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13. Kapitel. Die Himbeermizi.

Lange konnten Vater und Mutter ihrem Nesthäkchen nicht zürnen. Als Klein-Annemarie beim Gutenachtsagen gar zärtlich bat, sie doch wieder liebzuhaben, als sie ihren Ungehorsam so tief bereute, verziehen die guten Eltern ihr. Vater war es schwer genug angekommen, seinen Liebling zu strafen, aber – ein Kind muß gehorsam sein!

Auch Klaus wurde wieder in Gnaden angenommen. Er versprach, künftig keine dummen Streiche mehr zu machen. Doch dieses Versprechen pflegte er am Tage mindestens einmal abzulegen und es genau ebenso schnell wieder zu vergessen.

Als aber Mutti mit Bestimmtheit verkündete: »Wenn wir bis nächsten Sonnabend noch einmal über dich zu klagen haben, Klaus, kommst du auch am Sonntag nicht mit auf die Schneekoppe!« da nahm sich der Strick doch zusammen. Die Wanderung zur Koppe hinauf, das war für die Kinder die Hauptsache an der ganzen Reise.

Auch für Nesthäkchen kam die Koppenpartie noch zum Schwanken, beinahe hätte es zu Hause bleiben müssen.

Es war am Vormittag an einem der nächsten Tage, da suchten Fräulein und Annemarie Himbeeren im Walde. Sie hatten sich jede einen großen Topf dazu mitgenommen, denn die Beeren sollte es zum Abendbrot geben.

Bei Fräulein schaffte es besser als bei Annemarie. Das kam aber nicht daher, daß Fräulein sich schneller bückte, sondern vielmehr davon, daß die Kleine sich öfters mal irrte und eine besonders schöne Himbeere statt in den Topf in das Mündchen spazieren ließ.

Plötzlich jubelte Klein-Annemarie hell auf.

»Ach, Fräulein, die vielen, vielen Himbeeren hier oben, alles rot, au fein, da werde ich bald mehr haben als du! Bitte, bleibe unten und laß mir allein diese Stelle!« bat sie ihr tiefer unten suchendes Fräulein.

Fräulein tat der Kleinen den Gefallen und ließ ihr die reiche Ausbeute der oberen Himbeersträucher. Nur einmal, als sie zu bemerken glaubte, daß sich Annemaries geblümtes Bauernkleidchen immer mehr entfernte, rief sie ihr warnend zu: »Kind – Annemiechen, gehst du auch nicht zu weit?«

»Nein – nein«, klang es beruhigend zurück.

Trotzdem ließ sich Nesthäkchen von jeder neuen, ganz besonders schönen Beere verlocken, immer noch ein Stückchen höher zu klettern. Emsig sammelte sie die purpurroten Beeren in ihr Gefäß. Das war schon halb voll.

Endlich hielt die kleine Beerensammlerin mit einem tiefen Atemzug inne, um sich ein wenig zu verschnaufen. Als sie das vor Eifer glühende Gesichtchen hob, sah sie plötzlich zu ihrem größten Erstaunen eine zweite kleine Beerensammlerin vor sich. Ein kleines Bauernmädel war's, nicht größer als Annemarie selbst. Aber das Röckchen, das es trug, war lange nicht so schön wie Annemaries Blümchenkleid. Es war vielfach geflickt. Die sonnenverbrannten Beinchen steckten weder in Schuhen noch in Strümpfchen, barfuß liefen sie über den rauhen, steinigen Boden des Gebirges.

Neugierig starrten sich die beiden Kinder, die sich plötzlich im tiefen Walde gegenüberstanden, an.

»Suchst du auch Himbeeren?« fragte Annemarie schließlich als die keckere von beiden.

Die Kleine nickte und wies auf eine Emaillekanne, die fast gefüllt war.

»Ach, hast du aber eine Menge, wollt ihr die alle heute abend essen?« setzte das Großstadtkind die Unterhaltung fort.

