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Zehntes Kapitel.

In diesen skandinavischen Ländern herrscht eine gute Schulbildung, nicht bloß bei den Städtern, sondern auch auf dem Lande, und zwar eine Bildung, die wesentlich über die Kenntnis von Lesen, Schreiben und Rechnen hinausgeht. Dem Bauer macht das Lernen Freude; er verfügt über keinen geringen Grad von Intelligenz, nimmt am öffentlichen Leben Interesse, zeigt regen Anteil für Staats- und kommunale Angelegenheiten. Im Storthing sind Männer aus diesem Stande immer in der Mehrheit. Nicht selten nehmen sie an den Verhandlungen teil in der Tracht ihrer Provinz. Man rühmt sie, und mit Recht, um ihrer hohen Vernunft, ihres gesunden praktischen Sinnes, ihrer wenn auch langsamen, doch richtigen Auffassung und vor allem ihrer Unbestechlichkeit willen.

Man darf sich mithin nicht wundern, daß der Name Sylvius Hog bekannt war in ganz Norwegen und mit Achtung bis in diesen etwas wilden, von der Kultur noch nicht übermäßig beleckten Teil des Telemarken hinauf genannt wurde.

Darum meinte auch Frau Hansen, als sie einen in so allgemeiner Wertschätzung stehenden Gast in ihr Haus treten sah, die Schicklichkeit fordere ein paar Worte, wie sehr sie sich durch solchen Besuch ihres Hauses geehrt fühlen müsse.

»Ob Sie viel Ehre davon haben, Frau Hansen,« erwiderte Sylvius Hog, »weiß ich nicht; was ich aber weiß, ist, daß alles Vergnügen auf meiner Seite ist. O! von dieser gastlichen Stätte in Dal habe ich schon lange aus dem Munde meiner Schüler gehört! Darum dachte ich auch, mich eine volle Woche hier auszuruhen; ganz sicher aber nicht, verzeih mir Sankt Olaf! daß ich bloß auf einem Beine hier Einzug halten würde!«

Mit diesen Worten drückte der treffliche Mann seiner Wirtin herzlich die Hand.

»Herr Sylvius,« fragte Hulda, »soll mein Bruder etwa den Arzt von Bamble herüber holen?«

»Einen Arzt, liebe kleine Hulda? aber wollen Sie denn, daß ich den Gebrauch meiner beiden Beine verliere?«

»O! Herr Sylvius!«

»Einen Arzt! warum nicht gleich meinen Freund, den Doktor Boek, von Christiania? ... Und das alles wegen einer lumpigen Schmarre!«

»Eine Schmarre, die schlecht geheilt wird,« erwiderte Joel, »kann leicht ernst werden!«

»Ei, aber wollt Ihr mir nicht sagen, Joel, warum Ihr's Euch in den Kopf setzt, daß das ernst werden soll?«

»Ich setze mir das nicht in den Kopf, Herr Sylvius – soll mich Gott bewahren!«

»Nun! er wird Euch bewahren und mich auch und das ganze Haus von Frau Hansen, vor allem, wenn die niedliche Hulda willens sein sollte, mir ihre Pflege angedeihen zu lassen!«

»Das will ich schon, Herr Sylvius!«

»Famos, liebe Freunde! Noch vier bis fünf Tage, dann wird von der Schmarre nichts mehr zu sehen sein! Und dann: wie sollte man in einem so hübschen Zimmer nicht genesen? wo könnte man sich besser behandeln lassen als in dem trefflichen Gasthofe von Dal? Und dies gute Bett mit seinen Sinnsprüchen, die all die schrecklichen Lehrsätze der Fakultät reichlich aufwiegen! Und dies lustige Fenster, direkt auf das Tal des Maan hinaus! Und das Geflüster der Fluten, das bis hinter meinen Alkoven dringt! Und der Duft der alten Bäume, von dem das ganze Haus wie balsamiert ist! Und die gute Luft! die Bergluft! Ei, ist die nicht der beste Doktor auf der Welt? braucht man ihn, so reißt man einfach das Fenster auf und er ist da! er stimmt einen heiter und vergnügt und verordnet einem keine Hungerdiät!«

Er sagte dies alles so lustig, Herr Sylvius Hog, daß mit ihm wieder Glück in das Haus einzudringen schien. Zum wenigsten war dies der Eindruck, den die Geschwister hatten, die sich an der Hand hielten, und zuhörten, und sich beide der gleichen Empfindung überließen.

