Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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16. Kapitel.

Was die Schwalbe sang.

Das Meer rauschte sein ewiges Lied. Schaumgekrönte Wellenköpfchen sprangen übermütig an den Strand, um die Wette mit braungebrannten Kinderbeinchen, die unter hellem Jauchzen vor ihnen Reißaus nahmen. Unermüdlich, wie das Meer, dieses Spiel tagtäglich wieder erneuernd. Öfters kam es auch vor, daß weiße Frauenfüße in übermütigem Sich-wieder-als-Kind-fühlen ebenfalls am Strande »paddelten«, so hieß der technische Ausdruck dafür. Allerdings zur Unzufriedenheit des moralischen Hansi. Als Annemarie zum erstenmal Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte und mit ihren sie ausgelassen bespritzenden Küken am Strand entlangsprang, meinte Hansi entsetzt: »Mutti, mit danz Nackefüße dehste pazieren? O Muttißen, wie tannst du diß da ßämen!«

Annemarie aber schämte sich durchaus nicht, sondern ging nach wie vor barfuß und war glücklich, daß sie ihre Schuhe schonen konnte und keine Strümpfe zu stopfen hatte.

Jeden Morgen, Punkt halb neun, traf man aus Lüttgen- und aus Grotgenheide auf der Kieferschonung, wo die Wege sich gabelten, zusammen.

Das gab dann jedesmal ein Freuen und eine herzliche Begrüßung, als ob man sich nach Jahren irgendwo zufällig träfe. Und dabei hatte man sich doch erst abends spät getrennt. Denn Lüttgenheide und Grotgenheide war eins. Kein Mensch konnte sagen, wo eigentlich die Grenze sei. Selbst die Besitzer waren sich darüber nicht ganz klar, wenigstens schwankten die Angaben zwischen dem Vergißmeinnichtbach, dem Erlengrund und der Füllenkoppel hin und her. Seitdem Ilse Hermann radeln gelernt hatte, war sie im Nu in Lüttgenheide. Zur lauten Freude der Kinder und zur heimlichen des Onkels tauchte sie ganz plötzlich dort auf und griff in ihrer praktischen Art überall mit ein, wo es gerade not tat. War es nun beim Gemüseputzen, beim Obsteinkochen oder bei der großen Wäsche, die auf dem Rasenplatz zur Bleiche gebracht werden sollte. Es machte ihr ungeheuren Spaß, sich in dem ländlichen Betrieb zu betätigen. Wenn sie an ihren graugetünchten Klassenraum mit den fünfzig Schülerinnen zurückdachte, dann hatte sie die Empfindung eines Vogels, der für kurze Zeit die Gitterstäbe seines engen Käfigs durchbrochen hatte und wieder eingefangen werden sollte. Aber sie wollte nicht an das Nachher denken. Nein! Noch waren lachende Sonnentage! Sie machte es wie die vielen, vielen kleinen Luftbewohner, die unbekümmert im Sonnenstrahl umherschwirrten und nicht an das Morgen dachten. Wie die Kinder, die nur in dem Augenblick lebten und bereits eine ganze Menagerie gesammelt hatten: Drei junge Hunde, zwei Kätzchen, ein halbes Dutzend Tauben, ein junges Ferkelchen, ein neugeborenes »süßes« Kalb und ein Füllen. Und die sich keine Gedanken darüber machten, ob dies alles in den großen Koffer gepackt und mit nach Lichterfelde heimreisen würde. Das Nachher kam noch früh genug.

Der Schloßherr von Lüttgenheide dachte, seiner sonstigen unbekümmerten Art ganz entgegen, um so mehr an das Nachher. Sobald er Ilses Blondkopf im Garten, in der Heide, in den Feldern oder am Meeresstrand auftauchen sah, nahm er sich vor, nun ein endgültiges Wort mit ihr zu sprechen. Aber Ilse machte ihm dies jedesmal unmöglich. Stets hatte sie mindestens zwei Gören an ihrem Arm; allein bekam man sie überhaupt nicht mehr zu fassen. Dabei hatte sie eine ganz neue Art ihm gegenüber. Übermütig und unbefangen – selbst das Erröten, das Klaus stets so belustigte, hatte sie sich abgewöhnt. Oder aber lag das daran, daß sie jetzt sowieso sonnengebräunt und rotbackig wie ein echtes Landmädel in dem kleidsamen hellila Dirndlkleid mit der grasgrünen Schürze einherlief? Denn die feinen rosa und weißen Kleider hingen unbenutzt im Schrank. Weder in Grotgen- noch in Lüttgenheide putzte man sich.

Merkwürdige Gedanken waren dem Klaus schon manchmal gekommen, die eigentlich gar nicht zu seinem geraden, offenen Charakter paßten. War ihm der Peter da etwa ins Gehege bei Ilse gekommen, daß sie ihm gegenüber so unbefangen tat? Stille Wasser sind tief, und der Peter Frenssen war ein Prachtmensch, das mußte man ihm lassen. Dumm wäre sie eigentlich, die Ilse, wenn sie einem solchen Windhund, wie er es war, den Vorzug geben würde, dachte er in edler Selbsterkenntnis. Hätte er es nur nicht zugelassen, daß sie in Grotgenheide wohnte. Sie an der Seite seines Vetters zu sehen, täglich das Glück der beiden vor Augen zu haben, nee, dafür dankte er. Er war nichts weniger als ein Märtyrer. Dann verkaufte er seine Klitsche und siedelte sich anderweitig an. Trotzdem ihm das verdammt schwer werden würde. Denn ein rechter Landmann verwächst mit seiner Scholle und ist bodenständig. Ganz andere Absichten hatte er mit Peter gehabt. Aber die schienen sich leider nicht erfüllen zu wollen. Denn Peter hatte nach wie vor eine unüberwindliche Ehrfurcht vor dem »Fräulein Doktor«.