Das kleine Mädel schüttelte den Kopf.

»Ich verkaufe meine Beeren, du nicht auch?« Verwundert sah das Barfüßchen auf Annemarie, die laut auflachte.

»Warum lachst du denn?« fragte es etwas betreten. »Von dem Geld kaufe ich Milch fürs Brüderle und für meine lieben Katzel.«

Klein-Annemarie lachte nicht mehr. Mit heimlicher Bewunderung schaute sie auf das arme Kind, das nicht größer war als sie und schon Geld verdiente. Wieviel besser hatte sie es doch, daß sie die gesammelten Beeren sich selbst gut schmecken lassen durfte.

»Wie alt ist dein kleiner Bruder?« erkundigte sie sich schnell, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Auf den Herbst hat er's Jahr. Aber meine Katzel, die sind erst ein paar Wochen alt. Süß sind die kleinen Tierle, fünf Stück, die solltest du mal anschauen. Vater wollte sie ersäufen, aber ich leid's nicht, ich hab' sie halt gar so lieb. Ja, verschenken, zu recht guten Menschen geben, tät' ich schon eins.« Die kleine Fremde war ganz gesprächig geworden.

»Ach, schenke mir eins, ja, willst du? Bitte, bitte! Ein richtiges, lebendiges Kätzchen habe ich mir schon längst gewünscht. Bloß Mutti sagt immer, für die Stadt ist solch Tierchen nichts. Aber nun bin ich doch hier auf dem Land, da wird sie's schon erlauben. Und bei meiner Puppe Gerda kann es schlafen!« Nesthäkchen war ganz aufgeregt. »Ja, schenk' mir eins, du – wie heißt du denn eigentlich?«

»Mizi, die Himbeermizi bin ich halt, das ist ein schöner Name, gelt? Und wer bist du?« Die Kleine bückte sich während der Unterhaltung eifrig weiter und füllte ihre Kanne mit Beeren.

»Ich bin die Annemarie Braun aus Berlin. Sag', wann schenkst du mir das Kätzchen, Mizi?« Das lag der Kleinen im Augenblick am allermeisten am Herzen.

»Kannst ja gleich mitkommen und dir eins aussuchen. Wenn mein Töpfel voll ist, geh' ich heim.«

»Au ja, au fein! Weißt du was, Mizi, nimm meine Himbeeren noch dazu, da esse ich heut' abend weniger.« Eifrig tat die Kleine von ihrer Ernte in Mizis Kanne. Die füllte sich schnell.

»So, schau, jetzt können wir gehen.« Erfreut faßte die Himbeermizi nach Annemaries Hand.

»Ja – aber – wohnst du auch nicht zu weit?« In Nesthäkchens Seele kämpfte der Wunsch nach dem kleinen, lebendigen Kätzchen mit dem deutlichen Empfinden, wieder etwas Unerlaubtes zu begehen. Hatte sie ihren Eltern nicht erst vor zwei Tagen fest versprochen, nie wieder ungehorsam zu sein und niemals wieder fortzulaufen? Fräulein würde sie gewiß suchen – ja, wo war denn Fräulein überhaupt geblieben?

Annemarie spähte durch die moosbewachsenen Stämme der alten Bergföhren vergebens in den Waldgrund hinab. Kein Fräulein ließ sich blicken. Die Kleine hatte es in ihrer lebhaften Unterhaltung nicht beachtet, daß sie sich ein ganzes Stück entfernt hatte.

»Wohnst du auch wirklich nicht weit, Mizi?« fragte sie noch einmal ängstlich.

»Nein, gleich das erste Hüttl am Berg.«

Das klang ganz nah. Da konnte sie es schon wagen, sich flink eins der süßen Kätzchen zu holen.

