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11. Kapitel. Am grünen Strand der Spree.

»Mutti – Vater – Mutti – Fräulein!« In hellem Jubel stürmte Nesthäkchen in die Wohnung.

Die Mappe flog in eine Ecke, der Federkasten nebst Bleistiften und Pudeltintenwischer sprang in die andere.

»Mutti – Fräulein – Hanne – ach, hört doch bloß mal!« Vor lauter Aufregung brachte die Kleine die wichtige Nachricht gar nicht heraus.

»Aber Lotte, ein kleines Mädchen darf doch nicht so ungestüm sein.« Kopfschüttelnd blickte Frau Doktor Braun auf ihr Töchterchen.

»Sieh' nur, wie du mit deinen Schulsachen umgehst«, begann nun auch Fräulein ihre Strafpredigt.

Aber sie kam damit nicht weit. Das vor Ungeduld zappelnde Nesthäkchen rief dazwischen: »Ach, liebe, einzige Mutti, bitte, bitte, laß mich doch bloß heute mal ungestüm sein, wir machen ja morgen einen Schulausflug!«

Da war sie heraus, die große Neuigkeit.

Und nun ging es unaufhaltsam weiter. »Mit dem Dampfer fahren wir – einer ganz für uns allein – und eine Mark sollen wir mitbringen! Und unsere allerbesten Kleider brauchen wir nicht anzuziehen, Fräulein Hering möchte, daß wir uns schmutzig machen. Um neun Uhr an der Spreehaltestelle, und Stullen soll sich jedes Kind nach seinem Hunger mitnehmen, ich muß mindestens zwölf haben, Puppen sollen zu Hause bleiben und – ach, ich freu' mich ja so mächtig!«

Von Mutti lief der kleine Unband zu Fräulein, das ebenfalls vor Glückseligkeit halbtot gedrückt wurde.

»Ja, weißt du denn überhaupt schon, ob wir es erlauben, daß du mitfährst, Lotte?« unterbrach Mutti die Freudenausbrüche bedenklich.

Im Augenblick war das noch eben strahlende Kindergesicht verwandelt. Mit ungläubigen Augen, mit herabgezogenen Mundwinkeln stand Nesthäkchen da.

»Aber – aber – wenn unsere Lehrerin es sagt, dann muß man doch gehorchen!« Die Kinderstimme zitterte, und die großen, blauen Augen flimmerten von aufsteigenden Tränen.

»Nein wirklich, Lotte, du bist mir noch zu klein zu solchem Schulausflug und vor allem zu unachtsam und zu wild.«

Lautes Geplärr übertönte Muttis Rede.

»Ich krieg einen Tadel, wenn ich fehle – hu – a – uh – und wenn die anderen Kinder dürfen, dann muß ich auch dürfen – hu – a – uh –«. Es schrillte durch das ganze Haus.

»Still, Annemie, Hilles schicken wieder rauf und beschweren sich über den Radau«, beschwichtigte Fräulein das schreiende Kind.

»Ist mir ganz gleich, wenn ich nicht mit darf«, das Füßchen in den braunen Wadenstrümpfchen begann vor Empörung sogar zu trampeln.

»Hör' mal, mein Kind, wenn du so ungezogen bist, ist es bereits erledigt, daß du zu Hause bleibst«, warnte die Mutter.

»Aber wenn ich artig bin – ach, liebe, süße Mutti –.« Klein-Annemarie brach plötzlich in ihrem Quälen ab und stürmte zur Korridortür.

Dort hatte es soeben geschlossen. Vater kam nach Haus. Nesthäkchen wußte schon, an wen es sich mit seinen Bitten wenden mußte.

»Vati – liebes, einziges Vatchen!« Da hing die Kleine an seinem Hals und preßte das tränenfeuchte Gesicht an Vaters reinen Kragen.

»Na, Lotte, mal wieder Überschwemmung, warst du unartig?«

»Nee, schrecklich artig! Bloß weil wir morgen 'ne Landpartie machen, die ganze Klasse, und Mutti mich nicht mitlassen will, heule ich. Ach, Vatchen, erlaube es doch, ja – sieh mal, ich bin doch gar nicht mehr zu klein. Margot ist viel jünger und Pummelchen einen ganzen Kopf kleiner, und die dürfen doch auch.« Dabei drehten die Kinderhändchen bittend an Vaters Jackenknopf, bis derselbe ab war.

