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16. Kapitel. Kindergesellschaft.

In der ersten Zeit gab sich Klein-Annemarie grenzenlose Mühe, ihren Fehler zu bekämpfen und ein ordentliches, sauberes Kind zu werden.

Wenn sie mittags aus der Schule kam und die Matrosenmütze wie sonst auf irgendeinen Stuhl fliegen wollte, während die Mappe kopfüber in die entgegengesetzte Ecke sprang, dann brauchte Fräulein das kleine Mädchen nur mahnend anzusehen. Und sogleich wanderte die Mütze in den Schrank und die Mappe an den Nagel am Arbeitspult. Annemarie band sich von selbst ihre Hausschürze um, sie wusch sich die Hände, bevor sie an die Schularbeiten ging, und sie faßte ihre Hefte und Bücher so behutsam an, als ob sie aus Glas seien. Ja, sie versuchte sogar, jedes Knöpfchen, das von ihren Kleidungsstücken abriß, sich selbst wieder anzunähen. Freilich kam es manchmal vor, daß sie sich dabei tüchtig piekte und rotes Blut aus dem Fingerchen floß. Dann mußte Vater ihr einen großen Verband anlegen. Auch nähte sich Nesthäkchen öfters ihre Schürze oder ihren Kleiderärmel mit ans Hemdchen oder Höschen fest, das sie mit einem neuen Knopf versehen wollte. Aber das war nur im Anfang. Auch der alte Faden, der so leicht riß, wenn die Kinderhände ungeduldig daran zerrten, nahm allmählich Vernunft an und ärgerte Klein-Annemarie nicht mehr.

Mutti und Fräulein konnten zufrieden sein, wie ernst es der Kleinen mit ihrer Vornahme, sich zu bessern, war. Auch Vater nahm zu seiner Freude wahr, daß seine Kragen lange nicht so schnell wie früher von kleinen, zärtlichen, aber leider schwärzlichen Kinderfingerchen beschmiert wurden. Nesthäkchen achtete darauf, daß es stets saubere Hände hatte. Es legte mittags seine Serviette von selbst zusammen, ohne daß Fräulein es erst dazu zurückholen mußte. Und es räumte abends vor dem Schlafengehen alle gebrauchten Spielsachen auch ohne Fräuleins Aufforderung in das Fach.

Selbst die Puppen bemerkten mit Genugtuung Annemaries erwachten Ordnungssinn. Sie hatten, seitdem Nesthäkchen ein kleines Schulmädchen geworden und neue Pflichten bekommen, recht oft Grund gehabt, über ihr Mütterchen Klage zu führen. Geradezu verwahrlost mußten die armen Kinder oft einhergehen. Sie wurden nicht mehr gewaschen, nicht gekämmt, und ihre Sachen lagen in der Puppenkommode wie Kraut und Rüben durcheinander. Baby behielt wochenlang seine zerlöcherten Strümpfchen an, und Irenchen mußte sogar mit dem Hut schlafengehen. Die einzige, die weniger unter Annemaries Liederlichkeit zu leiden hatte, war Puppe Gerda. Wenn die mit ihren blauen Glasaugen ihr Mütterchen vorwurfsvoll anschaute, das konnte Nesthäkchen nicht ertragen.

Jetzt aber erging es auch den anderen Puppen wieder besser, denn ein ordentliches kleines Mädchen sorgt vor allem dafür, daß seine Puppen sauber aussehen.

»Heute werde ich alle Puppenstrümpfe stopfen«, sagte das kleine Mädchen an einem Regentage und setzte sich mit ihrem Kinderstuhl neben Fräulein. Dieses hatte ebenfalls einen Berg Strümpfe zum Ausbessern vor sich. Die meisten davon stammten von dem wilden Klaus.

»Annemiechen, du mußt aber erst Stopfen lernen, du verstehst es noch nicht, ich will es dir gern zeigen«, erbot sich Fräulein freundlich.

»Nein, danke schön, Fräulein, ich kann schon ganz allein stopfen. Mutti hat neulich erst zu mir gesagt, als es Milchreis gab: ›Stopfe nicht so, Lotte!‹, da muß ich es doch können«. Treuherzig sah die Kleine Fräulein an.