Der Professor war gleich in das Zimmer im Erdgeschoß geführt worden. Jetzt ließ er sich, in einen großen Armstuhl gebettet, das kranke Bein auf einen Schemel gestreckt, von Hulda und Joel pflegen. Ein anderes Mittel als einen Verband mit frischem Wasser mochte er nicht leiden: und wirklich! wozu war ein anderes auch nötig?

»Recht, liebe Freunde! recht!« sagte er; »Arzneien soll man nicht mißbrauchen. Und nun wißt Ihr doch, daß ich ohne Eure Aufopferung die Wunder des Rjukanfos aus gar zu großer Nähe gesehen haben würde! ich kollerte in den Schlund hinunter wie ein Stück Fels! es hätte ja schließlich eine neue Sage zur Sage vom Maristien gegeben, und für mich dabei nicht mal eine Entschuldigung! denn meine Braut wartete nicht drüben auf mich, wie auf den unglücklichen Eystein!«

»Und welcher Schmerz, welches Herzeleid wäre das für die liebe Frau Hog gewesen ... sie hätte ja niemals Trost finden können ...«

»Die liebe Frau Hog?« wiederholte der Professor; »ei, ei! die hätte ganz sicher keine Träne vergossen!«

»O! Herr Sylvius!«

»Nein, keine Träne! sage ich Ihnen; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es keine Frau Hog gibt! und ich kann mir auch gar nicht einmal vorstellen, wie die hätte sein sollen, so eine Frau Hog: fett oder mager, klein oder groß ...«

»Sie wäre liebenswürdig, klug, gutmütig gewesen als Ihre Frau!« versetzte Hulda.

»I, was Sie sagen, Mamsellchen! Na, gut, gut! ich glaube Ihnen! ich glaube Ihnen!«

»Aber wenn solches Unglück Ihren Eltern, Ihren Freunden zu Ohren gekommen wäre, Herr Sylvius?« ... sagte Joel.

»Eltern habe ich eigentlich auch nicht, mein Lieber! und Freunde? hm, dem Anschein nach eine ganze Menge, die ungerechnet, die ich mir eben im Hause von Frau Hansen erworben habe! und Ihr habt ihnen die Mühe erspart, mich zu beweinen! – Sagt mir mal, Kinder, Ihr könnt mich doch auch ein paar Tage hier im Quartier behalten?«

»Solange es Ihnen bei uns gefällt, Herr Sylvius,« versetzte Hulda; »dieses Zimmer gehört Ihnen!«

»Die Absicht hatte ich ja übrigens, in Dal Station zu machen, wie wohl alle Touristen, um von hier aus Partieen ins ganze Telemarken zu machen ... Na, nun wird es mit Partieen nichts, oder sie kommen halt später an die Reihe ... ein und dasselbe im Grunde!«

»Vor Ablauf der Woche, Herr Sylvius,« meinte Joel, »sind Sie, denk ich, wieder auf den Beinen.«

»Und ich hoffe das!«

»Dann führe ich Sie gern überallhin in der Voigtei, wo Sie sich umsehen wollen!«

»Na, Joel, wir werden ja sehen, wie die Dinge kommen. Sobald ich nicht mehr Lehnstuhl-Invalide bin, wollen wir über die Sache reden. Vier Wochen Urlaub habe ich ja noch vor mir, und sollte ich die ganze Zeit noch im Gasthofe von Frau Hansen bleiben müssen, so dürfte ich auch nicht gerade zu beklagen sein. Das Westfjorddal zwischen den beiden Seen muß ich schon noch besuchen, auf den Gusta hinauf muß ich doch auch und zum Rjukanfos muß ich doch auch noch mal zurück, denn wenn ich auch beim Haar einen Satz hinunter gemacht hätte, so habe ich doch so gut wie nichts von ihm gesehen ... und ansehen muß ich ihn mir: davon gehe ich nicht ab!«

»Wir machen halt die Partie noch einmal, Herr Sylvius,« meinte Hulda lächelnd.

