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Achtes Kapitel.

Am andern Tage in aller Frühe brachen die Geschwister vom Gasthofe auf. Etwa fünfzehn Kilometer von Dal bis zu den berühmten Wasserfällen und ebenso viel wieder zurück wäre für Joel ein einfacher Spaziergang gewesen; aber er mußte schon Rücksicht auf Huldas Kräfte nehmen! Darum hatte sich Joel vom Werkmeister Lengling das Karriol geliehen, das aber, wie alle Karriole, bloß einen Sitz hatte. Indessen war der wackere Lengling so dick, daß er sich einen Sitzkasten extra nach seinem Maß hatte bauen müssen. Der reichte nun bequem für Hulda und Joel, so daß sie nebeneinander sitzen konnten. War also der angekündigte Reisende am Rjukanfos, dann konnte er Joels Platz einnehmen, der dann entweder marschieren oder als »Skydskerl« hinter dem Kasten auf die Planke steigen würde.

Eine herrliche Straße von Dal bis zu den Fällen, wenn man auch tüchtig zusammengeschüttelt wird! Ohne Streit ist's eigentlich mehr ein Pfad als eine Straße. Blöcke, kaum behauen, sind über die Bäche und Bächlein, die ihren Lauf in den Maan nehmen, geworfen und kreuzen die Straße oder den Pfad kaum hundert Schritte von einander wie ebensoviel kleine Brückchen. Aber das norwegische Pferd ist daran gewöhnt, sie sichern Fußes zu passieren, und wenn das Karriol keine Federn hat, so schwächt doch seine lange, ziemlich elastische Gabeldeichsel die Stöße über den höckrigen Boden einigermaßen ab.

Das Wetter war schön. Die Geschwister fuhren im langsamen Trabe längs der im schönsten Grün prangenden Wiesen, an deren linkem Saume der Maan seine hellen Fluten hin führt. Taufende von Birken warfen ihren Schatten von hüben und drüben auf den von der Sonne beschienenen Weg. In Millionen von Tropfen hing der Nebeldunst von der Nacht an der Spitze der langen Gräser. Rechts von dem Gießbache, in 2000 Meter Höhe, warfen die Schneefelder des Gusta ein intensives Lichtstrahlenmeer in den Weltenraum.

Eine Stunde lang fuhr das Karriol nun ziemlich flott. Die Steigung war noch nicht erheblich. Bald aber verengerte sich das Tal zusehends. Hüben und drüben wandelten sich die Bäche zu tosenden Gewässern. Trotz der vielen Windungen, die der Weg machte, machten sich doch Steigungen und Senkungen empfindlich geltend. Von hier ab wurde die Passage zuweilen höchst schwierig, aber Joel wußte sich mit Geschicklichkeit aus den schlimmsten Lagen zu helfen. An seiner Seite kannte Hulda keine Furcht. Wurde das Karriol gar zu derb geschüttelt, so hing sie sich an seinen Arm. Die frische Morgenluft gab ihrem hübschen, seit einiger Zeit recht blassen Gesichtchen seine frische Farbe wieder.

Indessen galt es noch immer, in größere Hohe hinauf zu gelangen. Das Tal ließ sich bloß längs des eng zusammengedrängten Maan-Bettes, zwischen zwei senkrecht aufsteigenden Bergwänden passieren. Auf den nahen Fjelds tauchten etwa zwei Dutzend einzeln liegender Häuschen auf: Trümmer von aufgelassenen Soeters oder Gaards, Schäferhütten, die sich zwischen den Birken und Buchen verloren. Bald war es nicht mehr möglich, den Gießbach zu sehen; aber man hörte ihn in dem hallenden Felsenbett brausen und tosen. Die Landschaft hatte ein majestätisches und zugleich schauriges Bild angenommen, dessen Rahmen sich bis zum Gebirgskamm hinauf weitete.

Nach zweistündiger Fahrt kam am Rande eines Wasserfalls von 1500 Fuß Höhe, seine Kraft für den Betrieb ihres doppelten Räderwerks ausnutzend, eine Sägemühle in Sicht. Fälle von solcher Höhe gehören im Wjestforddal durchaus nicht zu den Seltenheiten; aber die Wassermenge ist bei ihnen nicht sehr bedeutend. In dieser Hinsicht macht jedoch der Rjukanfos-Fall eine Ausnahme.