»Ja, mein Liebling, wenn Strümpfe stopfen und Milchreis stopfen dasselbe wäre, würde es mir auch lieber sein«, lachte Fräulein. »Aber Strümpfe stopfen schmeckt weniger gut.« Sie zeigte dem kleinen Mädchen, wie man ein Fadengitter über das Loch spannt.

Das sah ganz leicht und amüsant aus. Aber als Nesthäkchen es schnell nachmachen wollte, merkte es zu seinem Erstaunen, daß eine Sache oft schwieriger ist, als wie sie aussieht. Annemarie verlor bald die Geduld und zog es vor, die Löcher in den Puppenstrümpfen lieber zuzunähen als zu stopfen. Und schließlich hatte sie auch dazu keine Lust mehr. Es war nur gut, daß die Puppen wenig gingen, sonst hätten sie alle Hühneraugen bekommen.

Und so wie bei den Puppenstrümpfen erging es Nesthäkchen bald überhaupt mit der vorgenommenen Ordnungsliebe. Leider! Die Ausdauer fehlte. Zuerst mußte Fräulein erinnern. Dann, als die Kleine ein immer widerwilligeres Gesicht bei der Erfüllung ihrer Obliegenheiten machte, ermahnte Fräulein. Bald genügte auch das Ermahnen nichts mehr, ja nicht einmal mehr Fräuleins Schelten.

Nicht nur im Hause ließ Annemarie nach, sauber und ordentlich zu sein, sondern auch bei ihren Schularbeiten. Die Hefte, die im Anfang nach der Oktoberzensur fast so tadellos ausschauten wie die von Margot Thielen, zeigten bald wieder Fettflecke und Tintenspritzer. Auch die Schrift, die gleichmäßig und nett gewesen war, ließ jetzt wieder zu wünschen übrig. Nesthäkchen war auf dem besten Wege dazu, wieder ein kleiner Schmierfink zu werden.

Da aber geschah etwas, das die Kleine bis in ihr innerstes Herzchen traf. So tief, wie sie noch nie etwas betrübt hatte. Mätzchen, ihr Vögelchen, das immer so lustig gezwitschert und so hell jubiliert hatte, lag eines Mittags, als sie aus der Schule kam, tot in seinem Bauer. Durch Annemaries eigene Schuld! Sie hatte in ihrer Liederlichkeit und Unachtsamkeit vergessen, dem Tierchen das gewohnte frische Wasser hinzusetzen. Zwei Tage lang hatte sie ihr armes Vögelchen dursten lassen, bis es schließlich vor Durst gestorben war. Dabei hatte sie vorher Mutti doch himmelhoch gebeten, ihr die Pflege von Mätzchen ganz allein zu überlassen.

So bitterlich hatte Nesthäkchen noch nie geweint wie über den Tod ihres Vögelchens. Sie fühlte zum erstenmal, was für böse Folgen Liederlichkeit und Unachtsamkeit haben können. Keiner machte ihr dabei einen Vorwurf. Aber die Vorwürfe, die sie selbst quälten, wenn sie an Mätzchens leeres Bauer vorüberging, waren tausendmal schlimmer, als die von Mutti und Fräulein hätten sein können.

Vater versuchte das erregte Kind durch alle möglichen Trostgründe davon zu überzeugen, daß Mätzchen sowieso schon etwas altersschwach gewesen sei. Seine arme, kleine Lotte jammerte ihn zu sehr. Auch Mutti tat ihr Kleines in der Seele weh, aber sie dachte: »Das wird eine heilsame Medizin für unsere Lotte sein!«

Ja, die Medizin, die am bittersten schmeckt, pflegt meist die wirksamste zu sein.

Das tote Mätzchen wurde von Annemarie und ihren Brüdern sanft in eine leere Zigarrenkiste gebettet, und der Portier grub ihm auf Klein-Annemaries Bitten in dem schönen Vorgarten, den keiner betreten durfte, ein kleines Grab. Darauf pflanzte Nesthäkchen ein winziges Tannenzweiglein, und Bruder Hans befestigte eine kleine Tafel daran, auf der stand: »Ruhe sanft, Mätzchen!«

Annemarie aber hatte der Schmerz um das arme Vögelchen verwandelt. Sie wurde von nun an ein gewissenhaftes kleines Mädchen, das seine Obliegenheit achtsam und gern erfüllte. Diesmal war Nesthäkchens Ordnungssinn auch von Dauer. Fräulein Hering konnte fast unter jede ihrer Schreibseiten eine Eins setzen, und zu Hause hatten weder Mutti noch Fräulein über Nesthäkchen fernerhin zu klagen.

