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13. Kapitel Vesuvkinder

Zum September, als es nicht mehr so heiß war, kehrten Professors Zwillinge knusperig braungebrannt nach herzlichem Abschied von ihren kleinen Caprifreunden nach Neapel zurück. Das gab ein freudiges Wiedersehen mit Teresina und Pietro, mit Mija und den Ziegen. Auch mit Signor Salvani, der ganz erstaunt war, was für Fortschritte die Zwillinge inzwischen in der italienischen Sprache gemacht hatten. Nun hieß es wieder fleißig sein, damit sie die Aufnahmeprüfung in der Schule zu Oktober beständen.

Allerliebste photographische Aufnahmen hatte der Vater von ihnen am Capristrande gemacht. Die wanderten nach Freiburg zu den Großeltern und zur Omama nach Berlin, der so bange nach ihren Lieblingen war. Ein Bild aber bekam ihr kleiner Waldschulfreund Paulchen mit einem langen Brief von den Zwillingen, wie schön es in Italien sei. »Und wenn wir erst wieder in Neapel sind, fährt Vater mit uns auf den Vesuv. Das ist der Berg, der so doll Feuer spuckt, daß er schon ganze Städte unter seiner Asche begraben hat. Au, das wird fein!« So schrieb Herbert.

Eigentlich hatte Herbert sich das Quälen immer noch nicht abgewöhnt. Kaum war man in Neapel und hatte sich wieder eingelebt, so ging die Quälerei täglich los: »Vater, wann fahren wir denn nun endlich auf den Vesuv?«

»Wenn du solch ein Quälgeist bist, überhaupt nicht!« lautete die Antwort.

Nun hütete sich Herbert wohl, sich den Vesuvausflug zu verscherzen. Er schielte nur noch sehnsüchtig zu dem rauchenden Berg hin, quälte aber nicht mehr.

Eines Tages sagte der Vater: »Morgen habe ich einen freien Tag. Weil du dir Mühe gegeben hast, Herbert, kein Quälgeist mehr zu sein, will ich morgen mit euch auf den Vesuv fahren.«

»Hurra!« schrie der eine Zwilling.

»Ach nein, Vatichen, lieber nicht!« ließ sich der andere ängstlich vernehmen.

»Suse, sei nicht so dämlich! Es fahren doch täglich so viele Leute mit der Vesuvbahn hinauf. Und die Vesuvkinder wohnen da sogar. Laß dich von denen bloß nicht auslachen«, rief Herbert aufgebracht, denn er befürchtete, daß der Vater seine Absicht noch ändern könne.

Da schwieg Suse und betete nur des Abends, nachdem sie ihr Nachtgebet gesprochen, heimlich in ihrem Bett: »Lieber Gott, mach' doch bloß, daß morgen schlechtes Wetter ist, damit wir nicht auf den ollen Vesuv fahren können – Amen.«

Suses Gebet ging leider nicht in Erfüllung. Am nächsten Morgen schien die Sonne so golden vom wolkenlos blauen Himmel wie nun fast schon den ganzen Sommer hier in Italien. Suse wagte nicht mehr, die Eltern darum zu bitten, sie bei Pietro und Teresina daheim zu lassen. Herbert lachte sie sonst sicher wieder aus. Beklommenen Herzens machte sie sich mit auf den Weg.

Aber Mutti wußte, was in der Seele ihres Suschens vorging.

»Mein dummes kleines Mädel wird es heute selbst einsehen, daß es lächerlich ist, Furcht zu haben«, sagte die gute Mutter aufmunternd.

Durch fruchtbare Traubengelände näherte sich die Bahn dem Fuß des feuerspeienden Berges.

»Seht nur, Kinder, hier hängen allenthalben Makkaroni zum Trocknen aus«, machte der Professor seine Zwillinge aufmerksam. »In Resina müssen wir umsteigen. Das Städtchen Resina ist auf den Trümmern der verschütteten Stadt Herkulanum neu aufgebaut.«

»Und wenn es wieder von dem ollen Vesuv mit Feuer beworfen wird?« fragte Suse ängstlich.

