borik, und als ich Frau Bathory eingeholt hatte, erkannte sie mich nicht mehr ... Sie war ...

– Warum war nur meine Mutter in das Hotel Toronthal geeilt? ... Ja ... warum? wiederholte Peter, der den alten Diener betrachtete, als wäre er nicht im Stande, dessen Worte zu begreifen.

– Sie wollte jedenfalls Herrn Toronthal sprechen, antwortete Borik, Herr Toronthal aber hatte zwei Tage vorher mit seiner Tochter das Hotel verlassen; man wußte nicht, wohin er gereist war.

– Und dieser Brief ... dieser Brief?

– Ich habe ihn nicht wiederfinden können, Herr Peter, antwortete der Greis. Sei es, daß ihn Frau Bathory verloren oder zerstört hat, sei es, daß man ihn ihr genommen hat, kurz, ich habe nie erfahren, was er enthielt.«

Es gab hier also ein Geheimniß. Der Doctor, welcher dem Berichte zugehört hatte, ohne ein Wort hineinzureden, wußte sich diesen Schritt der Frau Bathory nicht zu enträthseln. Welcher befehlerische Beweggrund hatte sie nach dem Hotel im Stradone hintreiben können, das sie vor allen anderen Dingen hätte meiden müssen und warum hatte sie, als sie das Verschwinden von Silas Toronthal hörte, eine so heftige Erschütterung erlitten, daß sie den Verstand verlor?

Die Erzählung des alten Dieners war in wenigen Minuten beendet. Nachdem es ihm geglückt war, den Zustand der Frau Bathory zu verheimlichen, beschäftigte er sich damit, die letzten Habseligkeiten, die ihr geblieben waren, zu veräußern. Der nur still und sanft sich äußernde Wahnsinn der unglücklichen Frau Bathory hatte es ihm ermöglicht, jeden Verdacht zu vermeiden. Er wollte nichts anderes, als Ragusa verlassen und gleichviel wohin flüchten, unter der Bedingung, daß dieser Ort fern von dieser verwünschten Stadt lag. Einige Tage später gelang es ihm, sich mit Frau Bathory auf einem der Packetboote einzuschiffen, welche den Dienst an den Küsten des Mittelmeeres versehen und auf diese Weise kam er nach Tunis oder vielmehr nach La Golette. Hier beschloß er, sich festzusetzen.

In den Ruinen dieses verlassenen Marabuts widmete der Greis sich vollständig der Pflege, die der geistige Zustand der Frau Bathory beanspruchte, welche mit der Vernunft zugleich auch die Rede verloren zu haben schien. Doch seine Hilfsquellen waren so winziger Natur, daß er den Augenblick herannahen sah, in welchem Beide auf die letzte Stufe des Elends gesunken sein würden.

In dieser Lage erinnerte sich der alte Diener des Doctors Antekirtt und des Interesses, welches diesem die Familie Bathory stets eingeflößt hatte. Doch Borik wußte nicht, wo sich der Doctor ständig aufhielt. Er schrieb ihm indessen und diesen Brief, der einen Verzweiflungsschrei enthielt, vertraute er dem Walten der Vorsehung an. Es schien, als ob die Vorsehung eine gute Postbehörde war, denn der Brief war, wie bekannt, an seine Adresse gelangt.

Ueber das, was jetzt zu thun war, konnte kein Zweifel herrschen. Frau Bathory, die sich nicht im Geringsten sträubte, wurde zum Wagen geführt, in welchem sie mit ihrem Sohne, Borik und Maria Platz nahm, welche sie nicht mehr verlassen sollte. Während der Wagen dann den Weg nach La Golette einschlug, kehrten der Doctor und Luigi dahin zu Fuß längs des Ufers zurück.

Eine Stunde später schifften sich Alle auf der Dampfyacht ein, die unter Dampf geblieben war. Der Anker wurde sofort emporgewunden, und sobald der »Ferrato« Kap Bon doublirt hatte, kam er in den Bereich der Leuchtfeuer von Pantellaria. Am folgenden Morgen bei Tagesanbruch warf er im Hafen von Antekirtta Anker.