Eines Mittags, kurz nach zwölf, klingelte das Telephon bei Doktor Brauns. Frau Doktor war selbst am Apparat. Sie glaubte, es handle sich um eine ärztliche Bestellung für ihren Mann.

Da vernahm sie zu ihrem größten Erstaunen die Stimme ihres Nesthäkchens durch das Telephon.

»Mutti, wir sind schon um zwölf aus der Schule gekommen, Fräulein Hering hat gesagt, es sei heute Zirkus Renz in der Schule. Schicke doch, bitte, Fräulein her, daß sie mich und Margot abholt, weil wir doch nicht allein nach Hause gehen dürfen«, so piepste es in den höchsten Tönen.

»Wo bist du denn jetzt bloß, Lotte?« fragte Mutti aufgeregt.

»Ich habe den Herrn Kaufmannsladen an der Ecke gebeten, ob ich mal telephonieren darf, weil die Schule heut wegen Zirkus Renz früher aus ist«, klang es wieder piepsend zurück.

»Zirkus Renz?« Der Mutter war die Sache unverständlich. Aber sie veranlaßte sofort, daß Fräulein hinfuhr und die Kinder holte. Mutti freute sich über ihre kleine Lotte. Nicht nur, daß sie gehorsam ihr Verbot, nicht allein auf der Straße zu gehen, beachtet hatte, sondern auch darüber, daß die Kleine so praktisch war, sie telephonisch zu benachrichtigen.

Aber als es sich herausstellte, daß nicht Zirkus Renz, sondern eine Konferenz in der Schule stattgefunden, da mußte es sich Klein-Annemarie trotz ihrer Schlauheit gefallen lassen, daß man sie tüchtig auslachte.

So vergingen die Wochen, und das liebe Weihnachtsfest rückte näher und näher. Weiße Schneeflocken wirbelten lustig vom Himmel. Klinglingling – klinglingling – klangen Schlittenglocken durch die Straßen. Der Schnee auf dem Blumenbrett vor dem Kinderstubenfenster türmte sich so hoch, daß Annemarie ihrer Freundin Margot keinen Gruß mehr hinübernicken konnte.

Das kleine Mädchen war diesmal noch aufgeregter vor Weihnachten als in früheren Jahren. Würde ihr eifriges Bemühen, sich zu bessern, von Erfolg gekrönt sein? Würde Mutti diesmal mit der Zensur ihrer Lotte zufrieden sein können?

Ja, Nesthäkchens Weihnachtszensur fiel tadellos aus. In der Haltung ihrer Hefte und Bücher prangte »Sehr gut«. Auf den zweiten Platz kam sie neben ihre Freundin Margot. Wie strahlte Klein-Annemarie, als Fräulein Hering ihr anerkennend die Wange klopfte: »Brav, Annemarie, nun fahre nur so fort!«

Am glücklichsten aber war Nesthäkchen, als Mutti ihr Töchterchen mit frohem Gesicht in die Arme schloß. »Du hast mir eine große Weihnachtsfreude bereitet, meine Lotte, daß du deinen Fehler so redlich bekämpft hast.«

Heiligabend aber kam die Belohnung.

Unter dem funkelnden Lichterbaum lag sie. Ein unscheinbares weißes Blatt Papier war es nur. Aber die vier Worte, die es enthielt, erweckten grenzenlosen Jubel bei Nesthäkchen.

»Am dritten Feiertag Kindergesellschaft« stand darauf. Annemarie hatte vorläufig keinen Blick für ihre anderen Geschenke, selig sprang sie mit dem weißen Zettel um die Weihnachtstafel herum.

Da aber traf ein Ton ihr Ohr – ein leises Piepsen, und gleich darauf ein helles Tirilieren – jäh wandte die Kleine den Kopf in der Richtung, aus der die Vogelstimme erklungen.