»Daran sind die Leute hier gewöhnt, Suschen, die sind nicht solche Angsthasen wie ein gewisses kleines Fräulein«, lachte der Vater. »Sieh nur, überall Häuser mit Menschen, vor den Türen spielen die Kinder sorglos. Auf diesen Anwesen leben viele Weinbauern. Es ist die fruchtbarste Gegend von ganz Italien, da der mit Asche untermischte Boden besonders kräftige Nahrung für die Pflanzungen gibt. Hier wächst der herrliche Vesuvwein«, erzählte der Vater. Suse hörte unbehaglich zu. Sie betrachtete den Bergkegel mit mißtrauischen Blicken. Wenn es dem ollen Vesuv nun einfiel, ganz plötzlich loszuspucken!

Die Zahnradbahn führte über breiten schwarzen Lavaboden, einem gewaltigen zu Stein erstarrten einstigen Feuerstrom.

»Seht ihr, hier wächst nichts. Nur dort drüben, jenseits des Lavabettes, sieht man wieder vereinzelt Kastanien und Pinien«, sagte der Vater. »Wir kommen jetzt dem Vesuvkegel immer näher.«

Ja, immer näher kam man dem qualmenden Vesuv. Mit leuchtenden Augen gewahrte es Herbert, mit herzklopfender Angst die Suse.

Die Bahn hielt an der Observatoriumsstation. Hier gab es wieder grünes Land und Kastanienwälder. Außer dem Observatoriumsgebäude stand dort noch eine Kapelle und ein Hotel. »Eremo«, buchstabierte Herbert den Namen des Hotels.

»Wir steigen hier aus«, ordnete der Professor an. »Ich habe den Direktor des Observatoriums von unserm Besuch in Kenntnis gesetzt. Er erwartet uns und wird uns selbst an den Krater geleiten.«

»Und ich darf dann bei den Vesuvkindern bleiben, ja, Vatichen?« bat Suse erleichtert.

»Nein, mein Herzchen, gerade du sollst mit hinauf an den Krater, um deine Furcht zu überwinden und deine Nerven abzuhärten. Ich mag keine nervöse Tochter haben.« Damit schritt der Vater ihnen voran dem Observatorium zu.

»Vater, beobachtet der Direktor hier auch die Sterne wie du?« fragte Herbert, sich neugierig umsehend.

»Nein, mein Junge. In diesem Observatorium wird der Vesuvkrater beobachtet. Es werden Messungen, Untersuchungen und Berechnungen angestellt, und jede Veränderung wird genau eingezeichnet, um die Vesuvbevölkerung rechtzeitig vor plötzlichen Ausbrüchen warnen zu können. Ich selbst bin schon mit dem Direktor und den übrigen Herren in den Krater hinabgestiegen.«

»In den Feuerkrater, Vati?« Suse hielt den Vater entsetzt am Zipfel seines bastseidenen Jacketts fest, als ob er gleich wieder hinabsteigen wollte.

Vor dem Observatorium spielte ein wunderschönes, kleines Mädchen mit langen, schwarzen Locken Ball. Es spielte da ganz harmlos, als ob es gar nicht die Gefahr ahne, in der es stündlich schwebte. Suse sah es mit Bewunderung.

Als die schwarzlockige Kleine Professor Winter erkannte, kam sie herbei und sagte wohlerzogen: » Buon giorno – guten Tag«, die fremden Kinder aus Augen wie schwarzer Samt musternd.

» Buon giorno, Rita«, erwiderte der Professor freundlich. »Hier bringe ich dir meine Zwillinge Herbert und Suse. Das ist die kleine Rita, von der ich euch schon erzählt habe, Kinder. Nun spielt nur recht schön zusammen, während Mutti und ich dem Direktor unsern Besuch machen.« Die Eltern schritten dem Hause zu.