»Jawohl! und wir machen sie zusammen mit der wackern Frau Hansen, wenn sie sich uns anschließen will! – Ei, da fällt mir ein, Freunde! meine alte Haushälterin, die Käte, und mein altes Faktotum in Christiania, den Fink, muß ich doch mit einem kurzen Worte benachrichtigen! die möchten sich schließlich doch ängstigen, wenn ich gar nichts von mir hören ließe, und dann könnte ich was hören von Schelten! ... und nun muß ich Euch noch was sagen, Kinder! Die Erdbeeren, die frische Milch: das ist alles ganz gut und schön, schmeckt gut und erfrischt sehr! aber das reicht nicht, denn auf Hungerkost will ich nicht gesetzt werden: davon mag ich nichts hören! ... gibt's bald ein Mittagessen bei Euch?«

»O! dabei haben wir doch wenig zu bestimmen, Herr Sylvius!«

»Im Gegenteil! viel habt Ihr dabei zu bestimmen! sehr viel! meint Ihr etwa, ich wolle mich, solange ich in Dal bin, allein an meinem Tische und in meiner Stube mopsen? Nein! fällt mir nicht ein! mit Euch zusammen, mit Eurer Mutter will ich essen, wenn Frau Hansen nichts Ungehöriges darin sieht!«

Frau Hansen, als man ihr Kenntnis vom Wunsche des Herrn Professors gab, konnte natürlicherweise, wenngleich es ihr, alter Gewohnheit gemäß, lieber gewesen wäre, für sich allein zu bleiben, nichts anderes tun, als zu knixen: es wäre doch eine gar zu große Ehre für sie und die Ihrigen, einen Deputierten des Storthing an ihrem Tische zu haben!

»Also abgemacht!« erwiderte Sylvius Hog, »wir essen zusammen in der großen Stube!«

»Jawohl, Herr Sylvius,« antwortete Joel; »ich brauche dann bloß Ihren Lehnstuhl an den Tisch zu schieben, wenn das Essen fertig ist ... Sie natürlich mit!«

»Richtig, Herr Joel! richtig! warum nicht im Karriol? Nein! wenn mich jemand mit dem Arme stützt, komme ich schon bis zum Tische. Um ein Bein kürzer gemacht bin ich doch nicht worden! wenigstens nicht, daß ich wüßte!«

»Ganz wie es Ihr Wunsch ist, Herr Sylvius,« antwortete Hulda; »aber, bitte! nicht unnützerweise unbedacht! sonst ... schicke ich Joel auf der Stelle nach dem Doktor!«

»Drohungen?! Na, meinetwegen! ich will bedacht sein, will folgsam sein! und sobald ich nicht auf allzu knappe Kost gesetzt werde, soll mich niemand als widerhaarigen Gesellen finden! – Sagt mal, Kinder, habt Ihr denn gar keinen Hunger?«

»Eine Viertelstunde dauert's noch,« antwortete Hulda, »bis« wir aufdecken können: es gibt heut Johannisbeersuppe, Maanforelle, ein Rebhuhn, das Joel gestern aus dem Hardanger mitgebracht hat, und eine gute Flasche Roten französischen Ursprungs.«

»Danke, danke, mein tapferes Dirndl!«

Hulda ging hinaus, um die Herrichtung bei Essens zu überwachen und den Tisch in der großen Stube herzurichten, während Joel das Karriol wieder zum Werkführer Lengling schaffte.

Sylvius Hog blieb allein. Wo hätten seine Gedanken weilen sollen außer bei dieser ehrsamen Familie, deren Gast und Schuldner er zugleich war? was vermöchte er als Dank für die Dienste, für die Pflege und Fürsorge dieses Geschwisterpaares zu tun? aber es blieb ihm keine Zeit zu langen Betrachtungen, denn nach zehn Minuten saß er schon am Ehrenplatze der langen Tafel. Das Essen war ausgezeichnet; es rechtfertigte den Ruf des Gasthauses, und der Professor aß mit großem Appetit.

Nach dem Essen wurde geplaudert; wer am meisten sprach, war Sylvius Hog, und so verstrich der Abend. Da Frau Hansen sich in die Unterhaltung nicht gern mischte, zog er die Geschwister hinein. Die lebhafte Sympathie, die er bereits für Hulda und Joel empfand, konnte dadurch nur noch wachsen. Eine so rührende Geschwisterliebe konnte nicht verfehlen, dem Professor zu Herzen zu gehen.

Als die Nacht da war, begab er sich, von Joel und Hulda gestützt, in seine Stube, sagte allen freundlich gute Nacht und schnarchte, kaum mit dem einen Fuß in dem Bett mit den sinnigen Sprüchen, – schnarchte bis in den Morgen hinein. Aber er war doch beizeiten auf, denn er wollte überlegen, was er tun könne zum Danke, ehe noch an seine Tür geklopft würde.