»Mätzchen, mein Mätzchen, bist du wieder lebendig geworden?« Nesthäkchen traute ihren Augen nicht. Da hüpfte im Bauer ein zitronengelbes Vögelchen herum, ganz genau so schaute es aus wie das tote Mätzchen. Zutraulich blickte es die Kleine aus munteren, schwarzen Äugelein an.

»Mätzchen lebt!« Mit beiden Ärmchen umfaßte das kleine Mädchen die Gitterstäbe des Vogelbauers, um dem Vögelchen seine große Liebe zu zeigen.

»Nein, mein Herzchen«, sagte da die hinter der Kleinen stehende Großmama, die gerührt das Glück ihres Lieblings mitansah. »Dein altes Vögelchen ist tot, aber ich habe dir ein neues geschenkt. Ich glaube, daß ich meiner kleinen Annemie jetzt getrost das Tierchen anvertrauen darf, daß sie nicht wieder vergessen wird, für dasselbe zu sorgen. Ja, kann ich dir vertrauen, Liebling?« Die klaren, gütigen Augen von Großmama drangen Annemarie bis auf den Grund ihrer Seele.

»Ja, Großmuttchen, du kannst mir vertrauen.« Leise, ganz leise flüsterte es Klein-Annemarie und drückte einen dankbaren Kuß auf Großmamas Hand.

Auch die rote Zensurenmappe prangte unter den vielen schönen Geschenken, mit denen die Eltern ihr Nesthäkchen erfreut hatten. Die feine Weihnachtszensur war bereits eingeklebt. Klaus hatte ebenfalls ein besseres Zeugnis heimgebracht als zu Oktober. Mutters Drohung mit der strengen Pension schien doch etwas genützt zu haben.

Nesthäkchens Weihnachtsgaben bestanden dieses Jahr nur in Strickarbeiten. Annemarie wollte jedem ihre neue Kunst zeigen. Am meisten von allen freute sich die alte Tante Albertinchen, die stets bei der Bescherung dabei war, über die Pulswärmer, welche Annemarie ihr von ihrem Wunderknäuel gestrickt hatte. Zwar waren sie nur so groß, daß die alte Tante sie gerade über ihre Zeigefinger streifen konnte, aber Tante Albertinchen verwahrte sie trotzdem daheim sorglich in dem Schränkchen, in dem ihre Andenken lagen.

Das war diesmal ein ganz anderer Heiligabend wie all die Jahre vorher, wo Nesthäkchen nur mit den neuen Spielsachen gespielt hatte. Sie war ja inzwischen ein kleines Schulmädel geworden und hatte Lesen und Schreiben gelernt. Wie erfreut waren die Eltern über den sauber geschriebenen Wunsch ihrer Lotte! Die erste Geschichte in dem herrlichen Märchenbuch mußte sie natürlich sogleich studieren. Und wenn Hans und Klaus sie auch damit aufzogen, daß sie selbst, wenn sie für sich las, noch immer die Lippen dabei bewegte und mit dem Zeigefinger ängstlich die Zeile festhielt, Nesthäkchen war doch ungeheuer stolz, daß es das Weihnachtsbuch schon allein lesen konnte.

»Du bist ja so nachdenklich, Lotte«, sagte Doktor Braun verwundert im Laufe des Abends, als Klein-Annemarie schon eine ganze Weile angelegentlich in das grüne Tannengeäst gestarrt und kein Wort gesprochen hatte. Das kam bei dem Plappermäulchen nicht oft vor.

»Ich mußte eben bloß mal an Johannisbad denken, weil es da auch immer so schön nach Tannen gerochen hat wie heute hier. Was meinst du, Vatchen, ob die kleinen Meergänschen wohl auch einen Weihnachtsbaum haben und Geschenke bekommen?«

»Sicherlich, Frau Meergans hat ja durch ihre vielen Sommergäste einen schönen Verdienst, da wird sie ihren Kleinen gewiß heute eine Freude machen«, lautete die beruhigende Antwort.

»Und die Himbeermizi? Die hat ganz sicher keine Geschenke gekriegt! Ihre Eltern sind ja so arm, daß sie ihr nicht einmal eine Schulmappe kaufen konnten«, überlegte Nesthäkchen weiter. Plötzlich leuchteten Klein-Annemaries Blauaugen noch heller als sonst.