Annemaries guter Engel hielt sich traurig beide Augen zu, um es nicht mit anzusehen, daß die Kleine schon wieder etwas Unrechtes tun wollte. Denn wenn ein Kind unartig ist, weint sein Schutzengel.

Da erklang es ganz aus der Ferne gedämpft empor: »Annemie – Annemie!« Das war Fräuleins Stimme.

»Ja – hier!« schrie Nesthäkchen zurück, und eine Bergeslast fiel ihm vom Herzen. Das war das Unrecht, das es im Begriff gewesen war, zu begehen und das ihm schon im voraus schwer auf der Seele lag.

»Hier – ich komme schon – du mußt auch mitkommen, Mizi.« Wie die wilde Jagd ging es über ächzendes Moos und knackendes Geäst talwärts. Annemarie sah jetzt erst im Herabsausen, wie hoch sie bei ihrem Beerensuchen in die Berge hinaufgeklettert war.

»Aber Annemie, wie leichtsinnig, dich so weit fort zu wagen.« – Fräulein, die das Kind schon geraume Zeit gesucht hatte, hielt plötzlich mitten in ihrer Strafpredigt inne. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen tauchte nicht nur ein kleines Bauernmädel vor ihr auf, sondern zwei.

»Das ist die Himbeermizi«, stellte Annemarie die neue Bekannte vor. »Sie hat fünf süße, lebendige Kätzchen und will mir eins davon schenken. Bitte, liebes, gutes Fräulein, wir wollen doch gleich mitgehen, sie wohnt ganz in der Nähe.«

»Aber Annemie, was sollen wir denn in Berlin mit einer Katze anfangen? Die kannst du doch nicht in einen Vogelbauer setzen wie dein Mätzchen! Und wenn sie frei herumläuft, würde Puck sie sicher beißen«, stellte Fräulein dem enttäuschten Kinde vor.

»Ach, aber Mizi könnte sie mir doch, solange ich hier bin, ein bißchen borgen, und die kleinen Meergänschen würden sich sicher auch sehr freuen, wenn wir ihnen das Kätzchen nachher zum Abschied schenken. Ansehen können wir es uns doch wenigstens, die Mizi wohnt ja gar nicht weit«, so bettelte Klein-Annemarie.

»Wir wollen erst unsere Himbeeren ins Haus tragen. Nanu, Annemie, sind das alle, die du gepflückt hast? Da scheinen ja die meisten in deinen Magen gewandert zu sein.« Fräulein sah verwundert den fast leeren Topf von Nesthäkchen.

»Ich habe meine Himbeeren der Mizi geschenkt, weil die sie doch verkauft und für das Geld Milch kaufen muß«, berichtete Annemarie.

»Das ist recht, Kind«, lobte Fräulein. »Nun wollen wir auch der Mizi ihre Beeren abkaufen, und dann mag sie uns meinetwegen ihre Kätzchen zeigen.« Erfreut folgte das kleine Beerenmädel der Voranschreitenden ins Haus. Das zweite kleine Bauernmädel aber blieb mit einem eigentümlichen Gefühl zurück.

Fräulein hatte sie für etwas gelobt, das sie doch eigentlich viel mehr um ihrer selbst willen getan hatte, als um Mizi eine Freude zu machen. Hauptsächlich hatte sie der Mizi doch ihre Himbeeren geschenkt, um möglichst schnell die kleinen Katzen zu sehen.

So nah, wie Annemarie sich das vorgestellt hatte, war das Hüttlein von der Himbeermizi nun nicht. Es war doch gut, daß sie nicht allein dorthin mitgelaufen war, daß Fräulein sie gerade noch im letzten Augenblick gerufen hatte. Erst mußten sie wieder tüchtig im Walde hinaufklettern, dann ging es hinaus auf die leuchtendgrünen Matten, die wie weiche Samtteppiche über die Berge gebreitet waren. Verstreut lagen darin die Häuslein und Hütten.

