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V.
Durch die Güte Gottes.

Es sei jetzt erlaubt, einen umfassenden Einblick in die Kolonie Antekirtta zu nehmen.

Silas Toronthal und Carpena befanden sich jetzt in den Händen des Doctors und dieser zögerte nicht, die Spuren Sarcany's zu verfolgen. Seine mit dem Auffinden von Frau Bathory betrauten Agenten hörten nicht auf, ihre Nachsuchungen fortzusetzen – bis jetzt waren diese indessen von keinem Erfolge begleitet gewesen. Seit die Mutter verschwunden, deren einzige Stütze der alte Borik war, kam es alle Augenblicke wie Verzweiflung über Peter; welchen Trost hätte auch der Doctor diesem zweimal gebrochenen Herzen spenden können? Wenn Peter mit ihm von seiner Mutter sprach, mußte der Doctor da nicht fühlen, daß Peter auch gleichzeitig an Sarah dachte, wenn auch ihr Name zwischen ihnen nicht ausgesprochen wurde?

In der kleinen Hauptstadt der Kolonie Antekirtta, nicht weit vom Stadthause, bewohnte Maria Ferrato eines der zierlichsten Häuser von Artenak. Die Erkenntlichkeit des Doctors wollte, daß sie hier alle Annehmlichkeiten, die das Leben bieten kann, genoß. Ihr Bruder wohnte mit ihr zusammen, wenn er sich nicht gerade auf der See behufs eines Transportes oder einer Ueberwachung befand. Nicht ein Tag verging, ohne daß die Geschwister nicht dem Doctor einen Besuch abgestattet hätten, oder daß dieser nicht zu ihnen gekommen wäre. Seine Neigung zu den Kindern des Fischers von Rovigno wuchs, je genauer und besser er sie kennen lernte.

»Wie glücklich könnten wir sein, wiederholte oft Maria, wenn Peter es wäre.

– Er wird es sein, pflegte Luigi zu antworten, sobald er eines Tages seine Mutter wiedergefunden haben wird. Ich habe nicht alle Hoffnung aufgegeben, Maria! Mit den Mitteln, über welche der Doctor verfügt, muß schließlich ausgekundschaftet werden, wohin Borik Frau Bathory hat führen müssen, nachdem sie Ragusa verlassen hatten.

– Ich hege ebenfalls dieselbe Hoffnung, Luigi. Würde aber auch Peter, selbst wenn seine Mutter ihm wiedergegeben werden sollte, schon ganz getröstet sein?

– Nein, Maria, das ist ganz unmöglich, weil Sarah Toronthal niemals seine Frau wird sein können.

– Ist das, was dem Menschen unmöglich scheint, nicht Gott möglich, Luigi?« fragte Maria.

Als Peter zu Luigi gesagt hatte, sie wollten Brüder sein, wußte er noch nicht, welche zärtliche und ergebene Schwester er in Maria Ferrato finden würde. Als er sie erst näher kennen gelernt hatte, zögerte er nicht, ihr alle seine Sorgen anzuvertrauen. Es beruhigte ihn etwas, wenn er mit ihr sich aussprechen konnte. Was er dem Doctor nicht sagen wollte, was sich von selbst verbot, diesem mitzutheilen, davon sprach er mit Maria. Er fand hier ein liebevolles Herz, welches sich mitleidig öffnete, ein Herz, das begriff und tröstete, eine Gott vertrauende Seele, welche die Verzweiflung nicht kannte. Wenn Peter unsäglich litt, wenn das Uebermaß des Schmerzes seine Brust zu sprengen drohte, ging er zu ihr, und stets wußte Maria ihm ein wenig Vertrauen auf die Zukunft einzuflößen.

Ein Mann befand sich jetzt in den Kasematten von Antekirtta, welcher wissen mußte, wo sich Sarah befand und ob sie noch immer in Sarcany's Gewalt schmachtete. Es war das Silas Toronthal, der sie für seine Tochter ausgegeben hatte. Doch aus Rücksicht auf das Andenken an seinen Vater würde Peter niemals gewagt haben, ihn hierüber zum Sprechen zu bringen.