»Wir wollen doch aber auf den Vesuv, Vater«, rief Herbert hinter ihnen her.

»Der läuft uns nicht fort, mein Junge.«

Die drei Kinder sahen sich zuerst stumm an. Keiner wußte, was mit dem andern anzufangen.

»Wo ist denn der Vesuvjunge?« unterbrach Herbert schließlich das Schweigen.

»Wer?« fragte Rita verwundert.

» Tuo fratello – dein Bruder.«

»Ah, Enrico. Er wird sogleich kommen. Wie heißt ihr? Wie alt seid ihr? Versteht ihr Italienisch?« Die Fragen der lebhaften kleinen Italienerin überstürzten sich jetzt.

Herbert antwortete für Suse mit. Denn das pflegte er meistens zu tun. Suse war allem Neuen, selbst fremden Kindern gegenüber scheu.

Es stellte sich heraus, daß Rita genau so alt war wie die Zwillinge. »Dein Vater hat gesagt, daß du in meine Schule kommen sollst, Susa«, berichtete sie zutraulich. »Willst du dann meine Freundin werden – la mia amica?« Sie streichelte Suses Wangen. Denn das deutsche kleine Mädchen gefiel ihr sehr.

» Sila tua amica«, erwiderte Suse und schlug erfreut in die dargebotene Hand der kleinen Italienerin ein.

»Na, und ich?« meldete sich Herbert, etwas eifersüchtig auf die schnelle Freundschaft seiner Zwillingsschwester. »Wo bleibt mein Freund – wo steckt denn der Enrico?«

Da trat er gerade aus dem Hause.

»Enrico,« rief die Schwester, »komm her – rasch – subito! Hier ist der ragazzo tedesco, der deutsche Junge. Und Susa ist schon la mia amica

Enrico, ein vierzehnjähriger Junge mit schwarzem, buschigem Haar, ähnlich wie Signor Salvani, der italienische Lehrer, es trug, trat lebhaft näher. Er war klein und schmächtig für sein Alter. Nur einen halben Kopf größer als Herbert.

»Erberto und Susa heißt ihr?« erkundigte er sich. »Warum seid ihr denn aus Germania – Deutschland – hergereist?«

»Weil unser Vater hier die Sterne studiert. Und in den Vesuvkrater ist er auch schon mit deinem Vater geklettert. Darfst du auch?« Herberts Augen blitzten. Am Ende nahm ihn Enrico gar selbst mit hinein.

» No –.« Der italienische Junge bewegte lebhaft verneinend den Zeigefinger hin und her. »Wir dürfen überhaupt nicht ohne unsern Vater an den Krater, die Rita und ich. Wir wohnen ja auch sonst unten in Neapel bei unserer Tante. Nur, wenn wir keine Schule haben, sind wir oben bei unserm Vater.«

»Und eure Mutter, wo wohnt die?« fragte Herbert.

»Im Himmel«, antwortete Rita leise und blickte mit den schwarzen Samtaugen zum tiefblauen Himmelszelt empor.

Da kannte Suse keine Scheu mehr. Warmherzig schlang sie den Arm um das mutterlose kleine Mädchen und küßte es. Damit war die Freundschaft besiegelt. Wie gut, daß Suse jetzt schon italienisch sprechen konnte. Sonst hätte sie sich doch nicht mit ihrer neuen Freundin unterhalten können.

»Hast du gar keine Angst, daß der gräßliche Vesuv mal bis hierher Feuer spuckt?« erkundigte sie sich als erstes bei Rita. Denn das lag ihr am meisten am Herzen.