Klaus war eifersüchtig. Klipp und klar herausgesagt. Das war ein sehr unbehaglicher Zustand für ihn. In seinem dreißigjährigen Leben war ihm das bisher nicht passiert. »Er kam, er sah, er siegte«, überall bisher, wo er sich gezeigt. Ein stattlicher, hübscher Kerl war er doch nun mal, na ja! Und seine lachenden sonnigen Augen hatten ihm so manchen freundlichen Blick von so mancher Schönen eingetragen. Und hier, wo es ihm zum erstenmal wirklich darauf ankam, sperrte man sich gegen seine sieghafte Art. Woran lag das bloß, daß die Ilse sich jetzt so freundschaftlich unbefangen, so ausgelassen überlegen ihm gegenüber zeigte?

Sicher war sie seiner – das war die Lösung des Rätsels, auf welche der verliebte Klaus nicht kam. Oh, Ilse wußte ganz genau, wie es um Klaus stand. Denn ein Schauspieler war er sein Lebtag nicht gewesen. Und es machte ihr ungeheuren Spaß, aus Revanche jetzt ihn zappeln zu lassen. Das gab ihr diese neue mutwillige Art, daß sie beide die Rollen vertauscht hatten. Denn auf Marlene war sie längst nicht mehr eifersüchtig. Das sah ja ein Blinder im Stockdustern, wen Klaus meinte. Und daß Marlenes Gefühle ganz andere Wege gingen als nach Lüttgenheide, auch das wußte die schlaue Ilse. Die Ehrfurcht Peter Frenssens vor dem gelehrten Fräulein Doktor war durchaus nicht mehr so weit her. Er hatte es sogar schon zu »Fräulein Marlene« gebracht, als er sie, mit einer großen Küchenschürze seiner Mutter angetan, beim Bohnenabfädeln angetroffen hatte. O Gott, was gab sich Marlenchen für Mühe, den hohen Bildungspiedestal, auf den er sie gestellt, zu erschüttern. Sie, die früher nie besonders viel für hauswirtschaftliche Tätigkeit übrig gehabt, schien plötzlich ein ungeheures Interesse am Buttern, am Verwerten des Gemüses und des Obstes, am Milchertrag und der Aufzucht des Jungviehs und an dem Hühnerhof mit seinen bunten Insassen zu nehmen. Eigentlich war es nicht hübsch von Ilse, daß sie die Cousine dauernd damit aufzog, ob sie das alles nur aus naturwissenschaftlichem Interesse täte.

»Gäste, welche die Hände in den Schoß legen, kann man auf einem Gut nicht gebrauchen«, hatte Marlene lachend geantwortet. »Und sich in Grotgenheide füttern zu lassen und in Lüttgenheide den ganzen Tag zu stecken, das ist nicht jedermanns Geschmack.« So, da hatte die Ilse auch ihr Fett.

Aber zu ernsthaften Kabbeleien zwischen den Unzertrennlichen kam es nie mehr. Und zwar aus einem höchst merkwürdigen Grunde: Weil der Weg, den sie bisher gemeinsam beschritten, sich jetzt trennte.

Man stand früh auf an der Waterkant. Um halb sieben traf man, bis auf vereinzelte Langschläfer, schon auf beiden Gütern zum ersten Frühstück zusammen. Marlene, die an und für sich die Ferien gern zum Ausfaulenzen benutzte, setzte ihre Ehre drein, stets pünktlich am Frühstückstisch zu sein. Da kam Peter Frenssen schon von seinem Frühritt auf die Felder zurück und sah mit frohen Augen zu, wenn Marlene den Kaffee eingoß und die Schinkensemmeln zurechtmachte. Diese Arbeit hatte sie »Tante Käthchen«, so hieß Peters Mutter allgemein, ein für allemal abgenommen. Seine Schwester Elli war dann noch in der Kinderstube beschäftigt, und Ilse, sonst die praktische, ließ sich mit spitzbübischem Gesicht von Marlene bedienen. Sie wartete nur auf den Augenblick, wo sie nach Lüttgenheide entwischen konnte.

Heute hatte sie es besonders eilig, denn drüben war große Wäsche, und es war ja ganz klar, daß dieselbe ohne Ilses Hilfe nicht zustande kommen konnte. Während sämtliche Gäste von Grotgenheide, Ellis Quartett allen voran, sich in die Himbeersträucher begaben, um zum Safteinkochen die Früchte abzulesen – die Kinder allerdings mit weniger gemeinnützigen Absichten – war Ilse auf und davon.

Nach nicht viel mehr als fünf Minuten jagte sie bereits Urmütterchen, die mit ihrem Strickzeug friedlich in der Sonne unter dem großen Nußbaum saß, einen Schreck durch ihr helles »Guten Morgen« ein; da hatte sie bereits Klein-Ursel auf dem Arm und zerrte Annemarie, die sich selbst getreu, ihrer Vorliebe für langes Schlafen auch hier nicht entsagte, zum Jubel der Kinder aus dem Bett.

»Duten Moggen, Tante Ilse, woßu dehste denn boß immer erst wett, wenn de moggens doch dleich wieder da bist«, erkundigte sich Hansi.

»Ja, das möchte ich auch wissen!« auf der Veranda über ihnen erschien Onkel Klaus.

»Tatte Ise da beiben, immer da beiben.« Ursel umstrickte zärtlich ihren Hals.

