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II.
Ein Experiment des Doctors.

Der Passagier, dem man nichts über die Bestimmung des Schiffes, welches ihn trägt, gesagt hat, ahnt nicht, auf welchen Punkt der Erdkugel er den Fuß setzt, wenn er in Gibraltar landet.

Zuerst erblickt man den von vielen kleinen Häfen, in welchen die Schiffe anlegen können, durchbrochenen Quai, dann die Bastion einer Wallmauer, in welche ein Thor, das keinen besonderen Charakter trägt, eingelassen ist, sodann einen unregelmäßigen Platz, der von hohen, sich an die Anhöhen lehnenden Kasernen eingefaßt ist, schließlich ein Stückchen einer langen, schmalen, gekrümmten Straße, welche den Namen Main-Street führt.

Am Ausgange dieser Straße, deren Pflaster bei jeder Witterung feucht bleibt, inmitten von Lastträgern, Schmugglern, Stiefelwichsern, Cigarren- und Wachsstreichhölzchenverkäufern, zwischen den Sturzkarren, Blockwagen und den mit Früchten und Feldfrüchten beladenen Karren hindurch kommen und gehen in einem kosmopolitischen Durcheinander Malteser, Marokkaner, Spanier, Italiener, Araber, Franzosen, Portugiesen, Deutsche – Vertreter fast eines jeden Völkerstammes, sogar Bürger der Vereinigten Staaten, die ganz besonders kenntlich sind an den rothen Wämmsern ihrer Fußsoldaten, den blauen der Artilleristen und an den Bäckerburschenkäpseln, welche sich nur durch ein Wunder der Equilibristik auf dem Ohre zu halten scheinen.

Man ist eben auf Gibraltar. Diese Main-Street durchschneidet die ganze Stadt, denn sie geht von dem Meerthor bis zur Porta d'Alameda. Von dort verlängert sie sich bis zur Punta d'Europa an bunten Landhäusern und grünenden Anlagen vorüber, durch Blumenparterres und Kugelgärten, Batterien mit Geschützen jeder Gattung, Pflanzengebüschen jeder Zone. Ihre Ausdehnung beträgt viertausenddreihundert Meter, das heißt beinahe so viel, als der ganze Felsen von Gibraltar mißt, welches ein Dromedar ohne Kopf, niedergekauert im Sande von San Roque und mit in das Mittelmeer hineinhängendem Schweife zu sein scheint.

Dieser mächtige Felsblock steigt vom Festlande aus, welches er mit seinen Kanonen, mehr als siebenhundert Geschützen bedroht, deren Schlünde durch die unzähligen Schießscharten der Kasematten gähnen – die »Zähne der Greisin« schimpfen die Spanier sie – bis zu einer Höhe von vierhundertfünfundzwanzig Meter steil empor. Zwanzigtausend Einwohner, sechstausend Mann Garnison bevölkern die unteren Abhänge des Berges, ausschließlich der Vierfüßler, der berühmten »Monos«, schwanzloser Affen, Abkömmlinge der älteren Geschlechter dieses Ortes, in Wahrheit der wirklichen Eigenthümer dieses Bodens, die noch die Höhen des alten Calpe bewohnen. Von dem Gipfel des Berges beherrscht man die Meerenge, überwacht das ganze marokkanische Gestade, auf der einen Seite das mittelländische Meer, auf der anderen den atlantischen Ocean. Die Fernröhre der Engländer bestreichen einen Umkreis von zweihundert Kilometern, innerhalb dessen sich auch nicht der kleinste und verborgenste Punkt ihrer Beobachtung entziehen kann – und wie gut beobachten sie!

Wenn glückliche Umstände es ermöglicht haben würden, daß der »Ferrato« zwei Tage früher auf der Rhede von Gibraltar hätte eintreffen können, wenn zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang der Doctor Antekirtt und Peter Bathory an dem kleinen Quai gelandet wären, das Meerthor durchschritten, die Main-Street passirt, durch das Thor von Alameda die Stadt verlassen hätten, um die schönen Gärten zu erreichen, die sich auf der linken Seite bis zur halben Höhe des Berges hinaufziehen, so würden vielleicht die im Laufe der Erzählung berichteten Ereignisse einen schnelleren und wahrscheinlich einen wesentlich anderen Verlauf genommen haben.

Am 19. September Nachmittags nämlich saßen auf einer der hochlehnigen Holzbänke, welche die englischen Gartenanlagen zieren, im Schatten der großen Bäume, den Rücken den die Rhede bestreichenden Kanonen zugewandt, zwei Personen plaudernd, welche das Bestreben zeigten, von den dort Promenirenden nicht gehört zu werden: es waren Sarcany und Namir.

Man hat gewiß nicht vergessen, daß Sarcany mit Namir in Sicilien zusammentreffen wollte, als die Expedition nach der Casa Inglese unternommen wurde, die mit dem Tode Zirone's endete. Sarcany, rechtzeitig benachrichtigt, änderte seinen Feldzugsplan, was zur Folge hatte, daß der Doctor vergebens acht Tage hindurch mit seinem Schiffe vor Catania ankerte. Namir verließ auf die empfangenen Befehle hin unverzüglich Sicilien und kehrte nach Tetuan zurück, woselbst sie damals hauste. Von Tetuan kam sie nach Gibraltar, wohin sie Sarcany bestellt hatte. Sie war am Abend zuvor angekommen und gedachte, am folgenden Tage abzureisen.

Namir, die wilde Genossin Sarcany's, war diesem mit Leib und Seele ergeben. Sie war es, die ihn in den Duars von Tripolis erzogen hatte, als wenn sie seine Mutter gewesen wäre. Sie hatte ihn niemals verlassen, selbst damals nicht, als er Maklergeschäfte in der Regentschaft verrichtete, wo sie durch geheime Vertraulichkeiten mit den furchtbaren Sectenanhängern des Senusismus in Verbindung stand, deren Pläne auf die Einnahme von Antekirtta hinausliefen, wie schon weiter oben gesagt worden war.