»Vatchen, Mutti, würdet ihr wohl erlauben, daß ich der Himbeermizi von meinen Weihnachtsgeschenken etwas hinschicke? Ich habe doch so schrecklich viel gekriegt und die arme Mizi sicher gar nichts.« Erwartungsvoll sah die Kleine zu den Eltern auf.

Nur zu gern gaben die Eltern ihre Einwilligung, sahen sie doch aus der Bitte, daß ihr Töchterchen bei aller Freude die nicht vergaß, denen es weniger gut ging als ihr selbst.

Das gab jetzt ein emsiges Aussuchen.

»Fräulein, glaubst du, daß Mizi sich über den Stickkasten freuen würde? Und ob sie wohl ein Kleid hat, zu dem sie die rosa Seidenschärpe tragen könnte? Die kleine Puppenschule von Tante Käthchen kann ich wohl selbst behalten, die Mizi ist doch so fleißig, die hat bestimmt keine Zeit, damit zu spielen, nicht wahr?« so beriet Annemarie eifrig.

Fräulein half der Kleinen, eine verständige Auswahl unter ihren Geschenken zu treffen. Was sollte die Mizi mit einer rosa Schärpe? Das warme Wollröckchen und die dunkelblaue Kleiderschürze mit bunter Borte würden ihr sicherlich mehr zustatten kommen.

»Tante Albertinchen,« – die Kleine drückte sich schüchtern an die alte Dame, – »würdest du es wohl übelnehmen, wenn ich der Himbeermizi meine neue Sportmütze schenken würde, die du mir gehäkelt hast? Sie ist so schön mollig, man kann sie bis über die Ohren ziehen, und Fräulein sagt, im Riesengebirge pfeift der Wind einem im Winter doll um die Ohren.«

»Du bist ein gutes Kind«, sagte die alte Tante und nickte mit dem Kopf. Und all ihre grauen Löckchen nickten mit, als ob sie derselben Meinung wären. »Lege nur ruhig die Mütze bei, ich werde für meinen kleinen Liebling eine andere häkeln.«

Mutti fügte Wäsche, warme Strümpfe und feste Schuhe von Klaus hinzu, Vater legte in das kleine Portemonnaie, das Nesthäkchen der Mizi überließ, ein Goldstück. Die gute Hanne brachte ihre halbe Weihnachtsstolle für das arme Kind, Frieda ein warmes Tuch. Hans und Klaus aber wollten nun auch nicht zurückstehen, die räuberten tüchtig ihre bunten Schüsseln mit Pfefferkuchen, Äpfeln und Nüssen für die Mizi.

Ein feines Weihnachtspaket wurde es.

»Nicht wahr, Fräulein, gleich morgen schicken wir es hin«, bat die Kleine, als sie bereits im Bett lag und kaum noch die Augen aufhalten konnte. Solchen schönen Heiligabend hatte Nesthäkchen noch nie erlebt. Das kam daher, daß sie auch anderen eine Freude machen wollte!

Am ersten Feiertag ging die Weihnachtskiste an die Himbeermizi ab. Nesthäkchens Gedanken gaben ihr das Geleit und malten sich die Freude in dem kleinen Hüttchen aus, die sie hervorrufen würde.

Dann aber hatte die Kleine andere wichtige Beschäftigung. Hoch oben auf ihrem Arbeitspult thronte sie und schrieb mit ihrer schönsten Schrift die Einladungen zur Kindergesellschaft auf die kleinen, neuen Weihnachtsbriefbogen.

»Liebe Ilse,« stand da, »ich darf am dritten Feiertag eine Kindergesellschaft geben. Du sollst auch kommen.

Deine Freundin Annemarie.«

»So ist's gar keine richtige Einladung. Du mußt schreiben, ›mit Erlaubnis meiner lieben Eltern bitte ich dich‹«, sagte Klaus mit weiser Miene.

Aber Fräulein meinte, daß die Kinder wohl auch auf Annemaries Einladung hin kommen würden. Zu Nesthäkchens ungeheurer Erleichterung, denn es fürchtete schon, sämtliche acht Briefe noch mal schreiben zu müssen. Jetzt war die Kleine doch recht froh, daß Mutti ihren Vorschlag, alle fünfzig Kinder zu sich einzuladen, entsetzt abgelehnt hatte. Sonst wäre sie mit dem Schreiben der Briefchen wohl erst am vierten Feiertag fertig geworden, und am dritten sollte die Kindergesellschaft doch schon stattfinden.