»Frag' sie doch mal, ob sie will, Urselchen.«

»Wiste? Tatte Ise so atig, denn meißt Onte Laus se nich haus.«

Wie die Schwalben da oben am Turm tirilierten! Aber Ilse wollte nicht hören, was die Schwalbe sang.

»Nein, Tante Ilse will nicht. Tante Ilse findet es viel schöner in Grotgenheide.« Ein wenig gezwungen lachte Ilse.

»Na, denn tomm doch niß immer her, denn beib doch defällist da.« Hansi nahm unbewußt die Partei seines Onkels.

Ilse lachte jetzt frei heraus, während Klaus nicht recht wußte, ob er ihre Antwort für bare Münze nehmen sollte.

»Guten Morgen, Ilschen.« Frau Doktor Braun erschien mit einem Körbchen Eier. Sie sah frisch und rosig aus, jung trotz des weißen Haares. »Komm, frühstücke mit uns, Kind.«

»Nee, das können Sie von meinem Magen nicht verlangen, Frau Doktor, der hat bereits einen halben Liter Milch, zwei Eier, eine Honig- und eine Schinkelsemmel intus. Nach Lüttgenheide komme ich nur auf Tagelöhnerarbeit.« Frohgemut ergriff sie die große Gießkanne und wollte damit Obst- und Gemüsegarten zu den Bleichwiesen durchqueren. Aber dreifaches Geheul hielt sie zurück.

»Tante Ilse soll warten – wir wollen mit auf die Wiese gehen und die Wäsche begießen – ich hab' überhaupt gar keinen Hunger mehr.« Vronli ließ ihre Milch im Stich.

»Hier geblieben, Herzchen, – erst wird in Ruhe gefrühstückt, Tante Ilse wartet solange«, beruhigte die Omama.

»Hansi hat dehaupt sreckliß droßen Hunner, hat die danze Nacht niß zu essen detrist; Tante Ilse muß doll lanne watten.« Der Kleine kaute mit vollen Backen; man sah aber auch, wo es blieb.

Klein-Ursel nahm sofort auf Ilses Schoß Platz und fragte bei jedem Häppchen, das diese ihr in den Mund schob: »Wattste auch noch? Dehste auch niß lein?«

Schließlich war man soweit. Hansi konnte zwar noch immer essen. Diese angenehme Tätigkeit hätte er ohne mütterlichen Einspruch bis zum Schlafengehen fortgesetzt. Jedes Kind nahm seine kleine Gießkanne und hängte sich an Ilses Arm oder Rock. Klaus bemerkte es, trotz des anmutigen Bildes, das sie boten, stirnrunzelnd. Immer die Gören!

»Tommste auch mit, Ontel Tlaus?«

»Nein«, sagte er ärgerlich. »Ich gehe jetzt zu den kleinen Füllen und gebe ihnen Zucker. Wollt ihr mit?« Es mußte doch möglich sein, die Krabben von Ilse zu trennen.

»Nee, ich bleib' bei Tante Ilse, ich muß die Wäsche begießen.« Vronli war sofort entschieden.

Hansi schwankte. »Jieht man, wie die Wässe wätzt, wenn man se bedießt?« erkundigte er sich.

»Jawohl«, meinte Ilse, sich auf die Lippen beißend, »aus deinen kleinen Höschen wird ein Paar ganz große für Onkel Klaus.«

»Denn tommt Hansi destimmt mit.« Die Füllen waren vergessen – das Wunder mußte er sehen.

»Lein-Usche auch pantse – pantse machen.«

Wie die Kletten hingen sie der Ilse an. Was sollte Klaus allein bei den Füllen? Er erinnerte sich plötzlich, daß es wichtiger sei, nach der Heumahd zu sehen, und daß der Weg dorthin über die Bleichwiesen führte. Er schloß sich der Karawane an.

»Wir pflücken inzwischen Spinat zum Mittag, dann kann Urmütterchen ihn verlesen.« Urmütterchen, die ihre Erholung sitzend in dem bequemen Korbsessel unter dem Nußbaum fand, war eine wundervolle Hilfe für alle Arbeiten, zu der Annemaries Geduld nicht ausreichte.

Durch den Gemüsegarten kam man ohne Aufenthalt. Im Obstgarten war die Sache schon schwieriger. Vronli mußte durchaus die Johannisbeeren am Strauch zählen, ob schon wieder neue rot geworden waren. Hansi wollte es nicht glauben, daß die »niedichen drünen Äppelßen«, die der Wind unreif vom Baume geworfen, die Giftäpfel aus Schneewittchen seien, und wollte sich bei jedem der zahlreichen Exemplare davon überführen. Ursel belustigte sich damit, zu »ßeeballn«. Bis ein besonders energisch geschleudertes Geschoß dem Hansi an die Nase ging und ein Zetermordsgeschrei zur Folge hatte.

»Nu werd' iß destimmt dleich des-tärbt, hu–u–uh – der Appel is verdiftig – hu–u–uh – die Naje is taputt detommen – danz butig – – hu–u–uh – –.« Es war ohrenzerreißend.

Ilse feuchtete ihr Taschentuch an und machte einen Nasenverband, während Klaus dem heulenden kleinen Burschen vergeblich auseinanderzusetzen suchte, daß dieser Apfel, der an seine Nase geflogen, gerade kein giftiger gewesen wäre. Hansi schrie weiter, daß er »destimmt dleich des-tärbt« werden müsse, und Vronli weinte aus Teilnahme mit: »Mein Bruder wird totgesterbt!«

»Werd iß denn dleich auf die Wieje eindeflanst?« erkundigt sich Hansi plötzlich mit objektivem Interesse.

»Komm doch bloß mal erst auf die Wiese, Hansi, das andere wird sich finden«, lachte Ilse.