Silas Toronthal war auch seit seiner Gefangennahme in einer so bedenklichen Gemüthsverfassung, von einer so großen physischen und moralischen Erschlaffung befallen worden, daß er nichts hätte sagen können, selbst wenn sein Vortheil ihn genöthigt haben würde, es zu thun. Im Ganzen genommen hatte er kein Interesse zu enthüllen, was er über Sarah wußte, da er einerseits nicht ahnte, daß es der Doctor Antekirtt war, dessen Gefangener er geworden, und andererseits, daß Peter Bathory sich lebend auf der Insel Antekirtta befand, deren Name sogar ihm fremd war.

Wie Maria Ferrato ganz richtig gesagt hatte, nur Gott konnte diese Situation zu einem befriedigenden Ende führen.

Der actuelle Zustand der kleinen Kolonie würde nicht in das volle Licht gerückt sein, vergäße man in dem Personalbestande von Antekirtta Pointe Pescade und Kap Matifu aufzuführen.

Obwohl es Sarcany gelungen, zu entschlüpfen, obwohl seine Fährte für den Augenblick verloren gegangen war, hatte die Ergreifung von Silas Toronthal doch eine so hohe Wichtigkeit, daß man Pointe Pescade äußerst freigiebig mit Belobungen überhäufte. Der tapfere Junge hatte, seiner alleinigen Eingebung überlassen, genau so gehandelt, wie man bei dieser Lage der Dinge nicht anders hätte handeln können. Von dem Augenblicke an, in welchem sich der Doctor befriedigt zeigte, wären die beiden Freunde schlecht angekommen, wenn sie selbst es nicht gewesen sein würden. Sie hatten also ihr niedliches Heim wieder bezogen und warteten, daß man ihre Dienste wieder in Anspruch nehmen würde. Sie hofften sehr stark, der gerechten Sache noch von großem Nutzen sein zu können.

Gleich nach ihrer Ankunft in Antekirtta hatten Pointe Pescade und Kap Matifu Maria und Luigi Ferrato einen Besuch abgestattet, ebenso hatten sie sich einigen Notablen von Artenak vorgestellt. Ueberall empfing man sie gern, denn sie hatten sich bereits beliebt zu machen gewußt. Es war ein Spaß, Kap Matifu bei diesen friedlichen Gelegenheiten sehen zu können; seine enorme Persönlichkeit, die gut ein Zimmer für sich allein beanspruchte, schien ihn an allen Ecken und Enden zu geniren.

»Ich bin so schmächtig, daß sich das ausgleicht,« bemerkte gewöhnlich Pointe Pescade.

Dieser war die Freude der Kolonie, welche er mit seiner stets ungetrübten Laune auf das Beste belustigte. Er stellte seine Klugheit und seine Geschicklichkeit in den Dienst Aller. Wenn die Dinge einen allgemein befriedigenden Verlauf nehmen würden, welche Feste wollte er zu Stande bringen, welches Programm von Vergnügungen und Sehenswürdigkeiten sollte sich in der Stadt und ihrer Umgebung entwickeln. Ja! Wenn es sein mußte, würden Kap Matifu und er nicht zögern, noch einmal das Akrobatenhandwerk zu beginnen, um die Bevölkerung Antekirtta's in Staunen zu versetzen.

Pointe Pescade und Kap Matifu beschäftigten sich inzwischen, in Erwartung dieses schönen Tages, ihren Garten zu verschönern, der von prächtigen Bäumen beschattet war, und ihre Villa, welche vollständig unter Blumen verschwand. Die Arbeiten am kleinen Bassin ließen dieses nun auch schon festere Formen annehmen. Wenn man so Kap Matifu ungeheure Felsstücke losbrechen und fortschleppen sah, konnte man bald feststellen, daß der provençalische Hercules noch nichts von seiner wunderbaren Stärke eingebüßt hatte.

Weder die Agenten, welche der Doctor mit den Nachforschungen über den Verbleib der Frau Bathory beauftragt hatte, noch diejenigen, welche auf die Spur Sarcany's gelenkt worden waren, hatten glückliche Erfolge zu verzeichnen. Keiner von ihnen hatte entdecken können, wohin sich der Elende nach seiner Abreise von Monte Carlo begeben hatte.

Kannte Silas Toronthal dessen Zufluchtsort? Es war das in Anbetracht der Umstände, unter denen sie sich von einander auf der Landstraße nach Nizza getrennt hatten, zum Mindesten zweifelhaft. Doch zugegeben, daß er es wußte, würde er es freiwillig sagen?

