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4. Kapitel. Von großen Schiffen und von kleinen Menschen

Herbert ruhte nicht eher, als bis er den Hafen zu sehen bekam. Nicht einmal die Piazza Mercato, der große Platz, auf dem der letzte Hohenstaufe, der junge Konradin, einst im Jahre 1268 hingerichtet wurde, konnte ihn fesseln. Ja, sogar das » gelato«, das Fruchteis, das man zur Erfrischung in einem Café der Galleria Umberto mit Musik verzehrte, ließ Herbert nur auf kurze Zeit vergessen, daß man ja noch zum Hafen wollte.

Und nun waren sie auf dem breiten, weit in das Meer hinausgebauten Damm, dem » molo«. Vor ihnen bohrte sich der schlanke Leuchtturm, der » faro« in den blauen Himmel hinein. Die Sonne stand schon ziemlich tief als glühendroter Ball über der Insel Ischia und warf sprühende Goldfunken über das mit weißem Wellenschaum heranrollende tiefblaue Mittelmeer. Sie vergoldete all die Schiffsmaste, die da wie ein großer, dunkler Wald aus dem Hafen emporwuchsen.

»Vater, kann man den Leuchtturm besteigen?« erkundigte sich Herbert.

»Ja, freilich.«

»Wollen wir, ja, Vater? Ach bitte!«

»Nein, mein Junge, das ist heute für Mutter und Suse zu anstrengend. Ein andermal.«

»Na, wir beiden Männer können doch raufklettern. Bubi kann ja inzwischen bei Mutti und Suse bleiben«, schlug Herbert vor.

»Nein, heute nicht. Ihr habt genug Neues gesehen.«

»Ach, Vati – – –«

»Junge, quäle nicht, sonst gehen wir nach Hause.«

Es wimmelte im Hafen von Menschen aller Rassen, aller Nationen. Wie Ameisen krabbelten sie durcheinander, die einen geschäftig beim Ein- und Ausladen der großen Schiffe, die andern faul herumlungernd nach irgendeinem Verdienst oder auch die zahlreichen Fremden anbettelnd. Matrosen, Schiffsjungen mit fremdländischem Gesichtsschnitt, mit der Hautfarbe vom mattesten Gelb bis zum tiefsten Schwarzbraun.

»Ein Mohr – ein schwarzer Mohr!« schrie Suse plötzlich in das Getöse hinein, auf einen Neger zeigend.

»Hast du schon mal einen weißen Mohren gesehen, Suse?« Herbert war wieder mal klüger.

»Der ist sicher mit dem großen Schiff da drüben aus Afrika gekommen.« Der Vater wies auf ein Riesenschiff, einen großen Ozeanfahrer.

Der Neger, der Suses Ausruf gehört, aber nicht verstanden hatte, merkte doch, daß von ihm die Rede war, denn zum Überfluß hatte das kleine Mädchen ja auf ihn gezeigt. Er grinste freundlich, daß sein breiter Mund von einem Ohr zum andern reichte und die weißen Zähne in dem schwarzen Gesicht leuchteten.

»Hu – graulig!« Angsthäschen schmiegte sich wieder mal fest an des Vaters Hand.

Auch Bubi wußte nicht recht, was er von dem Schwarzen zu halten habe, ob das ein Mensch oder ein Tier wäre. Jedenfalls blaffte er ihn herausfordernd an.

Herbert kümmerte sich weder um Neger, noch um die fremdländische japanische, afrikanische und indische Schiffsbevölkerung. Die Schiffe an und für sich waren es, denen all sein Interesse galt.

»Sind das Kriegsschiffe, Vater?« erkundigte er sich, Panzer- und Torpedoschiffe von weitem betrachtend.

»Ja, Herbert, hier auf dieser Seite ist der Kriegshafen, der Porto Militare. Er ist abgesperrt. Aber den Freihafen und den Porto Mercantile, den großen Warenhafen, können wir besichtigen. Wir werden uns eine Barke nehmen und eine kleine Hafenfahrt machen.«

»Au famos!« Vaters Vorschlag fand bei den Kindern laute Begeisterung.