Namir war halb mit ihren Gedanken, halb mit ihren Handlungen an Sarcany durch eine Art mütterlicher Liebe geknüpft, sie war ihm vielleicht ergebener als es Zirone, sein Genosse in Freud und Leid, jemals geworden wäre. Auf ein Zeichen von ihm hätte sie für ihn ein Verbrechen begangen, auf einen Befehl von ihm ohne Zögern den Tod auf sich genommen. Sarcany konnte also zu Namir ein unbedingtes Vertrauen haben, und wenn er sie nach Gibraltar hatte kommen lassen, so war es deshalb, weil er mit ihr von Carpena sprechen wollte, von dem er jetzt Alles zu befürchten hatte.

Diese Unterredung war die erste, welche sie seit Sarcany's Ankunft in Gibraltar mit einander hatten, sie sollte auch die einzige sein. Sie wurde in arabischer Sprache geführt.

Sarcany stellte zunächst eine Frage und die Antwort, die er empfing, betrachteten Beide jedenfalls als eine überaus wichtige, weil ihre Zukunft davon abhing.

»Sarah? ... fragte Sarcany.

– Sie ist in Tetuan gut aufgehoben, erwiderte Namir, in dieser Beziehung kannst Du beruhigt sein.

– Auch während Deiner Abwesenheit?

– Während meiner Abwesenheit ist das Haus einer alten Jüdin anvertraut, die es nicht einen Augenblick verlassen wird. Sie befindet sich wie in einem Gefängnisse; Niemand kommt zu ihr hinein, Niemand vermag zu ihr zu dringen. Sarah weiß übrigens nicht, daß sie sich in Tetuan befindet, sie weiß auch nicht, wer ich bin, nicht einmal, daß sie in Deiner Gewalt ist.

– Du sprichst doch noch immer mit ihr von der Heirat?

– Ja, Sarcany, antwortete Namir. Ich lasse es nicht dazu kommen, daß sie sich von der Idee, Deine Frau zu werden, entwöhnt, und sie wird Deine Frau werden.

– Sie muß, Namir, sie muß es, um so eher, als das Vermögen von Toronthal jetzt kein beträchtliches mehr ist ... Das Spiel war dem armen Silas nie recht hold!

– Du wirst ihn nicht mehr brauchen, Sarcany, denn Du wirst reicher werden als Du jemals gewesen bist.

– Ich weiß wohl, Namir, doch der äußerste Termin, an dem meine Heirat mit Sarah vollzogen werden muß, naht heran. Ich brauche eine freiwillige Einwilligung ihrerseits, und wenn sie sich weigert ...

– So werde ich sie zwingen, sich zu unterwerfen, antwortete Namir. Ich werde ihr ihre Einwilligung entreißen ... Du kannst Dich auf mich verlassen, Sarcany.«

Es wäre schwer gewesen, sich eine entschlossenere, wildere Physiognomie vorzustellen, als sie die Marokkanerin zur Schau trug, während sie so sprach.

»Schön, Namir! sagte Sarcany befriedigt. Fahre fort, gut aufzupassen. Ich werde nicht ermangeln, Dir zu Hilfe zu kommen.

– Liegt es nicht in Deiner Absicht, daß wir Tetuan bald verlassen? fragte die Marokkanerin.

– Nein, so lange ich nicht dazu gezwungen werde, gewiß nicht, denn dort kennt und kann Niemand Sarah kennen. Wenn die Ereignisse mich nöthigen werden, Euch von dort fortziehen zu lassen, so werde ich Dich schon rechtzeitig benachrichtigen.

– Und nun sage mir, Sarcany, warum hast Du mich nach Gibraltar kommen lassen?

– Weil ich mit Dir über gewisse Dinge sprechen muß, die man mündlich besser erörtert als in einem Briefe.

– Erzähle, Sarcany, und wenn es sich um einen Befehl handelt, den ich ausführen soll, so wird er ausgeführt, darauf kannst Du rechnen.

– Ich will Dir sagen, wie ich stehe, antwortete Sarcany. Frau Bathory ist verschwunden und ihr Sohn ist todt. Ich habe also von Seiten dieser Familie nichts mehr zu befürchten. Frau Toronthal ist todt und Sarah in meiner Macht. Also auch auf dieser Seite kann ich ruhig sein. Von den anderen Personen, die meine Geheimnisse kennen oder gekannt haben, ist der Eine, Silas Toronthal, mein Genosse, er steht völlig unter meiner Botmäßigkeit; der Andere, Zirone, ist bei der letzten Expedition in Sicilien umgekommen. Also von allen denen, die ich soeben genannt habe, kann Keiner sprechen und wird Keiner sprechen.

– Wen fürchtest Du also? fragte Namir.

– Ich fürchte einzig und allein die Einmischung zweier Individuen, von denen der Eine einen Theil meiner Vergangenheit kennt und von denen der Andere sich in mein jetziges Leben mehr zu mischen scheint, als es mir lieb sein kann.

– Der Eine ist Carpena? ... fragte Namir.

– Ja, antwortete Sarcany. Und der Andere ist dieser Doctor Antekirtt, dessen Beziehungen zu der Familie Bathory in Ragusa mir von Anfang an verdächtig erschienen sind. Ich habe auch von Benito, dem Herbergsvater von Santa Grotta, vernommen, daß dieser Mann, der Millionen besitzt, mit Hilfe eines gewissen, in seinen Diensten stehenden Mannes, Namens Pescador, Zirone in einen Hinterhalt locken wollte. Der Zweck dieser Unternehmung konnte doch nur der sein, sich Zirone's zu bemächtigen – da man mich nicht bekam – um ihm seine Geheimnisse abzuzwingen.

– Das klingt nur zu wahrscheinlich, sagte Namir. Mehr als je mußt Du jetzt diesem Doctor Antekirtt mißtrauen.

– Vor allen Dingen ist es nöthig, stets zu wissen, was er thut, und namentlich, wo er sich befindet.

– Ein schwieriges Ding, Sarcany, erwiderte Namir, denn, wie ich in Ragusa gehört habe, ist er eines schönen Tages an einem Ende des Mittelmeeres, und am folgenden an einem ganz entgegengesetzten.

– Ja, dieser Mann scheint die Gabe zu besitzen, sich vervielfältigen zu können, rief Sarcany. Doch soll damit nicht gesagt sein, daß ich mir ohne Weiteres mein Spiel von ihm durchkreuzen lassen werde, und wenn ich ihm bis auf seine Insel Antekirtta folgen müßte, so werde ich es ...