»Das anne wird siß dehaupt niß finden, Hansi will eindeflanst färben und tüßtiß bedießt, denn is er dleich so droß wie Ontel Tlaus.« Rührend war diese kindliche Zuversicht.

Aber Klaus, sonst der beste Onkel der Welt, hatte heute wenig Verständnis dafür. Das Wort, das die Ilse vorhin von Grotgenheide gesagt, ging ihm im Kopf herum und machte ihm denselben warm. Er mußte wissen, woran er war. So oder so. Wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen, das war nicht seine Sache.

»Laß doch die Gören, Ilse, sie werden sich schon beruhigen. Komm, wir gehen inzwischen voraus«, versuchte er sie von ihrem Gefolge zu trennen.

»Rabenonkel«, schalt Ilse lachend. »Morgen liegen sie alle drei an Darmkolik, wenn wir sie hier im Obstgarten unbeaufsichtigt lassen. Sie werden doch sicher ausprobieren wollen, welche Äpfel giftig sind und welche nicht.«

Also wieder vorbeigelungen. Erst draußen auf den Wiesen ließen die Kinder Ilses Arm los, um Blümchen zu einem Kranz für Hansi zu pflücken, wenn er totgesterbt würde.

Klaus stürzte sich kopfüber sogleich in die Brandung, wie er das im Meer zu machen pflegte.

»Ilse – war das vorhin dein Ernst mit Grotgenheide?«

»Mit Grotgenheide?« Ilse war so raffiniert, sich absolut nicht mehr besinnen zu können.

»Na ja – daß es dir in Grotgenheide besser gefällt als in Lüttgenheide – – –.« So, nun mußte sie Farbe bekennen, sich für ihn oder für Peter erklären.

»Ach so!« Ilse lachte harmlos. »Ja, das kann schon sein.«

»Aus welchem Grunde, Ilse?« Potztausend, die frische Stimme von Klaus klang ja ganz heiser. Machte das die Erregung? Sie bückte sich, um Himmelsschlüsselchen zu pflücken und gleichzeitig das unbequeme Erröten zu verbergen.

»In Grotgenheide, da ärgert mich keiner – – –.«

»Auf Lüttgenheide auch nicht, Ilse.« Innig griff er nach der Hand mit den Himmelsschlüsselchen. »Da hat man dich nur lieb – – –.«

»Pieb – Onte Laus Tatte Ise pieb«. echote es hinter den beiden.

Aber der verliebte Klaus ließ sich dadurch nicht mehr stören. »Ilse, ich weiß es ja, daß du mir gut bist – –.«

»Dut – Tatte Ise dut – so atig!« Wieder das süße Stimmchen dazwischen.

Wo war all die fröhliche Überlegenheit Ilses hin? Sie neigte sich zu Klein-Ursel herab und verbarg das glühende Gesicht in den blonden Löckchen.

»Ilse, ich warte auf deine Antwort. Sag' mir ein liebes Wort«, bat Klaus. Er wollte den Arm um sie schlingen. Da fühlte er sich energisch an seinem gelben Leinenjackett zurückgezogen.

»Ontel Tlaus – Ontel Tlaus – du mußt dleich mal tommen, danz snell mußt du tommen – –.« Hansi, der inzwischen noch nicht totgesterbt war, riß und zerrte höchst lebendig an seiner Jacke.

»Zum Kuckuck noch eins – wo brennt's denn?« Nirgends konnte es so brennen, wie bei ihm.

»Zum Duttut is sreckliß undezogen«, belehrte ihn sein kleiner Neffe. »Aber nu tomm dleich mit, defällist danz snell.«

»Ja, Hansi, was gibt's denn bloß?« So ungeduldig war Onkel Klaus noch nie gewesen.

»Die niediche tleine Meckmeckziede huft dir in ein fort. Hör' boß mal, wie se weint, tomm danz snell, Ontel Tlaus.«

»Zum Teufel mit der Meckmeckziege! Ilse, deine Antwort – –.« Er wandte sich zu ihr zurück.

Ja, wo war die Ilse? Auf und davon war sie. Sie hatte die gute Gelegenheit benutzt, um ihm zu entwischen. Drüben auf der Bleichwiese stand sie bereits und ließ den Wasserstrahl über die blütenweiße Wäsche brausen.

»Ilse, so entkommst du mir nicht.« Da war Klaus auch schon neben ihr. »Jetzt will ich meine Antwort haben – – –.«

Es ist etwas ganz Merkwürdiges um den kleinen Liebesgott. Eben noch hatte er die weichsten, innigsten Gefühle, deren ein Weib nur fähig sein kann, in Ilses Seele geweckt, und jetzt gefiel es ihm ganz plötzlich, in einer schalkhaften Laune ihren Arm mit der Gießkanne in die Höhe zu schleudern und – – –.

»Da hast du sie!« Ein kalter Wasserstrahl ergoß sich über den liebesheißen Klaus.

Klaus prustete und wischte mit seinem Taschentuch. Ilse lachte wie ein Kobold; die Kinder jubelten und holten ebenfalls ihre kleinen Gießkannen herbei.

»Ontel Tlaus bedießen – bleib mal defällist s-tehn und laß dir ßön bedießen.«

Aber Onkel Klaus blieb nicht gefälligst stehen.

»Die Antwort war deutlich genug – eine kältere Dusche war nicht gut möglich.« Ohne Ilse noch einen Blick zu schenken, ging er querfeldein.

Sollte sie hinterdrein? Reue packte Ilse wegen ihrer übermütigen Tat. Pah – Klaus mußte doch solchen Scherz richtig zu würdigen wissen. Er würde schon wieder gut werden.