»Hm – na, wollen mal sehen.« Doktor Braun hatte nicht Lust, sich noch mehr Knöpfe von den bettelnden Kinderhändchen abreißen zu lassen.

»Du erlaubst es – au fein!« In Annemaries Gesichtchen ging plötzlich wieder die Sonne auf.

»Mutti – Mutti – Vater erlaubt es, weil ich schon so groß bin.« Wie der Wind ging es zum Wohnzimmer zurück.

»Könnte nicht Fräulein unsere Lotte begleiten, daß der Wildfang beaufsichtigt ist?« stellte Doktor Braun, der seinem Kleinchen schwer einen Wunsch abschlug, vor.

»Nee, ach nee, dann ist es gar nicht richtig, Margot bringt auch ihre Emilie nicht mit, und ich bin doch schon sieben Jahre«. Der Sonnenschein auf Nesthäkchens Antlitz wurde wieder von einer Wolke verdunkelt. »Und wenn wir unsere Puppen nicht mitbringen sollen, dann dürfen lebendige Fräuleins doch erst recht nicht mit. Bitte, bitte, Vatchen!« Wieder kamen Doktor Brauns Jackenknöpfe in Gefahr.

Fräulein aber sagte vorwurfsvoll: »Ich habe immer geglaubt, meine kleine Annemie hätte mich lieb, und nun will sie mich zu Hause lassen?«

»Ach, Fräulein, bloß morgen, sonst nehme ich dich auch immer mit. Aber du bist doch nicht in der zehnten Klasse, Fräulein Hering hat noch extra gesagt ›bloß die Schülerinnen der zehnten Klasse‹. Und Fräulein Hering wird schon auf mich aufpassen und der liebe Gott auch!«

Nachdem Frau Doktor Braun sich noch bei Frau Thielen erkundigt hatte, ob dieselbe ihrer kleinen Margot die Teilnahme gestatte, gab auch sie schließlich, wenn auch schweren Herzens, ihre Einwilligung.

Nun war wieder eitel Sonnenschein bei Klein-Annemarie.

»Hänschen, Kläuschen – wir machen morgen einen Schulausflug mit dem Dampfer!« Wie ein Gummiball sprang das kleine Schwesterchen in das Zimmer der Brüder.

»Pah« – machte Klaus geringschätzig, »wir machen nächstens auch einen, aber mit Kremsern, und da bammeln bunte Lampions dran«, so versuchte er sie zu übertrumpfen.

»Aber Dampferfahren ist viel feiner, da kann man richtig bei ersaufen – etsch, siehste!« prahlte Klein-Annemarie wieder.

»Du, lass' das nicht Mutti hören, sonst mußt du noch zu Hause bleiben, wenn du solche Absichten hast«, warnte der große Bruder Hans.

»Ach wo, ich will doch gar nicht ersaufen«, beteuerte die Kleine eifrig. »Aber Kläuschen, ich habe eine Riesen-Riesenbitte an dich, tu es doch, ja?«

»Nee«, lehnte dieser kurz ab. Er erfüllte überhaupt nicht gern Bitten. Riesenbitten noch weniger, und nun noch gar Riesen-Riesenbitten. Nee, dafür war Kläuschen ganz und gar nicht zu haben.

»Dann du, Hänschen, nicht wahr, du tust mir den Gefallen?« Die kleine Schmeichelkatze begann zärtlich mit ihren Tintenfingerchen das Gesicht des Tertianers zu streicheln.

»Erst muß ich wissen, was es ist.«

»Deine Botanisiertrommel – nicht wahr, du leihst sie mir morgen. Glaubst du wohl, daß zehn Stullen hineingehen, Hänschen?«

»Du sogar noch dazu, Kleines«, lachte der gute Bruder, langte die große, grüne Trommel vom Nagel und hängte sie Klein-Annemarie um die Schulter. Tatsächlich, sie war nicht viel kleiner als Nesthäkchen selbst.