Bei der Sägemühle angekommen, stiegen die Geschwister aus.

»Eine halbe Stunde Marsch wird dich doch nicht zuviel anstrengen, Schwesterchen?« fragte Joel.

»Durchaus nicht, Bruder! ich bin nicht müde; ein kleiner Marsch wird mir im Gegenteil ganz gut tun.«

»Ein kleiner, aber ein tüchtiger Marsch, und immer steil bergauf, Schwester!«

»Ich werde mich auf deinen Arm stützen, Joel!«

Dort hatten sie freilich aus dem Karriol steigen müssen! über die schroffen Pfade, durch die schmalen Durchschlüpfe, über die mit schwanken Felsen übersäeten Hänge, deren phantastische, bald von Bäumen überschattete, bald kahle Konturen den großen Wasserfall ankündigen, hätten Gaul und Karriol nicht hinüber gekonnt.

Schon stieg aber mitten in bläulicher Ferne etwas wie dichter Dunst oder Dampf in die Höhe. Das waren die zu Pulverstaub geschlagenen Wässer des Rjukan, der sich m Schlangenzügen bis zu ziemlich beträchtlicher Höhe emporwirbelt. Die Geschwister benutzten einen den Führern gutbekannten Steig, der bis zur Talschlucht hinunter führt; und kurz nachher saßen sie nebeneinander auf einer mit gelblichen Moospflänzchen tapezierten Felsplatte, dem Falle fast unmittelbar gegenüber, zu dem man in solche Nähe von keiner andern Seite her gelangen kann. Hier ein gesprochenes Wort zu verstehen, würde ihnen gar schwer geworden sein. Es verlangte sie aber nicht nach mündlichem Austausch ihrer Gedanken; was sie sich zu sagen hatten, dafür war das Herz ein so guter Dolmetsch, daß es die Lippen nicht brauchte.

Die Wassermasse des Rjukanfalles ist ungeheuer, seine Höhe beträchtlich, sein Getöse majestätisch. In Höhe von 900 Fuß versinkt dem Bette des Maan, in halber Lauflänge ungefähr, zwischen dem Mjössee ober- und dem Tinnsee unterhalb, jäh der Boden »unter den Füßen«. In 900 Fuß Höhe! die Höhe des Niagara also 6 mal gewonnen! dessen Breite allerdings, vom amerikanischen bis zum kanadischen Ufer 3 englische Meilen beträgt. Wen eine Schilderung dieses Riesenwassersturzes der Neuen Welt aus Jules Verne'scher Feder interessiert, der lese die Erzählung »Eine schwimmende Stadt« (Nummer II des Bandes »Blockadebrecher) dieser Sammlung. A. d. Ü.

Hier bietet der Rjukanfos Bilder von so seltsam großartiger Natur, daß sich die Feder als ohnmächtig erweist, sie zu schildern. Auch der Pinsel des Malers würde sie nur schwach wiederzugeben imstande sein. Es gibt nun einmal gewisse Naturwunder, zu erhaben, daß die menschliche Sprache für sie Worte fände – Naturwunder, bereit Schönheit zu fassen und zu begreifen bloß das menschliche Auge ausreicht: und solcher Naturwunder eins der berühmtesten auf dem europäischen Festlande ist dieser Wasserfall!

Und gerade damit befaßte sich im selben Augenblick ein Tourist, der auf der linksseitigen Bergwand des Maan saß, an einer Stelle, von wo aus er den Rjukanfos aus größter Nähe und von höchster Höhe aus betrachten konnte.

Weder Joel noch dessen Schwester hatten ihn bislang bemerkt, obwohl er ganz deutlich zu sehen war. Nicht die Entfernung, sondern eine, in Berglandschaften sehr oft wahrzunehmende optische Täuschung bewirkte, daß er sehr klein und demzufolge weiter entfernt zu sein schien, als er es wirklich war.