»Ach, hier wohnst du? – ist das aber ein olles Haus!« Klein-Annemarie sah geringschätzig auf das elende Hüttlein mit dem Strohdach.

Mizi stieg das Blut bis an die glattgebürsteten, semmelblonden Haare. Fräulein aber sagte verweisend: »Pfui, Annemie! Weißt du noch nicht, daß in dem schönsten Palast schlechte Menschen wohnen können und in dem armseligsten Hüttlein brave Leute? Ich hätte meine Annemie für weniger stolz gehalten!« Da schämte sich Annemarie ihres häßlichen Ausspruchs noch mehr als die Mizi ihres baufälligen Hüttleins.

Als Mizi ihre Gäste nun zaghaft in das kleine Stübchen führte, das so sauber und nett aussah mit den buntblühenden Blumenstöcken am Fenster, da gefiel es jedoch auch Annemarie hier. Während sie die Holzwiege mit dem sanft schlummernden Brüderle bewunderte – denn eine Wiege hatte das Stadtkind noch nie gesehen –, fragte Fräulein die Mizi nach ihren Eltern.

»Der Vatel und die Muttel arbeiten in der großen Papierfabrik im Nachbardorf. Da gehen sie schon in aller Früh' hin und kommen erst des Abends heim.«

»Ja, aber wer sorgt denn da für euch Kinder?« forschte Fräulein.

»Nu, halt ich, ich richte die Betten und kehre die Stube und versorge das Brüderle«, klang es ganz selbstverständlich aus dem Munde des achtjährigen Kindes.

Jetzt wurde Annemarie so rot wie vorhin die Mizi. Auch ohne Fräuleins sprechenden Blick empfand sie es, wieviel mehr das arme Kind, das in einem Hüttlein lebte, leistete als sie selbst, die in einem schönen Hause wohnte.

»Gehst du denn gar nicht in die Schule?« erkundigte sich Annemarie schüchterner, als das sonst ihre Art war.

»Freilich, dann paßt die Nachbarin auf den Bub auf, und auch, wenn ich Beeren suche. Aber jetzt haben wir zwei Monate lang Kartoffelferien.«

»Was für Ferien?« lachte Annemarie, und ihre Befangenheit verflog.

»So nennt man die Sommerferien hier auf dem Lande, weil die Eltern ihre Kinder für die Erntearbeit brauchen«, erklärte ihr Fräulein. »Aber an der fleißigen Mizi kann sich jedes Kind ein Beispiel nehmen, was?«

Zum Glück überhob Mizi die Kleine einer Antwort. Sie brachte in ihrem geflickten Schürzchen fünf junge Kätzchen aus dem Kaninchenstall herzugetragen. Zwei schneeweiße, eine graue, eine weiß-schwarz gefleckte und einen kleinen, schwarzen Kater. Die alte Katze aber kam argwöhnisch hinterhergelaufen, um zu sehen, ob ihren Kleinen auch kein Leids geschah.

Wirklich, Mizi hatte nicht zuviel versprochen. Süß waren die kleinen, spielerischen Dinger! Wie drollig sie durcheinandertollten, nach ihrem eigenen Schwänzchen haschten und sich gegenseitig ohrfeigten!

Nesthäkchen jubelte so laut, daß das Brüderle aufwachte und ein jämmerliches Geheul hören ließ. Da ging Mizi in die kleine Küche zum Herd, auf den sie kaum hinaufsehen konnte, langte Milch herunter, füllte ein Fläschchen und flößte sie dem Kinde geschickt ein.

Annemarie teilte ihre Bewunderung währenddessen getreulich zwischen den putzigen Kätzchen und der tüchtigen Mizi. Machte sie selbst nicht oft ein verdrossenes Gesicht, wenn sie nur abends ihre Spielsachen aufräumen sollte? Nein, das wollte sie aber von nun an nicht mehr tun, sie wollte immer an die fleißige Himbeermizi denken. Da unterbrach diese Nesthäkchens gute Vornahmen.