– Ist die Heirat einmal vollzogen, meinte Namir, so wirst Du weder von ihm, noch von sonst Jemand etwas zu fürchten haben.

– Das stimmt, Namir, aber bis dahin ...

– Bis dahin werden wir auf unserer Hut sein. Wir werden übrigens stets einen Vortheil vor ihm haben: denn wir werden stets wissen, wo er sich aufhält, während er nicht wissen kann, wo wir uns befinden. Sprechen wir jetzt von Carpena! Was hast Du von diesem Manne zu befürchten, Sarcany?

– Carpena weiß von meinen Beziehungen zu Zirone. Seit mehreren Jahren nahm er an Unternehmungen Theil, bei denen ich die Hand im Spiele hatte, und er kann erzählen ...

– Vor allen Dingen, Carpena ist jetzt im Gewahrsam in Ceuta und zu lebenslänglicher Galeerenarbeit verurtheilt.

– Das ist es gerade, was mich beunruhigt, Namir ... Carpena kann, um seine Lage zu verbessern, um eine Begnadigung zu erhalten, Aussagen machen. Ebenso wie wir wissen, daß er nach Ceuta gebracht worden ist, wissen es Andere auch, wieder Andere kennen ihn persönlich – zum Beispiel Pescador, der sich in Malta so geschickt an ihn machte. Dieser Mann kann dem Doctor Antekirtt das Mittel an die Hand geben, bis zu ihm zu dringen. Er kann ihm seine Geheimnisse zu goldenen Preisen abkaufen. Er kann sogar versuchen, ihn aus dem Präsidio entfliehen zu lassen. Das liegt nämlich in Wahrheit so nahe, Namir, daß ich mich schon vergebens gefragt habe, warum er es bis jetzt nicht gethan hat.«

Sarcany, sehr intelligent und umsichtig wie er war, hatte genau geahnt, welches die Projekte des Doctors bezüglich des Spaniers waren; er begriff genau, wessen er sich zu versehen hatte.

Namir mußte zugeben, daß Carpena in der Lage, in welcher er sich augenblicklich befand, sehr gefährlich werden konnte.

»Warum ist er nicht lieber als Zirone dort unten verschwunden? schrie Sarcany.

– Was sich in Sicilien nicht gemacht hat, erwiderte Namir kühl, sollte sich das nicht in Ceuta bewerkstelligen lassen?«

Da war gleich die Frage, auf die von beiden Seiten gewartet wurde, klar heraus. Namir erklärte in Folgendem Sarcany, daß nichts leichter wäre, als von Tetuan nach Ceuta, so oft als sie es für wünschenswerth erachten würde, zu gelangen: An zwanzig Meilen höchstens trennen diese beiden Städte, Tetuan liegt etwas weiter in das Land hinein als die Strafkolonie, südlich von der marokkanischen Küste. Da die Sträflinge meistens auf den Landstraßen arbeiten oder in der Stadt umhergehen können, so konnte es nicht sehr schwer fallen, mit Carpena in Verbindung zu kommen, der Namir ja kannte. Man könnte ihn glauben lassen, daß Sarcany sich für seine Flucht interessire, ihm etwas Geld zustecken oder irgend eine Beigabe zu der gewöhnlichen Kost des Häftlings. Und wenn selbst ein vergiftetes Stück Brod oder eine Frucht in Carpena's Mund gelangte, wer hätte wohl um den Tod dieses Menschen besorgt sein sollen, oder seiner Ursache nachforschen wollen?

Ein Schuft weniger im Präsidio; ein solcher Vorfall konnte den Gouverneur von Ceuta nicht im Geringsten beunruhigen. Sarcany aber hatte dann weder von dem Spanier etwas zu befürchten, noch von den Nachstellungen des Doctors Antekirtt, der interessirt war, seine Geheimnisse kennen zu lernen.

Aus dieser Unterredung ging also Folgendes hervor: Während die Einen sich damit beschäftigten, die Entweichung Carpena's vorzubereiten, wollten die Anderen versuchen, sie dadurch zu vereiteln, daß sie den Spanier schon vor der Zeit in die Strafkolonien einer anderen Welt sandten, aus denen es keine Wiederkehr gibt.

Als Alles verabredet war, kehrten Sarcany und Namir in die Stadt zurück, wo sie sich trennten. Am selben Abend noch reiste Sarcany nach Spanien ab, um mit Silas Toronthal zusammenzutreffen, während Namir am nächsten Tage sich über die Bai von Gibraltar setzen ließ, um sich in Algesiras aus dem Packetboot einzuschiffen, welches den regulären Dienst zwischen Europa und Afrika versieht.

Gerade als der Dampfer den Hafen verließ, kreuzte er sich mit einer Vergnügungsyacht, die auf die Bai von Gibraltar lossteuerte, um in den englischen Gewässern vor Anker zu gehen.

Es war der »Ferrato«. Namir, die dieses Schiff während seines Aufenthaltes in Catania genau studirt hatte, erkannte es sofort wieder.

»Doctor Antekirtt hier! murmelte sie. Sarcany hat Recht, es schwebt Gefahr in der Luft und diese Gefahr ist nahe!«

Einige Minuten später schiffte sich die Marokkanerin in Ceuta aus. Ehe sie nach Tetuan zurückkehrte, wollte sie ihre Maßregeln treffen um sich mit dem Spanier in Verbindung setzen zu können. Ihr Plan war ein höchst einfacher, er mußte gelingen, wenn die Zeit zu seiner Ausführung hinreichte.

Die Sache lag aber doch etwas verwickelter, als Namir wissen konnte. Carpena nämlich hatte sich das Dazwischentreten des Doctors bei dessen erstem Besuch in Centa zu Nutze gemacht und sich krank gestellt; wenn er es auch nicht oder nur sehr wenig war, so hatte er es doch durchzusetzen gewußt, auf die Dauer einiger Tage in das Hospital der Strafkolonie aufgenommen zu werden. Namir sah sich also daraus beschränkt, um das Hospital herumschleichen zu müssen, ohne bis zu ihm dringen zu können. Eines nur tröstete sie. Ebenso wie sie selbst Carpena nicht sehen konnte, konnte auch der Doctor Antekirtt und seine Agenten ihn nicht zu Gesicht bekommen. Es ist also keine Gefahr im Verzuge, überlegte sie. Eine Flucht war in der That nicht zu befürchten, so lange der Verurtheilte seine Arbeiten auf den Landstraßen der Kolonie nicht wieder ausgenommen haben würde.