Da gerade hatte sich der Tourist von seinem Felssitze erhoben und wagte sich höchst unvorsichtigerweise aus den Felssattel vor, der sich einer Domkuppel ähnlich nach dem Bette des Maan zu vorschiebt. Was der neugierige Tourist zu sehen trachtete, waren augenscheinlich die beiden Höhlen des Rjukanfos, deren eine, die linke, gefüllt ist mit siedendem, brodelndem Wasser, während die andere, die rechte, voll dichter Dunstmassen sitzt. Vielleicht auch wollte er gar ermitteln, ob nicht in halber Fallhöhe eine dritte, untere, vorhanden sei. Zweifelsohne würde sich dadurch erklären, wie es kommt, daß der Rjukan, nachdem er scheinbar im Schlünde versunken, wieder emporschießt und seinen Ueberschuß an tosendem Gewässer in gewissen Pausen zurückschleudert. Es machte gleichsam den Eindruck, als würden diese Gewässer durch einen Sprengschuß oder Sprengschlag, der durch die Wasserdünste oder Wassernebel die umgebenden Fjelds verhüllt, in die Höhe gejagt.

Der Tourist bewegte sich indessen auf diesem steinigen, glibbrigen Eselsrücken ohne eine Wurzel, ohne einen Strauch, ohne einen Grashalm – der den Namen »Gleitmarie« oder »Maristien« trägt, weiter und weiter vorwärts.

Er kannte wohl also, der Unvorsichtige! die Sage nicht, die diese Felsgleite berühmt gemacht hat? Eystein gedachte eines Tages die schöne Maria vom Westfjorddal auf diesem gefahrvollen Pfade wieder zu treffen. Von der anderen Seite der Felsgleite herüber reichte ihm seine Braut die Arme. Da verliert sein Fuß jäh den Boden, er fällt, er rutscht, er kann sich an diesen Felsen, die glatt sind wie Eis, nicht halten, verschwindet im Schlunde, und die Stromschnellen des Maan haben seinen Leichnam nimmer herausgegeben!

Sollte, was dem unglücklichen Eystein geschehen, etwa auch diesem Verwegenen geschehen, der sich über die Schroffen des Rjukanfos hinaus wagen zu wollen schien?

Das stand zu befürchten! Und wirklich wurde er der Gefahr nun selber inne! Aber zu spät! Plötzlich ging sein Fuß des Stützpunkts verlustig ... der Mann stieß einen Schrei aus, kollerte etwa zwanzig Schritte weit in die Tiefe und fand gerade noch Zeit, sich an einen Felsvorsprung, fast am Rande des Abgrunds, zu klammern.

Noch hatte ihn das Geschwisterpaar nicht gesehen; aber gehört hatten sie den Schrei, den er ausstieß.

»Was war denn das?« rief Joel, aufstehend.

»Ein Schrei!« antwortete Hulda.

»Jawohl ... ein Schrei in Todesnot!«

»Woher?«

»Hören wir!«

Beide blickten nach rechts, nach links, vom Falle; sie konnten nichts sehen ... und doch hatten sie die beiden Worte: »Zu Hilfe!« zweimal hintereinander, in jenen regelmäßigen Ruhepausen, die fast eine Minute zwischen jedem Sprunge dauern, den der Rjukan macht, ganz deutlich vernommen.

Wieder ertönte der Ruf.

»Joel,« sagte Hulda, »irgend ein Mensch ist in Todesnot und schreit um Hilfe. Wir müssen hin zu ihm.«

»Jawohl, Schwester, und er kann nicht weit von uns sein! aber auf welcher Seite? ... wo? ... ich sehe nichts!«

Hulda war die Schroffe hinter dem Felsen, auf dem sie gesessen hatten, wieder hinaufgeklettert, an den dürftigen Büscheln Halt suchend, die dieses linksseitige Ufer des Maan bedecken.

»Joel!« schrie sie endlich.

»Du siehst ihn?«

»Da! ... da!« und mit der Hand wies das Mädchen auf den Unvorsichtigen, der fast unmittelbar über dem gräßlichen Schlunde hing.

Verlor sein Fuß den losen Halt an dem schmalen Felsvorsprung, gegen den er sich stemmte, glitt er ein kurzes Stückchen noch weiter zur Tiefe hin, ließ er sich vom Schwindel packen, so war er verloren ... unrettbar!

»Wir müssen ihn retten!« sagte Hulda.

»Ja! das müssen wir!« versetzte Joel; »mit kaltem Blute werden wir bis zu ihm dringen!«

Joel stieß nun einen langen Schrei aus. Der Reisende hatte ihn gehört, denn er hatte den Kopf gedreht nach der Seite, von welcher der Schrei zu ihm drang. Nun suchte Joel ein paar Augenblicke lang zu ermitteln, was sich am schnellsten und sichersten tun ließe, den Verunglückten aus dieser schlimmen Situation zu ziehen.