Annemarie hatte so lange gebeten, auch Hilde Rabe ein rosa Einladungsbriefchen schicken zu dürfen, bis Mutti diesem Wunsche nachgegeben hatte.

»Denn sieh' mal, Muttchen,« hatte die Kleine erklärt, »ich habe der Hilde gleich, als wir in die Schule kamen, gesagt, sie solle meine zweitbeste Freundin sein. Da muß ich sie doch einladen, sonst ist sie bestimmt traurig. Und sie ist jetzt auch gar nicht mehr so ungezogen, und Letzte sitzt sie auch nicht mehr, sondern Vorletzte!«

Alle kamen sie, Hilde Rabe sogar schon um drei Uhr, statt um vier. Doktor Brauns saßen noch beim Mittagstisch, denn Vater war spät von der Praxis nach Hause gekommen.

Nesthäkchen wollte spornstreichs von Tisch laufen und mit ihrem Besuch spielen. Aber das litt Mutti nicht. Ehe »Gesegnete Mahlzeit« gewünscht ist, darf man nicht von Tisch aufstehen.

Hilde wurde inzwischen ins Kinderzimmer geführt, und Puppe Gerda hatte die Aufgabe, den kleinen Besuch zu unterhalten. Trotzdem sich die Puppe alle Mühe gab, sah die von Annemarie zum Empfang ihrer kleinen Gäste gar sauber hergerichtete Kinderstube lustig aus, als Annemarie sie nach beendigtem Mittagessen betrat. Da waren die Puppenbetten aus Wagen und Bettstelle gerissen und lagen ringsum auf dem Boden. Sämtliche Puppen, die bereits in ihrem Sonntagsstaat dasaßen, waren ausgezogen und die Kleider überall herumgestreut. Ja, sogar eins von Annemaries niedlichen rosa Täßchen lag in Scherben auf der Erde.

Nesthäkchen war empört. Es fehlte nicht viel, dann hätte es angefangen zu weinen.

»Du, wenn ich gewußt hätte, daß du mir meine Kinderstube so liederlich machst, hätte ich dich nicht eingeladen«, rief die Kleine nicht gerade gastfreundlich.

»Aber Annemie,« ermahnte Fräulein leise, »zu seinem Besuch muß man stets nett sein!«

Nesthäkchen sollte heute noch öfters erfahren, daß solche Kindergesellschaft, so schön sie auch ist, doch auch manche Schattenseite haben kann, besonders für die Wirtin.

Punkt vier begann die Klingel – klingling – sich in Bewegung zu setzen. Ein Kind nach dem anderen erschien, die meisten in weißen Kleidern. Sie knicksten vor Frau Doktor, bestellten die ihnen aufgetragenen Grüße ihrer Mutter und wagten zuerst überhaupt nicht, den Mund aufzumachen. Nur Hilde Rabe redete keck drauflos.

Aber als Annemarie jetzt ihre kleinen Freundinnen in das Weihnachtszimmer führte und ihnen ihre schönen Geschenke zeigte, löste sich die verlegene Befangenheit.

»Hast du aber viel geschenkt bekommen,« sagte Margot bewundernd – »och, ich hab' noch viel, viel mehr gekriegt!« rief Hilde dazwischen.

»Mein Märchenbuch ist noch mal so dick wie deins«, rühmte sich auch Ruth.

»Und meine Cousine hat eine Puppenschule mit einer großen, schwarzen Tafel und einer Landkarte«, übertrumpfte Ilse sie noch.

»Ich finde meine aber auch sehr schön«, sagte Annemarie ärgerlich.

Mariannchen, welche die süße, kleine Lampe für die Puppenstube bewunderte, zerschlug dabei den Zylinder. Hilde Rabe aber ärgerte Mätzchen mit kß, kß, kß, daß es aufgeregt im Bauer umherflatterte.