War sie denn nun eigentlich verlobt oder nicht? Die Sache war entschieden zweifelhaft. Eine regelrechte Liebeserklärung hatte er ihr doch gemacht. Ja, aber sie hatte sich dazu doch nur mit einem kalten Wasserstrahl geäußert. Wenn er das nun als eine Zurückweisung auffaßte? Er war so wütend fortgegangen. O Gott, was packte Ilse für bittere Reue.

»Die Leute auf dem Lande sind doch mächtig dämlich, Tante Ilse, daß sie die Wäsche erst trocknen lassen und nachher wieder naß machen«, philosophierte Vronli beim Gießen.

Tante Ilse hörte nicht.

»Iß Tatte Ise unatig dewest, hat Onte Laus se nich mehr pieb?« fragte Klein-Ursel mit großen Augen. Ilse vermochte keine Antwort zu geben. Die starrte ein Loch in die blaue Luft, welche die Schwalben in großem Bogen durchsegelten. Aber sie jubelten nicht mehr, die Schwälbchen. Ihr Quiewitt klang nicht mehr glückverheißend.

»Tante Ilse, die niediche tleine Meckmeckziede weint noch immer.« Jämmerlich klang das Gemecker herüber. Ilse weinte unsichtbare Tränen mit der kleinen Meckmeckziege.

Hinter Ilse aber stand der kleine lose Wicht, der geflügelte, und lachte sich ins Fäustchen. Dann jagte er spornstreichs hinter der nassen gelben Leinenjacke her und ballte Klaus' Hand zu einer Faust, die er in der Richtung nach Grotgenheide schüttelte. Denn daß der Peter ihm die Ilse fortgeschnappt hatte oder fortschnappen würde, das war ja jetzt sonnenklar. Und als er sich genug über den wütenden Klaus amüsiert hatte, da machte der durchtriebene Schlingel kehrt und flog hinüber über den Erlengrund nach Grotgenheide zu, um dort weiter sein Spiel zu treiben – – –.

Tiefblau schillerte das Meer. Jetzt violett, jetzt smaragdgrün und nun wieder in den zartesten Perlmuttfarben. Unsagbar schön war es, so schön wie noch an keinem Tage. Eigentlich fand das aber Marlene immer. Jeder Tag dünkte ihr schöner als der vorangegangene.

»Ihre Augen sind unergründlich, wie das blaue Meer, Fräulein Marlene – –.« Sie hörte wieder Peter Frenssens Stimme. Warm und dunkel hatte sie geklungen. War es gestern gewesen oder vorgestern, als er hier beim Meeresrauschen neben ihr gesessen? Sie hatte jede Zeitbestimmung verloren. Sie fühlte sich eins mit dem ewigen Meer. Aber das wußte sie, wenn er heute wieder neben ihr sitzen würde – und er würde sicher kommen, das fühlte sie –, wenn er wieder so gute Worte zu ihr sprechen, so zaghafte Fragen stellen und auf halbem Wege, erschreckt über seine Kühnheit, innehalten würde, wie das seine Art war, dann mußte sie es ihm erleichtern, mußte ihm zeigen, daß sie nicht das unnahbare Wesen sei, für das er sie hielt.

Von drüben erschallte das Jauchzen der badenden Kinder. Die Grotgenheider hatten den Lüttgenheider heute den Rang abgelaufen. Aber jetzt schienen auch sie drüben am Familienstrand eingetroffen zu sein. Das laute Kreischen verriet es. Das konnten nur Annemaries Küken sein. Die drei Mädelchen von Elli waren stille Kinder, ihr Ältester mit seinen vierzehn Jahren schon recht verständig. Klein-Ursel brüllte – natürlich wollte sie wieder nicht »in das olle Bausewascher«.

Marlene hatte ihr Bad schon hinter sich. Sie liebte es, gleich früh, wenn es noch ganz leer am Strand war, weit hinauszuschwimmen in die blaue Unendlichkeit. Meist in Gemeinschaft mit ihrer Inseparable. Aber heute war ihr Ilse untreu geworden. Wo blieb sie denn? Ließ sich ja gar nicht sehen. Sie kannte doch ihr Lieblingsplätzchen hier oben auf den Dünen, wo sie still für sich las und träumte. »Marlenenlug« hatte Peter Frenssen es getauft.

Hier hatte er sie gefragt, ob ihr das ländliche Leben zusage. Um sich dann wieder beredt auszuschweigen. Ein oder zwei Tage später, ob sie sich wohl vorstellen könne, wie einsam es im Winter auf Grotgenheide sei. Wollte er sie abschrecken?

»Einsam mag es wohl sein, aber selbst die Wintereinsamkeit am Meer muß schön und erhaben sein«, hatte sie geantwortet.

»Sie würden sicher Konzerte und Theater der Großstadt entbehren?« Das hatte wie eine halbe Frage geklungen.

Und Marlene mit ihrer Ehrlichkeit hatte dies auch zugegeben, aber hinzugefügt, man müsse eben anderen Ersatz dafür haben.

»Was für einen Ersatz?« hatte er eifrig geforscht.

»Nun – gute Bücher – –«, hatte sie sich schnell herausgeredet.

Da war der warme Strahl in seinen Augen erloschen. Er war zu weltfremd, kannte zu wenig die Frauenseele, um zu wissen, daß selbst die ehrlichste in solchen Fällen sich hinter einer leicht zu erstürmenden Mauer verschanzt. Aber daß sie gerade von den dummen Büchern hatte sprechen müssen, das war erzdämlich von ihr gewesen. Die bildeten wieder eine unüberwindliche Kluft für ihn.