»Hulda,« fragte er, »Furcht hast du nicht?«

»Nein, Bruder!«

»Du kennst doch die Maristien genau?«

»Ja – ich habe sie schon ein paarmal passiert!«

»Nun, dann geh oben auf dem Sattel entlang, so nahe wie möglich an den Reisenden heran! Dann rutsche soweit vor, daß du ihm die Hand reichen kannst, und halte ihn! Aber er soll ja noch nicht versuchen, sich aufzurichten. Der Schwindel würde ihn packen, er würde dich mit sich reißen, und ihr würdet beide verloren sein!«

»Und du, Joel?«

»Während du von oben herunter kommen wirst, will ich von unten herauf, am Felsgrate entlang, neben dem Bette des Maan, zu ihm klimmen. Wenn du zur Stelle kommst, werde ich schon zur Stelle sein, und solltet ihr abrutschen, so geht's vielleicht an, daß ich Euch beide halte.«

Dann rief er, eine neue Ruhepause im Tosen des Rjukan wahrnehmend, mit schallender Stimme:

»Rührt Euch nicht, Herr! ... wartet! ... wir versuchen, zu Euch zu dringen!«

Hulda war schon hinter den hohen Büscheln der Schroffe verschwunden, um von der Seite her auf den andern Sattel der Maristien zu gelangen.

Bald sah Joel das tapfere Mädchen um die Ecke der letzten Bäume wieder hervortauchen.

Er selber begann unter ständiger Lebensgefahr langsam an dem steilen Teile des runden Felsrückens, der den Rand des Gefängnisses bildet, in welchem der Rjukan hier steckt, hinunter zu klettern! Welcher erstaunlichen Kaltblütigkeit, welcher unbeirrten Sicherheit von Fuß und Hand bedurfte es, mit sich an diesem Schlunde entlang zu arbeiten, bessert Wände von dem Staubregen des Wasserfalls in ständiger Nässe gehalten werden.

Ihm parallel, bloß an hundert Fuß höher, drang Hulda in schräger Linie vor, um auf diese Weise leichter zu der Stelle hinzugelangen, wo der Tourist sich hielt, ohne ein Glied zu rühren. In der Stellung, die derselbe Hatte, ließ sich sein Gesicht, das nach der Seite des Falls hin gedreht war, nicht sehen.

Joel, der jetzt unterhalb von ihm hing, hielt im Klettern inne. Als er in einer Felsspalte festen Halt für den Fuß gefunden hatte, rief er:

»He! ... Herr!«

Der Tourist wandte den Kopf.

»He! Herr!« rief Joel wieder. »Keine Bewegung! keine einzige! und festhalten!«

»Seid ruhig; ich halte fest, Freund!« wurde Joel in einen Tone erwidert, der ihm Zuversicht einflößte; »hielte ich nicht fest, dann läge ich schon seit einer Viertelstunde unten im Rjukanfos!«

»Meine Schwester wird bis zu Euch hinunterklettern,« nahm Joel wieder das Wort, »und Euch die Hand reichen. Bevor aber ich oben bin, versucht nicht aufzusteigen ... rührt kein Glied!«

»Ich bleibe starr und fest wie ein Fels!« erwiderte der Tourist.

Schon begann Hulda den Abstieg, ständig nach Punkten des Sattels tastend, die weniger glibbrig waren, mit dem Fuße Halt und Stütze in Felsspalten suchend, freien Kopfes und sichern Blickes, Eigenschaften, die bei diesen an die Schroffen und Hänge des Telemarken gewöhnten Mädchen gang und gäbe sind.

Und gleichwie Joel, rief nun auch sie:

»Festhalten, Herr!«

»Ich halt schon fest ... und so lange, glauben Sie mir, wie ich irgend kann!«

An Ratschlägen und Mahnungen fehlte es, wie man sieht, nicht; sie kamen von unten sowohl als von oben!

»Vor allem keine Furcht!« setzte Hulda hinzu.