»Nein,« sagte er bei sich, »ich weiß wirklich nicht, wie ich mich da herauswinden soll! man kann sich doch nicht retten, pflegen, heilen lassen und alles bloß für ein schön Dank! Ich bin Huldas Schuldner und Joels Schuldner: da gibt's doch keinen Streit! Aber, bitte! das sind keine Dienste, die sich mit Geld abfinden lassen ... Pfui, pfui! ... Anderseits hat's doch ganz den Anschein, als ob bei den wackeren Leuten das Glück zu Hause sei, als ob ich zu ihrem Glück nichts hinzuzutun vermöchte! Na, wir müssen eben mal den Fall durchsprechen, und bei der Unterhaltung findet sich vielleicht ...«

Während der drei bis vier Tage, die der Professor noch seinem kranken Beine widmen mußte, plauderten sie alle drei fleißig; leider aber herrschte auf seiten der Geschwister eine gewisse Zurückhaltung: weder der Bruder noch die Schwester wollten sich über die Mutter aussprechen, deren kaltes, bedrücktes Wesen dem Professor nicht entging. Anderseits wehrte ihnen wieder die Rücksicht, daß es nicht am Platze sei, den fremden Herrn mit Dingen zu behelligen, die ihn nicht interessieren könnten, über Ole Kamp und die Sorge, die sie um ihn erfüllte, ihm ihr Herz auszuschütten. Liefen sie nicht Gefahr, ihrem Gast dadurch die frohe Laune zu verderben?

»Vielleicht tun wir aber doch unrecht,« meinte Joel zu seiner Schwester, »daß wir uns Herrn Sylvius nicht anvertrauen! Er ist doch ein Mann, der guten Rat weiß, und durch seine Beziehungen könnte er doch am Ende in Erfahrung bringen, ob man sich im Seeamte damit befaßt, was aus dem »Viken« geworden ist.«

»Du hast recht, Joel,« antwortete Hulda; »ich denke auch, wir täten gut, ihm alles zu sagen. Aber warten wir, bis er ganz gesund ist.«

»Ganz recht,« versetzte Joel; »lange kann das ja nicht mehr dauern!«

Als die Woche zu Ende ging, konnte Sylvius Hog ohne Hilfe sein Zimmer verlassen, wenn er auch noch schwach hinkte. Er setzte sich nun auf eine Bank draußen vorm Hause, in den Schatten der Bäume. Ihm gegenüber erhob sich der in den Sonnenstrahlen glitzernde Gipfel des Gusta, während zu seinen Füßen der Maan, Baumstämme zu Tale führend, polterte.

Auf dem Wege von Dal nach Rjukanfos sah man auch Leute, zumeist Touristen, von denen kaum einer an Frau Hansens Gasthaus vorbeiging, ohne eine Stunde zu rasten, ein Frühstück oder ein Mittagbrot einzunehmen. Auch Studenten aus Christiania mit dem Rucksack auf dem Buckel und der kleinen norwegischen Kokarde am Mützchen, zogen vorbei.

Die kannten natürlich den Professor. Da gab es nun einen »Guten Tag« auf den andern, einen herzlichen Glückwunsch auf den anderen, sämtlich Beweise dafür, wie beliebt Sylvius Hog bei dieser ganzen Jugend war.

»Ei! Sie hier, Herr Sylvius?«

»Jawohl, ich hier, Freunde!«

»Und dabei meint man, Sie weilten tief unten im Hardanger!«

»Irrtum! Unten im Rjukanfos müßte ich liegen!«

»Na, wir wollen es überall ausposaunen, daß Sie in Dal sitzen!«

»Jawohl in Dal, mit einem Bein – in der Binde!«

»Zum Glück haben Sie gute Unterkunft und Pflege im Gasthause von Frau Hansen!«

»Such man sich's besser!«

»Wird's kaum geben!«

»Und bessere Menschen?«

»Gibt's ganz gewiß nicht!« versetzten lustig die Touristen und tranken alle auf Huldas und Joels Gesundheit, die beide im ganzen Telemarken gut bekannt waren.

Dann erzählte der Professor, was ihm passiert war, bekannte seinen Unbedacht, schilderte, wie er gerettet worden, und sprach von der großen Dankbarkeit, die er seinen Rettern schuldig sei!