Namir täuschte sich in ihren Voraussetzungen. Der Eintritt Carpena's in das Hospital gerade mußte die Pläne des Doctors fördern und höchst wahrscheinlich ihr Gelingen herbeiführen.

Der »Ferrato« warf am 22. September Abends Anker auf der Bai von Gibraltar, welche leider zu häufig von den Ost- und Südwestwinden bestrichen wird. Die Dampfyacht aber sollte dort nur bis zum folgenden Tage, das heißt bis zum Sonnabend bleiben. Der Doctor und Peter begaben sich, sobald sie des Morgens schon an Land gegangen waren, zum Postbureau in der Main-Street, woselbst postlagernde Briefe auf sie warteten.

Der eine rührte von einem der sicilianischen Agenten des Doctors her, sein Inhalt besagte, daß seit der Abfahrt des »Ferrato« Sarcany weder in Catania, noch in Messina, noch in Syrakus aufgetaucht wäre.

Der andere war von Pointe Pescade und für Peter Bathory bestimmt; der Erstere schrieb, daß es ihm schon unendlich besser ginge, und daß die Wunde keine Spuren hinterlassen würde. Der Doctor Antekirtt könnte ihn getrost wieder in seine Dienste nehmen, sobald er es wünschte, in Gemeinschaft mit Kap Matifu, der beiden Herren seine unterthänigsten Empfehlungen als »kalt gestellter« Hercules übersende.

Ein dritter Brief endlich brachte Luigi Nachrichten von seiner Schwester Maria. Dieser Brief war weniger der einer liebenden Schwester als derjenige einer besorgten Mutter.

Wären der Doctor und Peter sechsunddreißig Stunden früher in den Gartenanlagen Gibraltar's lustgewandelt, so wären sie ebendaselbst mit Sarcany und Namir zusammengetroffen.

Dieser Tag wurde dazu benützt, die Kammern des »Ferrato« mit Hilfe von Lastkrähnen zu füllen, welche die Kohlen von schwimmenden Magazinen herbeischleppen, die auf der Rhede verankert sind. Man erneuerte auch den Vorrath an Süßwasser, theils für die Dampfkessel, theils für die Vorrathskästen und Speisekammern des »Ferrato«. Es war bereits Alles gethan, als der Doctor und Peter, welche in einem Hotel des Commercial Square gespeist hatten, an Bord zurückkehrten, in demselben Augenblick, als ein Geschütz gelöst wurde. Dieser Schuß galt als Zeichen für die Schließung der Thore der Stadt, die dort ebenso gewissenhaft und streng gehandhabt wird, als in irgend einem Gefängnißplatze wie Norfolk oder Cayenne.

Der »Ferrato« lichtete aber an diesem Abende noch nicht die Anker. Da er höchstens zwei Stunden zur Ueberfahrt über die Meerenge brauchte, so dampfte er erst am folgenden Morgen in der achten Stunde ab. Sobald er aus dem Bereiche des Feuers der englischen Batterien gekommen war, welche ihre Uebungsschüsse so abzugeben wußten, daß sie nicht in die Breitseite des »Ferrato« schlugen, gab er voll Dampf in der Richtung auf Ceuta. Um neunundeinhalb Uhr langte er am Berge Hacho an; doch da die Brise aus Nordwesten wehte, so war an der Stelle, welche er drei Tage zuvor innegehabt hatte, kein sicherer Ankerplatz für ihn. Der Kapitän drehte deshalb auf der anderen Seite der Stadt auf einer kleinen Rhede bei, welche durch ihre Lage vor den Landwinden geschützt ist; hier wurden in einer Entfernung von zwei Ankerlängen von der Küste die Anker geworfen.

Eine Viertelstunde später landete der Doctor an einem kleinen Molo. Namir, die ihn beobachtete, hatte jedes Manöver der Dampfyacht verfolgt. Der Doctor, welcher die Züge der Marokkanerin im Schatten des Bazars von Cattaro nur flüchtig hatte beobachten können, hätte sie kaum wiedererkannt, diese dagegen, welche den Doctor in Gravosa und in Ragusa oft genug zu Gesicht bekommen hatte, wußte genau, wer er war. Sie entschloß sich, so lange der Aufenthalt in Ceuta dauern sollte, mehr als je auf der Hut und wachsam zu sein.

Der Doctor fand bereits den Gouverneur und einen seiner Adjutanten, auf ihn wartend, am Quai vor.

»Willkommen, mein werther Gast, rief der Gouverneur. Sie sind ein Mann von Wort. Sie gehören mir nun mindestens für den ganzen Tag ...

– Ich werde Ihnen nicht eher gehören, Herr Gouverneur, als bis Sie mein Gast gewesen sind. Vergessen Sie nicht, daß das Frühstück Sie an Bord des »Ferrato« erwartet.

– Nun, wenn es wartet, lieber Herr Doctor, wäre es unhöflich, es noch länger warten zu lassen.«

Das Boot brachte den Doctor und seine Gäste an Bord zurück. Die Tafel war luxuriös gedeckt, und Alle thaten der im Eßsalon der Dampfyacht aufgetragenen Mahlzeit Ehre an.

Während des Frühstückes drehte sich die Unterhaltung vornehmlich um die Verwaltung der Kolonie, über die Sitten und Gewohnheiten der Einwohner, über die Beziehungen der spanischen Bewohner zu den Eingeborenen. Ganz beiläufig fühlte sich der Doctor veranlaßt, nach dem Sträfling zu fragen, den er vor zwei bis drei Tagen auf der Landstraße nach der Residenz aus einem magnetischen Schlafe erlöst hatte

»Er erinnert sich wohl an nichts? fragte er.

– An nichts, antwortete der Gouverneur. Uebrigens ist er augenblicklich nicht bei den Pflasterarbeiten thätig.

– Wo ist er denn? fragte der Doctor, etwas beunruhigt, was aber nur Peter bemerken konnte.

– Er befindet sich im Hospital, erwiderte der Gouverneur. Es scheint, daß jener Anfall seine kostbare Gesundheit etwas angegriffen hat.

– Wer ist dieser Mann?