Der Professor winkte einem der Barkenführer, die sie schon die ganze Mole entlang verfolgt hatten, ihre Barken und die Schönheit einer abendlichen Meeresfahrt lebhaft anpreisend. Im Augenblick waren sie von einem ganzen Rudel brauner Gestalten umringt, die nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben schienen. Wie Räuber kamen sie der furchtsamen Suse vor. Aber es zeigte sich, daß es ganz harmlose, lustige Gesellen waren, welche die Dame und die Kinder freundlich und sorglich in eine der kleinen Barken verladen halfen und nun auf ein Trinkgeld warteten. Denn Trinkgeld wollten sie alle haben, auch die, welche nur daneben standen und müßig zuguckten.

Leise glitt das Boot durch das plätschernde blaue Wasser. Himmel, was gab es da für viele Schiffe zu bestaunen. Richtige Straßen bildeten sie, durch welche die kleine Barke ihren Kurs nahm. Da waren riesengroße Ozeanfahrer, die aus fremden Erdteilen kamen, ihre Erzeugnisse dort ausluden und statt dessen italienische Waren in Empfang nahmen.

»Vati, was sind denn das für große Elefantenrüssel?« verwunderte sich Suse.

»Kräne, mein Herzchen, große Eisenkräne, die Säcke, Ballen, Tonnen und Kisten aus dem Schiffsinnern herausbefördern zu den großen Speichern dort drüben. Sitz ruhig, Herbert, du kannst von deinem Platz genug sehen, sonst kippt das Boot.«

»Vater, kann man solch großes Schiff nicht ansehen?« erkundigte sich Herbert angelegentlich.

»Warum nicht? Es liegen immer Schiffe im Hafen, die von Fremden besichtigt werden können.«

»Au, Vati, dann wollen wir gleich eins angucken. Weil wir doch nicht auf den Leuchtturm geklettert sind.« Die blauen Jungenaugen sahen flehentlich zu dem Vater hinüber. Der gute Vater konnte nicht widerstehen. Er sprach mit dem Barkenführer italienisch, worauf dieser auf ein großes Schiff wies und darauf lossteuerte.

»Du verwöhnst den Jungen, Paul«, sagte die Mutter halblaut zu ihrem Manne. »Es muß nicht immer alles nach seinem Kopfe gehen.«

»Nur heute, mein Herz«, lachte der Professor. »Ich habe ja die Krabben solange entbehren müssen. Von morgen an bin ich wieder strenger Vater.«

»Jawoll!« sagten die Zwillinge wie aus einem Munde.

Die Barke legte neben dem großen Schiff an. Es war ein deutscher Dampfer. Daneben lag ein Japanfahrer. Gelbhäutige, schlitzäugige Schiffsjungen wuschen dort halbnackt ihre Hemden, dazu ein fremdartiges Lied singend.

»Wißt ihr, zu welcher Rasse diese Jungen gehören?« fragte der Vater. »Ei, Herbert, du auch nicht?«

»Zur japanischen«, riet der auf gut Glück.

»Japan ist ein Land, keine Rasse. Seine Bewohner gehören zur mongolischen Rasse.« Der Professor wechselte einige höfliche Worte mit dem Kapitän des Norddeutschen Lloyd-Schiffes, das zur Ausfahrt bereitlag. Dieser gestattete die Besichtigung.

Eine Schiffsbrücke wurde in die Barke hinuntergelassen, auf der man, gestützt von dem Barkenführer, gehalten von einigen Matrosen, glücklich zum Schiff hinaufgelangte. Herbert mit strahlenden Augen; Suse mit Herzklopfen.

Der Professor stellte sich dem Bremer Kapitän vor, und dieser übernahm in liebenswürdiger Weise als deutscher Landsmann selbst die Führung.

Das war ja ein richtiges, großes schwimmendes Haus, solch ein Schiff. Die Kinder, die bisher nur kleinere Dampfer vom Wannsee und von Rügen kennengelernt hatten, staunten. Das lange Deck glich einer Gartenpromenade mit in Kübeln gepflanzten Oleanderbäumen und Palmen, mit herrlichen Blumen, die in Kästen gezogen wurden. Liegestühle waren allenthalben aufgestellt. Eine Musikkapelle hatte dort ihren Platz. Mehrere Stockwerke hatte das Schiff, genau wie ein großes Haus. Da gab es einen riesigen Speisesaal, Rauchsalons mit Klubmöbeln, elegante Damenzimmer, Musikräume, Spielzimmer, Schreibräume, ja sogar einen Wintergarten. Niedliche, kleine Schlafkabinen, nicht größer als Badezellen. Die runden Fenster darin waren drollig; wie große Augen sahen sie aus. Da wohnte ein Friseur, ein Arzt hielt Sprechstunde ab. Eine Konditorei interessierte die Kinder besonders. Mußte das fein sein, mal auf solch einem großen Schiff zu fahren.