Der Doctor wartete höchst ungeduldig darauf, daß der Bankier in die Lage kommen würde, diese Probe zu bestehen.

In einem in der nordwestlichen Spitze von Artenak eingerichteten kleinen Fort war es, wo sich Silas Toronthal und Carpena im strengsten Gewahrsam befanden. Beide kannten sich, doch nur dem Namen nach, denn der Bankier hatte sich niemals direct in die sicilianischen Geschäfte Sarcany's gemischt. Es war auch eine Verordnung erlassen, dahin zielend, Beide nicht vermuthen zu lassen, daß sie sich zusammen in dem Fort befänden. Sie bewohnten zwei Kasematten, die von einander getrennt lagen, und sie verließen dieselben nur, um in abgesonderten Höfen frische Luft zu schöpfen. Auf die Treue Derjenigen, welche sie bewachten – es waren stets zwei Unterofficiere der Miliz von Antekirtta – konnte der Doctor zählen und gewiß sein, daß kein Verkehr zwischen den beiden Gefangenen sich anbahnte.

Es war also keine Indiscretion zu befürchten, noch mehr: auf alle Fragen, die Silas Toronthal und Carpena, die Oertlichkeit ihres Aufenthaltes betreffend, stellten, war ihnen nie geantwortet worden und sollte es auch nicht werden. Nichts konnte weder den Einen noch den Anderen vermuthen lassen, daß sie in die Hände dieses geheimnißvollen Doctors Antekirtt gefallen waren, den der Bankier kannte, weil er ihn mehrfach in Ragusa zu Gesicht bekommen hatte.

Des Doctors unaufhörliche Beschäftigung war es, Sarcany ausfindig zu machen und ihn aufzuheben, wie es mit seinen beiden Genossen geschehen war. Am 16. October endlich, nachdem constatirt worden war, daß Silas Toronthal sich jetzt im Stande befände, auf die ihm vorgelegten Fragen zu antworten, entschloß er sich, ein Verhör mit ihm anzustellen.

Zuvor hielt er eine Berathung über diesen Gegenstand mit Peter und Luigi ab, zu der auch Pointe Pescade gezogen wurde, dessen Ansichten nicht zu verachten waren.

Der Doctor machte sie mit seinem Vorhaben bekannt.

»Wenn man Silas Toronthal erkennen läßt, daß man Sarcany's Aufenthalt zu erfahren wünscht, warf Luigi ein, läßt man ihn da nicht gleich vermuthen, daß man sich seines Genossen bemächtigen will?

– Ja wohl, antwortete der Doctor, doch gibt es wohl nichts Gefährliches dabei, wenn er es weiß, da er uns nicht mehr entschlüpfen kann.

– Und doch, Herr Doctor, erwiderte ihm Luigi. Silas Toronthal kann der Meinung sein, daß es in seinem Interesse liegt, nichts zu sagen, was Sarcany schaden könnte.

– Und warum?

– Weil er sich selbst schaden würde.

– Ist mir eine Bemerkung gestattet? fragte Pointe Pescade, der sich ein wenig abseits hielt – aus Discretion.

– Gewiß, mein Freund, sagte der Doctor.

– Meine Herren, begann Pointe Pescade, ich glaube, daß bei der gegenwärtigen Trennung der beiden Gentlemen sie sich gegenseitig keine Schonung mehr aufzulegen brauchen. Herr Silas Toronthal muß Sarcany von ganzem Herzen verabscheuen, da er ihn an den Bettelstab gebracht hat. Wenn also Herr Toronthal weiß, wo Herr Sarcany sich augenblicklich befindet, wird er nicht zögern, es zu sagen – so denke ich wenigstens. Sollte er nichts sagen, so hat er eben nichts zu sagen.«

Dieses Raisonnement entbehrte nicht einer gewissen Richtigkeit. Sehr wahrscheinlich würde der Bankier, im Falle er wußte, wohin Sarcany geflüchtet war, sich nicht für verpflichtet halten, Stillschweigen zu beobachten, wenn sein eigener Vortheil es bedingen würde, dasselbe zu brechen.