– Er ist ein Spanier, Namens Carpena, ein gemeiner Mörder, wenig Ihres Interesses Werth, Herr Doctor Antekirtt; sein Tod wäre wahrlich kein Verlust für das Präsidio.«

Dann kam man auf andere Dinge zu sprechen. Es paßte dem Doctor augenscheinlich nicht, des Weiteren von dem Deportirten und seinem Leiden zu sprechen, der nach einigen Tagen schon als gesund aus dem Hospital entlassen werden sollte.

Nach Beendigung des Frühstücks wurde der Kaffee auf Deck eingenommen und der Rauch der Cigarren und Cigarretten verflüchtete unter dem Zeltdache des Hinterdecks. Später bot der Doctor dem Gouverneur an, ihn sofort zu begleiten. Er gehörte jetzt ihm und wäre bereit, die spanische Enklave in allen ihren Abtheilungen zu besichtigen.

Das Anerbieten wurde mit Freuden angenommen und bis zur Stunde des Diners hatte der Gouverneur vollauf Zeit, dem berühmten Besucher der Kolonie die Honneurs zu machen.

Der Doctor und Peter Bathory wurden also gewissenhaft in der ganzen Enclave, der Stadt und der Landschaft herumgeführt. Kein Detail wurde ihnen geschenkt, weder in dem Gefängnisse noch in den Kasernen. An jenem Tage – einem Sonntage – waren die Sträflinge natürlich ihrer gewöhnlichen Arbeiten überhoben, der Doctor konnte sie also unter neuen Verhältnissen beobachten. Carpena sah er nur, als er durch einen der Säle des Lazareths schritt; der Doctor schien ihm keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Dieser gedachte noch in derselben Nacht nach Antekirtta zurückkehren zu können, doch wollte er zuvor noch den größten Theil des Abends beim Gouverneur verbringen. Gegen sechs Uhr Abends betrat er die Residenz, woselbst ein elegant servirtes Diner ihn erwartete, das als Gegenstück zu dem von ihm gegebenen Frühstück am Vormittag betrachtet wurde.

Der Doctor wurde, was eigentlich selbstverständlich ist, auf seinem Spaziergange » intra et extra muros« von Namir verfolgt; er ahnte wohl kaum, daß er der Gegenstand einer so peinlichen Spionage war.

Man dinirte in sehr heiterer Laune. Einige hervorragende Persönlichkeiten der Kolonie, mehrere Officiere mit ihren Damen, zwei oder drei reiche Kaufleute waren ebenfalls gebeten worden und verbargen unschwer ihr Vergnügen, den Doctor Antekirtt sehen und sprechen hören zu können. Dieser erzählte gern und viel von seinen Reisen im Orient, durch Syrien, Arabien und Nordafrika. Dann wendete sich die Unterhaltung wieder Ceuta zu und der Doctor konnte nicht umhin, dem Gouverneur für seine verdienstvolle Verwaltung der spanischen Enclave ein lautes Lob zu sagen.

»Macht Ihnen, fügte er hinzu, die Ueberwachung der Gefangenen nicht mitunter große Sorge?

– Und warum, mein lieber Herr Doctor?

– Ich denke, diese Leute machen oftmals den Versuch zu entfliehen? Da jeder Gefangene öfter an die Bewerkstelligung seiner Flucht denkt, als seine Wächter daran, sie zu verhindern, so folgt daraus, daß der Gefangene im Vortheil ist. Ich würde wirklich nicht überrascht sein, von Ihnen zu hören, daß so manchmal Einer beim Abendappell vermißt wird.

– Niemals, antwortete der Gouverneur, niemals! Wohin sollten diese Flüchtlinge auch gehen? Der Weg über das Meer ist ihnen vollständig abgeschnitten. In das Land hinein und unter die wilden Stämme Marokko's zu fliehen, wäre sehr gefährlich. Folglich bleiben unsere Sträflinge ruhig im Präsidio, wenn auch nicht mit großem Vergnügen, so doch aus Klugheit.

– Wenn dem so ist, so kann man Ihnen Glück wünschen, Herr Gouverneur, denn es steht zu befürchten, daß dieses Hüten von Gefangenen in Zukunft eine noch schwierigere Sache sein wird, als sie es schon ist.

– Wie ist das zu verstehen, Herr Doctor? fragte einer der Gäste, den diese Unterhaltung ganz besonders interessirte, weil er der Arzt der Strafanstalt war.

– Weil, mein Herr, antwortete der Doctor, das Studium der magnetischen Erscheinungen große Fortschritte gemacht hat, weil die Proceduren mit Jedermann vorgenommen werden können, weil schließlich die Wirkungen der Suggestion von Tag zu Tag sich vermehren und auf nichts Kleineres hinauslaufen, als eine Person vollständig durch eine andere zu ersetzen.

– Wie könnte das in diesem Falle ...? fragte der Gouverneur.

– In diesem Falle, denke ich wohl, wird es gerathen sein, die Wächter der Gefangenen nicht weniger überwachen zu lassen als letztere selbst. Ich war auf meinen Reisen häufig ein Zeuge so außerordentlicher Vorgänge, Herr Gouverneur, daß ich von dieser Gattung phänomenaler Erscheinungen eigentlich Alles erwarte. Es liegt in Ihrem Interesse, nicht zu vergessen, daß, wenn ein Gefangener unter dem Einflusse eines fremden Willens unbewußt entfliehen kann, ein demselben Einflusse unterworfener Wächter ihn nicht weniger unbewußt entfliehen lassen kann.

– Würden Sie wohl die Güte haben, uns zu erklären, worin diese überraschende Erscheinung besteht? fragte der Director der Strafanstalt.

– Sehr gern, Herr Director, an einem Beispiele werden Sie am Besten erkennen können, was ich meine, erwiderte Doctor Antekirtt. Nehmen Sie an, ein Wächter besäße eine natürliche Veranlagung, dem magnetischen oder hypnotischen Einflüsse, was dasselbe ist, zu unterliegen, und nehmen wir ferner an, daß ein Sträfling diesen Einfluß auf ihn ausübt ... Nun gut, so ist von diesem Augenblicke an der Gefangene zum Herrn über den Wächter geworden, er wird diesen thun lassen, wie es ihm gefällt, er wird ihn gehen lassen, wohin es ihm gefällt, er wird ihn nöthigen, ihm das Thor seines Gefängnisses aufzuschließen, wenn er in ihm diese Idee wachrufen wird.