»Ganz und gar nicht«, meinte die Kleine erstaunt. » Il mio babbo – mein Papa bewacht ihn ja.«

Ein Stein fiel Suse vom Herzen. Ja, wenn Ritas Papa den Vesuv bewachte, dann brauchte sie am Ende auch keine Angst zu haben. Da sagte auch Enrico: »Der Vesuv ist nicht gräßlich. Der ist schön – oh, bellissimo – sehr schön! Wenn der Vesuv nicht wäre, hätten wir kein fruchtbares Land.«

»Ich finde ihn auch herrlich«, fiel Herbert lebhaft ein. »Aber die Suse ist ein Angsthase. Die hat immer Furcht –«

»Ach wo, ich habe gar keine Furcht mehr«, unterbrach Suse den Bruder rasch. Zum erstenmal war sie ihrem Zwilling ernstlich böse. Wozu brauchten ihre neue Freundin und Enrico gleich zu wissen, daß sie feige war. Und überhaupt, sie hatte jetzt gar keine Angst mehr, wenn Ritas Papa doch den Vesuv bewachte.

Da traten die Eltern in Begleitung eines fremden Herrn aus dem Observatorium. Es war der » babbo« von Enrico und Rita.

»Also, das sind Ihre beiden, Professore«, sagte der Direktor zum Vater und reichte den deutschen Kindern freundlich die Hand zum Willkommen. »Habt ihr euch schon miteinander befreundet?«

» Si, Susa è la mia amica cara – ja, Suse ist meine liebe Freundin«, rief Rita, lebhaft den Arm um das deutsche Mädchen schlingend. Enrico und Herbert schwiegen. Bei den Jungen ging das mit der Freundschaft nicht so rasch.

»So, nun wollen wir zum Krater hinauffahren. Verabschiedet euch inzwischen von euren neuen Freunden«, meinte der Vater.

»Kommt ihr nicht mit?« erkundigte sich Herbert. Wenn sein Vater Observatoriumsdirektor gewesen wäre, hätte er den ganzen Tag an dem Krater zugebracht.

Aber Enrico schüttelte zu seiner Verwunderung den Kopf. »Ich bin schon sooft oben gewesen. Ihr kommt ja nachher noch mal zu uns.«

Auch Rita blieb unten. Ach, wie gern wäre Suse bei ihrer neuen Freundin geblieben. Sie wagte nur nicht, den Vater noch einmal zu bitten. Sie sollte doch ihre Furcht überwinden. Auch schämte sie sich, ihren Wunsch laut werden zu lassen. Denn die Vesuvkinder nahmen es als selbstverständlich an, daß die kleinen Deutschen, die Tedeschi, darauf brannten, den Vesuvkrater zu besichtigen. Bis zur Bahnstation gaben die Vesuvkinder ihnen noch das Geleit.

»Die arme kleine Rita hat keine Mutter mehr«, flüsterte Suse ihrer Mutti zu und schmiegte sich zärtlich an sie. Wie gut hatte sie es doch. Wenn sie auch jetzt an den ollen Vesuvkrater mußte.

Über schwarze Lavafelder führte die Bahn. Immer kahler wurde das Gebirge, immer steiniger. Nur noch ein paar verdorrte Bäume. Dann alles schwarz, starr und tot ringsum.

Der Vater und der Direktor des Observatoriums unterhielten sich über die Lavaströme, die sich bei den verschiedenen Ausbrüchen des Vesuvs in das blühende Tal ergossen hatten.

»Dies hier ist der letzte gewaltige Lavastrom von 1906, Signora«, erklärte der Direktor der Mutter. »Diesen Ausbruch des Vesuvs habe ich selbst mitgemacht.«

»O Gott, das muß doch furchtbar gewesen sein«, meinte die Mutter teilnahmsvoll. Suse machte erschreckte Augen. Herberts Augen begannen zu leuchten.

»Furchtbar und doch schaurig schön, Signora. Ein so gewaltiges Naturereignis und Naturschauspiel, daß man es nie vergessen kann, wenn man es miterlebt hat.«

»Ach, bitte, bitte, erzählen Sie«, bat Herbert, ganz nahe heranrückend, um nur ja kein Wort zu verlieren.