»Wir werden heute noch wissen, woran wir uns zu halten haben, antwortete der Doctor, und mir soll es schon klar werden, ob Toronthal nichts weiß oder nichts wissen will. Doch da er noch nicht wissen darf, daß er in der Gewalt des Doctors Antekirtt sich befindet, da er ferner nicht wissen darf, daß Peter Bathory noch am Leben ist, so soll Luigi beauftragt werden, ihn auszuforschen.

– Ich stehe ganz zu Diensten, Herr Doctor!« erwiderte der junge Mann.

Luigi begab sich demgemäß in die Festung und wurde in die Kasematte geführt, welche Silas Toronthal zum Gefängnisse diente.

Der Bankier saß in einer Ecke an einem Tische. Er hatte soeben sein Bett verlassen. Sein moralischer Zustand hatte sich augenscheinlich noch nicht sehr gebessert. Er dachte jetzt zwar weder an seinen Ruin noch an Sarcany. Was ihn weit directer beunruhigte, war, zu wissen, warum und an welchem Orte man ihn gefangen hat und wer die mächtige Persönlichkeit war, die ein Interesse daran hatte, sich seiner zu bemächtigen. Er wußte nur soweit zu denken, daß er Alles zu fürchten hätte.

Als er Luigi Ferrato sah, erhob er sich; doch auf ein Zeichen, welches dieser ihm gab, setzte er sich unverzüglich wieder. Es entspann sich nun folgendes kurze Verhör während Luigi's Besuch bei Silas Toronthal.

»Sie sind Silas Toronthal, einstmals Bankier in Triest und haben in der letzten Zeit in Ragusa Ihren Wohnsitz gehabt?

– Ich habe auf diese Frage nichts zu erwidern. Die, welche mich als Gefangenen zurückhalten, müssen wissen, wer ich bin.

– Sie wissen es.

– Wer sind sie?

– Sie werden es später erfahren.

– Und wer sind Sie?

– Ein Mann, der den Auftrag hat, Sie zu fragen.

– Von wem?

– Von denen, welchen Sie Rechenschaft schuldig sind.

– Noch einmal, wer sind dieselben?

– Ich habe nicht nöthig, es Ihnen zu sagen.

– In diesem Falle habe ich Ihnen auch nichts zu erwidern.

– Es sei! Sie waren in Monte Carlo mit einem Manne zusammen, den Sie schon seit Langem kannten und der seit Ihrer Abreise von Ragusa nicht von Ihrer Seite gewichen ist. Dieser Mann, ein Tripolitaner von Geburt, nennt sich Sarcany. Er ist entkommen, gerade als Sie auf der Landstraße nach Nizza festgenommen wurden. Ich bin beauftragt, Sie zu fragen: Wissen Sie, wo sich gegenwärtig dieser Mann aufhält und wollen Sie es, wenn Sie es wissen, sagen?«

Silas Toronthal hütete sich wohl, darauf zu antworten. Wenn man wissen wollte, wo Sarcany war, so geschah es offenbar deshalb, um sich Sarcany's ebenso zu bemächtigen, wie man sich seiner bemächtigt hatte. Zu welchem Zwecke? Gemeinsamer Thaten aus ihrer Vergangenheit wegen und noch genauer ausgedrückt, Dinge wegen, die sich auf die Verschwörung von Triest bezogen? Doch wie sollten diese Vorgänge bekannt geworden sein und welcher Mann konnte ein Interesse daran haben, den Grafen Mathias Sandorf und seine beiden Freunde, die nun schon länger als fünfzehn Jahre todt waren, zu rächen? Das war es, was sich der Bankier zuerst fragte. Jedenfalls war die Annahme gerechtfertigt, daß er nicht dem Spruche einer regelrechten Gerichtsbarkeit unterworfen war, deren Thätigkeit sich auf ihn und seinen Genossen zu erstrecken drohte – was ihn nur noch mehr beunruhigen mußte. Obwohl er nicht daran zweifelte, daß Sarcany nach Tetuan in das Haus Namir's geflüchtet war, woselbst er seine letzte Partie und in allernächster Zeit spielen wollte, entschloß er sich doch, nichts hierüber zu sagen. Wenn späterhin sein Interesse ihm befahl zu reden, würde er sprechen. Bis dahin war ihm sehr daran gelegen, sich äußerst reservirt zu verhalten.

»Nun? ... fragte Luigi, nachdem er dem Bankier Zeit zum Nachdenken gelassen hatte.