Die kleine Wirtin war ordentlich erleichtert, als Fräulein die Kinder zur Schokolade rief. Schokolade mit Schlagsahne! Ei, wie das schmeckte, wie die kleinen Mäulchen schleckten! Von der anfänglichen Verlegenheit war keine Spur mehr zu merken, das schwatzte und summte durcheinander wie in einem Bienenstock.

Nesthäkchen war allerdings zuerst wieder etwas enttäuscht. Als Fräulein die bunte Schüssel anbot, rief Annemarie: »Fräulein, den kleinen Marzipanpantoffel möchte ich haben.«

»Erst kommen deine Gäste heran, Annemie«, belehrte sie Fräulein.

Nein, Hilde Rabe war wirklich so dreist, ihr den kleinen Marzipanpantoffel vor der Nase wegzuschnappen. Hätte sie die Hilde doch bloß nicht eingeladen!

Als man mit den süßen Genüssen fertig war, denn leider kommt auch bei Schokolade mal die Zeit, wo man satt ist, ging's ans Spielen.

»Wir wollen Teller drehen«, schlug Margot vor.

»Lieber Kellen raten«, rief Marlenchen.

»Ach bitte, wie gefällt dir dein Nachbar.« Ruth meldete sich dabei, als ob sie in der Schule wäre.

»Nee, die Reise nach Jerusalem ist noch viel famöser!« schrie Annemarie und kletterte sogar auf den Stuhl, um sich besser Gehör zu schaffen.

»Ich turne lieber an den Schaukelringen.« Hilde Rabe flog bereits durch die Luft.

»Nein, ich bin die Wirtin, und nach mir geht's, und wenn ihr so seid, dann spiele ich überhaupt nicht mit euch, sondern allein mit meiner Puppe!« klang es wieder aufgebracht von Nesthäkchens Lippen.

»Aber Lotte, schämst du dich denn gar nicht? Die Wirtin muß doch verträglich sein und sich nach den Wünschen ihres Besuches richten«, tadelte die ins Zimmer tretende Mutter.

»Wirtin sein ist gräßlich, wenn's immer bloß nach den anderen geht«, murrte die Kleine.

Aber als Bruder Hans sich jetzt zu den Kleinen gesellte, um als Großer die Spiele zu leiten, da Fräulein noch zu tun hatte, wurde der Wunsch einer jeden erfüllt. Die Kinder amüsierten sich köstlich, selbst Hilde ließ ihre Schaukelringe im Stich und spielte lieber mit. Auch Klaus beteiligte sich. Er war heute ziemlich artig, abgesehen davon, daß er die kleinen Mädchen öfters mal an den Zöpfchen zog.

Dann kam die Verlosung. Mutti hatte ihre Lotte überrascht und eine Lotterie veranstaltet. Was konnte man da für entzückende Sachen gewinnen! Federbüchsen und Notizbüchlein, Beutel mit bunten Perlen, Abziehbilder, Geduldspiele, ein winzig kleines Domino, Würfel und noch viele andere schöne Dinge. Jedes Kind zog ein Los und bekam dann den Gewinn, der auf seine Nummer fiel.

Leider aber muß ich erzählen, daß nicht jeder mit dem, was er gewonnen hatte, zufrieden war. Ruth schielte auf Margots Perlenbeutel, dabei hatte sie selbst doch solch nettes Lesezeichen erhalten. Hilde überredete Marlenchen, mit ihr zu tauschen und ihr für die Federbüchse ihre Abziehbilder zu geben. Und als der Tausch geschehen, begannen sich die beiden zu zanken, weil Marlenchen durchaus wieder zurücktauschen wollte. Hilde jedoch sprang mit ihren erbeuteten Abziehbildern in der Stube herum und schrie: »Was geschenkt ist, bleibt geschenkt!«

Im Kinderzimmer in der Ecke aber hockte einsam und allein die kleine Wirtin und weinte bitterlich, weil Mariannchen das niedliche Domino gewonnen hatte und nicht sie. Vergebens versuchte Puppe Gerda sie zu trösten.

Erst Vater, der seine Lotte unter den Kindern vermißte und sie in der Kinderstube in Tränen fand, setzte seinem Nesthäkchen den törichten kleinen Kopf zurecht. Ja, da schämte sich die Annemarie, als Vater ihr Vorstellungen machte, daß sie Mariannchen das Domino nicht gönnte. Da sah sie es ein, wie häßlich es von ihr war, ihre eigene kleine Person stets in den Vordergrund zu schieben und sich nicht zuerst nach den Wünschen ihres Besuches zu richten.