Frau Bathory wurde sofort an das Land gebracht und nach Artenak in eines der Zimmer des Stadthauses überführt; Maria verließ sogar ihr Haus, um in der Nähe derselben weilen zu können.

Welch neuer Gegenstand für den Schmerz Peter Bathory's! Seine Mutter ihrer Vernunft beraubt, seine Mutter wahnsinnig geworden unter Umständen, die jedenfalls unerklärlich bleiben würden! Wenn die Ursache dieses Wahnsinnes bekannt gewesen wäre, so hätte man vielleicht doch eine heilsame Reaction herbeiführen können. Aber man wußte nichts, man konnte nichts wissen.

»Sie muß geheilt werden! ... Ja ... sie muß!« sagte sich der Doctor, der sich dieser Aufgabe völlig widmete.

Ein schwieriges Unterfangen, denn Frau Bathory blieb unablässig in vollständigem Unbewußtsein ihrer Verrichtungen und niemals stieg eine Erinnerung an die Vergangenheit in ihr auf.

War der Fall nicht ganz dazu angethan, die Macht der Gedankeneingebung, welche der Doctor in einem so hohen Grade besaß und von der er schon so unleugbare Beweise gegeben hatte, zu erproben, um den geistigen Zustand Frau Bathory's aufzubessern? Konnte man nicht mittelst magnetischen Einflusses die Vernunft in ihr wachrufen und sie erhalten, bis die Reaction sich vollzogen hatte?

Peter Bathory beschwor den Doctor, selbst das Unmögliche zur Heilung seiner Mutter zu versuchen.

»Nein, meinte der Doctor, es kann nicht gelingen. Die Irren sind die widerspenstigsten Versuchsobjecte auf diesem Gebiete der Willensübertragung. Um diesen Einfluß zu erproben, müßte Deine Mutter, lieber Peter, noch einen persönlichen Willen haben, dem ich den meinigen unterschieben könnte. Ich wiederhole Dir, ich könnte auf sie keine Wirkung ausüben!

– Nein! ... Ich kann die Nichtigkeit des Gesagten nicht zugestehen, antwortete Peter, der sich nicht zufrieden geben konnte. Ich muß daran festhalten, daß eines Tages meine Mutter ihren Sohn wiedererkennen wird ... ihren Sohn, den sie für todt hält! ...

– Ja ... den sie für todt hält! erwiderte der Doctor. Halt ... vielleicht wenn sie Dich am Leben glaubt ... oder wenn sie vor Dein Grab geführt, Dich plötzlich auftauchen sähe ...«

Der Doctor hielt diesen Gedanken fest. Warum sollte solch eine moralische Erschütterung nicht ohne Einfluß auf den Geist Frau Bathory's sein, wenn sie unter günstigen Bedingungen sich vollzog.

»Ich werde den Versuch machen,« rief der Doctor.

Als er Peter erklärt, auf welche Probe sich seine Hoffnung, dessen Mutter heilen zu können, aufbaute, fiel ihm dieser in die Arme.

Von dem Tage an war es Beider Sorge, die Scenerie, welche den Versuch begünstigen sollte, vorzubereiten. Es handelte sich um nichts Geringeres, als in Frau Bathory die Wirkungen der Erinnerung wieder lebendig zu machen, die durch ihren gegenwärtigen Zustand vernichtet worden waren, und das unter solchen Umständen, daß eine Reaction in ihrem Geiste Platz greifen konnte.

Der Doctor nahm Borik's und Pointe Pescade's Mithilfe in Anspruch, um mit einer peinlichen Genauigkeit die Anlage des Kirchhofes in Ragusa und die Form des Grabmonumentes, welches der Familie Bathory als Grabstätte diente, neuerstehen zu lassen.

Bald erhob sich auf dem Kirchhofe der Insel, eine Meile von Artenak entfernt, unter einer Gruppe grüner Bäume eine kleine Kapelle, bis auf Kleinigkeiten fast genau derjenigen in Ragusa gleichend. Es galt nun, alles so zu ordnen, daß die Aehnlichkeit der beiden Denkmäler eine noch in die Augen fallendere wurde. In die Mauer wurde eine Tafel von schwarzem Marmor eingelassen, welche den Namen Stephan Bathory und die Jahreszahl 1867 trug.