»Und wenn ich hier bleibe, bis meine Schuld abgetilgt ist,« schloß er lächelnd, »dann bleibt mein Kolleg über Staatsgesetzgebung noch lange geschlossen, liebe Freunde, und Sie können Ferien halten bis Anno Null.«

»Famos, Herr Sylvius!« wiederholte die ganze fröhliche Schar im Chore; »wissen schon! wissen schon! die niedliche Hulda hält Sie in Dal!«

»Ein liebenswürdiges Kind, Freunde! und ein liebreizendes Kind! und ich bin, beim heiligen Olaf! erst sechzig Jahre.«

»Prosit, fiducit, Herr Sylvius!«

»Prosit, Ihr jungen Freunde! prosit! Streift herum im Lande! bildet Euch und amüsiert Euch! In Eurem Alter ist immer schön Wetter! Aber die Maristien laßt beiseite! wer weiß, ob Joel und Hulda gleich wieder bei der Hand wären, die Unvorsichtigen zu retten, die sich dorthin wagen möchten!«

Darauf marschierte das lustige Völkchen weiter, von dessen munterem »Godaften!« das Tal noch lange laut widerhallte.

Ein paarmal mußte sich aber Joel doch vom Hause trennen, um Touristen beim Aufstieg auf den Gusta als Führer zu dienen. Sylvius Hog wäre gar zu gern mitgegangen. Er behauptete, ihm fehle nichts mehr! die Schramme am Bein fing freilich auch an, zu vernarben. Aber Hulda litt es unter keinen Umständen, daß er sich solcher für ihn noch viel zu großen Strapaze aussetzte; und wenn Hulda befahl, so mußte er schon parieren!

Ein kurioser Berg aber, dieser Gusta, dessen von zahlreichen Schneeschluchten zerrissener Mittelkegel aus einem Tannenwalde aufragt, wie aus einem ewiggrünen Kragen, der sich an seinem Fuße rings herum zieht. Und welch eine Aussicht auf seinem Gipfel! Im Osten die ganze Voigtei Numedal; im Westen das ganze Hardanger mit seinen majestätischen Gletschern; dann am Fuße des Berges das gewundene Westfjorddal zwischen dem Mjössee und dem Tinnsee, Dal und seine Miniaturhäuschen, die richtige Spielzeugschachtel! und der ganze Lauf des Maan, ein glitzerndes Band, das aus der sattgrünen Ebene hervor bald schimmert, bald leuchtet.

Zu diesem Aufstieg brach Joel um 5 Uhr morgens auf und kehrte in der 6. Abendstunde zurück. Sylvius ging ihm mit Hulda ein Stück entgegen, bis zu der Fährmannshütte. Sobald das Fahrzeug die Touristen mit ihrem Führer gelandet hatte, wurden herzliche Händedrücke gewechselt, und die drei Leutchen verbrachten einen gemütlichen Abend mehr. Der Professor lahmte noch immer, führte aber keinerlei Klage. Es sah wirklich ganz so aus, als ob er es mit der Genesung gar nicht so eilig habe, als ob er noch gar keine rechte Lust habe, das gastliche Haus der Frau Hansen zu meiden.

Zudem verflog die Zeit ziemlich schnell. Sylvius Hog hatte nach Christiania geschrieben, daß er noch einige Zeit lang in Dal zu bleiben gedenke. Die Kunde von seinem Abenteuer am Rjukanfos hatte sich im ganzen Lande verbreitet. Die Zeitungen hatten darüber berichtet – ein paar natürlich mit mancherlei dramatischem Aufputz. Da regnete es nun Briefe nach dem Gasthause, die Hefte und Journale und Zeitungen gar nicht gerechnet. Das mußte alles gelesen werden, mußte alles beantwortet werden. Sylvius Hog las alles und beantwortete alles, und die Namen Hulda Hansen und Joel Hansen machten mit diesem Briefwechsel über den Vorfall, in welchem sie ja eine Hauptrolle gespielt hatten, den Weg durch das ganze Norwegerland.

Ins Unendliche ließ sich nun aber dieser Aufenthalt bei Frau Hansen nicht verlängern, und Sylvius Hog war sich darüber, wie er sich seiner Schuld entledigen könne, noch immer nicht klarer als bei seinem Eintritt ins Haus. Indessen dämmerte ihm doch langsam eine Ahnung auf, daß die Familie Hansen so glücklich, wie er geglaubt hatte, schließlich doch auch nicht sei. Die Ungeduld, mit der Bruder und Schwester Tag für Tag auf die Post von Christiania oder Bergen warteten, ihre Enttäuschung, ja ihr Kummer, wenn sie sahen, daß immer und immer kein Brief für sie mitkam, das alles redete eine zu deutliche Sprache.