– Mein Herr, antwortete Silas Toronthal, ich könnte Ihnen antworten, daß ich weiß, wo Sarcany ist, von dem Sie mir sprechen und daß ich es nicht sagen will. In Wahrheit aber weiß ich wirklich nicht, wo er ist.

– Das ist Ihre einzige Antwort?

– Die einzige und wahre.«

Luigi zog sich hierauf zurück und erstattete dem Doctor Bericht über seine Unterhaltung mit Silas Toronthal. Da die Antwort des Bankiers im Grunde genommen nichts Anstößiges barg, so mußte man damit vorläufig zufrieden sein. Um Sarcany's Spur wieder aufzufinden, konnte also vorderhand nichts weiter geschehen, als die Nachforschungen zu vervielfältigen und dabei weder Geld noch Mühen zu sparen.

Während der Doctor auf irgend ein Anzeichen wartete, welches ihm erlaubte, den Feldzug auf's Neue zu eröffnen, hatte er sich mit Fragen zu beschäftigen, welche die Sicherheit Antekirttas sehr nahe angingen.

Es waren ihm insgeheim Nachrichten aus den afrikanischen Provinzen neuerdings zugegangen. Seine Agenten empfahlen ihm, die Küsten des Golfes der Sidra sorgfältig überwachen zu lassen. Nach ihren Meinungen schien die Genossenschaft der Senusisten ihre Streitkräfte an der tripolitanischen Grenze sammeln zu wollen. Eine allgemeine Bewegung derselben ging allmälig den Gestaden der Syrten zu. Zwischen dem Großmeister und den verschiedenen Zauyias Nord-Afrikas fand ein Austausch von Meldungen mittelst reitender Boten statt. Aus dem Auslande anlangende Waffen wurden für Rechnung der Brüderschaft geliefert und ausgehändigt. Ein Zusammenziehen von Mannschaften vollzog sich ganz offenbar in dem Vilajet von Ben-Ghazi, also in der nächsten Nachbarschaft Antekirttas.

Zur Abwendung einer Gefahr, welche bedenklich werden konnte, mußte der Doctor alle Maßnahmen treffen, welche die Klugheit gebot. Während der drei letzten Wochen des Octobers unterstützten ihn Peter und Luigi wacker bei diesem Werke und auch alle Kolonisten standen ihm hilfreich zur Seite. Pointe Pescade wurde mehrfach heimlich an das afrikanische Gestade geschickt, um sich mit den Agenten ins Einvernehmen zu setzen. Es wurde constatirt, daß die Gefahr, welche die Insel bedrohte, nichts weniger als eine imaginäre war. Die Piraten von Ben-Ghazi, unterstützt durch eine vollkommene Mobilisirung der Bundesbrüder der ganzen Provinz, bereiteten eine Expedition vor, deren Ziel die Insel Antekirtta war. Stand diese Expedition nahe bevor? Darüber war nichts zu erfahren. Jedenfalls befanden sich die Senusistenführer noch in ihren südlichen Vilajets, und es war mehr als wahrscheinlich, daß keine wichtige Unternehmung ohne ihre persönliche Leitung zur Ausführung gebracht würde. Deshalb auch hatten die »Electrics« den Befehl erhalten, in den Gewässern des Meeres der Syrten zu kreuzen, um sowohl die Küsten der Cyrrhenäischen Halbinsel und von Tripolis, als auch das Gestade von Tunesien bis zum Kap Bon zu beobachten.

Die Vorbereitungen zur Vertheidigung der Insel waren, wie man weiß, noch nicht beendet. Wenn es auch nicht möglich war, sie in absehbarer Zeit zu Ende zu führen, so waren doch wenigstens Vorräthe an Munition jeder Gattung in dem Arsenale von Antekirtta überaus reichlich vorhanden.

Antekirtta, welches von den Küsten der Cyrrhenäischen Halbinsel an zwanzig Meilen entfernt liegt, wäre vollständig isolirt im Innern dieses Golfes, wenn nicht ein Eiland, bekannt unter dem Namen Eiland Kencraf, welches ungefähr dreihundert Meter im Umkreise mißt, zwei Meilen vor seiner südöstlichen Spitze auftauchen würde. Dieses Eiland sollte nach des Doctors Idee als Deportationsort dienen, wenn jemals ein Kolonist diese Strafe verdiente; diese Verbannung würde dann von dem regulären Gerichtshofe der Insel über den Betreffenden verhängt werden – ein Fall, der sich aber bis dahin noch nicht ereignet hatte. Zu diesem Zwecke waren auf dem Eilande einige Baracken aufgeführt worden.