»Es war einer der unheilvollsten und gewaltigsten Vesuvausbrüche, sich immer wieder erneuernd, tagelang. Unter Erderschütterungen und unterirdischem Getöse schleuderte der Vesuv eine Aschenwolke von fünftausend Meter Höhe und ungeheure Mengen von Gestein auf die blühende Landschaft. Nach allen Seiten wälzten sich alles verheerende glühende Lavaströme zu Tal. Finsternis herrschte. Selbst Neapel war zeitweise ganz in Dunkelheit gehüllt. Ortschaften wurden ganz und gar zerstört; Menschen, die sich in die Kirchen geflüchtet, unter deren Trümmern begraben. Das Observatorium blieb glücklicherweise verschont. Es war orribile – entsetzlich!«

» Orribile!« wiederholte Frau Professor Winter, an die sich ihr Töchterchen zitternd schmiegte. Hieß es nicht Gott versuchen, diesem Höllenberg so nahezukommen?

» Magnifico!« sagte es da mit Inbrunst. Es war Herbert, der mit glühenden Wangen und leuchtenden blauen Augen dieses begeisterte » magnifico – herrlich!« hervorstieß.

Während sich die beiden Herren über die wissenschaftlichen Ursachen des Vulkanausbruches unterhielten, erreichte man den Drahtseilbahnhof. Dort erhielt jeder der Reisenden einen rotgebaspelten Wettermantel. Denn da oben auf dem Gipfel des Vesuvs stürmte es gewaltig. Professors Zwillinge sahen wie kleine Gnomen in den langen Lodenpelerinen aus.

Nun fuhren sie in der kastenartig gebauten Drahtseilbahn zum Gipfel. Eisig kalt wehte es, je höher man kam.

Führer nahmen die Ankömmlinge in Empfang. Denn der Kraterbesuch ist nur in Begleitung der mit dem Vesuv vertrauten Führer erlaubt. Einer derselben nahm Herbert an die Hand und wollte Suse die andere reichen. Aber die wich ängstlich zurück.

»Nein, nein – ich will bei meiner Mutti bleiben!« rief sie erregt.

Der Direktor, der Frau Professor Winter seinen Arm geboten hatte, nahm auch das mit angstvollen Braunaugen zu ihm aufsehende Töchterchen an die Hand.

»Keine Angst, piccola Signorina! Es geschieht nichts!«

Nun, wenn der Direktor, der den Vesuv bewachte, das sagte, konnte man sich am Ende darauf verlassen.

Ein Weg führte um den Gipfel des Berges herum zu dem gewaltigen Kratertrichter. Rauchdunst verhüllte den Blick. Eisiger Sturm zerrte an den Wettermänteln. Der Vesuvdirektor schlang den Arm um Suse, damit das leichte Geschöpfchen nicht von der Wucht des Sturmes hinabgeweht wurde.

»Jetzt kommen wir zur Hexenküche«, sagte der Direktor lächelnd zu Suses Mutter. »Sie treffen es gut. Der Vesuv arbeitet gerade.«

Donnerähnliches Krachen erschütterte die Luft. Sie standen an einer trichterartig ausgehöhlten Riesengrube, aus Steinen, schwarzer Lava und gelben Schwefelstücken bestehend. Das war der gewaltige Vesuvkrater. Aus seiner Mitte ragte ein schwarzer Teufelskegel empor, aus dessen Schlund die Hölle zu fauchen schien. Eine Feuerwolke, wie einst am Berge Sinai, stieg daraus empor, entsetzlichen, atembetäubenden Qualm ausstoßend. Funkenregen sprühte. Steine prasselten. Donner krachte.

»Mutti – Mutti – der Vesuv spuckt wieder Feuer!« schrie es jämmerlich aus einer der Lodenkapuzen. Was dachte die Suse in diesem Augenblick daran, daß sie ihre Furcht überwinden lernen sollte, daß die Vesuvkinder oder Herbert sie auslachen könnten. Sie glaubte, der entsetzliche Höllenberg würde sie im nächsten Augenblick alle unter seinem Feuerregen begraben.