– Sehr richtig, antwortete der Director, doch kann er es nur unter einer Bedingung; er muß den Wächter vorher eingeschläfert haben ...

– Darin täuschen Sie sich, Herr Director, antwortete der Doctor. Alle Handlungen können in wachendem Zustande vorgenommen werden und trotzdem vollführt der Wächter sie unbewußt.

– Wie? Sie behaupten ...?

– Ich behaupte und will es gern beweisen, daß ein Gefangener unter Ausübung des magnetischen Einflusses zu seinem Wächter sagen kann: An dem und dem Tage, zu der und der Stunde wirst Du das und das thun, und der Wächter wird es thun! An dem und dem Tage bringst Du mir die Schlüssel zu meiner Zelle und er wird sie bringen! An dem und dem Tage wirst Du mir das Thor des Präsidio öffnen und er wird es öffnen. An dem und dem Tage werde ich an Dir vorübergehen und Du wirst mich nicht vorübergehen sehen.

– Im wachenden Zustande?

– Vollständig wachend!«

Bei dieser Behauptung des Doctors machte sich unter den Anwesenden eine schlecht verhehlte Bewegung des Unglaubens geltend.

»Und doch ist, was der Herr Doctor sagt, vollständig richtig, schaltete hier Peter Bathory ein, ich selbst habe solch' ähnliche Erscheinungen beobachtet.

– Man kann also, fragte der Gouverneur, die Materiellität einer Person durch die Blicke einer zweiten vollständig aufheben?

– Vollständig, wiederholte der Doctor, bei gewissen Individuen kann man eine so bedeutende Sinnennacht heraufbeschwören, daß sie Salz für Zucker, Milch für Weinessig oder gewöhnliches Wasser für Bitterwasser ansehen und genießen. Im Reiche der Illusionen oder Hallucinationen ist nichts unmöglich, das Gehirn ist jedem Einflusse zu unterwerfen.

– Ich glaube im Sinne aller meiner Gäste zu sprechen, Herr Doctor Antekirtt, sagte der Gouverneur, wenn ich behaupte, daß man solche Dinge erst glauben kann, wenn man sie gesehen hat.

– Und dann auch nur schwer, warf einer der Anwesenden ein, der wahrscheinlich sehr mißtrauischer Natur war.

– Es ist bedauerlich, fuhr der Gouverneur fort, daß Sie nur so kurze Zeit in Ceuta bleiben. Sonst könnten Sie selbst gewiß uns gelegentlich ein solches Experiment zeigen.

– Gewiß kann ich es, antwortete der Doctor.

– Vielleicht jetzt gleich?

– Wenn Sie es wünschen, sofort.

– Wie also? ... Bitte, bestimmen Sie nur.

– Sie haben gewiß nicht vergessen, Herr Gouverneur, begann der Doctor, daß einer der Sträflinge des Präsidio vor drei Tagen auf der Straße nach der Residenz schlafend gefunden wurde und zwar war dieser Schlaf, wie ich Ihnen bereits sagte, magnetischer Natur.

– Ganz recht, bemerkte der Director der Anstalt, der Mann befindet sich jetzt im Hospital.

– Sie werden sich erinnern, daß ich es war, der ihn aufweckte, nachdem die Wächter alle möglichen Mittel, ihn aufzumuntern, vergebens angewendet hatten.

– Richtig.

– Dieses Geschehniß hat bereits zwischen mir und dem Deportirten ... wie hieß er doch gleich?

– Carpena.

– Zwischen mir und Carpena ein Band geknüpft, welches ihn vollständig meiner Eingebung unterordnet.

– Wenn er sich Ihnen gegenüber befindet.

– Nein, auch wenn wir einander nicht sehen.

– Während Sie hier in unserer Mitte und Jener im Hospital sich befindet? fragte der Gouverneur.

– Ja, und wenn Sie Befehl geben wollen, diesen Carpena freizulassen, daß man alle Thüren des Hospitals und des Gefängnisses vor ihm öffnet, wissen Sie, was er dann thun wird ...

– Nun, er wird ausrücken,« rief lachend der Gouverneur.

Sein Lachen wirkte so ansteckend, daß alle Anwesenden einstimmten.

»Nein, meine Herrschaften, erwiderte Doctor Antekirtt sehr ernst, dieser Carpena wird erst ›ausrücken‹, wenn ich es ihm befehle, und er wird nur das thun, was ich ihm zu thun vorschreibe.

– Und was zum Beispiel?

– Nun, wenn er das Gefängniß verlassen hat, will ich ihm eingeben, sich auf den Weg zu Ihrer Residenz zu machen, Herr Gouverneur.

– Hierher zu kommen?

– Hierher, an diesen Ort, wenn ich es will, und er soll darauf bestehen, Sie sprechen zu wollen.

– Mich?

– Sie, und wenn Sie darin nichts Unziemliches erblicken, will ich ihm den Gedanken eingeben, Sie für eine andere Persönlichkeit anzusehen ... nehmen wir an, für den König Alphons XII.

– Für Seine Majestät den König von Spanien?

– Ja, Herr Gouverneur, und er soll Sie bitten ...

– Um Gnade?

– Ja, um Gnade, und wenn Sie auch darin nichts Unschickliches erblicken, um das Kreuz Isabella's noch dazu.«

Ein abermaliges allgemeines Gelächter begleitete die letzten Worte des Doctors.

»Und der Mann wird wach sein, während er das thut? fragte der Director der Strafanstalt.

– So wach wie wir selbst.

– Nein! ... Nein! Es ist nicht glaubbar, nicht möglich, rief der Gouverneur.

– Machen Sie die Probe! ... Befehlen Sie, daß man Carpena jede Freiheit des Handelns lasse ... Zur größeren Sicherheit ordnen Sie ein oder zwei Wächter ab, die ihm von fern folgen, wenn er die Anstalt verlassen hat ... Er wird Alles thun, was ich sagen werde.

– Abgemacht, und wann wünschen Sie ...

– Es ist bald acht Uhr, antwortete der Doctor, indem er seine Uhr befragte. Ginge es um neun Uhr?

– Gewiß, und nach dem Experiment ...