»Du bist mein aller – allerbestes Hänschen.« Annemarie war ganz und gar von Dankbarkeit erfüllt.

Aber Klaus schämte sich jetzt seiner unfreundlichen Abweisung, als er das gute Beispiel seines Bruders sah.

»Wenn du mein Schmetterlingsnetz zu der Landpartie haben willst, meinetwegen«, sagte er zögernd, indem er seinem Herzen einen Stoß gab.

Nun hatte Annemarie eigentlich bisher gar nicht daran gedacht, das Schmetterlingsnetz von Klaus mitzunehmen. Aber was einem geboten wird, muß man ergreifen. Allzu oft kamen solche Liebenswürdigkeiten bei Kläuschen nicht vor.

»Wenn es nun aber morgen regnet?« fragte Klaus plötzlich.

»Dann hört es wieder auf!« schrie Nesthäkchen wütend. Der dumme Klaus hatte immer so abscheuliche Ideen.

»Was meinen Sie, Hanne,« fragte Annemarie zweifelnd ihre gute Freundin Hanne, »ob es morgen wohl regnen wird?«

»Is schon möglich,« war die nicht sehr verheißungsvolle Antwort, »in meiner großen Zehe muckert es wieder.«

Aber trotzdem es in Hannes großer Zehe muckerte, schaute am nächsten Morgen die goldene Sonne auf das schlafende Nesthäkchen herab. Denn artige Kinder sieht die liebe Sonne gern, da versteckt sie sich nicht hinter Wolken. Und wenn Annemarie schlief, war sie immer artig.

Hurra – jubelnd ließ sich die Kleine fertigmachen. Mit hellblauem Waschkleidchen und blauem Leinenhut angetan, stolzierte Annemarie, in der einen Hand das Regenschirmchen, in der andern das Schmetterlingsnetz von Klaus, durch alle Zimmer.

»Lotte, versprichst du mir auch, artig und nicht zu wild zu sein und keine Dummheiten zu machen?« Wohl schon zum dritten Male fragte es die Mutter.

Nesthäkchen versprach alles. Es war ja so unmenschlich glücklich, daß es mitdurfte.

Hanne brachte die Botanisiertrommel mit Butterbroten. Aber trotzdem dieselben reichlich bemessen waren, blieb noch viel Platz darin.

»Ob ich« – überlegte Annemarie, und kaum war dieser Gedanke in ihrem Köpfchen aufgetaucht, da hatte sie ihn auch schon ausgeführt.

Gerda, ihr Liebling, die ihr den ganzen Morgen schon leid getan hatte, weil ihre blauen Glasaugen gar so sehnsüchtig die Vorbereitungen zur Landpartie verfolgten, Gerda saß plötzlich in der grünen Botanisiertrommel. Neben sämtlichen Stullen, sie ging gerade noch rein. Dagegen konnte Fräulein Hering nichts haben, Puppe Gerda nahm doch keinem einen Platz weg.

Nachdem Klein-Annemarie von Vater noch zehn Pfennige und von Mutti ebenfalls einen Groschen geschenkt bekommen hatte, mit der Weisung, das Geld aber nicht zu vernaschen, sondern einen guten Gebrauch davon zu machen, konnte es endlich losgehen. Die Mark wollte Fräulein, die Annemarie zum Dampferanlegeplatz brachte, lieber selbst der Lehrerin übergeben, sonst verlor Annemarie sie unterwegs noch.

»Viel Vergnügen – sei artig – trinke nicht, wenn du erhitzt bist!« so klang es noch hinter dem selig mit Botanisiertrommel und Schmetterlingsnetz abziehenden Nesthäkchen her. Aus der Nebentür wurde Freundin Margot mit ähnlichen Mahnungen entlassen.

Es war ein hübsches Bild an dem Dampferplatz der Spree. Lauter kleine Mädelchen mit rosigen Gesichtern und erwartungsvoll glänzenden Augen. Zuerst wurde der Lehrerin die Mark Zehrgeld abgeliefert. Nun zählte Fräulein Hering die ihr anvertrauten Schützlinge, ob alle beisammen wären, dann endlich durften die ungeduldigen Kleinen auf den Dampfer hinauf.