Das Eiland Kencraf war aber durchaus unbefestigt, und falls eine feindliche Flotte Antekirtta angriff, bildete es lediglich durch seine Lage eine Gefahr für die Insel. Es genügte dort zu landen, um aus dem Eiland eine solide Operationsbasis zu machen. Neben der Bequemlichkeit, die es als Niederlage von Lebensmitteln und Munition bot und neben der Möglichkeit, eine Batterie dort zu errichten, konnte es für die Belagerer ein sehr ernsthafter Stützpunkt werden; es wäre weit besser gewesen, es hätte nicht existirt, da die Zeit fehlte, es in Vertheidigungszustand zu setzen.

Die Lage des Eilandes Kencraf und die Vortheile, welche ein Feind aus ihm gegen Antekirtta ziehen konnte, beunruhigten den Doctor unablässig. Nachdem er Alles reiflich erwogen hatte, entschloß er sich, es zu zerstören, zu gleicher Zeit aber diese Sprengung mit der Vernichtung von einigen hundert Seeräubern, die vielleicht die Kühnheit haben würden, sich auf Kencraf festzusetzen, zu verbinden.

Dieser Plan gelangte zur sofortigen Ausführung. Durch vollständige Durchgrabung des Erdreiches des Eilandes wurde dasselbe schnell zu einer großen Minenkammer umgewandelt und mit Antekirtta durch einen unterseeischen Draht in Verbindung gesetzt. Ein elektrischer Strom, der durch diesen Draht geleitet wurde, war ausreichend, jede Spur ihres einstigen Daseins von der Oberfläche des Meeres verschwinden zu lassen.

Weder mit gewöhnlichem Pulver, weder mit Schießbaumwolle noch mit Dynamit wollte der Doctor diese furchtbare Zerstörungskraft entwickeln. Er kannte die Zusammensetzung eines neuen Explosionsstoffes, der neuerdings entdeckt worden war und dessen zerstörende Eigenschaften so bedeutende sind, daß man wohl sagen kann, er ist im Vergleich zum Dynamit das, was das Dynamit im Vergleich zum gewöhnlichen Pulver ist. Viel handlicher als das Nitro-Glycerin, viel transportabler, weil es nur die Anwendung von zwei isolirten Flüssigkeiten erfordert, deren Mischung sich erst im Augenblicke des Gebrauches bildet, viel widerstandsfähiger gegen das Einfrieren bis zu zwanzig Graden unter Null, während das Dynamit schon bei fünf oder sechs Graden erstarrt, und nur durch einen heftigen Stoff explodirbar wie das Zündhütchen, ist dieses Mittel ebenso furchtbar als einfach in seiner Anwendung.

Wie erhält man es? Lediglich durch die Thätigkeit des anhydrischen und reinen Salpeteroxyd im flüssigen Zustande auf diverse kohlenstoffhaltige, mit mineralischen Oelen durchsetzte, vegetabilische, animalische oder Theile von anderen Fettsubstanzen enthaltende Körper. Aus diesen beiden Flüssigkeiten, die von einander getrennt unschädlich sind und sich in einander auflösen, macht man eine einzige in der gewünschten Menge, wie man eine Wasser- oder Weinmischung herstellen würde. Eine Gefahr bei der Herstellung existirt nicht. Das ist das Panclastit, ein Wort, welches »Alles brechend« bedeutet, und es bricht in Wahrheit auch Alles.