»Ich kenne Furcht nicht!«

»Wir werden Euch retten!«

»Darauf rechne ich stark, denn, beim heiligen Olaf! ich allein könnte es nicht!«

Ganz entschieden hatte dieser Tourist von seiner Geistesgegenwart nichts eingebüßt! Aber nach seinem Sturze hatten ihm jedenfalls Arme und Beine den Dienst verweigert, und das einzige, worauf er sich jetzt beschränken mußte, war, sich an dem winzigen Vorsprunge zu halten, der ihn noch von dem Schlunde schied.

Hulda stieg indes noch immer weiter hinunter. Nur wenige Augenblicke noch, dann hatte sie den Touristen erreicht. Nun suchte sie festen Halt für den Fuß an einer rauhen Stelle des Felsens ... und nun reichte sie ihm die Hand. Der Tourist versuchte sich ein wenig aufzurichten.

»Nicht rühren, Herr! ... nicht rühren!« sagte Hulda ... »Sie würden mich mit sich reißen, und ich würde nicht Kraft genug besitzen, Sie festzuhalten. Wir müssen auf meinen Bruder warten! Wenn er sich zwischen uns und den Rjukanfos heraufgearbeitet hat, dann werden Sie versuchen können, sich emporzurichten, um dann ...«

»... mich aufzurichten, mein tapferes Kind? Das ist leichter gesagt als getan, ja ich fürchte stark, es wird nicht so leicht gehen!«

»Sollten Sie verwundet sein, Herr?«

»Hm! gebrochen ist nichts, verrenkt hoffentlich auch nichts, aber am Beine habe ich wenigstens eine stattliche Schmarre.«

Joel befand sich nun etwa zwanzig Fuß von der Stelle, wo Hulda und der Tourist hingen – unterhalb von ihnen. Die Krümmung des Felssattels hatte ihn verhindert, direkt zu ihnen heranzuklettern. Er mußte jetzt also um diese runde Fläche herum gelangen. Dies war das schwierigste und auch gefahrvollste Stück Arbeit. Es ging auf Tod und Leben dabei.

»Keine Bewegung, Hulda!« schrie er zum letzten Male. »Kämet Ihr beide ins Rutschen, dann wären wir alle verloren, denn jetzt wäre ich nicht imstande, Euch zu halten!«

»Sei ohne Furcht, Joel!« rief Hulda zurück ... »denke bloß an dich! daß Gott dir helfe!«

Joel brachte sich nun langsam in Bauchlage ... dann fing er richtig zu kriechen oder zu rutschen an. Mehr denn einmal hatte er die Empfindung, als ginge ihm jeder Stützpunkt verloren. Schließlich gelang es ihm aber, mit Aufgebot eines höchsten Maßes von Körpergewandtheit, sich bis zur Seite des Touristen hinauf zu schieben.

Es war ein schon bejahrter Mann, dieser Tourist, aber von kraftvollem Aussehen, mit einem schönen, freundlichen, zum Herzen sprechenden Gesicht. Joel hätte wirklich mehr erwartet, einen verwegenen Jüngling in dem Touristen, der sich auf die Maristien hinaus gewagt hatte, zu finden.

»Sehr unbedacht, Herr, Ihr Wagnis!« sagte er, sich in halb liegende Stellung bringend, um wieder zu Atem zu kommen.

»Wie? unbedacht?« versetzte der Tourist; »sagt doch lieber, verrückt, total verrückt!«

»Sie haben Ihr Leben in Gefahr gesetzt ...«

»... und bin schuld, daß Ihr das Eurige in Gefahr gesetzt habt!«

»O! ich komme da nicht in Betracht! ... das gehört doch halb und halb zu meinem Geschäft!« versetzte Joel. Dann richtete er sich auf und setzte hinzu: »Nun gilt es' noch, die Sattelhöhe wiederzugewinnen – aber das schwierigste Stück Arbeit haben wir hinter uns!«

»O! das schwierigste!«

»Jawohl, Herr! das schwierigste war, bis zu Ihnen zu bringen. Jetzt brauchen wir bloß eine Schroffe von weit geringerer Steilheit wieder hinauf zu klimmen!«

»... wobei Ihr aber gut tun werdet, nicht allzu stark auf mich zu rechnen, Kamerad! das eine Bein wird mir wohl nicht viel dabei helfen, weder momentan noch vielleicht in den nächsten Tagen!«

»Versuchen Sie, ob es geht, sich aufzurichten!«

»Gern ... wenn Ihr helfen wollt!«

»Fassen Sie meine Schwester am Arm! ich will Sie stützen und mit den Hüften schieben.«