Mit der Wasserfahrt, die den Kleinen am verlockendsten an dem ganzen Ausflug erschienen war, erging es ihnen, wie es einem oft im Leben ergeht. Als sie anfing, als die Wellen so lustig um den Dampfer tanzten und der weiße Schaum so übermütig sprudelte, war es herrlich. Und als sie zu Ende war, da war es noch viel herrlicher. Den quecksilberigen Kleinen wurde das Stillsitzen zu lang, denn Fräulein Hering erlaubte nicht, daß auf dem Dampfer herumgelaufen wurde.

Annemarie und Margot, die beiden kleinen Freundinnen, saßen natürlich zusammen. Sie schauten beide einträchtig in die schwarze Wassertiefe, in der es so lustig von kleinen Dampferwellen sprudelte.

»Annemarie, lege dich nicht so weit über das Geländer hinüber!« rief Fräulein Hering warnend.

Aber Annemarie hörte nicht. Sie mußte sehen, wo die niedliche, kleine Welle hinsprang.

Da griff der Wind aus Ärger über das ungehorsame Kind plötzlich nach Annemaries Leinenhütchen.

Hui – riß er es ihr von den Locken, hui – wirbelte er es mittenhinein in die tanzenden Wellen.

»Mein Hut – halt – mein Hut!« schrie die Kleine erschreckt, »ach, lieber Herr Kapitän, halten Sie doch bloß einen Augenblick an, daß ich mir mein Hütchen wiederangeln kann.« Sie versuchte mit dem Schmetterlingsnetz vergebens, den Ausreißer zu erwischen. Da – o Pech – entglitt der Stock den kleinen Händen – Kläuschens Schmetterlingsnetz segelte hinter dem blauen Leinenhütchen her, nach Berlin zurück.

Die Kinder waren sämtlich in begreiflicher Aufregung, während Annemarie den Ausflug, auf den sie sich so unbändig gefreut, gleich mit Tränen einweihte.

»Mutti wird schimpfen und Fräulein auch, daß ich so unachtsam gewesen bin«, jammerte sie. »Ach, und was wird Kläuschen zu seinem Schmetterlingsnetz sagen?«

Fräulein Hering hatte einen Schiffsjungen veranlaßt, mit einer langen Stange Jagd auf Annemaries Hut zu machen. Aber die Strömung war zu stark, pfeilschnell schwammen Hut und Netz davon, auf Nimmerwiedersehen.

»Wo reist mein Hütchen jetzt hin?« erkundigte Klein-Annemarie sich bei der sie freundlich tröstenden Lehrerin.

»Erst die Spree entlang und dann in die Havel, denn dort hinein mündet die Spree«, belehrte sie Fräulein Hering.

»Und dann?«

»Dann geht's in die Elbe und von dort in das Meer.«

»Ach« – Nesthäkchen riß die Blauaugen kugelrund vor Verwunderung auf. Solch eine große Reise machte ihr Hut, am Ende gar bis nach Afrika! Fast tat es der Kleinen leid, daß sie nicht selbst ins Wasser gefallen war und die weite Seereise mitmachen konnte.

»Ich habe von meinem Papa einen Groschen geschenkt bekommen, vielleicht kannst du dir dafür einen neuen Hut kaufen.« Die gute kleine Margot wischte mit ihrem Tüchlein Annemaries nasses Gesichtchen ab.

»Danke schön, Margotchen, aber ich habe auch Geld bekommen, zwei Groschen sogar.« Ganz gerührt war Nesthäkchen von der Uneigennützigkeit ihrer Freundin.

Zum Dank öffnete sie ihre Botanisiertrommel, freilich nur einen Spalt breit, und ließ Margot hineinschauen.

»Haach!« machte die, als sie die eingeschmuggelte Puppe erblickte, aber Annemarie hielt ihr schnell den Mund zu.

»Nicht verraten!« flüsterte sie dabei.

Nun hatten die beiden kleinen Freundinnen ihr erstes Geheimnis miteinander.