Auch dem Herbert war es durchaus nicht zum Lachen zumute. Sein tapferes Jungenherz schlug ihm bis in den Hals hinein, als er diesem schaurig-großartigen Anblick, diesem ohrenbetäubenden Krachen in nächster Nähe gegenüberstand. Es hätte wirklich nicht des Vaters Hand bedurft, die sich vorsorglich um Herberts Arm legte, um den fürwitzigen Jungen festzuhalten. Herbert, der stets solchen großen Mund gehabt hatte, empfand hier, angesichts dieses tobenden Feuerbergs, ebensolches Herzklopfen wie die Suse. Keinen Schritt wagte er sich weiter vor.

»Hier oben ist die Hölle losgelassen, und dort unten schauen Sie das Paradies«, hörte man den Vesuvdirektor mit lauter Stimme, um das Tosen zu übertönen, sagen.

Ja, paradiesisch schön war der Blick nach der andern Seite hinunter in das lachende, blühende Tal. Von Sonnenglanz übergossen lag es zu ihren Füßen. Drüben ragte aus blauem Meer Capri empor. – Ob der Bernardo, der Umberto oder die Julia wohl ahnten, daß Professors Zwillinge hier oben an dem Hexenkessel des Vesuvs standen?

»Schaut, Kinder, dort unten seht ihr die im Jahre 79 nach Christi vom Vesuv verschüttete Stadt Pompeji, die man wieder aus der Erde ausgegraben hat. Tempel, Amphitheater und Häuser sind zum Teil noch gut erhalten. Ich werde sie nächstens mit euch besuchen«, sagte der Vater.

»Wollen wir heute in den Krater hinabsteigen, Professor?« wandte sich der Direktor an Professor Winter. Aber ehe der Vater noch antworten konnte, schrie es wieder aus der Lodenkapuze: »Nein, nein – Vati soll nicht in den gräßlichen Krater rein und totsterben!« Ganz außer sich war die Suse.

Vor dem erneut einsetzenden Toben und Krachen des Feuerschlundes vernahm man ihre Worte kaum. Aber Vater und Mutter legten gleichzeitig ihren Arm beruhigend um das erregte Kind und zogen es fort von dem Krater.

»Sei ruhig, Suschen, ich steige nicht hinab. Wir fahren jetzt wieder mit der Bahn hinunter«, tröstete der Professor das in Tränen zerfließende Kind. War die Abhärtung der Nerven hier oben nicht doch zuviel für das zarte kleine Mädchen? Auch Frau Professor Winter fiel ein Stein vom Herzen, daß ihr Gatte die gefährliche Kletterei nicht unternahm. Herbert bekam von dem Vesuvdirektor noch eine Röhre mit farbigen Steinen aus dem Krater und ein Stück Lava mit einer eingeschmolzenen Kupfermünze zur Erinnerung an den Vesuv geschenkt. Suse aber wollte gar keine Erinnerung an diesen gräßlichen Teufelsberg haben. Sie wollte ihn so schnell wie möglich vergessen. Gott sei Dank, nun ging es mit der Drahtseilbahn wieder hinunter!

Später beim Ballspiel mit der kleinen Rita und bei dem süßen Vanilleeis, das der Vesuvdirektor reichen ließ, beruhigte sich Suse allmählich wieder. Herbert tat vor Enrico so, als ob er kein bißchen Herzklopfen da oben gehabt hätte. Rita und Enrico wurden von Professors Zwillingen aufgefordert, sie auch bald einmal zu besuchen.

Aber als die Zwillinge abends in ihren Betten lagen und die Mutter zum Gutenachtkuß kam, flüsterte Suse doch erleichtert: »Wie gut, Mutti, daß ich kein Vesuvkind bin!«


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