Und doch, eines Tages würde er sie fragen, ob sie bei ihm bleiben, ob sie seine Einsamkeit mit ihm teilen wolle – hier am blauen Meergestade würde es sein – hier, wo einem das Herz so weit und frei war. Marlene atmete tief die herbe Salzluft. Sie hatte ihn lieb, den blonden Hünen mit dem Kindergemüt. Gerade, daß sein Wesen so wenig kompliziert war, so kristallklar wie das Meer, das hatte sie zu ihm gezogen.

Die Wünsche seiner Mutter gingen andere Wege. Das ahnte Marlene. Kürzlich erst hatte Tante Käthchen, die als ehemalige umsichtige Gutsfrau über die Unzulänglichkeit des Grotgenheider Personals jammerte, gemeint: »Hier gehört eine tüchtige Hausfrau her.« Dabei hatte sie Ilse angesehen, während Peters Augen sie gesucht hatten.

Nun ja, sie war nicht annähernd so hauswirtschaftlich wie die Ilse. Davon war keiner mehr überzeugt, als sie selbst. Aber guter Wille und Intelligenz konnten doch jede Schwierigkeit überwinden. Vor allem, wenn man es jemand zuliebe tat – – –.

Waren das Schritte? Der weiche Sand verschlang sie. Meeressang übertönte sie. Marlenes Herz klopfte schneller – sie wandte den dunklen Kopf nicht.

»So, nu wirste dleich eindeflanst.« Eine Schaufel Sand flog ihr über die Beine. Die zweite – ehe sie es sich versah, waren Marlenes Hände und Füße von Sand bedeckt. Natürlich der Hansi, der sein Lieblingsspiel wieder mit ihr spielte. Da mochten Ilse und Annemie nicht weit sein.

»Morgen, Marlenchen. Wir kommen heut' mal wieder einen Posttag zu spät. Ilse hat sich mit den Kindern zulange auf der Bleiche aufgehalten.«

»Tante Ilse Ontel Tlaus bedießt, aber tüßtis«, berichtete Hansi.

»Hahaha – wie ein begossener Pudel ist er vorhin auch an mir vorübergelaufen, der Klaus«, stimmte Annemarie in das Lachen ihres Sprößlings ein. »Eine Karte von Rudi hab' ich, Flochen schiele sich die Augen nach ihm aus, schreibt er. Aber Hanne mache ihr Konkurrenz, und da die Liebe allemal durch den Magen geht, so neige sich die Wagschale seiner Gefühle doch mehr zu Hanne. Aber trotzdem sei's ihm arg einsam daheim, ohne seine böse Sieben und ihre Küken. Und darum – Kinder, morgen kommt er – ach, ich freu' mich ja diebisch! Ja, sagt mal, Kinder, seid ihr denn alle beide stumm? Marlene sitzt da wie Iphigenie, das Land der Griechen mit der Seele suchend. Und Ilse macht ein bedripptes Gesicht, als ob ihr alle Felle fortgeschwommen seien. Ach, mir geht ein Seifensieder auf: Ihr habt euch beide verkracht, Kinder. Na, denn gute Unterhaltung miteinander! Ich ziehe die der Fische der eurigen noch vor.« Lachend warf Annemarie ihren Bademantel, den sie über dem Arm hatte, in den Sand, streifte ihr loses Morgengewand ab und stand gleich fix und fertig im schwarzen Badetrikot, das sie darunter trug, da. Einige Sekunden später spritzten ihr schon Silberwellen über das Goldhaar.

Ilse und Marlene streckten sich in den warmen Sand, während Hansi sich geschäftig ans Werk machte, sie einzuschaufeln. Marlene äugte strandauf, strandab. Nirgends die blonde Hünengestalt Peters. Auch Ilse ließ ihre Augen umherwandern. Schien doch wirklich verknurrt, der Klaus. Sonst pflegte er sich immer in der Mittagsstunde einzustellen und mit den Kindern allerlei Dummheiten zu treiben.

»Du, Ilse –«, Marlene lachte leise, – »sind wir vielleicht wirklich miteinander böse, ohne daß wir es wissen; wir reden doch keinen Ton miteinander.«

»Ihr sind doch maujetot und werd' eindeflanst, da derft ihr dehaupt niß heden«, protestierte der im Schweiße seines Angesichts schaufelnde Hansi.

»Der Junge wird sicher mal Totengräber.« Auch Ilse mußte wieder lachen. Ach was, Grillen fangen! Die spülte man am besten mit Meerwasser ab. Eins, zwei, drei hatte auch sie ihr Kleid abgeworfen, und mit einigen langen Stößen war sie neben Annemarie, trotzdem sie derselben noch soeben versichert hatte, sie hätte gar keine Lust zum Baden. Die kühlen Wellen taten ihrem heißen Kopf gut. Solch kalte Dusche war wirklich nichts so Übles. – Klaus brauchte gar nicht zu knurren.

Droben in den Dünen frohlockte Marlene. So – nun konnte Peter Frenssen kommen. Aber er kam nicht. Erst mittags bei Tisch löste sich das Rätsel. Rike, das Mutterschwein, war erkrankt. Das gab große Aufregung in Grotgenheide. Mit Staunen nahm Marlene wahr, daß solch ein Schwein selbst zarte Gefühle in den Hintergrund drängte. Peter saß mit gefurchter Stirn da. Nein, es kam ihr doch wirklich zu komisch vor. Sie konnte das Lachen nicht zurückhalten.

»Sie freuen sich ja so, Fräulein Marlene.« Peters Interesse wandte sich von dem Schwein wieder Marlene zu.