»Fest und sicher?«

»Fest und sicher!«

»Wohlan, Freunde! ich verlasse mich auf Euch! da es Euch in den Sinn gekommen ist, mich aus der Affaire zu ziehen, müßt Ihr nun zusehen, wie Ihr fertig werdet!«

Man schritt aus Werk, wie Joel es angab – behutsam, vorsichtig. Wenn es auch nicht ohne alle Gefahr war, wieder den Sattel hinauf zu klimmen, so entledigten sich die drei Leute der Aufgabe doch besser und schneller, als sie selber gehofft hatten. Uebrigens hatte sich der Tourist tatsächlich weder ein Glied gebrochen noch ein Glied verrenkt, sondern war mit einer allerdings sehr starken Hautabschürfung davongekommen. Er konnte deshalb, freilich nicht ohne tüchtige Schmerzen, von beiden Beinen bessern Gebrauch machen, als er gerechnet hatte. Keine zehn Minuten dauerte es noch, so war er jenseits der Maristien in Sicherheit.

Dort hätte er sich unter den vordersten Tannen, die das obere Fjeld des Rjukanfos einfassen, ausruhen können. Aber Joel bestand aus einer weiteren Anstrengung: der Tourist sollte versuchen, bis zu einer unter den Bäumen versteckten Hütte, ein kurzes Stück hinter dem Felsen, zu gelangen, auf dem er mit seiner Schwester Halt gemacht hatte, als sie zu dem Wasserfalle gelangten. Der Tourist versuchte, die ihm zugemutete Anstrengung zu leisten, es gelang ihm und, auf der einen Seite von Hulda, auf der andern von Joel gestützt, schleppte er sich, ohne allzuviel Schmerzen, bis zur Tür der Hütte.

»Hier herein, bitte, Herr!« sagte nun das junge Mädchen; »hier werden Sie sich einen Augenblick ausruhen müssen.«

»Wird der Augenblick eine reichliche Viertelstunde dauern können?«

»O ja, Herr, und dann werden Sie sich schon dazu verstehen müssen, mit uns bis Dal hinüber zu gehen.«

»Bis Dal? ... Ei! nach Dal wollte ich ja gerade!«

»Sie sind doch nicht etwa der Tourist von Norden her,« fragte Joel, »der mir in Hardanger gemeldet wurde?«

»Freilich! der bin ich!«

»Meiner Treu! auf dem besten Wege nach Dal waren Sie gerade nicht!«

»Daran zweifle ich selber ein wenig!«

»Wenn ich hätte voraussehen können, was passiert ist, so wäre ich Ihnen bis auf die andere Seite des Rjukanfos entgegengegangen und hätte dort auf Sie gewartet.«

»Das wäre ein guter Gedanke gewesen, mein wackerer junger Mann; Sie hätten mich von einer in meinem Alter unverzeihlichen Unbedachtsamkeit ferngehalten!«

»Von einer in jedem Alter unverzeihlichen, Herr!«

Sie traten nun zusammen in die Hütte, in der eine Bauernfamilie saß, Vater, Mutter mit zwei Töchtern. Die Leute standen zum Willkomm auf und richteten alles her, was die Umstände erheischten und die vorhandenen Mittel ermöglichten.

Joel konnte nun feststellen, daß der Tourist bloß mit einer allerdings ziemlich ernsten Hautschürfung am Beine, ziemlich tief unterhalb des Knies, davongekommen war. Reichlich acht Tage Ruhe würde die Wunde sicherlich notwendig machen; aber das Bein war weder gebrochen, noch verrenkt, nicht einmal der Knochen war verletzt. Das war von wesentlicher Bedeutung.

Treffliche Milch, Erdbeeren im Ueberfluß und ein bißchen Schwarzbrot boten die Bauern den Gästen an, die mit gutem Appetit zusprachen. Joel vor allem ließ sich nicht nötigen, sondern legte einen gewaltigen Appetit an den Tag, während Hulda kaum ein paar Bissen nahm. Der Tourist hingegen tat es Joel im Essen gleich.

»Das muß ich sagen,« rief er, »diese Motion hat mir den Magen ganz ausgebeutelt. Aber gern lasse ich gelten, daß es mehr denn unbedacht war, über die Maristien hinüber zu wollen. Die Rolle des unglücklichen Eystein spielen zu wollen, wenn man sein Vater ... ja reichlich sein Großvater sein könnte!«

»Ach! die Sage ist Ihnen bekannt?« meinte Hulda.

