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Siebzehntes Kapitel.

Christiania – für Norwegen eine große Stadt – wäre in England oder Frankreich nur eine kleine Stadt. Wenn nicht häufige Feuerbrände gewesen wären, sähe sie jetzt vielleicht noch ebenso aus, wie sie im 11. Jahrhundert erbaut worden ist. Eigentlich rechnet sie erst vom Jahre 1624 ab, zu welcher Zeit König Christian sie neu erstehen ließ. Damals hieß sie noch Opsolö und erhielt den Namen Christiania nach ihrem königlichen Erbauer.

Es ist eine regelmäßige Stadt mit großen schmucklosen und geraden Straßen und Häusern aus weißen Steinen oder roten Ziegeln. In einem schönen Garten steht das königliche Schloß, das Orscarlot, ein riesiger viereckiger Bau, der eigentlich ohne Stil ist, obwohl er in ionischem Stile ausgeführt ist.

Hier und da tauchen ein paar Kirchen auf, in denen die Andacht der Gläubigen nicht gut durch allzuviel Kunstschönheiten beeinträchtigt werden kann. Endlich sind auch mehrere Zivil- und öffentliche Gebäude da, zuzüglich eines großen Bazars, der rotundenartig angelegt ist. Hier sind die fremden und einheimischen Erzeugnisse in Menge aufgestapelt.

Im großen und ganzen ist nichts sonderlich Sehenswertes zu nennen. Aber was man rückhaltlos bewundern muß, das ist die Lage der Stadt in diesem Kreis von Bergen, die, so mannigfachen Charakters, einen prachtvollen Rahmen bilden. In ihren reichen und neuen Vierteln fast flach, bildet sie in ihren höher gelegenen und ansteigenden Stadtteilen eine Art Kasbah, die von unregelmäßigen Häusern bedeckt ist. Dort vegetiert eine arme, verkommene Bevölkerung in Holz- oder Ziegelhütten, deren schreiender Anstrich das Auge mehr verblüfft als entzückt.

Man darf nicht glauben, das Wort Kasbah, das man nur in afrikanischen Städten findet, sei in einer Stadt im Norden Europas nicht am Platze. Christiania hat in der Hafengegend Stadtviertel, die an Tunis, Marokko und Algier erinnern. Wenn es dort auch keine Tunesier, Marokkaner und Algerier gibt, so ist doch ihre ab- und zuströmende Bevölkerung auch nicht viel mehr wert.

Wie jede Stadt, deren Fuß sich in der See badet und die das Haupt über grünende Hügel emporhebt, ist Christiania außerordentlich malerisch. Es ist durchaus nicht unzutreffend, den Fjord mit der Bucht von Neapel zu vergleichen. Wie das Gestade bei Sorrent oder Castellamare, sind hier die Ufer von Landhäusern und Häuschen besetzt, die in dem fast schwarzen Grün der Tannen halb verschwinden.

Sylvius Hog war also endlich wieder in Christiania. Diese Rückkehr hatte sich allerdings unter Umständen vollzogen, die er nie hatte voraussehen können. Die unterbrochene Erholungsreise konnte er in einem andern Jahre nachholen. In diesem Augenblick handelte es sich nur um Joel und Hulda Hansen. Er hatte sie nicht in seinem Hause absteigen lassen, weil ihm zwei Zimmer fehlten, um sie aufzunehmen. Sicherlich hätten die alte Käte und der alte Fink ihnen einen guten Empfang bereitet! Aber es war keine Zeit gewesen, sich darauf einzurichten. Der Professor hatte sie daher nach dem Viktoria-Hotel gebracht, wo sie sehr gut untergebracht waren.

Aber während der Professor dafür sorgte, daß seinen Schützlingen die gleiche Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, wie er sie für sich selbst beansprucht hätte, hatte er doch ihre Namen nicht bekannt gegeben. Es schien ihm zuvörderst das Klügste für Joel und vor allem für Hulda Hansen, das Inkognito zu wahren. Ueber das junge Mädchen war bekanntlich viel gesprochen worden, und da war es besser, ihre Ankunft in Christiania geheim zu halten.

Es war ausgemacht worden, daß am folgenden Tage Sylvius Hog die Geschwister erst zur Frühstücksstunde wieder aufsuchen sollte, das heißt zwischen 11 und 12 Uhr.

Der Professor hatte mehrere Geschäfte zu erledigen, die ihn den ganzen Vormittag über in Anspruch nehmen mußten, und er wollte erst, wenn er damit fertig war, wieder mit Joel und Hulda zusammenkommen. Dann wollte er sie nicht mehr verlassen, sondern bis zur Ziehung bei ihnen bleiben, die gegen 3 Uhr stattfinden sollte.

Joel ging, gleich nachdem er aufgestanden war, zu seiner Schwester. Hulda erwartete ihn, schon völlig angekleidet, in ihrem Zimmer. In der Absicht, sie ein wenig ihren Gedanken zu entreißen, die heute noch schmerzlicher sein mußten, als je, machte ihr Joel den Vorschlag, bis zur Frühstückszeit spazieren zu gehen. Um ihrem Bruder gefällig zu sein, nahm Hulda das Anerbieten an, und beide gingen aufs Geratewohl durch die Stadt.

Es war ein Sonntag. Während sonst in den nordischen Städten an Feiertagen die Zahl der Spaziergänger noch geringer ist als sonst, waren heute die Straßen sehr belebt. Die Städter waren nicht aufs Land hinaus gepilgert, und die Landleute waren aus der Umgegend in Scharen herbeigekommen. Die Bahnstrecke von Mjösensee hatte Extrazüge einlegen müssen. Soviel Neugierige und vor allen Dingen Beteiligte hatte die volkstümliche Lotterie der Schulen von Christiania herbeigelockt.