»Welches Katzerl magst? Ein weißes oder halt das schwarze Katerle?«

Ach, wer die Wahl hat, hat die Qual! Die Wahrheit dieses Sprichwortes empfand Klein-Annemarie zum erstenmal in ihrem siebenjährigen Leben. Am süßesten erschienen ihr eigentlich die schneeweißen Kätzchen, pflaumenweich waren die. Als Annemarie zaghaft eins auf den Arm nahm, ließ es ein ängstliches »Mi« ertönen. Das hörte sich gerade so an, als ob ein kleines Kind weinte. Die graue hatte so schöne, grüne Augen, wie aus Glas sahen die aus, und die gefleckte war die munterste von allen. Die spielte am niedlichsten und ohrfeigte die anderen am drolligsten. Aber den süßen, kleinen, schwarzen Kater hätte sie auch zu gern gehabt, der sah so entzückend frech aus.

»Ich möchte am liebsten alle fünf!« entschied Klein-Annemarie schließlich mit einem tiefen Seufzer.

»Alle geb' ich sie aber nicht her, meine Tierle.« Schützend breitete Mizi ihre kleinen Ärmchen über die Katzenfamilie.

Fräulein lachte: »Ei, Annemie, denke einmal, was Mutti wohl für ein Gesicht machen möchte, wenn du ihr die Einquartierung bringst. Und Frau Meergans würde uns am Ende die Wohnung kündigen. Ich denke, du wählst eins von den weißen Kätzchen. Davon hat die Mizi zwei und wird es daher leichter entbehren.«

Annemarie war einverstanden. Denn das kleine Kätzchen, das sich immer noch so warm in ihren Arm einkuschelte, hatte bereits ihr ganzes zärtliches Herzchen gewonnen.

»Vielleicht borgt uns die Mizi ein Körbchen, daß wir das Kätzchen besser heimtransportieren können«, schlug Fräulein noch vor.

»Freilich, ich hol' meine Schultasch'.« Bereitwilligst sprang Mizi in den Nebenraum.

Nesthäkchen machte ein verdutztes Gesicht. Was – in die Schulmappe wollte Mizi die Katze packen? Das war ja ulkig.

Da kam die Kleine auch schon zurück. In der Hand trug sie eine alte, ausgefranste Hanftasche, die arg mitgenommen aussah. Daraus nahm sie eine Schiefertafel, eine Fibel, ein Rechenbuch und einen Katechismus.

»Nanu – ist die olle Kartoffeltasche etwa deine Schulmappe? Erlaubt denn das deine Lehrerin, daß du mit solch einem schmutzigen Ding in die Schule kommst?« Annemarie blieb das rote Mündchen fast offen vor Staunen.

»Zu einem Schulranzen hat's halt noch immer nicht langen wollen«, entschuldigte sich Mizi errötend.

Wieder drängte sich Annemarie der Vergleich ihres eigenen Lebens mit dem des armen Kindes auf. War sie dankbar für ihre schöne Schulmappe? Hatte sie dieselbe nicht als etwas ganz Selbstverständliches hingenommen? Ja, wie oft mußte Fräulein sie tadeln, weil sie unachtsam mit ihr umging.

»Na, vielleicht bringt dir der Herr Rübezahl mal eine Schulmappe, Mizi, weil du so brav bist. Jetzt müssen wir aber schleunigst nach Haus, Annemie«, sagte Fräulein. »Leb' wohl, Mizi, und wenn du wieder Himbeeren hast, da bring' sie uns nur. Bei uns gibt's immer freudige Abnehmer dafür!«

»Küss' die Hand.« Mizi machte einen höflichen Knicks und reichte Annemarie ihre mißachtete Schultasche mit dem mauzenden Kätzchen. Dann hielt sie die alte Katze fest, die vor Wut fauchte, weil man ihr ein Junges nahm.