»Nehmen Sie's mir nicht übel, Herr Frenssen, aber ich finde es so drollig, daß Sie alle mit so sorgenvollen Mienen dasitzen, als sei ein naher Angehöriger erkrankt.«

»Ja, das kann solch ein Stadtdämchen nicht begreifen«, meinte der alte Herr Frenssen, oder vielmehr Onkel Heinrich, wie er genannt sein wollte, lächelnd. Es war ganz harmlos und freundlich gesagt, und doch errötete Marlene beschämt. Sie wußte ganz genau, was Peter jetzt dachte – ob sich solch ein Fräulein Doktor am Ende wohl doch nicht zur Landfrau eigne.

»Mining soll gleich noch einen Topf Kleie für die Rike kochen. Ich werd' heut' nicht schlafen, sondern es ihr selbst nachher bringen, daß die Kleie auch lauwarm ist«, sagte Tante Käthchen nach Tisch.

»O Tante Käthchen, Sie brauchen doch Ihr Nachmittagsschläfchen nicht wegen des kranken Schweines zu opfern. Es wird der Rike gewiß ebenso schmecken, wenn ich ihr das Diner serviere«, sagte Marlene schnell, in dem Bestreben, ihren Fehler von vorhin wieder gut zu machen.

»Sie, Marlenchen? Sie passen in den Schweinekofen wie die Auster in die Buttermilch«, amüsierte sich Tante Käthchen.

»Du als Schweinekellnerin, Marlenchen? Das Bild muß ich unbedingt für deine Klasse knipsen«, neckte auch Ilse.

»Geben Sie nur acht, Marlene, daß die Rike Sie nicht selber auffrißt statt der Kleie.« Elli erregte mit ihrem Witz die größte Heiterkeit.

Nur der Herr des Hauses stimmte nicht mit ein.

»Wenn Fräulein Marlene so liebenswürdig sein will, der Mutter die Arbeit abzunehmen, so kann ich durchaus nichts Komisches daran finden«, sagte er vorwurfsvoll.

»Peterlein, leg' dich schlafen, du bist schlechter Laune, weil dein Herzensschatz, die Rike, krank ist.« Jetzt richtete sich Ellis Spott gegen den Bruder.

Nichtsdestoweniger sah man eine Stunde später Marlene und Mining, letztere einen Holzeimer mit Kleie in der Hand, über das Viereck des Wirtschaftshofes wandern. Es war Marlene eine ungeheure Beruhigung, daß Mining mitkam. Denn trotz ihrer zoologischen Studien legte sich Marlene das Halbdunkel und die abscheuliche Luft im Schweinestall beklemmend auf die Brust.

Mining goß ihren Eimer in den Schweinetrog, gab dem kranken Schwein einen aufmunternden Stoß und sagte: »So, Rike, nu fret man, ick möt wedder mang min Upwasch.« Damit stampfte sie hinaus.

Marlene wäre ihr am liebsten gefolgt. Aber zuverlässig, wie sie war, hielt sie sich verpflichtet, da sie Tante Käthchen versprochen hatte, sie zu vertreten, der ekelhaften Rike bei ihrem Diner Gesellschaft zu leisten. Aus kleinen Augen blinzelte das kranke Tier grunzend zu ihr auf, und ihre sämtlichen Kinder grunzten im Chor mit. Jetzt hob es prüfend den Rüssel gegen Marlene – – – angstvoll retirierte Marlenchen zur Stalltür.

Da stand lachend die hohe Gestalt des Gutsherrn.

»Keine Angst, Fräulein Marlene, die Rike tut nichts. Scheint ja wieder ganz mobil zu sein.« Sachkundig schaute er zu, wie das Tier fraß.

Marlene wurde es schwül in dem dämmerigen Schweinestalldunst; sie versuchte, an ihm vorbei den Ausgang zu gewinnen.

Aber er vertrat ihr den Weg.

»Fräulein Marlene, wenn ich Sie hier so sehe! –« Er machte schon wieder eine Pause.

»Was denn?« dachte Marlene. »Wenn er mich hier so unter den Schweinen sieht, begeistere ich ihn etwa da besonders?«

»Ich meine, so geschäftig bei ländlicher Arbeit, Fräulein Marlene, ja, dann – dann finde ich den Mut, den ich sonst niemals aufbringe, Sie zu fragen, ob ich nicht zu schlicht, zu gering bin für ein gelehrtes Fräulein Doktor. Ob es nicht eine Anmaßung von mir ist, Ihr Leben, das so ganz andere Bahnen geht, an meine bescheidene Einsamkeit fesseln zu wollen?« Er sagte nichts, wie lieb er sie habe. Aber seine Augen taten es für seinen unberedten Mund.

»Ich bin kein gelehrtes Fräulein Doktor, nur ein Mädchen, das Ihnen gut – – –.« Das Gegrunze der Schweinefamilie übertönte Marlenes leise Worte. Aber sie mußten wohl ihr Ziel erreicht haben. Denn sie fühlte sich plötzlich von starken Armen umfangen, und es war ihr, als sei das Schweinegrunzen Meeresrauschen und die gräßliche Stalluft frischer Seewind.

Zwischen dem Grunzen aber hörte man leises, melodisches Kichern: Amor, der lose Wicht, der das poetische Marlenchen statt am blauen Meeresgestade im Schweinekofen die weihevollste Stunde ihres Lebens begehen ließ. –

Ilse saß in der Geißblattlaube und schrieb nach Hause. Sie war nicht recht in Stimmung. Das Intermezzo mit Klaus ging ihr arg nach.

Da fiel ein Schatten auf das Papier. Marlene stand vor ihr mit heißen Wangen und glänzenden Augen.