Am 13. November schien der geeignete Augenblick gekommen zu sein, in welchem die vorbereitenden Proben behufs Wiedererweckung der Vernunft Frau Bathory's durch fast unmerkliche Steigerungen begonnen werden konnten.

Gegen sieben Uhr Abends nahm Maria, begleitet von Borik, die Witwe am Arm. Sie verließ mit ihr das Stadthaus und führte sie über das Feld nach dem Kirchhofe. Dort vor der Stufe zur Kapelle blieb Frau Bathory still und stumm, wie sie immer war, stehen, obwohl eine Lampe, welche das Innere des Grabmonumentes hell beleuchtete, den in die Marmorplatte eingelassenen Namen Stephan Bathory's deutlich erkennen ließ. Nur als Maria und der Greis auf den Stufen niedergekniet waren, machte sich in ihren Blicken ein Aufflackern bemerkbar, das jedoch schnell wieder erlosch.

Eine Stunde später befand sich Frau Bathory auf dem Rückwege zum Stadthaus und mit ihr Diejenigen, welche ihr bei diesem ersten Versuche in größerer oder kürzerer Entfernung gefolgt waren.

Am folgenden und den nächsten Tagen begann man mit den Versuchen abermals, sie ergaben jedoch kein anderes Resultat. Peter hatte ihnen mit brennenden Blicken beigewohnt und verzweifelte bereits wegen ihrer Unergiebigkeit, obwohl der Doctor ihm wiederholt versicherte, daß die Zeit der beste Bundesgenosse sein würde. Auch wollte er nicht den letzten Schlag führen, bevor nicht Frau Bathory hinlänglich vorbereitet war, um die Wucht desselben auszuhalten.

Man konnte sich trotzdem nicht darüber täuschen, daß mit jedem neuen Besuche auf dem Kirchhofe sich ein gewisser Wechsel in dem geistigen Zustande der Frau Bathory vollzog. Eines Abends, als Borik und Maria vor der Kapelle niedergekniet waren, näherte sich Frau Bathory, die ein wenig zurückgeblieben war, langsam, legte ihre Hand auf das eiserne Schloß, betrachtete die Hinterwand, die von der Lampe hell beschienen war, und zog sich dann jäh zurück.

Maria, die dicht an sie herangetreten war, hörte sie mehrfach einen Namen aussprechen.

Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß die Lippen Frau Bathory's sich zum Sprechen öffneten.

Doch wie groß war das Erstaunen – die Bestürzung möchte man fast sagen – aller Derjenigen, die sie sprechen hörten.

Dieser Name war nicht derjenige ihres Sohnes, war nicht derjenige Peter's, sondern der Name – Sarah's!

Wer vermag zu begreifen, was in der Seele Peter Bathory's widerhallte, wer vermag zu malen, was in dem Herzen des Doctors Antekirtt bei der so unerwartet kommenden Nennung des Namens von Sarah Toronthal vorging? Der Letztere machte keine Bemerkung, er ließ nicht erkennen, was er soeben gefühlt.

An einem anderen Abend wurde der Versuch wiederholt. Diesmal kniete Frau Bathory selbst auf der Schwelle zur Kapelle nieder, gerade als ob sie eine unsichtbare Hand geleitet hätte. Ihr Kopf beugte sich, ein Seufzer entrann ihrer Brust, eine Thräne entfiel ihren Augen. An diesem Abende aber entschlüpfte kein Name ihren Lippen, man hätte annehmen können, daß sie denjenigen Sarah's wieder vergessen.

Frau Bathory, als sie kaum wieder im Stadthause angelangt war, wurde eine Beute eines jener nervösen Anfälle, welche sie bis jetzt noch nie gehabt hatte. Gerade die bisher gezeigte Ruhe war das Charakteristische an ihrem geistigen Zustande gewesen; sie machte einer eigenthümlichen Erregung Platz. Es ging augenscheinlich in ihrem Gehirn eine lebenswarme Regung vor, welche wohl Hoffnungen erwecken konnte.