– Nach dem Experiment wird Carpena ruhig in das Hospital zurückkehren und nicht einmal die leiseste Erinnerung an das, was geschehen ist, zurückbehalten. Ich wiederhole Ihnen – und das ist zugleich die einzige Erklärung, welche man dem Phänomen geben kann – Carpena wird sich unter dem Einflusse der Suggestion, der Eingebung befinden, der von mir ausgeht und in Wirklichkeit ist es nicht er, der die verschiedenen Dinge ausführt, sondern ich bin es.«

Der Gouverneur, dessen Unglaube hinsichtlich dieses Phänomens offenbar war, schrieb einige Zeilen, welche dem Oberaufseher des Präsidio den Befehl ertheilten, den Sträfling Carpena sich vollständig frei bewegen zu lassen; man solle sich lediglich darauf beschränken, ihm in einiger Entfernung zu folgen. Das Billet wurde unverzüglich von einem der Adjutanten in das Gefängniß gebracht.

Da das Diner inzwischen sein Ende erreicht hatte, so erhoben sich die Gäste, und sie begaben sich auf die Einladung des Gouverneurs hin in den großen Salon.

Die Unterhaltung beschäftigte sich natürlich auch jetzt noch mit den verschiedenen Erscheinungen des Magnetismus oder Hypnotismus, welche, wie bekannt, Anlaß zu großer Meinungsverschiedenheit gegeben und ebenso viele Gläubige als Ungläubige geschaffen haben. Doctor Antekirtt erzählte, während die Kaffeetassen umherwanderten, die Cigarren und Cigaretten ihre Rauchwölkchen verbreiteten – von solchen Dingen sind die Spanier anerkannte Liebhaber – zwanzig Vorfälle, deren Zeuge oder Veranlasser er während Ausübung seiner ärztlichen Praxis gewesen war. Diese Vorfälle waren alle wahrscheinlicher, fast unbestreitbarer Natur und dennoch schienen sie Keinen wirklich überzeugen zu können.

Er ergänzte noch seine Mittheilungen dahin, daß diese Suggestionsmöglichkeit die Gesetzgeber, Criminalisten und Magistrate sehr ernstlich werde beschäftigen müssen, da sie leicht zu verbrecherischen Zwecken ausgenützt werden könnte. Mit Hilfe dieser Gedankenübertragung könnten sich unbestreitbar Fälle ereignen oder Verbrechen begangen werden, deren Urheber zu entdecken eine Unmöglichkeit wäre.

Plötzlich, siebenundzwanzig Minuten vor neun Uhr, unterbrach sich der Doctor und sagte:

»Carpena verläßt in diesem Augenblick das Hospital.«

Eine Minute später fuhr er fort:

»Jetzt durchschreitet er das Thor des Gefängnisses.«

Der Ton, in welchem diese Worte vorgebracht wurden, verfehlte nicht, Eindruck auf die Anwesenden zu machen, nur der Gouverneur schüttelte unüberzeugt mit dem Kopfe.

Die Unterhaltung begann von Neuem, der Eine war für, der Andere gegen den Doctor, Alle sprachen auf einmal, bis der Doctor fünf Minuten vor neun Uhr noch einmal den Redeschwall unterbrach und sagte:

»Carpena steht vor der Thür der Residenz!«

Fast in demselben Augenblicke betrat ein Diener den Salon und benachrichtigte den Gouverneur, daß ein in der Sträflingskleidung steckendes Individuum ihn dringlichst zu sprechen wünschte.

»Laß ihn eintreten,« antwortete der Gouverneur, dessen Unglaube vor der Augenscheinlichkeit der Thatsachen merklich abzunehmen begann.

Es schlug gerade neun Uhr, als Carpena sich an der Thür des Salons zeigte. Er schien Keinen der Anwesenden zu bemerken, obwohl seine Augen vollständig offen waren und ging direct auf den Gouverneur zu. Er ließ sich vor ihm auf die Knie nieder und sagte:

»Sir, ich bitte um Gnade!«

Der Gouverneur, vollständig verwirrt, als wenn er selbst sich unter dem Eindrucke einer Hallucination befände, wußte nicht, was er ihm antworten sollte.

»Sie können ihm mit ruhigem Gewissen Gnade zu Theil werden lassen, sagte der Doctor lachend. Er wird keine Erinnerung an dieselbe behalten.

– Ich begnadige Dich! antwortete der Gouverneur mit der Würde eines Königs aller Spanier.

– Wollen, Sir, nicht Ihrer Gnade das Kreuz Isabella's hinzufügen? bettelte Carpena, noch immer auf den Knien liegend.

– Ich verleihe es Dir!«

Carpena machte eine Bewegung, die ausdrücken sollte, daß er einen ihm von dem Gouverneur gereichten Gegenstand entgegennehme und dieses imaginäre Kreuz an seine Brust hefte. Dann stand er auf und schritt rückwärts aus dem Salon.

Diesmal folgten ihm die überzeugten Anwesenden sämmtlich bis zum Thor der Residenz.

»Ich will ihn begleiten, ich will ihn in das Hospital zurückkehren sehen, rief der Gouverneur, der mit sich selbst kämpfte, und sich hartnäckig weigerte, sich gegen seine bessere Ueberzeugung offenbar besiegt zu geben.

– Kommen Sie!« sagte der Doctor.

Der Gouverneur, Peter Bathory, Doctor Antekirtt schlugen, begleitet von mehreren anderen Persönlichkeiten, denselben Weg ein wie Carpena, welcher der Stadt zuschritt. Namir, die diesen seit seinem Fortgange aus dem Gefängniß nicht aus den Augen gelassen hatte, glitt lautlos im Schatten hinter ihnen her und beobachtete sorgsam, was vorging.

Die Nacht war ziemlich dunkel. Der Spanier schritt mit regelmäßigen Schritten, ohne zu zaudern, die Landstraße entlang. Der Gouverneur und die Personen seines Gefolges hielten sich dreißig Schritte hinter ihnen; die zwei Beamten des Präsidio, welche den Auftrag hatten, Carpena nicht aus den Augen zu lassen, befanden sich ebenfalls in seiner Begleitung.