»Nanu, Marlenchen, du siehst ja so strahlend aus, ist Rike wieder gesund?«

Statt aller Antwort fiel Marlene, die ruhige, gesetzte, der Cousine um den Hals und flüsterte ihr übermütig ins Ohr: »Auf gute Nachbarschaft, Herrin von und zu Lüttgenheide!«

»Was? Bist du übergeschnappt, Marlenchen? Oder – ja, ganz bestimmt, du hast dich – – –.« Ilse kam nicht weiter, denn der Mund wurde ihr von Marlene zugehalten.

»Ach, Ilse, du kannst dir ja gar nicht denken, wie unsagbar glücklich ich bin!«

Oh, Ilse konnte sich das durchaus denken. Wäre sie doch jetzt ebenso glücklich gewesen, wenn sie es sich nicht dummerweise verscherzt hätte. Aber Selbstsucht lag Ilse fern. Innig zog sie ihr zweites Ich ans Herz.

»Alles erdenkliche Gute, mein Marlenchen! Mögest du stets so glücklich bleiben wie augenblicklich!«

»Und du, Ilse?« forschte Marlene liebevoll. »Ich weiß doch ganz genau, wie es um dich und Klaus Braun steht – seid ihr noch nicht im reinen?«

»Nee«, meinte Ilse ziemlich bedrückt.

»Es kommt, Ilse, es kommt ganz gewiß. Und wenn's auch nur im Schweinestall ist.«

Ja, es kam. Dafür sorgte schon der kleine Götterschlingel, der die ganze Geschichte angezettelt hatte. Er veranlaßte Ilse, die eigentlich heute nicht mehr nach Lüttgenheide hatte hinüber wollen, weil es ihr peinlich war, Klaus gegenüberzutreten, ganz gegen ihre Vornahme das hübsche rosa Kleid anzuziehen, das ihr besonders gut stand. »Marlenchen zu Ehren«, redete sie sich selbst vor. Und da Marlene mit Peter einen Dünenspaziergang verabredet hatte, war es doch nur taktvoll, sich aus dem Wege zu räumen.

So schlenderte Ilse durch den Erlengrund nach Lüttgenheide zu.

Goldene Funken streute die Nachmittagssonne ihr auf den Moospfad, als wüßte sie, was für einen Weg die Ilse ginge. Wo's durch blühendes Holundergezweig zur kleinen Bergruine, von der aus man den Durchblick nach dem Meere hatte, sich aufwärtsschlängelte, blieb Ilse unschlüssig einen Augenblick stehen. Sie wußte nicht, was sie hinaufzog. Sie ahnte nicht, daß sie an einem Fädchen, das ebenso rosenrot war wie ihr Kleid, von unsichtbarer Hand hinaufgeleitet wurde.

Da stand sie plötzlich still – und ihr Herz ebenfalls. An den Mauertrümmern lehnte eine gelbe Leinenjacke. Ihr Besitzer hieb mit seiner Gerte unschuldige Blüten vom duftenden Holunderstrauch.

Leise pirschte Ilse sich näher. Der weiche Moosteppich verschlang ihren leichten Schritt. Sollte sie, oder sollte sie nicht?

Noch ehe sie sich selbst die Antwort darauf geben konnte, hatte sie bereits ihre Hände über seine Augen gebreitet. »Wer bin ich?« fragte sie mit verstellter Stimme.

Mit beiden Händen griff Klaus nach den warmen Mädchenfingern. »Die zukünftige Herrin von Grotgenheide?« Das klang gepreßt.

Da neigte sie den blonden Kopf zu ihm herab, und wie ein Hauch klang es an sein Ohr: »Nein, von Lüttgenheide!« Wie ein Hauch fühlte er ihren Kuß, der um Vergebung bat.

Holunder blühte und duftete betäubend. Schwalbengezwitscher klang glückverheißend aus blauer Luft. Da schritten die beiden Hand in Hand dem künftigen Ilsenheim zu. – – – – – – – – –

*

Der kleine, in goldene Kornfelder gebettete Bahnhof hatte in all den Jahren, da die Bimmelbahn hier entlang geleitet wurde, noch nicht so glückstrahlende Augen zu sehen bekommen, als die Annemaries am nächsten Tage. Rudis Arme hielten sie so fest, als wollten sie sie gar nicht wieder loslassen; aber ihre Küken machten energisch ihre Rechte geltend.

»Bitte sehr, ihr seid doch nicht verlobt wie Tante Ilse und Onkel Klaus«, erhob Vronli Einspruch.

»Ei, der Tausend – gratuliere!« Vronli hatte ihren Zweck erreicht.

»Doppelglückwunsch, Rudi! An einem Tage haben sich unsere Inseparables voneinander separiert. Klaus und Peter, ein jeder hat die seinige«, lachte Annemarie.

»Zwei Brautpaars, Vaterle, gibt's hier, und neun süße Ferkelchens und – – –.«

»Und ein Ziedenbott und Taninßens und – –.«

»Muhtuh« – selbst Klein-Ursel mußte dem Vater die Vorzüge von Lüttgenheide anpreisen.

»Also die ganze G'sellschaft hier verlobt«, amüsierte sich Rudi.

»Tante Ilse soll siß defällist wieder ausloben. Immer will se mit Ontel Tlaus setzt erlein passierendehn. Is sa sreckliß!« beschwerte sich Hansi.

»Vaterle, jetzt bleiben wir immer hier. So schön ist's hier. Jetzt gehen wir nie wieder fort, gelt?«

»Wollen halt unser Mutterli fragen, Vronli. Willst auch nimmer wieder heim, Herzle?«

Da schmiegte Annemarie fest den blonden Kopf an die Brust ihres Mannes.

»Nein, Rudi, so schön, wie's hier auch ist – am schönsten ist's doch im eigenen Nest!«



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