Schon war der 9. Juni da! und noch immer seine Kunde vom »Viken«! Eine Fahrtverspätung also von mehr als 14 Tagen über den für die Rückkehr angesetzten Zeitpunkt! Kein Brief von Ole! nichts, nichts was Huldas Pein und Qual hätte lindern können! Das arme Mädchen verfiel in Verzweiflung, und eines Morgens fand sie der Professor, als er zu ihr trat, mit rotgeweinten Augen.

»Was gibt's denn?« fragte er sich da; »ein Unglück, das man befürchtet und das man mir verborgen hält! etwa ein Familiengeheimnis, in das sich ein Fremder nicht mischen kann? Wer bin ich ihnen denn ein Fremder? Nein! das sollten sie doch bedenken! Na, vielleicht begreift man, wenn ich meine Abreise melde, daß ein wahrer Freund aus dem Hause scheidet!«

Noch am nämlichen Tage sagte er:

»Freunde! der Augenblick kommt heran, wo ich zu meinem großen Leidwesen gezwungen bin, Euch zu verlassen.«

»Schon, Herr Sylvius, schon!« rief Joel mit einer Lebhaftigkeit, die er nicht zu bezwingen vermochte.

»Ei! die Zeit verstreicht schnell Bei Euch! ich bin ja schon 17 Tage in Dal!«

»Was! ... 17 Tage!« sagte Hulda.

»Jawohl, herziges Kind, und mein Urlaub geht zu Ende! Bleibt mir doch kaum noch eine Woche, um die geplante Reise durch Drammen und Kongsberg zu machen! und doch verdankt das Storthing allein Euch, daß es keine Ergänzungswahl vorzunehmen braucht, und im Storthing dürfte man sich ebenso unklar darüber sein, wie ich es mir selber bin, auf welche Weise man sich bei Euch abfinden soll ...«

»Aber, Herr Sylvius! ...« versetzte Hulda, die fast so tat, als ob sie ihm mit ihrer kleinen Hand den Mund zuhalten wollte.

»Abgemacht, Hulda!« sagte er; »es ist mir verboten, darüber zu sprechen – wenigstens hier ...«

»Hier sowohl wie anderswo,« sagte das junge Mädchen.

»Meinethalben! ich bin da nicht Herr, sondern muß parieren! Aber Ihr kommt mich doch mal in Christiania besuchen?«

»Wir Sie besuchen, Herr Sylvius?«

»Jawohl! mich besuchen ... sollt auch ein paar Tage bei mir bleiben ... mit Frau Hansen, versteht sich!«

»Und wer soll das Gasthaus versorgen, wenn wir nicht da sind?« erwiderte Joel.

»Aber ich denke, wenn die Touristenzeit vorbei ist, dann seid Ihr im Gasthaus nicht nötig! Darum rechne ich darauf, daß Ihr gegen Herbstausgang ...«

»Herr Sylvius,« meinte Hulda, »das wird wohl schwer angehen ...«

»Im Gegenteil, kinderleicht wird's gehen, Freunde! Sagt mir bloß nicht Nein! Solche Antwort würde ich nicht gelten lassen ... nun und nimmer! und wenn ich Euch dort unten erst habe, im schönsten Zimmer meines Hauses, zwischen meiner alten Käte und meinem alten Fink, dann sollt Ihr gehalten werden wie meine Kinder und dann sollt Ihr mir schon sagen müssen, was ich für Euch tun kann!«

»Was Sie für uns tun können, Herr Sylvius?« antwortete Joel mit einem Blick auf die Schwester.

»Bruder!« sagte Hulda, die Joels Gedanken begriffen hatte.

»Na, so redet doch, Joel, redet doch!«

»Nun, Herr Sylvius! eine große, große Ehre könnten Sie uns antun!«

»Und die wäre?«

»Zu meiner Schwester Hochzeit kommen ... wenn Ihnen das nicht zuviel Störung machen sollte!«

»Zu Huldas Hochzeit!« rief Sylvius Hog; »wie! meine kleine Hulda macht Hochzeit? ... und davon hat man mir noch kein Sterbenswort gesagt ...«

»Ach, Herr Sylvius!« versetzte das junge Mädchen, während sich seine Augen mit Tränen füllten.

»Und wann soll denn Hochzeit sein?«

»Wann es Gott gefallen wird, uns Ole wieder zurückzuschicken ... Ole, den Bräutigam!«


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