»Ich möchte bis nach Amerika mitreisen«, sagte Herbert aus tiefstem Herzensgrunde.

»Ganz so weit geht es nicht, wir fahren morgen bloß bis Genua«, lachte der Kapitän. »Na, wie ist's, Kleiner, willst du mit? In acht Tagen sind wir wieder zurück.«

»Au ja!« rief Herbert und schielte zum Vater hin. Der lachte ebenfalls. Er nahm die Sache sicher nicht ernst.

Um so ernster war es dem Jungen mit dem Wunsch. Nachdem man noch die große Küche, die Vorratsräume und vor allem das herrliche Maschinenhaus mit der großen Schiffsschraube besichtigt hatte, stand sein Entschluß fest. Er mußte mit! Der Kapitän hatte ihn ja so freundlich eingeladen. War man erst mal unterwegs auf See, dann konnte er nicht mehr zurückgeschickt werden. Der Herr Kapitän war ja ein Landsmann, ein Deutscher, der würde schon für ihn sorgen.

Er hörte kaum zu, was der Kapitän erzählte, daß es Schiffe gäbe mit Sportplätzen für Tennis und Golf, mit großem Schwimmbassin und Kino. Er dachte jetzt nur noch daran, ob er sich nicht irgendwo auf dem Schiff verstecken könnte, um mitzufahren. Oh, es gab herrliche Verstecke hier. Da sollte ihn so leicht keiner entdecken. Aber die Eltern und Suse und vor allem Bubi würden ihn doch vermissen, wenn er heimlich zurückblieb und sich nicht mit der Barke nach Neapel zurückrudern ließ. Nein, das ging nicht. Er mußte mit heim. Die einzige Möglichkeit war, daß er morgen ganz früh, wenn noch alles schlief, zum Hafen lief und sich mit einschiffen ließ. Da konnte er sich auch noch ein Nachthemd und die Zahnbürste mitnehmen.

Er versuchte es, sich ganz genau einzuprägen, wo das Schiff lag und wie es hieß. »Vineta« sagte er immer wieder vor sich hin, um nur ja nicht den Namen zu vergessen.

»Also morgen in aller Frühe sticht die ›Vineta‹ in See. Wenn du nicht da bist, fahren wir ohne dich ab, Kleiner«, neckte der nette Kapitän beim Abschied.

Herbert wurde rot bis über die Ohren. Konnte der Kapitän die Gedanken hinter seiner Stirn lesen? Oh, er würde schon da sein, keine Sorge!

»Mäntel anziehen«, ordnete der Vater an. »Gegen Abend wird es hier am Meer empfindlich kühl.«

Professors kletterten mit herzlichen Dankesworten in ihre Barke zurück. Das Meer lag blutrot in Abendpurpur.

»Der Vesuv brennt!« schrie Suse plötzlich los und schmiegte sich aufgeregt an Muttis Schulter.

»Aber Suschen, das ist ja nur die untergehende Sonne, die ihn bestrahlt – o mein Gott, was ist das bezaubernd schön, solch ein Abend im Golf von Neapel!« Die Mutter hatte andächtig die Hände gefaltet.

Der Barkenführer begann mit melodischer Stimme »Santa Lucia« anzustimmen. Vater und Mutter fielen ein. Stimmungsvoll klang der Sang zum Rauschen der Wellen, zum Plätschern der Ruder. Die Zwillinge schwiegen, trotzdem sie das Lied kannten. Suse traute dem brennenden Vesuv nicht – Herbert plante seine Flucht am andern Morgen. Er hatte ja noch gar kein italienisches Geld!

»Unsere Kinder sind müde – es ist auch kein Wunder bei all den neuen Eindrücken«, meinte die Mutter, nachdem das Lied beendet war. Denn daß die Zwillinge eine Weile schwiegen, kam nicht oft vor.

»Ich bin durchaus nicht müde«, wehrte sich Herbert, in seiner zehnjährigen Mannesehre gekränkt.

»Ich auch nicht – – –«, gähnte Suse. Denn sie mochte als Zwilling nicht hinter ihm zurückstehen.