Die diesem Abende folgende Nacht wurde eine unruhige und vielfach gestörte. Frau Bathory ließ einige Male zusammenhangslose Worte hören, die Maria kaum erfaßte, ersichtlich träumte sie. Und wenn sie träumte, begann die Vernunft zurückzukehren, mit anderen Worten sie war geheilt, sobald ihre Vernunft auch im wachen Zustande in Thätigkeit blieb.

Der Doctor entschloß sich daher, vom folgenden Tage an einen neuen Versuch zu machen, damit, daß er Frau Bathory in eine noch ergreifendere Scenerie führte.

Während des ganzen 18. hörte Frau Bathory nicht auf, unter der Herrschaft einer intellectuellen Ueberreizung zu stehen. Maria war davon sehr betroffen und Peter, der fast ununterbrochen bei seiner Mutter weilte, hatte das Gefühl einer glücklichen Vorbedeutung.

Die Nacht kam herbei – eine dunkle, windstille Nacht nach einem Tage, der unter diesem niedrigen Breitengrade von Antekirtta sehr heiß gewesen war.

Frau Bathory, von Maria und Borik begleitet, verließ das Stadthaus gegen achtundeinhalb Uhr. Der Doctor folgte ihnen in einiger Entfernung mit Luigi und Pointe Pescade.

Die ganze Kolonie befand sich in angstvoller Erwartung der Wirkung, die sich vielleicht einstellen würde. Einige Fackeln, die unter den großen Bäumen angezündet worden waren, warfen ihr wechselndes Licht auf die Umgebung der Kapelle. In der Ferne erklang in regelmäßigen Intervallen die Glocke der Kirche von Artenak, als würde Jemand begraben.

Peter Bathory war der Einzige, der in dem langsam vorwärts schreitenden Zuge fehlte. Er war zurückgeblieben, um erst im Verlaufe dieser stärksten Prüfung aufzutreten.

Es war gegen neun Uhr, als Frau Bathory auf dem Kirchhofe eintraf. Hier verließ sie plötzlich den Arm Maria Ferrato's und ging auf die kleine Kapelle zu.

Man ließ sie unter dem Zwange dieses neuen Gefühles, welches sie vollständig zu beherrschen schien, frei handeln.

Inmitten eines tiefen Schweigens, welches nur von den Klängen der Glocke unterbrochen wurde, machte Frau Bathory Halt, sie blieb unbeweglich stehen. Dann ließ sie sich auf der untersten Stufe auf die Knie nieder, sie beugte sich vornüber und man hörte sie weinen ...

In diesem Augenblick öffnete sich langsam das Gitterthor der Kapelle. Mit einem weißen Leinen angethan, als wäre er soeben dem Sarge entstiegen, schritt Peter, vom vollen Lichte getroffen, die Stufen herab.

»Mein Sohn ... mein Sohn!« rief Frau Bathory; sie streckte ihre Arme aus und fiel ohnmächtig zurück.

Dieser Anfall besagte nichts; denn die Erinnerung und das Denken mußten ihr wiederkommen. Die Mutter war erwacht. Sie hatte ihren Sohn wiedererkannt.

Die Bemühungen des Doctors brachten sie bald zum Bewußtsein zurück und als ihre Augen die des Sohnes gesucht und getroffen hatten, rief sie:

»Peter! Du lebst? ... Peter, mein Peter!

– Ja ... ich lebe für Dich, meine Mutter, lebe, um Dich zu lieben!

– Und um auch – sie – zu lieben ...

– Sie?

– Sie! ... Sarah! ...

– Sarah Toronthal? rief der Doctor.

– Nein! Sarah Sandorf!«

Und Frau Bathory zog aus ihrer Tasche einen zerknitterten Brief, welcher die letzten Zeilen von der Hand der sterbenden Frau Toronthal enthielt; sie reichte ihn dem Doctor.

Die Zeilen ließen über die Geburt Sarah's keinen Zweifel aufkommen ... Sarah war das Kind, welches man aus dem Schlosse Artenak geraubt hatte! ... Sarah war die Tochter des Grafen Sandorf.

Ende des vierten Theiles.

 


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