Die Straße umgeht, während sie sich der Stadt nähert, die Bucht, welche auf dieser Seite von Ceuta einen zweiten Hafen bildet. Auf dem unbeweglich scheinenden, dunklen Gewässer erzitterte der Widerschein von zwei oder drei Lichtern. Sie drangen aus den Cajütenfenstern und rührten von den Signallaternen des »Ferrato« her, dessen Formen sich flüchtig und von der Dunkelheit bedeutend vergrößert vom Horizont abhoben.

Als Carpena dem Schiffe gegenüber sich befand, verließ er plötzlich die Straße; er wendete sich nach rechts, wo mehrere Klippen wohl an zwölf Fuß das Meer überragen. Eine Geste des Doctors, die von Niemandem gesehen worden war – vielleicht auch nur eine bloße Willensäußerung – hatte den Spanier bewogen, seine Wegrichtung zu ändern.

Die Aufseher bezeugten große Lust, ihre Schritte zu beschleunigen, um Carpena einzuholen und ihn auf den richtigen Weg zurückzuführen. Doch der Gouverneur, der wohl wußte, daß nach dieser Seite hin ein Entweichen unmöglich war, winkte ihnen, zurückzubleiben.

Carpena war auf einer der Klippen stehen geblieben, als wenn eine unsichtbare Macht ihn auf dieser Stelle festgebannt hätte. Wenn er hätte die Füße heben, die Beine in Bewegung setzen wollen, so würde er es nicht gekonnt haben. Der Wille des Doctors fesselte ihn an den Erdboden.

Der Gouverneur beobachtete ihn einige Augenblicke, dann sich an seinen Gast wendend, sagte er:

»Wohlan, mein lieber Herr Doctor, ob man nun will oder nicht, man muß sich vor dieser Augenscheinlichkeit besiegt erklären.

– Sie sind also jetzt überzeugt, Herr Gouverneur, wirklich überzeugt?

– Ja, sehr überzeugt davon, daß es Dinge gibt, an die man ohne Ueberlegung glauben darf. Jetzt, Herr Doctor Antekirtt, veranlassen Sie, daß der Mann den Gedanken faßt, unverzüglich in das Präsidio zurückzukehren. Alphons XII. befiehlt es!«

Der Gouverneur hotte kaum den Satz beendet, als Carpena jäh, ohne einen Schrei auszustoßen, sich in die See stürzte. War es ein Zufall? War es eine selbstständige, freiwillige That? Gelang es ihm, durch irgend einen glücklichen Umstand sich der Macht des Doctors zu entziehen? Niemand hätte es sagen können.

Die Herren liefen auf die Felsen, während die Wächter zum Niveau einer kleinen Bucht hinabliefen, welche das Meer an dieser Stelle ausgehöhlt hat. Von Carpena keine Spur. Einige Fischerboote kamen in aller Eile herbeigefahren ebenso die der Dampfyacht ... Unnützes Bemühen: Man fand nicht einmal den Leichnam des Deportirten wieder, die Strömung hatte ihn wahrscheinlich in die See hinausgespült.

»Ich bedaure lebhaft, Herr Gouverneur, sagte der Doctor Antekirtt, daß unser Experiment einen so tragischen Ausgang genommen hat, der unmöglich vorauszusehen war.

– Wie erklären Sie sich nun diesen Zwischenfall? fragte der Gouverneur.

– Daß es bei der Ausübung dieser Willensübertragung, deren Macht Sie nicht mehr leugnen können, noch Unterbrechungen gibt. Dieser Mann ist mir, woran ich nicht zweifle, einen Augenblick entschlüpft und, sei es in Folge eines Schwindelanfalles, sei es in Folge eines anderen Umstandes, von der Höhe der Klippen heruntergestürzt. Es ist das bedauerlich, denn wir haben in ihm ein wahrhaft kostbares Medium verloren.

– Wir haben einen Schuft verloren, nicht mehr,« erwiderte der Gouverneur philosophisch.

Das war die ganze Leichenrede, welche dem Gedächtnisse Carpena's zu Ehren gehalten wurde.

Der Doctor und Peter Bathory verabschiedeten sich jetzt vom Gouverneur. Sie mußten noch vor Tagesanbruch nach Antekirtta in See gehen und so beeilten sie sich, ihrem Wirthe für den freundlichen Empfang zu danken, der ihnen in der spanischen Kolonie zu Theil geworden war.

Der Gouverneur drückte dem Doctor herzlich die Hand, wünschte ihm eine glückliche Ueberfahrt, nachdem er ihm das Versprechen abgenommen hatte, seinen Besuch zu wiederholen, dann kehrte er in die Residenz zurück.

Man wird vielleicht der Meinung sein, daß Doctor Antekirtt soeben das Vertrauen des Gouverneurs von Ceuta gemißbraucht hatte. Schön, man möge seine Haltung bei diesem Vorfalle verurtheilen und kritisiren! Aber man wolle auch nicht vergessen, weder, welchem Vorhaben Graf Mathias Sandorf sein Leben gewidmet hatte, noch was er eines Tages gesagt: »Tausend Wege – ein Ziel!«

Was soeben geschehen, war einer der tausend Wege, die eingeschlagen werden mußten, um dieses eine Ziel zu erreichen.

Einige Augenblicke später hatte ein Boot des »Ferrato« den Doctor und Peter an Bord zurückgebracht. Luigi empfing sie an der Falltreppe.

»Jener Mensch? ... fragte der Doctor.

– Ihrem Befehle gemäß erwartete unser Boot ihn am Fuße der Klippen und nahm ihn auf, sobald er heruntergestürzt war. Er ist in eine der Cabinen des Vorderdecks eingeschlossen worden.

– Er hat nichts geäußert? ... fragte Peter.

– Wie hätte er sprechen sollen? ... Er hat wie im Traum gehandelt und empfindet nicht das Bewußtsein seiner Handlungen.

– Gut! meinte der Doctor. Ich habe gewollt, daß Carpena von den Klippen in das Meer fällt und er ist gefallen! ... Ich habe gewollt, daß er einschläft und er schläft ... Wenn ich es werde haben wollen, daß er aufwacht, wird er aufwachen! ... Jetzt, Luigi, lasse die Anker lichten und fröhliche Fahrt!«

Die Maschine war unter Druck, die Anker schnell aufgewunden. Einige Augenblicke später hatte der »Ferrato« die hohe See gewonnen und steuerte auf Antekirtta zu.


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