»Hier legen die Schiffe aus Sorrent und Capri an«, ergriff der Vater wieder das Wort. »Im Juli und August ist es in Neapel unerträglich heiß. Da nehme ich Urlaub, und wir fahren mit einem dieser Schiffe nach Capri.«

Ich fahre erst noch woanders hin mit einem Schiff, dachte Herbert heimlich.

Im Hafen und am Kai St. Lucia herrschte noch immer lautes Getriebe trotz des Feierabends. Jetzt kamen die Volksbelustigungen zu ihrem Recht. Fröhliches Leben, Singen und Lärmen überall. Händler, Warenausrufer aller Art, dazwischen melodische neapolitanische Volksweisen. An den kleinen Austernbuden drängten sich Einheimische und Matrosen. Für wenige Centesimi, so nennt man die italienischen Kupfermünzen, verzehrten sie dort die laut angepriesenen » Frutti di mare – Früchte des Meeres«.

»Schau nur, Herbert,« machte der Professor seinen Sohn aufmerksam, »jede dieser Buden hier ist ein Aquarium im kleinen. Nicht nur Austern werden hier feilgeboten, man findet hier alles, was in den Tiefen des Meeres lebt: Hummern, Krebse, Krabben, seltsame Muscheln. Ei, Suschen, die schönen, bunten Muscheln sind etwas für dich. Herbert, hier siehst du Seeigel, Seesterne und Meerkorallen – ja, Junge, schläfst du denn mit offenen Augen? Woran denkst du denn?« Der Vater wunderte sich mit Recht über die Teilnahmlosigkeit seines sonst für alles Getier lebhaftes Interesse zeigenden Sohnes.

Herbert wurde rot. Oder war die untergehende Sonne daran schuld?

»Wollen wir Austern essen?« fragte er, schnell von sich ablenkend.

»Nein, das ist hier nicht sauber genug. Dadurch entstehen leicht typhöse Krankheiten. Ihr dürft nichts aus solchen Buden essen«, sagte der Vater mit Bestimmtheit.

An Kaffeeausschänken und Osterien, in denen Wein ausgeschenkt wurde, an Garküchen vorüber, in denen » pizzi«, große flache Kuchen, bei flackerndem Feuerschein in Öl gebacken wurden, ging es durch enge Hafengassen. Lauter Sang erschallte allenthalben. Den Kindern war es zumute, als lebten sie ein Märchen, als wäre das gar keine Wirklichkeit.

Dann kam man wieder in vornehmere Straßen, und bald saßen sie in einer Elektrischen, die sie heimführte.

»Vineta – Vineta –«, sagte Herbert, so müde er auch war, immerzu vor sich hin, um bloß den Namen des Schiffes nicht zu vergessen.

Als der Vater Fahrkarten nahm und dabei einen Geldschein wechselte, meldete sich Herbert mit plötzlichem Entschluß. »Vati, wir haben ja noch gar kein italienisches Geld, die Suse und ich. Und – und – und wenn wir vielleicht mal verlorengehen, dann können wir nicht mal mit der Elektrischen nach Hause fahren.«

Der Vater lachte. »Das hat doch bis morgen Zeit. Heute nacht werdet ihr ja nicht verlorengehen.«

»Nee, das hat keine Zeit. Denn morgen bist du doch wieder in der Sternwarte, Vater«, setzte er noch schnell hinzu.

Nur die Suse, die ihren Zwilling am besten kannte, merkte, wie verlegen er war.

Der Vater schenkte jedem der Kinder als Taschengeld zwei Lire. Oh, nun war Herbert reich. Damit kam er sicher bis nach Genua.

Wie merkwürdig war das Nachhausekommen. Man war daheim, und es war einem alles doch ganz fremd und ungewohnt. Das weiße Terrassenhaus, der Palmengarten – als ob man nur zu Besuch war. Pietro und Teresina kamen Professors schon entgegen, nahmen die lieben Kinderchen und Bubi mit freundlichem Willkommen » buona sera – buona sera – guten Abend – guten Abend« in Empfang.

Keins der Kinder hatte Appetit. War nun Suses Müdigkeit nach all dem Neuen, das sie heute kennengelernt, daran schuld oder Herberts Aufregung vor dem Neuen, das er morgen kennenlernen wollte – es rutschte nicht.