In den Straßen waren daher viel Menschen – ganze Familien, ja ganze Ortschaften beieinander, die in der geheimen Hoffnung gekommen waren, keine unnütze Reise gemacht zu haben.

Joel und Hulda gingen vom Viktoria-Hotel aus zuerst nach den Quais, die im Osten der Bucht lagen. An dieser Stelle war das Treiben nicht so stark, ausgenommen in den Kneipen, wo Bier und Branntwein in vollen Schoppen und Gläsern die von immerwährendem Durst geplagten Kehlen erfrischten.

Während die Geschwister zwischen den Magazinen, den Reihen von Tonnen, den Haufen von Kisten dahinschritten, lenkten vor allem die Schiffe, die an Land verankert waren oder auf der See vor Anker lagen, ihre Aufmerksamkeit auf sich. War nicht vielleicht eins dieser Schiffe nach dem Hafen von Bergen bestimmt, in den der »Viken« nie mehr zurückkehren sollte?

»Ole! – mein armer Ole!« murmelte Hulda.

Joel wollte sie von der Bucht wegführen und stieg mit ihr nach den Vierteln der obern Stadt zu.

Hier hörten sie in den Straßen, auf den Plätzen, unter den Gruppen von Leuten manches Wort, das sie betraf.

»Ja,« sagte einer, »für Nummer 9672 sind 10 000 Mark geboten worden.

»10 000?« antwortete ein anderer. »Ich habe von 20 000 und mehr reden hören!«

»Herr Vanderbilt aus Newyork ist sogar bis 30 000 gegangen.«

»Die Herren Baring aus London bis auf 40 000.«

»Und die Herren Rothschild aus Paris bis auf 60 000!«

Von diesen Uebertreibungen der Fama war nichts zu halten. Aber wenn auch diese Neuigkeitskrämer nicht die genauen Summen kannten, die Hulda Hansen geboten worden waren, so stimmten sie doch in der Beurteilung der Handlungsweise des Wucherers von Drammen in wunderbarer Weise überein.

»Ein verwünschter Gauner dieser Sandgoist, daß er nicht mit diesen braven Leuten Mitleid gehabt hat!«

»O, der ist im Telemarken bekannt!«

»Man sagt, er hätte keinen Käufer für das Los Ole Kamps finden können, nachdem er es zu teuerm Preise gekauft hatte.«

»Nein! niemand hat was davon wissen wollen.«

»Das ist kein Wunder! Solange Hulda Hansen das Los hatte, war es gut.«

»Sicherlich, dagegen hat es in Sandgoists Händen gar keinen Wert mehr.«

»Schon recht so! Soll es ihm nur als Zahlung bleiben und möchte er nur die 15 000 Mark, die es ihm gekostet hat, daran einbüßen.«

»Aber wenn nun der Schurke das große Los gewinnt!«

»Der? Warum nicht gar!«

»Das wäre eine Ironie des Schicksals! Auf jeden Fall soll er bloß nicht zur Ziehung kommen!«

»Nein! da könnte es ihm schlecht gehen!«

Dies war, kurz zusammengefaßt, die Meinung, die über Sandgoist geäußert wurde. Uebrigens hatte er aus Vorsicht oder aus sonst welchem Grunde tatsächlich nicht die Absicht, der Ziehung beizuwohnen, da er ja am vergangenen Tage noch vor seinem Hause in Drammen gesessen hatte.

Hulda, die sehr aufgeregt war, und Joel, der den Arm seiner Schwester in dem seinen zittern fühlte, gingen schnell vorüber, ohne sich die Mühe zu machen, noch mehr zu hören. Vielleicht hegten sie die Hoffnung, Sylvius Hog in der Stadt zu treffen. Dies geschah jedoch nicht. Einige aus den Gesprächen der Leute aufgefangenen Worte ließen sie indessen erkennen, daß die Rückkehr des Professors nach Christiania schon ruchbar geworden war. Schon am Morgen hatte man ihn mit sehr geschäftiger Miene, wie einen, der weder zum Fragen noch zum Antworten Zeit hat, bald auf der Hafenseite, bald in der Gegend des Marineamts umhergehen sehen.

Gewiß hätte Joel jeden beliebigen Passanten fragen können, wo Professor Sylvius Hog wohne. Jeder hätte sich beeilt, ihm das Haus zu bezeichnen, oder ihn dorthin zu führen. Er tat es nicht, und da überdies im Hotel die Zusammenkunft vereinbart war, so war es das beste, sich bis dahin zu gedulden und solange sich dort aufzuhalten.

Hierum bat Hulda ihren Bruder, denn sie fühlte sich sehr müde, und all dieses Gerede, in dem ihr Name genannt wurde, war ihr äußerst unangenehm.

Sie kehrten ins Viktoria-Hotel zurück, und Hulda begab sich in ihr Zimmer, um auf Sylvius Hog zu warten, während Joel im Lesezimmer blieb und dort die Zeitungen von Christiania mechanisch durchblätterte.

Plötzlich erblaßte er, sein Blick trübte sich, das Blatt, das er hielt, entfiel seinen Händen.

In einer Nummer des Morgen-Blad hatte er unter den Seenachrichten die folgende aus Neufundland datierte Depesche gelesen:

»Der Aviso »Telegraf« traf an der Stelle ein, wo mutmaßlich der Schiffbruch des »Viken« stattfand, und entdeckte keine Spur. Die Nachforschungen an der grönländischen Küste sind gleichfalls erfolglos geblieben. Es muß nun als gewiß betrachtet werden, daß von der Mannschaft des »Viken« keiner am Leben geblieben ist.«


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