Endlich war man am Ziel. Am grünen Strand der Spree. Paarweise ging es durch den rauschenden Wald in das Forsthaus, in dem das Frühstück eingenommen werden sollte. Hell erschallte es von fünfzig Kinderkehlen: »Das Wandern ist des Müllers Lust.«

Auf weichem Moosteppich standen lange Holztische. Die nette Frau Försterin schleppte mit ihrer Anna große Gläser Milch herbei für all die durstigen Mäulchen.

Hei – wie das schmeckte! Wie schnell die Butterbrote vertilgt waren!

Dann wurde im Walde gespielt »Schwesterchen, komm mit« und »Verwechsle das Bäumchen«. Der sonst so stille Wald hallte von Jubel, Rufen und Jauchzen wider.

Nur eine blieb abseits von all den fröhlichen Kleinen und hätte doch so gern unter ihnen geweilt und mitgespielt. Das war Puppe Gerda in ihrer Botanisiertrommel. Ach, dann wäre sie schon lieber daheim geblieben in der luftigen Kinderstube, als sich hier in dem dunklen Blechgefängnis zu langweilen.

Annemarie tat ihr eingesperrtes Nesthäkchen leid. Sie gab Margot heimlich einen Wink, und beide verschwanden aus dem lustigen Kreis hinter hohen Wacholderbüschen.

»Meine kleine Gerda mopst sich so ganz allein, wollen wir mit ihr ›Mutter und Kind‹ spielen, Margot?« bat Annemarie.

»Ich möchte lieber erst Fräulein Hering um Erlaubnis fragen«, meinte die artige Margot schwankend.

»Ach was, dann ist Fräulein erst böse, daß ich meine Gerda mitgebracht habe, komm nur«, wehrte Annemarie ab.

Margot ließ sich überreden. Die beiden Kinder richteten sich in einer Moosgrube, die ringsum mit Heidelbeergestrüpp bestanden war, eine Wohnung ein. Gerda wurde aus ihrer Gefangenschaft befreit, und alle drei spielten wunderschön miteinander.

Sie hörten es nicht, daß Fräulein Hering zum Aufbruch sammelte, denn das Mittagbrot sollte in einem am Wasser gelegenen Gartenlokal eingenommen werden.

»Na, sind wir alle beisammen?« fragte die junge Lehrerin, ehe man von dem freundlichen Forsthause Abschied nahm.

»Ja – ja«, erschallte es ringsum.

Aber das vorsichtige Fräulein Hering gab sich mit dieser Versicherung noch nicht zufrieden. Sie begann die an ihr vorüberziehenden Kinderpaare zu zählen. Da stellte es sich heraus, daß zwei fehlten.

Aber welche waren es von den Kleinen?

Fräulein Hering begann mit lautem »Holdrio – Kinder, wo seid ihr?« die nächste Umgebung zu durchstreifen. So kam sie auch an jene Mooswohnung hinter hohen Wacholdermauern. Sie lugte durch ein grünes Zweigfensterlein. Da sah sie eine wunderhübsche Puppe wie ein Elfchen mitten im Grünen sitzen. Auf dem Sofa aus Heidelbeerkraut lag die gnädige Frau Annemarie und hielt ihr Mittagsschläfchen. Margot aber kniete auf der anderen Seite der Wohnung und kochte eifrig Grünkohl für die Puppe.

»Aber Kinder, wo steckt ihr denn? Was soll denn das heißen, von den anderen fortzulaufen und hier für euch zu spielen? Und Puppen sollten doch überhaupt nicht mitgebracht werden. Bei einem Haar hätten wir euch hier im Walde vergessen und wären ohne euch weitergegangen.« Nie war Fräulein Hering jemals zu den Kindern so ärgerlich gewesen.

Margot fing denn auch sofort an zu heulen. Annemarie steckte aus Verlegenheit den Finger in den Mund. Auch ihr Mündchen zitterte vor verhaltenem Weinen. Die einzige, die ihre Ruhe behielt, war Puppe Gerda.

»Na, weinen nützt nichts, jetzt kommt und seid künftig nicht mehr so unartig!« sagte die Lehrerin schon wieder ein klein wenig freundlicher.