»Ei, hat Teresinas Kochkunst nicht euren Beifall?« fragte der Vater, der sich sonst über den guten Appetit seiner Zwillinge stets gefreut hatte, erstaunt. »Das ist › tonno‹ – Tunfisch. Ein sehr nahrhaftes und schmackhaftes italienisches Gericht. Es schmeckt ähnlich wie Kalbfleisch mit – – –«

»Mit Heringsgeruch«, fiel Suse naserümpfend ein, den Teller zurückschiebend.

»So iß wenigstens dein Gemüse, Suschen«, verlangte die Mutter. »Spinat muß ein Kind essen.«

»Nee, ach nee, Muttichen. Das ist doch kein Spinat. Zu Hause schmeckt er ganz anders – viel besser.«

»Das ist Ziegen- oder Maikäferfutter«, pflichtete Herbert bei, kopfschüttelnd die langen grünen Blattfasern auf seinem Teller betrachtend.

»Bei uns wird der Spinat gewiegt oder durch die Maschine getrieben. Hier kocht man ihn nur ab und gibt Öl dazu. Ich habe mich an den › spinaci‹, wie er in Italien heißt, schon ganz gewöhnt.« Der Vater und Bubi waren die einzigen, denen es schmeckte. Denn auch der Mutter wollte die italienische Küche nicht munden. Mutter und Kinder hielten sich an die herrlichen Früchte, die Teresina zum Nachtisch auftrug.

»Weißt du, Paul,« überlegte die Mutter, als die Zwillinge gute Nacht gesagt hatten, »ich werde mich doch um die Küche kümmern müssen und nach deutscher Art kochen. Kinder müssen alles essen, sollen nicht mäkeln. Aber wie kann ich das von ihnen verlangen, wenn ihnen die Gerichte fremd sind und widerstehen. Erst allmählich gewöhnt sich der Magen daran.«

»Mache es ganz so, wie du es für richtig hältst, Fränzchen. Kommst du noch mit auf die Dachterrasse? Es lohnt sich, den süditalienischen Sternenhimmel durch das Fernrohr zu betrachten. Die Zwillinge sind jetzt besonders gut zu sehen. Wenn unsere Kinder heute nicht so müde gewesen wären, hätte ich ihnen gern die prächtigen Sternbilder gezeigt.«

Während die Eltern die Sterne betrachteten, die im Süden ganz besonders funkeln und strahlen, wälzten sich die Kinder in ihren Betten. Beide konnten sie nicht schlafen. Suse war wohl übermüdet, und Herbert hatte ein schlechtes Gewissen. Nachts, wenn es dunkel ist und die Augen geschlossen sind, sieht man oft schärfer als am Tage. Merkwürdig, der Herbert sah seine geplante Flucht mit der »Vineta« jetzt ganz anders an als vorher.

Wollte er den Eltern wirklich die Angst und Sorge machen, daß er heimlich davonging? Aber er kam ja in acht Tagen wieder – acht Tage waren bloß eine Woche, eigentlich gar nicht lange. Und er konnte ja einen Zettel auf den Frühstückstisch legen, daß er die freundliche Einladung des Herrn Kapitäns, mit der »Vineta« nach Genua mitzufahren, angenommen habe. Dann wußten die Eltern, wo er geblieben war. Ja, so wollte er es machen.

Aber von seiner Suse wollte er sich trennen? Nie hatte er bisher ein Geheimnis vor seiner Zwillingsschwester gehabt. Ob er statt des Bubi, wie er eigentlich beabsichtigte, nicht lieber die Suse mitnahm? Sicher war es ihm viel angenehmer, wenn er seine Suse bei sich hatte; wenn er das Geheimnis, das ihm so schwer auf der Seele lag, mit ihr teilte.

»Du, Suse, schläfste schon?« erklang es aus dem einen Bett, an dem Teresina neue Musselinvorhänge angebracht hatte.

»Nee«, gähnte es aus dem Nebenzimmer durch die offene Tür. »Ich kann gar nicht schlafen.«

»Du, Suse, ich will dir ein Geheimnis anvertrauen. Aber du darfst kein Sterbenswörtchen davon verraten. Schwöre es mir.«

»Ja«, sagte Suse neugierig und war mit einemmal ganz munter geworden. »Was ist es denn?«

»Ich werde es dir lieber ins Ohr sagen.« Der Junge versuchte aus seinem Mullnetz herauszukrabbeln – ritsch – da war es wieder zerrissen. »Das olle Ding ist ja gräßlich«, sagte er empört.