»Vielen, vielen Dank, Mizi, und besuche mich auch recht bald«, rief Annemarie, noch immer zurückwinkend, als sie schon ein ganzes Stück von dem Hüttlein der Himbeermizi fort war.

Nachdenklicher, als das sonst die Art des übermütigen kleinen Dinges war, ging heute Nesthäkchen neben Fräulein her.

»Es ist schrecklich traurig!« stieß die Kleine schließlich mit einem schweren Seufzer hervor.

»Was denn, Annemiechen?«

»Daß die arme Mizi ihre Eltern den ganzen Tag nicht sieht und kein Fräulein hat, nicht einmal eine Hanne, die ihr Mittagbrot kocht. Ja, gar keine richtige Schulmappe!« Jetzt brachen sich die krampfhaft zurückgehaltenen Tränen des weichherzigen kleinen Mädchens Bahn.

»Kind, Mizi ist trotz aller Armut ein glückliches Kind, weil sie, so klein sie auch ist, sich nützlich macht und ihre Pflicht tut. Und wenn die Eltern abends von der Arbeit heimkehren, denke nur, Annemiechen, wie sie sich da wohl über ihr fleißiges Töchterchen freuen werden.«

»Geben sie ihr auch einen Kuß?« fragte Annemarie ein wenig getrösteter.

»Freilich«, nickte Fräulein zur Erleichterung der Kleinen. Da schmiegte Nesthäkchen in einer plötzlichen, liebevollen Aufwallung das feuchte Gesichtchen an Fräuleins Arm und flüsterte: »Ich danke dir schön, Fräulein, daß du mich vorhin im Walde gerufen hast, sonst wäre ich sicher unartig gewesen und ohne Erlaubnis mit der Mizi mitgegangen.«

»Na, das ist ja diesmal noch gut abgelaufen. Aber meine kleine Annemie soll auch ohne mich stets daran denken, das Rechte zu tun. Wenn du Sonntag nicht mit auf die Schneekoppe gedurft hättest zur Strafe, das wäre doch traurig gewesen, was?«

»Au, fein – Sonntag geht's auf die Koppe!« Nesthäkchen machte vor Freude einen hohen Luftsprung. Aber noch jemand machte einen Luftsprung, und zwar einen noch viel höheren als Annemarie. Das war das schneeweiße Kätzchen in Mizis Schultasche.

Hops – da war es aus dem dunklen Gefängnis heraus – heidi – da jagte es davon über Stock und Stein. Spornstreichs lief es zu Mizis Hüttlein zurück.

»Meine Katze, mein süßes, kleines Kätzchen!« stieß Nesthäkchen, das vor Schreck zuerst förmlich erstarrt war, hervor. Laut schreiend wollte es hinter der davonspringenden kleinen Katze her.

Aber Fräulein hielt Annemarie fest.

»Laß das Kätzchen, Kind, es läuft zurück zu seiner Mutter und zu seinen Geschwistern. Wie wär' dir wohl zumute, wenn plötzlich ein Fremder dich deiner Mutti nehmen möchte? Und Klaus, der Nichtsnutz, würde am Ende das kleine Tierchen quälen. Laß es lieber bei der Mizi. Da ist es besser aufgehoben. Du kannst es ja oft besuchen«, setzte Fräulein hinzu, als Annemarie ein grenzenlos enttäuschtes Gesicht machte.

So mußte Nesthäkchen, das am liebsten alle fünf Kätzchen gehabt hätte, mit der leeren Tasche heimziehen. Jedoch, als sie einige Tage später Mizi ihr Eigentum zurückbrachte und gleichzeitig den Kätzchen einen Besuch abstattete, da fand die jubelnde Mizi eine wunderschöne Schulmappe in der alten, zerrissenen Tasche. Auf dem Zettel, der dabei lag, aber stand: »Von dem guten Berggeist Rübezahl.«


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