Bis zum Abendbrot wurde noch gespielt, und Klein-Annemarie gab sich jetzt redlich Mühe, nicht an sich selbst zu denken, sondern erst an die anderen. Sie hatte es ja ihrem Vater versprochen.

Die Berge mit belegten Brötchen schwanden im Umsehen. Hilde war recht unmanierlich und nahm sich gleich vier Stück auf einmal. Frau Doktor Braun hatte Angst, daß die Kleine sich den Magen verderben könnte. Aber Hilde behauptete: »Zu Hause esse ich noch tausendmal mehr!«

Plötzlich, ohne daß jemand eine Ahnung davon hatte, stand Nesthäkchen vom Stuhl auf und klopfte an ihr Glas mit Himbeerwasser. Sie hatte an Großmamas Geburtstag neulich zum erstenmal in ihrem Leben eine Tischrede gehört. Man hatte auf Großmamas Wohl angestoßen und »hoch soll sie leben« gesungen. Das hatte auf Nesthäkchen großen Eindruck gemacht. Fräulein erzählte ihr später, daß man solche Rede einen Toast nennt, und daß dieser selten bei einer Gesellschaft fehlt.

Drum stand Klein-Annemarie auch heute bei ihrer Kindergesellschaft auf und rief mit lauter Stimme: »Ich rede jetzt einen Prost, und dann gehen alle Kinder nach Haus!« Darauf begann sie zu singen: »Hoch sollen sie leben – hoch sollen sie leben – dreimal hoch!« Und sämtliche Kinder fielen jubelnd mit ein. Vater und Mutter aber lachten Tränen über den merkwürdigen Toast ihres Nesthäkchens.

Wieder ging die Klingel – klingling – ein Kind nach dem anderen wurde abgeholt. Mit begeistertem Dank zogen sie, ihren Gewinn im Arm, nach Haus.

Schließlich war nur noch Hilde Rabe übrig.

»Wann kommt denn dein Mädchen?« erkundigte sich Fräulein, denn ihrer kleinen Annemarie fielen die Augen fast zu vor Müdigkeit.

»Och, noch lange nicht, ich gehe noch lange nicht nach Hause, wenn Geburtstag ist, darf ich auch immer bis zehn aufbleiben!« lautete die Antwort.

»Aber heute ist kein Geburtstag, mein Kind. Unsere Frieda wird dich nach Haus begleiten, denn Annemarie muß jetzt ins Bett gehen, die darf nicht so lange aufbleiben«, sagte Frau Doktor Braun.

Hilde jedoch wollte durchaus noch nicht nach Haus. Sie kroch unter den Tisch und versteckte sich. Als Frieda sie vorziehen wollte, riß sie sich los, sprang an der entgegengesetzten Seite wieder hervor und lief davon durch alle Zimmer. Es mußte eine richtige Jagd auf sie gemacht werden.

Aber als man sie endlich erwischt hatte und die Tür hinter ihr und Frieda zugeschlagen war, sagte Mutti in ernstem Ton: »Das ungezogene Kind wird nicht wieder eingeladen!«

So müde Nesthäkchen auch war, es schämte sich für Hilde, daß sie sich so schlecht benommen hatte. Dann dankte Annemarie den Eltern von Herzen für den herrlichen Tag.

Und damit war die Kindergesellschaft zu Ende.

*

Auch dieses Buch ist jetzt zu Ende.

Ich will euch nur noch berichten, daß Nesthäkchen auch ferner bemüht war, ihren Eltern Freude zu machen. Auf die schönen Weihnachtsferien folgte ein fleißiger Winter. Als das erste Schuljahr um war und Annemarie in die neunte Klasse versetzt wurde, da brachte sie nicht nur eine feine Osterzensur heim, nein, sogar eine Prämie! Ein wunderschönes Geschichtenbuch, zur Belohnung für ihren Fleiß und ihr gutes Betragen.

Und wollt ihr, liebe Kinder, wissen, wie es Klein-Annemarie weiterhin ergangen ist – nur Geduld – ich erzähle euch bald wieder etwas von unserem Nesthäkchen.


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