Dieses Zerstörungsmittel wurde in Form zahlreicher Flatterminen in das Erdreich des Eilandes gesenkt. Mit Hilfe des unterseeischen Drahtes von Antekirtta, der den elektrischen Funken auf die Zündhütchen übertragen sollte, mit denen jede Mine versehen war, konnte die Explosion sofort erfolgen. Da es sich jedoch ereignen konnte, daß der Leitungsdraht nicht functionirte durch irgend welche Zufälligkeiten, so waren im Uebermaße der Vorsicht eine gewisse Anzahl Apparate in den festen Boden des Eilandes eingelassen und untereinander durch verschiedene unterirdische Drähte verbunden worden. Es genügte, daß ein Fuß zufällig auf der Erdoberfläche die Plättchen eines dieser Apparate streifte, um die Kette zu schließen, den Strom zu erzeugen und die Explosion hervorzurufen. Es war also mit Leichtigkeit die völlige Zerstörung des Eilandes Kencraf zu bewirken, wenn zahlreiche Angreifer dort landeten.

Diese Arbeiten waren in den ersten Tagen des November bereits weit vorgeschritten, als ein Zwischenfall eintrat, der den Doctor zwang, die Insel auf einige Tage zu verlassen.

Am 3. November Früh warf der Dampfer, der zum Kohlentransporte zwischen Cardiff und Antekirtta diente, im Hafen dieser Insel Anker. Unwetter hatte ihn gezwungen, während seiner Ueberfahrt Schutz in Gibraltar zu suchen. Dort fand der Kapitän einen postlagernden Brief vor, der an die Adresse des Doctors gerichtet war. Dieser Brief war schon eine geraume Zeit hindurch von Postanstalt zu Postanstalt längs der Küste des mittelländischen Meeres gesandt worden, ohne indessen seinen Adressaten erreichen zu können.

Der Doctor nahm diesen Brief, dessen Umhüllung die Poststempel von Malta, Catania, Ragusa, Ceuta, Otranto, Malaga und Gibraltar trug.

Die Aufschrift – unbeholfene, in zitternden Formen geschriebene Buchstaben – verrieth eine Hand, welche nicht mehr die Uebung, vielleicht auch nicht mehr die Kraft zum Schreiben hatte. Ueberdies trug die Adresse nur einen Namen, den des Doctors, mit folgender, rührender Empfehlung:

»Herrn Doctor Antekirtt.
       Durch die Güte Gottes.«

Der Doctor erbrach die Umhüllung und öffnete den Brief – ein schon vergilbtes Blatt Papier. Er las:

»Herr Doctor!

Möge Gott diesen Brief in Ihre Hände fallen lassen! ... Ich bin schon sehr alt ... Ich kann sterben ... Sie wird allein auf Erden stehen ... Haben Sie auf die letzten Tage eines so schmerzensreichen Lebens Mitleid mit Frau Bathory! ... Kommen Sie ihr zu Hilfe ... Kommen Sie!

Ihr ergebener Diener
Borik.«

Dann in einer Ecke: »Carthago« und darunter die Worte »Regentschaft Tunis«.

Der Doctor befand sich allein im Stadthause, als er Kenntniß von dem Inhalte dieses Briefes nahm. Es war ein Schrei der Freude und der Hoffnungslosigkeit, der ihm zu gleicher Zeit entfloh – der Freude, weil er endlich die Spuren von Frau Bathory wiedergefunden hatte – der Hoffnungslosigkeit oder vielmehr der Furcht, denn die Poststempel zeigten an, daß der Brief schon vor einem Monat geschrieben worden war.

Luigi wurde sofort bestellt.

»Luigi, sagte der Doctor, benachrichtige Kapitän Köstrik, er solle Alles vorbereiten, daß der »Ferrato« in zwei Stunden unter Dampf sein kann.

– In zwei Stunden wird er in See stechen können, antwortete Luigi. Geschieht es zu Ihrem eigenen Dienst?

– Ja!

– Handelt es sich um eine weite Ueberfahrt?

– Nur von drei oder vier Tagen.

– Sie reisen allein?

– Nein! Bemühe Dich Peter aufzusuchen und sage ihm, er solle sich bereit halten, mich zu begleiten.

– Peter ist im Augenblick nicht hier, doch wird er noch vor einer Stunde von den Arbeiten auf Kencraf zurückgekehrt sein.

– Ich wünsche auch, daß Deine Schwester sich mit uns einschifft, Luigi. Sie möchte ihre Vorbereitungen zur Abreise unverzüglich treffen.

– Sofort.«

Luigi ging fort, um die erhaltenen Befehle zur Ausführung zu bringen.

Eine Stunde später betrat Peter das Stadthaus.

»Lies!« sagte der Doctor.

Und er reichte ihm Borik's Brief hin.


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