Suse hatte die Neugier bereits aus dem Bett getrieben. Sie ging glimpflicher mit ihren Bettvorhängen um.

»Also – schieß los, Herbert.«

»Morgen früh, wenn es noch dunkel ist, bin ich fort«, flüsterte Herbert seinem Zwilling ins Ohr.

»Was biste?« Suse glaubte falsch verstanden zu haben.

»Fort, ganz fort!« wiederholte Herbert großartig noch einmal.

»Wo denn hin?«

»Ich fahre mit der ›Vineta‹ nach Genua, weil mich der Herr Kapitän so freundlich eingeladen hat.«

»Jawoll – das erlaubt Mutti gar nicht.«

»Na, der sage ich es doch nicht, du Schafskopp.«

Nett war ja das nun gerade nicht von dem Jungen; man mußte es seiner Aufregung zugute halten.

Suse machte denn auch ein beleidigtes Gesicht. Es gehört sich nicht, daß ein Zwilling zu dem andern »Schafskopp« sagt. Ganz gleich, ob man einer ist oder nicht.

»Wenn du es der Mutti nicht sagen willst, ist es bestimmt etwas Schlechtes«, sagte sie schließlich.

»Na, wenn ich doch mit Erlaubnis nicht mit darf? Dann muß ich eben ohne Erlaubnis heimlich mitfahren«, trotzte der Junge.

»Was man heimlich tut, ist immer was Ungezogenes«, beharrte Suse.

Herbert fühlte im Grunde seines Herzens, daß die Schwester ganz recht hatte. Daß sie das nur aussprach, was ihm sein Gewissen schon längst zugeflüstert hatte. Aber er wollte weder auf das Gewissen hören, noch auf die Schwester.

»Wenn ich gewußt hätte, daß du so dumm bist, hätte ich dir bestimmt nichts davon erzählt. Ich wollte dich sogar mitnehmen, an Stelle von Bubi. Und nu biste so!«

»Ich will gar nicht mit«, rief Suse, mit den Tränen kämpfend. »Ich lasse meine Mutti nicht allein im fremden Italien. Dann hat sie ja gar kein Kind mehr und ist ganz allein, wenn Vati in der Sternwarte arbeitet. Und den Pietro und die Teresina kann sie auch nicht mal richtig verstehen. Nee, ich bleibe bei meiner Mutti!«

»So – und ich kann allein fahren – mich willst du allein in die weite Welt bis nach Genua fahren lassen. Und dann willst du noch mein Zwilling sein! Und überhaupt, Bubi bleibt ja bei Mutti. Der kann ihr ebensogut Gesellschaft leisten wie du!« Herbert war recht ärgerlich, weil er fühlte, daß Suse besser war als er selbst.

»Bubi ist kein Kind, man bloß 'n Köter. Und du sollst auch gar nicht in die weite Welt fahren und noch dazu allein und heimlich – bitte, bitte, Herbert, bleibe doch da! Ich schenke dir auch – ich schenke dir auch meine Schwarzwald-Lotti.« Das war das Schönste, was Suse besaß.

»Ach was, das dumme leblose Ding kannste behalten. Wenn's noch 'n Maikäfer wäre. Aber – aber ich kann mir die Sache ja noch bis morgen früh überlegen.« Herbert fühlte sich durch diesen Entschluß ungeheuer erleichtert.

Auch Suse fühlte die schwere Last, die ihr mit dem Geheimnis des Bruders auf der Seele lag, schwinden. Sie sprangen alle beide wieder in ihre Betten unter die Musselinvorhänge, und bald schliefen sie sanft und traumlos.

Droben auf dem Dach betrachteten die Eltern durch das große Fernrohr das Sternbild der Zwillinge, das besonders nah und deutlich zu sehen war. Sie ahnten nicht, daß einer ihrer Zwillinge soeben im Begriff gewesen war, sich von ihnen zu entfernen.

Als Herbert am nächsten Morgen erwachte, war es heller Tag. Längst schaukelte die »Vineta« draußen auf blauem Meere ihrem Ziele entgegen. Und das war recht gut, denn sonst – wäre Herbert am Ende doch noch mitgefahren.


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