Aber Klein-Annemarie war das Bewußtsein zu schmerzlich, daß Fräulein Hering böse auf sie war. Sie hängte sich an ihren Arm und bettelte: »Bitte, liebes Fräulein Hering, seien Sie doch wieder gut mit uns. Meine kleine Gerda hat doch so traurige Augen gemacht, weil sie zu Hause bleiben sollte.«

Da nickte Fräulein Hering den beiden kleinen Sünderinnen verzeihend zu. Doch als Annemarie sich jetzt zurückwandte, um ihr Puppenkind wieder in die Botanisiertrommel zu stopfen, rief die Lehrerin entsetzt: »Aber Annemie, wie siehst du denn aus, du hast ja dein hübsches Waschkleidchen voller Blaubeerflecke.«

Auch Margots Kehrseite zeigte eine ähnliche bläuliche Färbung wie die ihrer kleinen Freundin – ach, das gab zu Hause sicher Schelte.

Ganz kleinlaut zogen die beiden in ihren verdorbenen Kleidern hinter den anderen her. Aber wenn die Sonne einem so lustig zublinzelt, wenn die Vöglein so jubelnd zwitschern und die Käfer einen so übermütig umsummen, dann hält solch Kinderschmerz nicht lange vor. Annemarie und Margot stimmten bald in den munteren Sang der anderen Kleinen mit ein. Und als das Spreerestaurant erreicht war, hatten die beiden nur noch eine Sorge: Wie man wohl am besten die erhaltenen Groschen verwenden könnte.

»Will einer Himbeerlimonade trinken?« fragte der Kellner, mit großen Gläsern des verlockenden roten Getränkes die Runde machend.

»Ich – ich«, rief es hier und da.

»Ja, ich!« bat auch Klein-Annemarie mit begehrlichen Augen.

Der Kellner hielt ihr ein Glas Limonade hin. »Kostet zehn Pfennig«, sagte er.

»Ach nee, ach nee, lieber nicht!« rief die Kleine erschrocken, denn ans Bezahlen hatte sie nicht gedacht. Was hatte sie denn davon, wenn sie die Himbeerlimonade ausgetrunken hatte? Gar nichts.

»Du wolltest dir ja einen neuen Hut kaufen, Annemie«, erinnerte sie Margot. »Vielleicht gibt es dort drüben an der Würfelbude einen.«

Die Würfelbude war dicht von den Kindern umlagert. Annemarie und Margot drängelten sich bis nach vorn. Dort gab es allerlei herrliche Sachen, aber vergebens schaute Annemarie nach einem Hut aus.

Da hatte ihr die Budenbesitzerin auch schon den Würfelbecher in das Händchen gedrückt.

»So, kleines Fräuleinchen, nur Mut, jeder Wurf über zwölf gewinnt.«

Annemarie schüttelte erfreut den Becher. Wie nett von der Frau, sie würfeln zu lassen.

»Eins – zwei – drei – vier – fünf Augen, nee, Fräuleinchen, det is zu wenig – einen Jroschen, bitte.«

Annemarie erschrak bis in ihr kleines Herz hinein. Was, einen ganzen Groschen sollte sie für das dumme Würfeln opfern? Nein, der war ihr viel zu schade, sie gab ihn nicht her.

Aber die Frau hielt sie an der Schulter fest, als sie Miene machte, fortzulaufen.

»Erst meinen Jroschen!« verlangte sie empört.

Da wagte das kleine Mädchen keinen Widerspruch.

Traurig holte es das kleine, rote Portemonnaie hervor, und noch trauriger nahm es von seinem Groschen Abschied.

»Was kriege ich denn nun dafür?« fragte sie schließlich, als jetzt andere Kinder würfelten und sich etwas von den hübschen Sachen aussuchen durften.

»Du – jar nischt, du hast ja verloren! Mach', daß du wegkommst, und nimm den anderen nicht den Platz weg.«

Die barsche Art der Frau bewirkte es mehr noch als der Schmerz um den verlorenen Groschen, daß Annemaries Tränen wieder zu fließen begannen.