»Gewiß! gewiß! ... meine Amme hat mich in Schlaf mit ihr gesungen ... in dem glücklichen Alter, wo ich noch eine Amme hatte! ... Gewiß, ich kenne die Sage, mein mutiges Dirndl, und erscheine deshalb um so schuldiger! – Und nun, liebe Freunde, Dal ist doch wohl ein bißchen weit für einen Invaliden wie mich! wie wollt Ihr mich bis dorthin schaffen?«

»Keine Sorge, Herr!« antwortete Joel; »unten am Pfade wartet unser Karriol auf uns ... bis zu ihm hinunter sind's bloß dreihundert Schritt!«

»Hm! ... dreihundert Schritte!«

»Bergab,« setzte das Mädchen hinzu.

»O! wenn es bergab geht,« meinte der Tourist, »so wird's ganz von selber gehen, Freunde, ein Arm wird ausreichen ...«

»Und warum nicht zwei,« erwiderte Joel, »da wir doch ihrer vier für Sie zur Verfügung haben!«

»Ob zwei, ob vier, mir einerlei! Teurer wird's auch nicht, nicht wahr?«

»Kosten tut's überhaupt nichts!«

»O doch! wenigstens doch ein »schön dank!« für den Arm! da kommt's mir übrigens bei, daß ich mich noch gar nicht einmal bei Euch bedankt habe!«

»Wofür denn, Herr?« fragte Joel.

»Na, freilich für weiter nichts, als daß Ihr mir unter Gefahr Eures Lebens das Leben gerettet habt!«

»Sind Sie bereit, Herr ...?« fragte Hulda, und stand auf, um Komplimenten aus dem Wege zu gehen.

»Ist das eine Frage! ... Selbstverständlich bin ich bereit! ... mir ist alles recht, was man von mir will!«

Darauf beglich der Tourist die kleine Rechnung bei den Bauern in der Hütte. Dann stieg er, leicht von Hulda, kräftig von Joel gestützt, den schmalen Pfad zum Ufer des Maan hinunter, wo derselbe auf den Weg von Dal trifft. Ohne manches »Au! au!« das aber jedes mal in helles Lachen ausging, ging es bei dem Abstieg freilich nicht ab. Endlich aber erreichte man die Sägemühle, und Joel machte sich dabei, das Karriol anzuschirren.

Nach Verlauf von fünf Minuten saß der Tourist neben dem jungen Mädchen in dem Kasten.

»Und Ihr?« fragte er Joel ... »mir scheint gar, ich habe Euch um Euern Platz gebracht?«

»Den trete ich Ihnen ab mit ganzem Herzen!«

»Aber wenn man ein bißchen zusammenrückte ...«

»Nein, nein! ... ich habe meine Beine, mein Herr, und das sind Touristenbeine ... die sind so gut wie ein paar Räder ...«

»Wie ein paar stramme Räder, mein wackerer Bursch! das muß ich wohl sagen: wie ein paar stramme Räder!«

Den Steg entlang, der sich langsam dem Maan nähert, wurde aufgebrochen. Joel war vor den Gaul getreten und hatte den Zaum in die Hand genommen; er führte ihn, so daß die schlimmsten Unebenheiten des Wegs vermieden wurden.

Die Rückfahrt verlief lustig – zum wenigsten aus seiten des Touristen. Er schwatzte bereits gleichwie ein Freund der Familie von altersher. Ehe sie noch zu Hause waren, titulierten ihn Bruder und Schwester »Herr Sylvius«, und Herr Sylvius sprach sie bloß noch mit Hulda und Joel an, ganz so, als wenn sie sich alle drei schon Gott weiß wie lange her einander kannten.

Gegen 4 Uhr trat der kleine Glockenturm von Dal zwischen den Bäumen des Weilers in Sicht. Noch ein Augenblick, dann hielt der Gaul vor dem Gasthause. Der Reisende stieg, nicht ohne Mühe freilich, aus dem Karriol. Frau Hansen rief ihm den Willkomm am Tore zu, und wenngleich er nicht das schönste Zimmer im Hause begehrte, so wurde es ihm doch auf der Stelle eingeräumt.


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