Selbst Margots Trostworte wollten nichts nützen. Erst als Hilde Rabe ihr ein allerliebstes Armband zeigte, das sie dort drüben aus einem Automaten gezogen, kehrte bei Nesthäkchen die Freude am Leben zurück.

Sie besaß ja noch einen ganzen Groschen, dafür konnte sie sich noch viel kaufen.

Wunderbare Sachen waren in dem Automaten drüben. Kleine Uhren, Broschen, Armbänder, Puppenhalsketten, Kamm und Bürstchen, Spiegel und noch allerlei Schönes. Annemarie stand geblendet. Sie wußte nicht, was sie für ihren Groschen wählen sollte. Mutti hatte doch extra gesagt, sie solle einen guten Gebrauch davon machen.

»Was meinst du, Margot, was ist besser, soll ich die schöne Puppenkette nehmen oder die niedliche Uhr?« überlegte sie eifrig.

Margot war für die Kette. Aber Annemarie fand eine Uhr praktischer. Sie sollte ihren Groschen ja verständig anwenden.

»Also ich nehme die Uhr!« sagte sie laut zu dem Automaten und warf ihm ihren Groschen in den Schlund.

Sie zog am Griff und – hielt eine Zigarettenspitze in der Hand.

»Nee – nee – der hat sich geirrt, ich wollte ja die niedliche, kleine Uhr! Das olle Ding hier mag ich nicht, das tausche ich um!« Auf Nesthäkchens Geschrei eilten die Lehrerin und der Kellner herbei.

»Ja, das geht immer der Reihe nach, aussuchen ist beim Automaten nicht«, sagte der Kellner, als er das Unglück vernommen.

Fräulein Hering aber konnte sich nicht helfen, sie mußte laut lachen.

»Nicht wahr, der liebe Gott tauscht mir das olle Zigarrending doch um oder gibt mir wenigstens meinen Groschen wieder?« fragte Klein-Annemarie schluchzend mit rührendem Vertrauen.

»Der liebe Gott?« verwunderte sich die Lehrerin.

»Na ja, der liebe Gott kriegt doch das Geld vom Automaten«, belehrte sie ihre kleine, weinende Schülerin.

»Aber Kind, wie kommst du denn auf solchen Unsinn?«

»Na, wo bleibt's denn sonst, man sieht doch niemand, der's kriegt, und immer, wenn man was nicht sieht, dann ist's der liebe Gott«, behauptete Klein-Annemarie.

»Nein, Kind, das Geld bekommen die Menschen, denen der Automat gehört«, mußte Fräulein Hering, so leid es ihr auch tat, die kindlichen Hoffnungen zunichte machen.

»Ist ja nicht wahr, der liebe Gott hat mir meinen Groschen ja schon wiedergeschenkt!« Unter Tränen hielt Annemarie mit glücklichem Lächeln einen neuen Groschen in der Hand.

Aber als sie sich umwandte, da standen Vater und Mutter hinter ihr, die hierhergefahren waren, um sich nach ihrem Nesthäkchen umzusehen. Vater hatte seinem Liebling den Groschen ersetzt.

»Vater – Mutti!« jauchzte die Kleine, und aller Schmerz, alle Enttäuschung waren vergessen. Um so enttäuschter aber war Frau Doktor Braun beim Anblick ihres Töchterchens.

»Um Himmels willen, das schöne Kleid – und wo hast du denn deinen Hut, Lotte?«

»Der schwimmt nach Afrika und das Schmetterlingsnetz von Kläuschen dazu«, gab Nesthäkchen etwas zögernd Auskunft. »Aber für meinen neuen Groschen kaufe ich mir in Berlin einen anderen«, setzte sie gleich beruhigend hinzu.

Doch als man abends singend wieder in Berlin einzog, da war Nesthäkchens letzter Groschen dem Leinenhütchen und dem Schmetterlingsnetz gefolgt. Annemarie hatte ihn auf dem Dampfer verloren.

Margot dagegen hatte ihren Groschen einem armen Mann mit einem Stelzfuß geschenkt, und der hatte ihr dafür »Gottes Segen« gewünscht.

Wer von den beiden kleinen Mädchen hatte wohl einen besseren Gebrauch von seinem Gelde gemacht?


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